Die Reparatur der Lebenden - Taina Tervonen - E-Book

Die Reparatur der Lebenden E-Book

Taina Tervonen

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Beschreibung

»Mit Fingerspitzengefühl lässt uns Tervonen in ein Land eintauchen, in dem das Schweigen über den Krieg heute noch tonnenschwer wiegt.« (Libération) – Über die Suche nach Kriegsvermissten und des Massakers von Srebrenica in Bosnien-Herzegowina Eine Anthropologin und eine Ermittlerin: zwei Frauen auf der Suche nach der Wahrheit in einem vom Krieg traumatisierten Land. Senem ist für die Identifizierung menschlicher Knochen zuständig, die in den Massengräbern in Bosnien und Herzegowina gefunden werden. Darija besucht Familien, um deren Aussagen zu vermissten Personen zu hören und DNA-Proben zu nehmen. Die eine arbeitet mit den Toten, die andere mit den Lebenden. Als Taina Tervonen die beiden Frauen kennenlernt, hat sie keine Ahnung, wie umfangreich die Arbeit an den Vermissten ist. Mit großer Empathie begleitet sie die Suche nach der Wahrheit, die für die Geschichte des Landes und für die Familien, die nie um ihre Angehörigen trauern konnten, von entscheidender Bedeutung ist.

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Seitenzahl: 245

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Die Reparatur der Lebenden« von Taina Tervonen

Über das Buch

»Mit Fingerspitzengefühl lässt uns Tervonen in ein Land eintauchen, in dem das Schweigen über den Krieg heute noch tonnenschwer wiegt.« (Libération) — Über die Suche nach Kriegsvermissten und des Massakers von Srebrenica in Bosnien-HerzegowinaEine Anthropologin und eine Ermittlerin: zwei Frauen auf der Suche nach der Wahrheit in einem vom Krieg traumatisierten Land. Senem ist für die Identifizierung menschlicher Knochen zuständig, die in den Massengräbern in Bosnien und Herzegowina gefunden werden. Darija besucht Familien, um deren Aussagen zu vermissten Personen zu hören und DNA-Proben zu nehmen. Die eine arbeitet mit den Toten, die andere mit den Lebenden.Als Taina Tervonen die beiden Frauen kennenlernt, hat sie keine Ahnung, wie umfangreich die Arbeit an den Vermissten ist. Mit großer Empathie begleitet sie die Suche nach der Wahrheit, die für die Geschichte des Landes und für die Familien, die nie um ihre Angehörigen trauern konnten, von entscheidender Bedeutung ist.

Taina Tervonen

Die Reparatur der Lebenden

Zwei Frauen in Bosnien-Herzegowina auf der Suche nach den Ermordeten des Krieges

Aus dem Französischen vonPatricia Klobusiczky

Paul Zsolnay Verlag

Für Sarah,

beim Schreiben dieses Buches

als Sprössling gekommen,

für das Leben, das immer weitergeht.

»Das ist eine Geschichte über Knochen, die man sucht.

Wie wenn man Dinosaurierknochen sucht,

nur sind das Menschenknochen.

Man sucht sie, weil das wichtig ist

für ihre Lieben.

Wenn man sie findet,

können die Lieben sie beerdigen,

und dann sind sie nicht mehr vermisst.«

Armand, neun Jahre

PROLOG

Tomašica, Oktober 2013

Halb eins, die Mittagspause ist vorbei. Das Team packt die Reste des Essens wieder ein, das in Ermangelung eines Tisches auf einer Motorhaube serviert wurde. »Something sweet«, hat sie gesagt und mir als Dessert ein Stück Schokolade gegeben. »Was Süßes, das können wir hier alle gut gebrauchen.« Senem legt wieder eine Maske an, streift saubere Handschuhe über ihren weißen Overall, rückt ihre dunkelblaue Schirmmütze zurecht. Ich erklimme den Erdhügel am Rand der Grube, die so groß ist wie ein Fußballfeld. Senem ist bereits unten, weit hinter der polizeilichen Absperrung, die ich nicht passieren darf. Der Bobcat startet, die Spitzhacken werden geschwungen, es geht wieder an die Arbeit.

Ich wusste nicht, was mich erwartete, als ich hier ankam. Nichts hatte mich auf den Anblick eines Massengrabs vorbereitet. Nichts außer einigen Archivbildern, die ich hier und da in Reportagen zu sehen bekommen hatte, Berichten von Überlebenden, die in den Tiefen dieser Grube hätten landen können. Doch von dem, was passiert, wenn die Erde sich auftut, um die Vergangenheit wieder hochkommen zu lassen, wusste ich nichts. Ich erwartete das Grauen, das Unsagbare, das nicht zu Beschreibende. Allein bei der Idee eines Massengrabs.

Ein Massengrab ist keine Idee. Ein Massengrab ist Arbeit. Für Ideen ist kein Platz angesichts dieses klaffenden Lochs, aus dem die Leichen vor Wintereinbruch geborgen werden müssen.

