Die Rückeroberung der Stille - Harald Koisser - E-Book

Die Rückeroberung der Stille E-Book

Harald Koisser

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  • Herausgeber: Orac
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Harald Koisser skizziert den Wahnsinn einer von Zeitmanagement, Konsum und Reizüberflutung geprägten Zeit. Er schreibt über unangenehm bekannte Alltagsphänomene wie die Lärmbelästigung an öffentlichen Orten, den Wahn der Zeiteffizienz oder die Hysterisierung von Sprache durch die Massenmedien. Doch das Buch bietet einen tröstlichen Ausweg: Mit Eloquenz und Humor wird der Leser – nicht zuletzt in 45 verblüffenden praktischen Übungen – angeleitet, ganz privat bei sich zu Hause mit der Rückeroberung der Stille zu beginnen. Mit einem Vorwort von Prälat DDr. Joachim Angerer und einem Kapitel von Dr. med. Georg Wögerbauer zu den medizinischen Aspekten des Themas.

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Seitenzahl: 145

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Harald Koisser

Die Rückeroberung der Stille

Auswege aus Stress und Reizüberflutung

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0591-3 Copyright © 2007/2016 by Buchverlage Kremayr & Scheriau/Orac, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil unter Verwendung eines Fotos von Bill Ross/Corbis Lektorat: Elisabeth Hemelmayr Typografische Gestaltung: wolf, www.typic.at Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Wer hat schon Zeit für Stille?

Vorwort

Der Verlust der Stille

Was ist Stille?

Wie wir die Stille verlieren. Die ruhelose Welt.

Reizflut – Die Sinne kommen nicht zur Ruhe

Angst vor dem Nichts

Einsamkeit – Partnerschaft mit sich selbst

Beschleunigung – Speed Kills

Informationsflut – News Around the Clock

Stille, eine Untugend

Wie wir die Stille verlieren. Das ruhelose Selbst.

Ein kurzes Kapitel über die Zeit

Nichts tun ist nichts wert

Urlaub – mehr derselben Reizüberflutung

Wellness, eine Massensehnsucht nach Individualität

Ungeduld

Konsum als Ersatzdroge

Stille und Sinn – im religiösen Supermarkt

Stille – der neue Luxus

Jede Gesellschaft produziert Krankheiten, die zu ihr passen(Dr. med. Georg Wögerbauer)

Wie wir die Stille gewinnen

Wir können nicht anders

Wir können anders

Stille entsteht durch Wille und Übung

3 Empfehlungen

45 Übungen

Am Ende ist es immer still

Literaturverzeichnis

Für meinen Vater,den Cowboy, der langsamerzieht als sein Schatten

Wer hat schon Zeit für Stille?

