Die Ruine der Raben - Jan Flieger - E-Book

Die Ruine der Raben E-Book

Jan Flieger

4,7

Beschreibung

Als ob eine Radpartie durch Irland gruselig sein könnte. Daran haben Daniel, Jonas und Colin wohl zu allerletzt gedacht. Aber spätestens als ihnen das Mädchen Maureen von einem Spuk erzählt, da wird den drei Jungen doch etwas unheimlich. Und dann gehen sie auch noch hinein in die Burg, die so bedrohlich dasteht. Und man ahnt schon, dass bald etwas Geheimnisvolles und Gefährliches passiert. Schließlich ist Vollmond und noch manches mehr, was zusammenkommen muss, damit es spukt. Gruselig. INHALT: DIE WARNUNG DAS LABYRINTH IM DORF DIE AUGEN DER TOTEN DER ANGRIFF DER RABEN DAS GEHEIMNIS DER BURGRUINE DIE AUGEN IM MOOR IM LABYRINTH DES SCHRECKENS EIN GEFÄHRLICHER PLAN STURZ IN DEN SCHRECKEN RUF OHNE ANTWORT DAS UFER DER ANGST DIE HÖHLE DER WEISSE RABE GEFÄHRLICHE FLUCHT DIE WÜSTE DER STEINE DIE SOLDATEN CROMWELLS DIE BURG DER ANGRIFF DER AUGEN FLUCHT AUS DEM TAL DAS GRAUEN DAS SCHWARZE LOCH DER MANN MIT DEM ARMSTUMPF LESEPROBE: Colin hörte Daniel und Jonas nicht mehr. Waren sie ihm nicht gefolgt? Was war mit ihnen geschehen? Er schluckte heftig, sein Herz wummerte und er spürte, dass sein Mund trocken wurde und sein Magen sich verkrampfte. Und dann sah er sie. Es waren Fackeln! Sie kamen aus der Tiefe der Gänge auf ihn zu. Und ein Stöhnen war da. Schreie ertönten, grässliche Schreie. »Du Hund!«, schrie eine Stimme. »Du krepierst hier wie ein Schwein.« Colin tastete sich an den Wänden entlang, um eine Stelle zu finden, wo er sich verbergen konnte, aber er fühlte nur glatten Fels. Wer kam dort? Männer schleppten einen Gefangenen, rissen ihn mit sich, traten ihn. Der Gefangene stöhnte. Die Männer schlugen heftiger auf ihn ein, mit Fäusten, mit Peitschen. Immer weiter wich Colin zurück, so schnell es ihm möglich war. Da spürte er den Gang, der in eine andere dunkle Tiefe führte. Der konnte die Rettung für ihn sein. Die Schritte der Männer und das Stöhnen kamen näher und näher. Ihre Flüche wurden lauter. Und auch das Stöhnen des Gequälten. Am Eingang zu Colins dunklem Versteck blieben die Männer stehen. Im Licht der Fackeln konnte Colin jede ihrer Bewegungen sehen. Sie ketteten den Gefangenen an die Wand. Die Männer lachten. Sie trugen mittelalterliche Kleidung. Colin kannte so etwas aus Filmen. Wenn sie mich finden, dachte Colin, werden sie mit mir das Gleiche machen. Ich bin Augenzeuge ihrer Taten, einer, der nicht überleben darf. Die Männer lachten, sie verspotteten den Gefangenen.

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Impressum

Jan Flieger

Die Ruine der Raben

ISBN 978-3-86394-483-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1999 im Arena Verlag GmbH, Würzburg.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

PROLOG

Gewaltig stand die Ruine der Burg in der irischen Landschaft, auf einem grün bewachsenen Berg.

Etwas Bedrohliches ging von ihr aus. Die leeren Fensterhöhlen blickten finster auf jeden herab, der sich der Ruine näherte. Raben hockten wie schwarze Boten des Unheils auf ihren Mauern und Zinnen.

Unten im Dorf erzählte man sich von Männern, die versucht hatten, in die unterirdischen Gänge der Burg einzudringen und nie wiedergekommen waren.

Man hatte eine Tafel aufgestellt, die das Betreten der Burgruine untersagte. Aber Kletterpflanzen hatten die Warnung überwuchert ...

DIE WARNUNG

Die Straße wand sich in Serpentinen den grün bewachsenen Berg hinauf. Die drei Radler beugten sich tief über ihre Lenkstangen, auf den Gepäckträgern die Rucksäcke, rund und prall. Keuchend freuten sie sich bereits auf die Abfahrt. Vorbei war es an Weiden gegangen, die als grüne Vierecke, von Steinwällen begrenzt, die Ebene bedeckten, vorbei an grünen Hügeln und Mooswiesen, an Stroh gedeckten Cottages und kleinen Straßendörfern, vorbei am Atlantik, dessen Wellen mit wilder Wucht gegen die Felsen der zerklüfteten Küste brandeten.

An der Spitze quälte sich Daniel, der Älteste der drei, denn er war schon dreizehn und ging in die siebte Klasse eines Gymnasiums. Schlaksig war er und für sein Alter ziemlich groß. Der Wind fuhr in seine aschblonden Haare, zerzauste sie wild. Auf seinem Gepäckträger lastete das Zelt, noch nass vom letzten Regen.

»Nicht einschlafen, Alter«, ermunterte Daniel seinen Bruder. Er hatte sich umgewandt und ruderte heftig mit der linken Hand. Der Schalk blitzte dabei in seinen blauen Augen.