Unten in der riesigen Grube gräbt Senem mit allen anderen aus dem Team, forensische Anthropologen wie sie, Archäologen, Osteologen, alle in den gleichen weißen Overalls, die mit dem dunklen Orange der lehmigen Erde kontrastieren. Die herbstlichen Regenfälle haben sie in klebrigen Matsch verwandelt, der an den Stiefeln und Handschuhen der Ermittler haften bleibt, wenn sie die Schaufel weglegen und mit den Händen weitergraben, so können sie behutsamer vorgehen, sobald sie sich den Überresten nähern, die am Grund des Lochs zum Vorschein kommen.

Als der Mann mit der Polizei sprach, nannte er eine Zahl: 900. So viele Leichen wurden seiner Schätzung nach hier versenkt. Er hatte einen der Lastwagen gefahren, mit denen die Opfer transportiert wurden, die man in den ersten Kriegswochen ein paar Dutzend Kilometer von hier entfernt getötet hatte. Es war im Sommer 1992, es war heiß, wie oft in dieser Gegend, erinnern sich die Überlebenden. In einem Dorf nach dem anderen wurden die bosnischen und kroatischen Bewohner hingerichtet oder in Lager eingesperrt. Die ethnische Säuberung, die von Ratko Mladić und Radovan Karadžić ersonnen und organisiert worden war, hatte diese Region Bosnien-Herzegowinas lange vor den drei Jahre später erfolgten Massakern von Srebrenica entvölkert. Die Leichen, die jetzt aus der Erde hervorkommen, sind erstaunlich unversehrt. Normalerweise hat Senem mit Skeletten zu tun, nicht mit Leichnamen wie diesen, größtenteils intakt, bei denen das Fleisch noch an den Knochen hängt. An diesem Ort hat der lehmige Boden die Verwesung verzögert, die bei freier Luftzufuhr wieder einsetzt und sich beschleunigt, 21 Jahre nach dem Ableben. Der Geruch des Todes schwebt über allem, dringt in die Nasenhöhlen ein, verharrt dort stundenlang. Abends in meinem Pensionszimmer nehme ich ihn immer noch um mich herum wahr.

Unten, neben den beiden roten Festzelten, die vor allzu starken Regenfällen Schutz bieten, heben sich weiße liegende Gestalten von der dunklen Erde ab. Es sind die Leichensäcke, auf Holzplanken ausgelegt, die auf dem nackten Boden abgestellt wurden. Die Leichen sind in der Reihenfolge nummeriert, in der sie dem Massengrab entnommen wurden. Die letzte für heute trägt die Nummer 109. Das Team gräbt seit einem Monat.

Jeden Tag werden die Säcke um 16 Uhr in den Leichenwagen verladen, einen kleinen dunkelblauen Lieferwagen. Dieser fährt dann zum Identifikationszentrum der Krajina, einem Leichenschauhaus für die Kriegsvermissten. Dort bin ich Senem das erste Mal begegnet, an einem Tag Ende September, drei Jahre zuvor.

2010

1

»Als Kind wollte ich Archäologin werden«

»Siehst du, diese passen ineinander.« Senem greift ein paar Wirbel heraus. »Schau mal. Die Knochen sprechen für sich.« Sie setzt das Skelett zusammen wie ein Puzzle, ihre Gesten sind schnell und präzise, sie ist geübt darin: die großen Schenkelknochen neben das Becken, die Rippen um die Wirbel herum, den Unterkiefer neben den Schädel. Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Am Fuß des Leichnams, den Senem wiederherstellt, liegt ein leuchtend roter Wollpulli, sorgfältig zusammengelegt, auf dem ein Paar Schuhe abgestellt wurde, das Leder ist steif geworden von den vielen Jahren unter der Erde.

Auf weißen Leichensäcken, die sich auf dem nackten Betonboden aneinanderreihen, liegen die Überreste von sieben Leichnamen, die drei Tage zuvor exhumiert wurden. Die Reihe setzt sich fort, geschlossene weiße Säcke, die andere Überreste enthalten, andere Knochen, andere Wirbel, die sortiert werden müssen. »Es sind 22, sie stammen alle aus demselben Massengrab«, erklärt Senem. Um mich herum stehen fünfstöckige Rollwagen an den Wänden, sie nehmen mehrere Meter ein, und in jedem Fach steckt ein Leichensack. Wie viele sind es denn insgesamt in dieser riesigen Gewerbehalle?