Vor dem Fenster stauen sich nervöse Autos und zwängen sich in die Tiefgarage des Shoppingcenters vis-a-vis, das verlockende Sonderangebote in den Nachmittag brüllt. Vor dem Eingang sind für ein „Volksfest“ dreißig Tische mit Bänken aufgebaut, aber nur drei Leute haben einstweilen mit einem Bier Platz genommen. Zwei große Boxen beschallen das Fest mit unfassbar lauter Volksmusik. Die Herbstsonne heizt zusätzlich mein kleines Arbeitszimmer auf, ich habe das Fenster geöffnet. Wenn ich es schließe, wird die Hitze unerträglich. Entweder Lärm oder Backofen. Die alte Festplatte surrt unerträglich. Das ist mir nie so aufgefallen wie in diesem Moment. Ich habe die letzten Wochen zuviel gearbeitet, mein persönlicher Akku ist leer und lädt nicht mehr voll auf. Eine Tiefenentladung wäre gut, also völlige Entleerung und anschließender Recharge. Aber ich habe keine Zeit, ich muss ein Buch über die Stille schreiben. Ich habe einen Vertrag. Das Handy läutet und ich sehe am Display, dass ein Kunde anruft. Ich schreie tatsächlich laut auf. Lass mich in Ruhe! Dennoch zucken meine Finger zu dem technischen Gerät, das eine entsetzlich verhunzte Version einer Beethoven-Ouvertüre absondert. Wie schrecklich, dass es kein normales Läuten mehr gibt. Nur Melodiemüll, aber polyphon. Vielleicht kann man sich irgendwo ein normales Telefonläuten vom Internet herunterladen. Ich werde mich morgen auf die Suche machen. Ich zahle jeden Betrag! Aber dann lähmt mich der Gedanke einer stundenlangen Internetrecherche und der Gewissheit, dass ich noch mal drei Tage brauche, um das Bimmeln auf mein Handy zu bekommen. Plötzlich dröhnt das Echo eines Schlagbohrers durch das Haus. Irgendjemand rückt der Stahlbetonwand zu Leibe. Ich könnte in mein Büro fahren und dort schreiben, doch das liegt an einer stark frequentierten Straße. Nahe der Innenstadt, viele Geschäfte, mindestens zweimal pro Tag eine Rettung oder die Polizei mit Blaulicht. Ich kann die Signaltöne und die Richtung, aus der sie kommen, schon gut unterscheiden. Urbanes Flair, verkehrsgünstig. Der polyphone Beethoven hat aufgehört, ein Freund ruft an. Ich schildere ihm meinen Zustand. „Fahr ein paar Tage in die Berge“, rät er mir, „ohne Bücher, ohne Computer, ohne Plan. Mach einfach gar nichts.“ Gar nichts? Wer hat denn Zeit für so etwas? Ich muss ein Buch über die Stille schreiben.

Harald Koisser, November 2006

Vorwort

„Es tut mir leid, dass ich dir heuteeinen so langen Brief schreibe,aber ich hatte einfach keine Zeit.“Johann Wolfgang Goethe

„Wo die Moderne das Terrain besetzt, sind Langsamkeit und Stille ausgetrieben“ (Gerd Achenbach). Der Pulsschlag der Welt wird – wie bei einem Läufer, der das Tempo steigert – schneller und lauter, es klopft schon in den Schläfen, aber es heißt durchhalten!

Warum und wozu durchhalten? Wir haben keine Zeit, inne zu halten, um diese Frage auch nur zu stellen. Die industrialisierte Welt nimmt dem Menschen die Stille und so findet er keine Ruhe mehr. An keinem Ort, auch nicht in sich. Bald ist der Mensch nur noch außer sich. Das Dilemma der Moderne: Weil das allgemeine Tempo so hoch ist, müssen wir Gas geben. Weil wir Gas geben, ist das allgemeine Tempo so hoch. Wir befinden uns auf einer turbulenten Party, wo wir bereits laut schreien müssen, um uns Gehör zu verschaffen. Wer dabei die Stimme verliert, verliert. Wir rasen schreiend in eine Sackgasse.

Es wird Zeit für eine Rückeroberung der Stille. Das kann jeder einzelne für sich bewerkstelligen. Ich halte den Anteil jedes einzelnen Menschen am Verlust der Stille für derart groß, dass kein bequemer Verweis auf allgemeine Entwicklungen und Verzweiflung an der lauten Welt angebracht sind. Das würde zu nichts außer allgemeinem Kopfnicken führen. Ich schreibe dieses Buch genau für Sie. Jawohl: Sie!

Stille ist höchst notwendig für physische und psychische Gesundheit, wie auch der bekannte Allgemeinmediziner und Therapeut Georg Wögerbauer in seinem Beitrag aufzeigt. Stille ist ein Kernbedürfnis des Menschen und es ist keine Nebensächlichkeit, dass wir sie verlegt haben und nicht mehr finden. „Die ganze Schönheit des Lebens entsteht aus dem Gegensatz von Licht und Schatten“, schreibt Leo Tolstoi in der Anna Karenina. Wir sind Rhythmus-Pause-Lebewesen, die ein Wechselspiel von Licht und Schatten, Verzicht und Genuss, Anspannung und Entspannung brauchen. In der modernen Welt lässt sich allerdings eine allgemeine Unfähigkeit zur Entspannung diagnostizieren, die darin mündet, dass „Stress“ von der Weltgesundheitsorganisation zur größten Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts gekürt wurde. Wir laborieren am modischen „Burnout Case“, wie Graham Greene eine 1960 geschriebene Erzählung nannte. Um in Stresszustände zu geraten, muss man gar nicht mehr in so genannten Stressberufen arbeiten. Es genügt schon, durch Mobiltelefon und E-Mail rund um die Uhr erreichbar zu sein. Für Firma, Freunde, Mama und Kinder. Die Möglichkeit der dauernden Erreichbarkeit wird zur bedrohlichen Erwartung. Wir wagen es nicht mehr abzuschalten. Keine Idee von Stille.

Es ist ein Buch für alle und darum werde ich auch nicht „dunkel reden, um gelehrt zu reden“ (Balthasar Gracian). Es ist ein dünnes Buch. Alles andere wäre bei einem Buch über die Stille auch seltsam. Es ist ein westliches Buch. Ich bin in Europa aufgewachsen und schreibe für diesen Kulturkreis. Vom zeitgeistigen Schielen auf asiatische Modelle halte ich nichts. Es befriedigt die Lust an Exotik und bleibt doch nur ein Akt der Verzweiflung. Das Angenehme an der Beschäftigung mit Zen-Buddhismus oder fernöstlicher Meditation ist nur, dass wir mangels kulturellem Hintergrund wenig davon verstehen und somit auch nichts an uns ändern müssen. Stille ist etwa bei der japanischen Teezeremonie das oberste Ziel. Sie entsteht durch die Verwirklichung von drei anderen Prinzipien – Wa (Harmonie), die Verbundenheit aller Lebewesen untereinander, Kei (Respekt), die Hintanstellung des Ich, und Sei (Reinheit), die Forderung nach Sparsamkeit und Reduktion. Der Tee ist dabei Medium. Er wird in langen Ritualen zubereitet und getrunken, bis sich ein Anflug von Jaku (Stille) einstellt. Können wir diesen Weg gehen? Wohl kaum, denn Tee ist bei uns kulturell nicht als Meditationsinstrument verankert und wir würden wohl auch die eigenwilligen Zeremonien des Teemeisters eher mit verhaltenem Amüsement als mit entspannter Erwartung betrachten. Auch finden wir stundenlanges Stillsitzen, wie es die Zen-Buddhisten kennen, nicht entspannend und reinigend. Bei diesem so genannten Zarzen muss man die unweigerlich aufkommenden Schmerzen und Beklemmungen niederkämpfen, einfach den Körper ausschalten und ignorieren lernen. So gelangt man durch Zarzen zu Stille. Der Unterschied dieser und ähnlicher Methoden zur westlichen Kultur ist eklatant. Der Asiate entspannt sich im Ruhen, der westliche Mensch aber im Tun. Es ist – nebenbei bemerkt – eine höchst originelle Situation, dass die Asiaten derzeit bestrebt sind, westliche Philosophie und Wirtschaftsideen zu kopieren, und der Westen sich in asiatische Meditationstechniken verliebt. So als wollten wir Kulturen tauschen. Es geht auch einfacher. Die Stille hat auch in unserer Kultur eine Heimat.

Es ist ein praktisches Buch. Philosophie sollte stets einen Nutzen haben und pragmatische Wirkung entfalten. Auf eine allgemeine theoretische Betrachtung der Stille folgt daher ein Teil mit Übungen zur Gewinnung der Stille. Es sind 45 harmlose Übungen, die jeder in seinem Alltag durchführen kann. Ich denke, sie wirken auch schon ein wenig, wenn man sie nur liest. Wer ungeduldig und eher praktisch veranlagt ist, kann gerne gleich zur Seite 90 blättern. Generell ist das Buch in kurze Lesehäppchen segmentiert und Sie können es daher nach Belieben aufschlagen.