Vor einer Woche bin ich in Sarajevo gelandet. Ich bin zum zweiten Mal in Bosnien-Herzegowina und weiß nicht viel über die Geschichte dieses Landes, nur, dass dort ein Krieg stattgefunden hat, der 1995 endete, ein Krieg mit 110 000 Toten, von denen 30 000 vermisst wurden. Gesucht wird noch nach einem Drittel, also 10 000 Personen. Ihnen gilt mein Interesse, diesen Gespenstern, auf deren Rückkehr die Familien warten, um sie bestatten zu können. Ich habe Hinterbliebenen gelauscht, als sie vom Leid des Wartens sprachen und von der Unmöglichkeit zu trauern. Aber ich ahne so gut wie nichts von der Arbeit, die erbracht werden muss, um einen Leichnam zu identifizieren. In Sarajevo erwähnte eine meiner Kontaktpersonen Senems Namen. Sie ist forensische Anthropologin und leitet das Identifikationszentrum der Krajina, einer Region im Nordwesten des Landes. Als ich sie anrief, gab sie mir eine Wegbeschreibung: noch vor dem Busbahnhof bei der Tankstelle aussteigen, der kleinen Straße folgen, die durch ein Wohnviertel der Stadt Sanski Most führt, und mich dann in das Gewerbegebiet von Šejkovača begeben. Hier soll ein Leichenschauhaus sein? An einem nebligen Herbstmorgen gingen meine Fotografin Zabou und ich unschlüssig am Straßenrand entlang und griffen schließlich zum Telefon, in der festen Überzeugung, wir hätten uns verlaufen, dabei standen wir direkt vor dem Gebäude.

Nur hatte ich es mir nicht so vorgestellt: eine ganz gewöhnliche Lagerhalle mit großen Fenstern, gegenüber einer Zementfabrik.

Senem servierte uns Nescafé, damit wir uns im Container aufwärmen konnten, der ihr als Arbeitszimmer diente. Ich hatte kaum einen Schluck getrunken, als sie ihre Tasse nahm und uns einlud, ihr in die Halle zu folgen. Mit ihren Turnschuhen und der Lederjacke, dem unter einer schwarzen Mütze verborgenen Haar und ihren gerade mal dreißig Jahren entsprach sie ebenfalls nicht der Vorstellung, die ich mir von der Leiterin eines Leichenschauhauses machte. Als müsste man vom Leben gezeichnet sein, um sich dem Tod zu nähern — und wenigstens einen weißen Kittel tragen. Senem hingegen betrat die Halle mit ihrer Kaffeetasse, wie man morgens ins Büro kommt. Als sie die Türen zum großen Saal öffnete und ich all diese weißen Säcke auf dem Boden und auf den Rollwagen sah, zögerte ich kurz; ich wollte einwenden: Man kann eine Leichenhalle doch nicht so ohne Weiteres betreten, man müsste … Was man müsste, wusste ich nicht. Senem war aber bereits über die Schwelle getreten und hielt mir die Tür auf, sie wartete auf mich.

Also habe ich nichts gesagt und bin hineingegangen.

»Vor dem Krieg war das hier eine Fabrik«, sagt Senem auf Englisch. »Dann wurde sie zur Leichenhalle.« Sie deutet auf die Fotos, die mit Tesafilm an der Wand befestigt sind.

Was für eine Fabrik? Ich habe die Frage noch gar nicht ausgesprochen, als sie mir bereits erklärt, was diese Bilder bedeuten, die auf Blättern im A4-Format ausgedruckt sind. Auf einem sind kleine, nummerierte gelbe Kegel, wie man sie von Tatorten kennt, kreuz und quer in der mit Knochen übersäten Grube verteilt. Bei der Exhumierung müsse sofort alles fotografiert und notiert werden. Die Position der Knochen lasse darauf schließen, ob sie alle zu einer Person gehören und in einen einzelnen Leichensack gesteckt werden können. Im Leichenschauhaus werde er geöffnet, sein Inhalt gesäubert und dann erneut untersucht.

»Manchmal passen Rumpf und Beine nicht zusammen, oder es besteht zwischen Schädel und Becken ein Altersunterschied. In Zweifelsfällen bestimmt die DNA-Analyse, welche Knochen zu einer einzelnen Person gehören.«

Ich lausche ihr, versuche, mir alles einzuprägen, die Säcke am Boden, die Rollwagen, die Knochen, die DNA. Die Halle kommt mir riesig vor. Die Decke ist gut zehn Meter hoch und von Stahlträgern durchzogen, die ein geometrisches Muster bilden. Das Licht fällt durch eine Reihe von Fenstern direkt unterhalb des Dachs, heute Morgen nur zaghaft, vom flächendeckenden Nieselregen getrübt.

»Anhand der DNA lässt sich außerdem die Person identifizieren«, fährt Senem fort. »Der genetische Fingerabdruck des Verstorbenen wird mit denen von Hinterbliebenen verglichen. Ihnen wurde dafür Blut abgenommen und die Untersuchungsergebnisse wurden in einer Datenbank gesammelt. Und wir hoffen dann auf einen Match.«

Sie spult ihre Erläuterungen ab wie eine Präsentation, die sie schon Dutzende Male vor Besuchern gehalten hat, denen die Bezeichnung »DNA« bis dahin auch nur in Krimiserien begegnet war. Tatsächlich sieht Senem selbst aus wie eine Figur aus einem Polizeifilm, mit ihrer Lederjacke und der Zigarette im Mund, dem stechenden Blick und dem ernsten Ton; der Kontrast zwischen ihrem geradezu kindlichen Gesicht und den Leichen, die sie umgeben, ist frappierend. Geduldig erklärt sie mir, was Match bedeutet: eine genetische Übereinstimmung, der Nachweis einer Blutsverwandtschaft, also einer Identität.