Jeder hat seinen eigenen Weg zur Stille. Dieser Weg muss gegangen werden, denn auf Knopfdruck ist Stille nicht verfügbar. Sie ist selten geworden und droht auszusterben. Ihre Rettung könnte darin liegen, dass sie vom Zeitgeist, der gerade eine neue Innerlichkeit entdeckt, als Luxusgut eingeführt wird. Ein Luxus, den man allerdings nicht kaufen, zu dem man nur selbst vordringen kann. So wie Michael Endes „Momo“ zu Meister Hora: „Und gerade, weil sie so langsam gingen, war es, als glitte die Straße unter ihnen dahin, als flögen Gebäude vorüber.“

Der Verlust der Stille

„Diejenigen, welche zu den häuslichen Andachtsübungen auch das Singen geistlicher Lieder empfohlen haben, bedachten nicht, dass sie dem Publikum durch eine solche lärmende Andacht eine große Beschwerde auflegen, indem sie die Nachbarschaft entweder mitzusingen oder ihr Gedankengeschäft niederzulegen nötigen.“ Der deutsche Philosoph Immanuel Kant beklagt sich über Lärmbelästigung anno 1790. Er war gegenüber Musik, die er eine „zudringliche Kunst“ nannte, sehr empfindlich, und begründete das auch wortreich in seiner „Kritik der Urteilskraft“.

Auch Arthur Schopenhauer findet, „die allgemeine Toleranz gegen unnötigen Lärm, zum Beispiel gegen das so höchst ungezogene und gemeine Türenwerfen, ist geradezu ein Zeichen der allgemeinen Stumpfheit und Gedankenleere der Köpfe“. Er regt sich in seiner 1851 erschienenen Schrift „Parerga und Paralipomena“ mächtig und seitenlang über das Peitschenknallen der Fuhrknechte auf und wollte ihnen für ihre lärmende Ungezogenheit gerne Prügel angedeihen lassen.

Karl Popper merkt in „Alles Leben ist Problemlösen“ an, dass er sich beim Aufkommen der Schreibmaschine den Umgang mit diesem nützlichen Instrument nicht angewöhnen konnte, weil ihn der Lärm des Tastenanschlags so sehr störte.

Türen- und Peitschenknallen, christliches Liedgut, Schreibmaschinentastatur – das also waren die lärmenden Ärgernisse aus dem 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Wenn Kant das Absingen geistlicher Lieder durch die Nachbarn beklagt, was hätte er wohl gesagt, würde er heute an der Tangentiale in Neapel, beim Flughafen Schiphol, oder einfach an einer Straße, die zu diesem und jenem undurchsichtigen Zwecke aufgegraben wird, wohnen? Oder in einer jener amerikanischen Siedlungen, wo jedes Haus seine Klimaanlage an der Außenmauer oder am Dach angebracht hat, sodass auf der Straße ein konstantes, lautes Summen und Brummen herrscht. Wenn ihn Psalme zum Niederlegen der Gedankengeschäfte zwangen, was hätten heutige Stadtautobahnen, Musikberieselung in Kaufhäusern, Leuchtreklamen und Presslufthämmer mit dem sensiblen Mann angestellt? Hätte er je einen Satz der „Kritik der Urteilskraft“ schreiben können? Womöglich wäre der mit Sicherheit etwas neurotische Kant schon früh in Therapie gewesen und dann in Nervenheilanstalten eingesessen, ohne je als Philosoph reüssieren zu können.

Was ist Stille?

„Klänge sind nur Schaumblasenauf der Oberfläche der Stille.“John Cage

Ab null Dezibel beginnt die Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Ohres – oder besser: dieser Punkt wurde mit null Dezibel markiert. Jede weiteren 10 Dezibel verdoppeln die Lautstärkeempfindung. Laut ist es aber auch mit 30 Dezibel noch nicht. In dieser Stärke klopft der Regen ans Fenster und flüstert man dem Liebsten etwas ins Ohr. An die 20 Prozent der Wiener Bevölkerung sind allerdings bereits einem Dauerlärmpegel um die 55 Dezibel bei Nacht und 65 Dezibel bei Tag ausgesetzt. Kinder, die unter solchen Bedingungen leben, zeigen Konzentrationsschwächen und chronisch erhöhten Blutdruck. Lauter wird es noch, wenn man an einem Presslufthammer vorbei geht; dann muss man mit rund 90 Dezibel zu Rande kommen. Flugzeugturbinen kommen auf rund 100 Dezibel. Am oberen Ende des Spektrums dürfte eine maximale Belastbarkeit des Ohres bei rund 120 Dezibel liegen, ein Schallpegel, der auf Popkonzerten und in Diskotheken durchaus realistisch ist. Dabei „kann man sich spüren“, denn weil Schall Energie ist, wird der ganze Körper in Schwingungen versetzt. Die Muskulatur versteift, die Blutgefäße verengen sich, das Stresshormon Adrenalin wird ausgeschüttet. Man kann Werte an die 120 Dezibel auch mit normalen HiFi-Anlagen oder durch die Direktbeschallung des Ohres über die Kopfhörer eines simplen Walkman erzielen. Mit einer täglichen, auch nur kurzen Belastung in dieser Lautstärke setzt man sich zuverlässig einem schleichenden Hörschaden aus.