»Das Problem sind die Sekundärgräber«, fährt Senem fort und deutet auf ein anderes Foto an der Wand.

Darauf sind Rippen zu sehen, ein Teil der Wirbelsäule und Bruchstücke eines Schädels. Daneben auf einem anderen Foto: ein paar Wirbel, das Becken und die Oberschenkelknochen.

»Der obere Teil dieses Skeletts wurde 2001 in Jakarina Kosa geborgen. Und das hier ist der untere Teil, dreißig Kilometer entfernt in Tomašica exhumiert, im Jahr 2003.«

Gegen Kriegsende haben die Täter Leichen von einem Massengrab in ein anderes versetzt, um die Spuren zu vertuschen. Fünfzehn Jahre später wird die Identifizierungsarbeit dadurch massiv erschwert. Die Skelette sind in den seltensten Fällen vollständig.

»Manchmal verfügen wir nur über einen Finger oder einen Oberschenkelknochen.«

Von der zwei Meter hohen Zwischenwand, die die Halle in zwei Hälften teilt, blicken uns winzige Gesichter an, die auf einem Streifen aus Packpapier kleben. Sie haben das Format eines Passfotos, manche wurden einfach aus größeren Abzügen herausgeschnitten, Bildern aus Familienarchiven, die trotz Krieg und Exil verschont geblieben waren, ernste, lachende, verträumte Gesichter, mal mit Zigarette im Mund, mal mit zahnlosem Lächeln, in Soldatenuniform, ein schmollendes Kind, runzlige Wangen, ein Klassenfoto oder diese typische Frisur aus den 1990er Jahren, die mich an meine Gymnasialzeit erinnert. Die Gesichter all jener, die in der Krajina vermisst werden. Es sind mehr als 5000.

»Wenn uns nur ein Arm vorliegt, kann der Gerichtsmediziner weder die Todesursache erkennen noch eine Sterbeurkunde ausstellen. In diesen Fällen raten wir der Familie zu warten. Letztlich ist das aber ihre Entscheidung.«

»Und was passiert, wenn die Familie beschließt, das Begräbnis durchzuführen, und später weitere Knochen gefunden werden?«

»Dann muss der bereits bestattete Leichnam exhumiert und ergänzt werden.«

Wie oft kann man wohl einen nahen Angehörigen beerdigen? Diese Frage war mir bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Im Reich der Toten habe ich keinerlei Bezugspunkte, erst recht nicht im Reich der gewaltsam zu Tode Gekommenen, der Opfer von Folter und Hinrichtungen, ich habe keine Vorstellung von den Spuren, die all das an diesen namenlosen, auf weißen Leichensäcken gebetteten Knochen und im Gedächtnis der Verwandten hinterlässt, die hoffen, ihre Liebsten wiederzufinden.

»Diese Leichname waren fast vollständig.« Senem zeigt auf die weißen Säcke, die auf dem Boden aufgereiht sind, sie stammen aus dem jüngst entdeckten Grab. »Die 22 Skelette waren nicht miteinander vermengt, sie wurden mit Sorgfalt in die Grube gelegt.« Die Exhumierung habe fünf Tage gedauert, das sei lange für »so ein kleines Massengrab«, wie Senem erläutert. »So konnten wir alle erforderlichen Vorkehrungen treffen. Und ich weiß, dass wir für jeden Körper nur eine DNA-Probe brauchen. Für die Familien ist das auch besser.« In ihrer Stimme klingt Stolz an, über die erfüllte Aufgabe und die gelungene Arbeit. Sie macht keinen Hehl daraus, dass es sie ärgert, wenn Exhumierungen dilettantisch von Laien ausgeführt werden. Dann fallen umso mehr Untersuchungen an, und die Familien müssen noch länger warten, weil man sich allzu sehr beeilt hat, die Leichen aus der Erde hervorzuholen.

»Die Identifizierung ist so etwas wie ein Punkt, mit dem die Angehörigen einen Satz von mehr als fünfzehn Jahren Länge beenden können«, sagt sie. Wenn möglich, sollte man ihn nicht durch Auslassungspunkte ersetzen.

»Dieses Warten ist mir vertraut«, fügt Senem hinzu. »Bevor ich nach Šejkovača kam, habe ich mit einem Blutentnahme-Team gearbeitet.«

Ihr Ton ist jetzt anders, als wäre die offizielle Präsentation vorbei. Damals, bei ihren Anfängen, habe sie nur eine Arbeit gesucht, erzählt sie, keine Berufung. Ein paar Jahre nach dem Krieg war genau dort Arbeit zu finden: beim Aufspüren der Vermissten. Und so fuhr Senem vier Jahre lang durch Bosnien-Herzegowina, durch Slowenien, Kroatien und Schweden, um Hinterbliebene zu treffen, die der Krieg über ganz Europa verstreut hatte. Mit 21 stand sie direkt vor den trauernden Familien. Als ich frage, wie das für sie war, antwortet sie mit einer Geschichte:

»Einmal musste ich eine Frau befragen, die ihren Mann und ihre sechs Söhne verloren hatte. Mit ihrer DNA ließen sich vielleicht sieben Personen identifizieren. Sieben Personen, das ist enorm viel. Ich habe ihr erklärt, warum meine Kollegin und ich sie aufsuchen. Die Frau war vollkommen niedergeschlagen und schwieg eine Dreiviertelstunde lang … Wir konnten nichts tun.«

Als der Gerichtsmediziner, der damals in Šejkovača tätig war, ihr 2005 anbot, seine Assistentin zu werden, sagte Senem umgehend zu. Das war leichter, als den Familien zuzuhören, wie sie sagt, lieber rede sie mit den Knochen. Sie erhielt ein Stipendium, um sich in England fortzubilden, an der University of Central Lancashire, und wurde 2008 die erste diplomierte forensische Anthropologin ihres Landes. Bald beförderte man sie zur Leiterin des Identifikationszentrums.

»Hier bin ich richtig«, sagt sie. »Ich hätte mir nicht vorstellen können, diesen Beruf auszuüben, aber er ist zur Leidenschaft geworden. Als Kind wollte ich Archäologin werden. Letztlich mache ich jetzt etwas Vergleichbares.«

In der Halle ist es ringsum still, das Licht dringt nun stärker durch die Fenster, draußen dürfte sich der Nebel aufgelöst haben. Ich male mir aus, wie Senem als kleines Mädchen von Archäologie träumte. Bei Kriegsausbruch war sie zwölf Jahre alt. Sie hatte ihr Zuhause nie verlassen, von zwei Monaten im Frühsommer 1992 abgesehen, die sie mit ihrer Mutter und ihrem zehnjährigen Bruder in der Nähe von Split in Kroatien verbrachte, weil ihr Vater Angst um seine Familie hatte. »Das war schön, wir badeten die ganze Zeit im Meer«, erinnert sich Senem. »Im Juli hieß es dann, wir müssten entweder nach Bosnien zurückkehren oder in ein fremdes Land ziehen, und man bot uns Finnland, Dänemark oder die USA an. Mein Vater kam uns abholen, und wir sind heimgefahren, nach Novi Travnik. Am Tag darauf knallte es. Und dann haben wir vier Jahre Hölle erlebt.«

Da steht sie inmitten der Rollwagenreihen und erzählt mir von ihrer Kriegszeit in Novi Travnik. Die beiden Stadtteile, der bosnische und der kroatische, waren einander plötzlich zu Feinden geworden. Ihre bosnische Familie, die auf der kroatischen Seite lebte, hatte die Kämpfe wochenlang mitangesehen, bevor sie sich ein Herz fasste und auf die andere Seite floh. »Eines Tages kamen ehemalige Studenten meines Vaters, Kroaten, und sagten ihm, sie könnten uns nicht länger beschützen. Da mussten wir weg.«

Sie erinnert sich vor allem an die Geburt ihrer kleinen Schwester. Damals war Senem dermaßen aufgebracht, dass sie sich zwei Wochen lang weigerte, mit ihrer Mutter zu reden.

»Es kränkte mich. Ich war vierzehn, es herrschte Krieg, wir hatten nichts zu essen, und da bekommen sie ein Baby!« Sie lacht schallend, erklärt, inzwischen sei es besser, sie vergöttere ihre Schwester, mit der sie bei ihrer Mutter lebt. Senem ist ledig und kinderlos, vielleicht eine Folge ihrer keineswegs einfachen Tätigkeit, wie sie meint. Bei der Arbeit verdrängt sie ihre Erinnerungen, aber manchmal brechen sie sich unwillkürlich Bahn, wie in der vergangenen Woche, als sie den Leichnam eines Jugendlichen untersuchte. Sie dachte an die Angst, die er unmittelbar vor dem Tod verspürt haben musste, angesichts der Männer, die ihn mitten im Wald erschießen sollten.