Primär ist Stille also die Abwesenheit von Geräusch, somit ein akustisches Phänomen. In seiner absoluten Ausprägung als „vollkommene Stille“ existiert dieser Zustand in der Natur allerdings nicht, denn irgendetwas ist immer zu hören. Das Rascheln der Blätter im Wind, das Plätschern von Wasser, das Ächzen von Holz. Letztlich sind wir selbst nicht still, denn wir spüren unseren Pulsschlag und hören, wenn es sonst still ist, das zarte Rauschen von Blut in unserem Körper. Eine faszinierende Entdeckung, die der amerikanische Musiker John Cage in einem Aufnahmestudio machte. Er befand sich in einem schalltoten Raum, der die größtmögliche Annäherung an Stille, die der Mensch ersonnen und möglich gemacht hat, darstellt. Umgebungsgeräusche sind ausgeblendet, Schaumstoffnoppen an Wänden und Decken schlucken den Schall. Und doch hörte Cage etwas über seine Kopfhörer. Es war sein eigener Blutkreislauf, der ihm über das hoch ausgesteuerte Mikrophon eingespielt wurde. Aus diesem Erlebnis entstanden seine berühmten Kompositionen zur Stille.

Stille ist die Pause zwischen den Tönen, der Freiraum zwischen den Dingen. Wir können zweierlei nur voneinander unterscheiden, wenn dazwischen nichts ist. Ist da kein Nichts, ist alles eins und einerlei. Zwischen zwei Häusern ist eine Wiese, zwischen zwei Sätzen eine Pause, zwischen zwei Zeilen ein Abstand. Wenn die Häuser zu eng aneinander gebaut werden, wird der Freiraum enger und bedrückender. Wenn die Sätze in einem Buch zu dicht aneinander stehen, bekommt man mehr auf eine Seite, kann sie aber nicht mehr lesen. Erst die Stille dazwischen hebt das Eigentliche hervor. Stille ist das Fundament jeder Wahrnehmung. Wir tendieren zunehmend dazu, mehr in eine Einheit hineinzustopfen, die Stille also mit etwas auszufüllen, sodass sie nicht mehr da ist. Die Menschen haben heute Angst vor Pausen beim Sprechen. Fast holen sie schon keinen Atem mehr, stoßen ihn nur noch, angefüllt mit Lauten, atemlos aus. Ein Sprechbrei, der die Gedanken verklebt. Eine Unsitte für japanische Geschäftsleute. Dauersprechende westliche Geschäftspartner gelten als unseriös. Wer in einer Verhandlung nicht einmal schweigt, zeigt an, dass er nicht bedenkt, was er sagt. Nicht, dass wir nicht um den Wert der Stille wüssten. In der Hitze des Gefechts ist immer noch Schweigen das Beste. Auch verstummen wir in flammender Emotion. „Vor Begierde schreiend, ist er stumm vor Furcht“ (Giordano Bruno). Sexualität ist ein Akt des Schweigens, eine Meditation und die vielleicht letzte Einübung in Konzentration und Stille, die der zivilisierte Mensch noch kennt.

Stille ist das Kontrastmittel, durch das anderes sichtbar wird. Wenn wir sie nicht mehr zulassen, können wir auch nichts mehr wahrnehmen. Sie wird selbst zum Eigentlichen, weil ohne sie keine Musik, kein Buch, kein Gespräch, kein Gedanke, kein Leben mehr möglich ist.