»Da kamen meine eigenen Ängste wieder hoch. Wir halten uns für stark, für unerschütterlich, aber wir täuschen uns.« Einmal war Senem allein mit dem Auto nach Banja Luka unterwegs, um eine Freundin zu besuchen, und sah auf der Straße eine überfahrene Katze. Da sei sie in Tränen ausgebrochen, sie musste anhalten und konnte sich erst nach einer ganzen Weile wieder beruhigen. Als sie schließlich ankam, wollte ihre Freundin sie trösten und sagte, ihr sei das auch schon passiert. Sie arbeitet ebenfalls auf diesem Feld und war diejenige, die Senem begleitet hatte, als sie die Frau mit den sieben verlorenen nächsten Angehörigen aufsuchten, die kein Wort über die Lippen brachte.

»You just snap«, sagt Senem. Die Nerven gehen mit einem durch.

Von draußen ist ein Maschinengeräusch zu hören. »Das ist Zlatan, er fängt mit seiner Arbeit an«, erklärt Senem. Ein Mann hantiert mit einem Schlauch und einem Kärcher. Er trägt eine weiße Plastikschürze über seiner Kleidung mit dem ICMP-Logo, International Commission on Missing Persons. Diese internationale Organisation, die 1996 von Bill Clinton ins Leben gerufen wurde, führt die Suche nach den in Bosnien vermissten Personen durch, in Absprache mit den Behörden vor Ort. Senem wird direkt von der ICMP beschäftigt.

Zlatans Aufgabe besteht darin, die exhumierten menschlichen Überreste zu waschen, sie von der Erde zu säubern, die an den Knochen und an der Kleidung haftet. Er öffnet einen Leichensack, legt dessen Inhalt in eine große Reuse, die vor der Halle unter einem Vordach liegt, und startet das Reinigungsgerät. Das Dröhnen ist ohrenbetäubend, Wasser spritzt auf die Metallränder der Reuse, fließt aus dem Gitter heraus, strömt, mit schwarzer Erde vermischt, über den Kachelboden. Unter dem Strahl entrollt sich eine dunkle Kugel, die Farbe kommt zum Vorschein, es handelt sich um einen Pullover aus blauer Wolle. Hauchdünne Wurzeln ziehen sich durch die Maschen, man kann sie unmöglich entfernen, ohne den Pulli zu beschädigen. Die 22 Leichen waren in einem Wald vergraben worden, man hatte sie in eine Naturgrube gelegt, auf den Rücken, mit Blick zum Himmel, in mehreren Lagen, und mit Steinen und großen Ästen bedeckt, die mit der Zeit Wurzeln geschlagen haben.

Für Senem zeugt diese Anordnung von Respekt vor den Verstorbenen, von »guter Absicht«, und sie schließt daraus, dass die Totengräber nicht die Mörder gewesen sein können.

»Wenn man selbst tötet, geht man mit den Opfern nicht so achtsam um. Man legt sie nicht in die Grube, sondern wirft sie hinein. Nicht immer werden die Leichen gleich unter die Erde gebracht, und ein verwesender Körper stinkt, er trägt sich schwer. Warum sollte man sich also die Mühe machen, nachdem man jemanden erschossen hat?«

Zlatan schüttelt den Pulli behutsam aus und legt ihn auf einen Wäscheständer, neben einen zerrissenen schwarzen Slip und ein Paar weißer Socken. Die Kleidungsstücke kommen mir menschlicher vor als die Knochen. Die werden am Boden auf einem großen Bogen Packpapier ausgelegt, der wiederum auf einem Leichensack ruht, einem weiteren. Eine junge Frau steigt mit einer kleinen Kamera auf eine Trittleiter, um die Knochen zu fotografieren. Sie heißt Bejsa und ist Senems Assistentin. Zlatan macht Pause, er zieht einen weißen Plastikstuhl heran, setzt sich und zündet sich eine Zigarette an. Senem zieht ebenfalls eine hervor. Ihre Zigaretten sind lang und dünn, sie stecken in der Tasche ihrer schwarzen Lederjacke. Sie bietet mir eine an, aber ich rauche nicht.

»Wenn wir jetzt noch Massengräber finden, verdankt sich das vor allem Geständnissen. Aber das kommt nicht oft vor«, sagt sie und zieht an ihrer Zigarette. »Diese Leichname konnten exhumiert werden, weil ein Mann sich einem Polizisten anvertraut hat, mit dem er regelmäßig Kaffee trank. Eines Tages erzählte der Mann vom Grab und verriet ihm die Namen all derer, die die Leichen verscharrt hatten. Am nächsten Tag beging er Selbstmord. Der Polizist meint, dass er mit diesen Toten nichts zu tun hatte, aber vermutlich andere Verbrechen sein Gewissen plagten. Offenbar hat seine Tochter ein massives Suchtproblem, Alkohol und Drogen.«

Es komme oft vor, dass eine persönliche Tragödie die Zunge löst. Senem fällt ein Kriegsverbrecher ein, der nach dem Suizid seiner Tochter geständig wurde, und noch ein anderer, der zu reden anfing, nachdem seine Frau und seine Kinder bei einem Autounfall umgekommen waren.