Die größtmögliche Reduktion von Umgebungslärm ist eine heilsame, angenehme Erfahrung. Stille ist der Schlaf des Ohres. Frieden kehrt ein, der Hörsinn kann sich erholen und auf neues Hören vorbereiten. Doch diesen Frieden kann man nur genießen, wenn auch die anderen Sinne Pause machen. Stille stellt sich nicht ein im flackernden Neonlicht oder dichten Menschengedränge, selbst wenn es sonst leise wäre.

Die Interdependenz der Sinne

Unsere Sinne sind ein zusammenhängendes System. Lärm behindert zweifellos das Denken sowie Konzentration auf etwas Bestimmtes überhaupt am besten gelingt, wenn andere Sinne Pause machen. Das Schmecken kann durch intensive Düfte blockiert werden, das Fühlen durch laute Musik und der Musikgenuss wird gestört durch rasende Gedankengänge. Wer also sein Essen schmecken möchte, sollte die Duftkerzen ausblasen, wer in innige erotische Umarmungen verstrickt ist, sollte besser die Musik leise oder ganz abdrehen und wer Musik genießen will, sollte frei von drängenden Problemen sein. Die Sinne entfalten sich in der Exklusivität. Und wirklich still wird es, wenn sie alle gemeinsam Pause machen.

Stille – Freiheit von Reizverarbeitung

Stille ist somit ein Zustand, der nicht ausschließlich in Dezibel gemessen werden kann, sowie auch Langsamkeit – ein enger Verwandter der Stille – sich nicht ausschließlich in km/h ausdrückt. Deren Gegenteil, Lärm und Schnelligkeit, sind allgemeine Sinnbilder für eine Überflutung. Stille ist somit im erweiterten Sinn ein reizfreier Zustand. Die Verarbeitungsmaschinerie von Geist und Körper ist auf Stand-by geschaltet und Stille kann in Form „innerer Ruhe“ ihre wohltuende Wirkung entfalten.

Es wird still um die Stille

Hörschäden und Entwicklungsstörungen bei Jugendlichen nehmen zu, jeder zweite Erwachsene leidet fallweise an Stress-Symptomen. Tiere wie Wale oder Singvögel werden immer lauter, weil sie den menschlichen Lärm übertönen müssen. Stille, selbst in ihrem eigentlichen akustischen Sinn, wird zu einem Zustand jenseits der Erfahrungswelt des modernen Menschen. Sie verblasst, wird also selber ganz still, indem sie sich im allgemeinen Lärm auflöst.

Dafür werden ihr Gedenktage und Wallfahrtsorte gewidmet. Im April 2004 wurde ein internationaler Tag der Stille abgehalten. Im Frühjahr 2006 wurde rund um das Waldviertler Kloster Pernegg die weltweit erste Erlebniswelt der Stille eröffnet. Mit feinfühligen Inszenierungen wie einem philosophischen Garten, einem Kräuterlabyrinth oder einem Stummfilmkino soll der Gast an die Stille herangeführt werden. Das Kloster scheut sich nicht, mit dem zu werben, was nicht da ist. Kein Fernsehgerät im Zimmer, kein Internetanschluss, keine Musikbeschallung in der Taverne, keine verkehrsgünstige Lage mit Autobahnanschluss und Airportshuttle. Eine scheinbar paradoxe Werbebotschaft, die den gewohnten Überfluss konterkariert. Wir haben von allem zuviel, außer vom Mangel. Diese Ruhe vom Zuviel ist das Produkt dieses Urlaubsortes. Nirgendwo sonst gilt so sehr, dass das respektvolle Zulassen von Stille Spiritualität darstellt. „Wahres Lauschen ist Andacht“ (Martin Heidegger).

Wie wir die Stille verlieren. Die ruhelose Welt.

„Er schätzte die Zivilisation,die mit ihren Lichtsignalenund Motorgeräuschen rings um ihn blitzteund knatterte, nicht sehr hoch ein.“