»Da ist etwas, was sie umtreibt. Sie haben gewissermaßen das Bedürfnis nach Sühne.«

Zlatan steht nach seiner Zigarette auf. Senem drückt ihre aus. Wir gehen in die Halle zurück, und sie führt mich in den Untersuchungssaal, in dem überall mit Packpapier bedeckte Tische stehen. Dort werden die menschlichen Überreste nach dem Reinigen ausgebreitet, um genauestens untersucht zu werden, wobei alle Maße, Brüche und besonderen Kennzeichen notiert werden. An den Wänden und Fensterscheiben hängen Skelettschemata und Schautafeln, die dem Oberschenkelknochen je nach Größe verschiedene Altersphasen zuordnen. Auf einem Tisch sind Bruchstücke eines Schädels zu sehen, die wieder zusammengeklebt wurden. Senem holt ein A4-Blatt heraus, das Formular, das für jeden Einzelfall ausgefüllt werden muss, vorerst nur mit einem Code aus Buchstaben und Zahlen versehen, je nach Stätte und Reihenfolge der Exhumierung. Es sei eine Erleichterung, wenn man den Code durch einen Namen ersetzen kann, sagt Senem, »und eine große persönliche Befriedigung«. Sie erzählt von einem sechzehnjährigen Jugendlichen, dessen Überreste durch ihre Hände gegangen sind. Jahrelang hatte seine Mutter in der Hoffnung, ihn zu finden, jedes geöffnete Massengrab in der Region aufgesucht. »Sie wollte ihren Seelenfrieden, nun wird sie ihn endlich zurückerlangen.«

Ich frage Senem, wie lange sie ihre Arbeit fortsetzen, wann ihre Mission wohl erfüllt sein wird. Wenn alle Vermissten aufgefunden und identifiziert wurden? Sie seufzt, und ihre Stimme klingt ermattet, als sie mir antwortet:

»Die DNA ist ein wirksames Instrument, aber sie kann nicht alles lösen. Zurzeit liegen uns hier 450 Fälle vor. Bei 72 ist die Untersuchung erfolgreich abgeschlossen, und die Überreste können bestattet werden. 104 konnten wir identifizieren, aber wir warten auf weitere Körperteile. Von den verbleibenden 274 werden sich einige niemals anhand der Knochen identifizieren lassen. Sie wurden zu sehr in Mitleidenschaft gezogen, von der Zeit, der Witterung, von Tieren. Und aus jedem geöffneten Massengrab stammen auch einige Leichname, für die wir in der Datenbank keinerlei Match erzielen, entweder weil ihre Angehörigen alle während des Kriegs gestorben sind oder weil sie keine Blutproben abgegeben haben. Momentan behalten wir sie alle hier. Aber für wie lange? Das weiß ich nicht. Und dann sind da noch die Fehlzuordnungen.«

Fehlzuordnungen?

»Ja. Als gleich nach dem Krieg die ersten Massengräber geöffnet wurden, haben die Familien sich oft allein beholfen. Sie identifizierten die Überreste anhand von Kleidungsstücken oder persönlichen Gegenständen. Die Behörden waren überfordert, und es gab keine zentrale Erfassung. Aus dieser Zeit sind in der Regel nur die geöffneten Stätten bekannt, aber nicht die Anzahl der exhumierten Leichen, beispielsweise. Und es wurden Fehler gemacht. Das ist uns aufgefallen, als wir auf Wunsch des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (IstGHJ) mit dem Einsatz von DNA begonnen haben. Die Justiz benötigte sie als wissenschaftlichen Nachweis der Identität eines Toten. Natürlich diente sie auch als Beleg für die Zugehörigkeit des Verstorbenen zu dieser oder jener Gemeinschaft, was die Ermittlungen zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützte. Und so kommt es heutzutage vor, dass die Datenbank einen Match für einen Leichnam anzeigt, der gerade erst exhumiert wurde, während die Familie Jahre zuvor einen anderen bestattet hat. Das ist für die Angehörigen sehr schmerzlich, aber wir müssen die Fehler schließlich korrigieren.«

Wie naiv erscheint mir jetzt meine Frage von vorhin, aber Senem hat sich auf eine Antwort eingelassen. Sie ergänzt mit Bedacht, dass es sich um eine »rein persönliche« Einschätzung handelt, die man auf keinen Fall für die offizielle Position ihrer Auftraggeberin oder der Behörden halten darf.

»Offen gesagt, glaube ich allmählich, dass es keine sinnvolle Zielsetzung ist, alle identifizieren zu wollen. Die NGOs, die Behörden, die ICMP verfolgen die besten Absichten, aber manchmal tun wir den Familien nur weh, wenn wir sie wegen einer weiteren Untersuchung oder eines weiteren Knochenfundes kontaktieren … Man könnte sich auch etwas anderes einfallen lassen. Ein Beinhaus, eine Gedenkstätte an jeder Stelle, wo ein Massengrab geöffnet wurde, ein Verzeichnis der Personen, die jeweils dort getötet wurden, damit sämtliche Familien einen Ort der Andacht bekommen. Denn wie wird es in fünf Jahren sein? Wir werden immer noch Hinterbliebene auf der Suche haben und Hallen voller menschlicher Überreste, die sich nicht zuordnen lassen. Wofür arbeiten wir dann, wenn wir weder die Angehörigen noch die Justiz zufriedenstellen können?«

Aber wer wird die Verantwortung übernehmen und den Familien mitteilen, dass man die Suche nun einstellt? Selbst fünfzehn Jahre nach Kriegsende ist diese Frage viel zu heikel.

»Komm mit, ich stelle dir meine Kollegen Ajša und Asmir vor. Sie sind beide Case Manager, sie betreuen die Familien und nehmen sie in Empfang, wenn sie herkommen, um nach erfolgter Identifizierung die Papiere zu unterschreiben.« Senem schleift mich nach draußen, jetzt ist die Sonne definitiv aufgegangen, sie brennt mir in den Augen, als wir die Halle verlassen und zum Container gehen, in dem Ajša und Asmir arbeiten. Ich drehe mich um, weil ich das weiße Gebäude betrachten will, die Einzelheiten, die bei meiner Ankunft vom Nebel verhüllt wurden: das Wellblechdach, die rostige Tür, die großen Fenster. Und gegenüber der Container, die Hundehütte, das Kabäuschen des Polizisten, der hier Wache hält. »Erst mal eine rauchen«, beschließt Senem. Sie holt einen weißen Plastikstuhl aus dem Eingangsbereich, zündet sich ihre Zigarette an. Noch weiß ich es nicht, aber bald wird dieser Ort auch meiner werden.

2013

2

Ein Massengrab macht sehr viel Arbeit

Tomašica, Oktober 2013

Überall Nebel. Er hüllt die Landschaft ein, die beiden Häuser, die wir soeben passiert haben, nimmt uns jeden Horizont jenseits der paar Meter vor dem Auto, das holpernd weiterfährt und dabei den mit Wasser gefüllten Schlaglöchern ausweicht. Der Weg, der zum Hügel hinaufführt, scheint für Traktoren gemacht, nicht für kleine Mietgefährte wie das unsrige, das im Schlamm festzustecken droht. Das Ermittlerteam überholt uns mit seinen zwei Geländewagen, es ist für solche Böden gerüstet. Massengräber befinden sich selten an leicht zugänglichen Orten. Dieses hier liegt auf dem Gebiet einer ehemaligen Eisenmine. Die Leichen dort verschwinden lassen, wo sich niemand über umgegrabene Erde wundern würde. Im Sommer 1992 war das wohl die ideale Lösung. Ein paar Monate zuvor war die Mine noch in Betrieb gewesen, vermutlich standen die Löffelbagger noch an Ort und Stelle.

Am Ende des Weges, hinter den riesigen Erdschollen, die seit Beginn der Grabungen aufgeschüttet wurden, liegt die offene Grube, deren Umrisse im Morgennebel versinken. Das Team zieht sich bereits vor dem Zelt um, das aufgebaut wurde, um das Material zu lagern. Senem hat ihre eigene Technik: Sie bindet sich einen Pferdeschwanz, streift Wollsocken über und dann einen weißen Schutzanzug, danach Handschuhe, die sie zur besseren Abdichtung mit Klebeband an den Handgelenken befestigt, zum gleichen Zweck wickelt sie sich Plastiktüten um die Knie, anschließend zieht sie einen zweiten Schutzanzug über den ersten und schlüpft in die Gummistiefel, zieht noch ein Paar Handschuhe an, eine Maske, eine Schirmmütze.

Drei Jahre sind seit unserer ersten Begegnung in Šejkovača vergangen. Zwischendurch bin ich ins Identifikationszentrum zurückgekehrt, um Szenen für eine Web-Doku zu drehen, die ich gemeinsam mit Zabou gemacht habe, der Fotografin, die mich bei meinem allerersten Besuch begleitet hatte. Der Film erzählt die Geschichte des Dorfs Trnopolje, dessen Schule im Krieg zu einem Gefangenenlager umfunktioniert wurde. Während dieser drei Jahre habe ich Dutzenden Berichten von Überlebenden gelauscht, die weiterhin nach ihren im Sommer 1992 verschwundenen Angehörigen suchten. Senem hatte mir wieder von ihrer Arbeit erzählt, aber nun sehe ich sie zum ersten Mal »im Feld«, wie sie sagt, inmitten von Ausgrabungen.

Vor zwei Wochen habe ich erfahren, dass dieses Massengrab entdeckt wurde. Zunächst war ich zögerlich. Wäre das nicht ein Zeichen von krankhafter Neugier, wenn ich mich zu einer solchen Stätte begeben würde, ohne dass mich irgendein Sender beauftragt hatte? Dann habe ich meinen Kontostand geprüft, Zabou