Jonas, der vielleicht fünf Meter hinter ihm fuhr, winkte wütend ab.

»Du nervst«, rief er Daniel zu. »Du nervst echt.«

Jonas war ein Jahr jünger als Daniel, aber er ähnelte ihm in keiner Weise, denn er hatte braune Haare und mandelbraune Augen, war auch einen halben Kopf kleiner und besuchte die sechste Klasse einer Mittelschule. Rasch rückte er seine flippige Sonnenbrille gerade, die sich ein wenig verschoben hatte. Daniel und er hatten zwar die gleiche Mutter, aber nicht den gleichen Vater.

Jonas war der Liebling der Mutter, der »Kleine«. Daraus ergaben sich allerhand Vorteile. Im Gegensatz zu Daniel, der mit Jeans und mit einer abgewetzten Lederjacke bekleidet war, trug er nur Markenklamotten. Die mochte Daniel überhaupt nicht. Für ihn war Jonas ein »Werbungssklave«, der alle Moden mitmachen würde.

Der dritte Radler war dicht zu ihm aufgefahren, Colin, der Cousin von Daniel und Jonas, ein Ire und gerade dreizehn geworden. Er war wieder ein ganz anderer Typ. Besonders hübsch war er nicht. Das mochte an seinen abstehenden Ohren liegen, aber auch an den rotblonden Haaren, die stets in alle Richtungen standen, selbst wenn es keinen Wind gab. Und es lag sicher auch an der Hornbrille mit den dicken Gläsern, kein modernes, aber dafür ein preiswertes Modell.

»Total genial, was!«, keuchte Colin.

»Was ist genial?«, maulte Jonas. »Dieser beschissene Anstieg?«

Colin lachte auf. »Nein, die Vorfreude auf die Abfahrt.«

»Gähn«, erwiderte Jonas. Abfahrten sind gefährlich, dachte er dann. Man konnte stürzen, wenn das Tempo zu hoch war oder ein Stein auf der Straße lag, den man zu spät sah. Flache Strecken waren ihm lieber, ohne Anstieg, ohne Abfahrten. Ein Sturz wäre auch nicht gut für sein neues Hemd, von der Mama schwer erbettelt wegen des stolzen Preises: einhundertfünfundsiebzig Mark.

»Stinklangweilig, solch ein Anstieg«, beeilte sich Jonas zu sagen und schnaufte widerwillig.

»Sind ja nur noch ein paar Meter«, erwiderte Colin lachend.

»Wenn du bessere Räder besorgt hättest, wär’s anders«, maulte Jonas wieder. »Diese alten Scheißmühlen vom Schrottplatz! Da tritt man und tritt man und kommt nicht vorwärts.«

»Besser als keine Räder«, konterte Colin. »Schließlich habe ich die von einem Tag zum anderen aufgegabelt. Ihr hattet nichts von Rädern geschrieben - soweit ich mich erinnere.«

»Fahr nicht so dicht ran«, schimpfte Jonas. »Bin ja wohl schon mal hingeknallt, oder?«

»Ja, ja«, beruhigte ihn Colin. »Du hast doch nur Angst um deine Klamotten. Hab ich nicht nötig.« Colin trug immer alte Jeans und karierte Hemden. Einer solchen Kleidung merkte man den Schmutz nicht so leicht an. Colin war, obwohl man ihm das nicht ansah, ein kleiner Abenteurer.

Aufatmend erreichte Jonas die Spitze des Hügels. Sein Haar klebte total verschwitzt an der Stirn und die Hände am Lenker waren feucht.

»Na, Alter, was sagst du nun?«, empfing ihn Daniel.

»Irland ist super. Sieh dich nur um. Superlandschaft.« Voll Bewunderung blickte er in die Runde.

Jonas winkte ab. Landschaften interessierten ihn nicht. Nie. Er fand sie ätzend und langweilig. Er konnte Daniels Schwärmerei überhaupt nicht verstehen. Regen und Sonne wechselten hier manchmal im Minutentakt. Das war auch ätzend. Und diese meterhohen Fuchsienhecken, die schwarz-weiß gescheckten Kühe auf den Weiden, die Schafe mit den bunten Farbflecken auf dem Fell, diese echt nervende irische Volksmusik, die man überall hörte. Was sollte daran schon toll sein? Und die Farbe Grün in so unendlich vielen Variationen? Na und? Grün war eben grün. Sollte Daniel seine »Grüne Insel« haben. Bitte. Ihm, Jonas, gefielen nur die alten Burgen, die uralten Hochkreuze und romantischen Rundtürme. Da konnte man sich Geister und Gespenster vorstellen. Da spukte es vielleicht sogar. Da gab es Geschichten und Legenden, etwa von der Piratenkönigin Grace O’Malley oder dem Riesen Finn. Oder die Geschichte von den Kelten, die das Eisen nach Irland gebracht hatten und ihre Priester, die Druiden. Nicht zu vergessen die großen Zerstörer, die Wikinger, die Irland besetzten, noch ehe die Normannen kamen. Mit Eisenwaffen und schnellen Schiffen. Oder die runden Ringforts. Millionen mörtellos aufeinandergeschichteter Steine, die auf Hügeln in der Landschaft standen.

»Vollbremsung!«, schrie Daniel.

Mitten auf der Straße stolzierte ungerührt eine Herde Schafe mit blauen Farbflecken im Fell.

»Die traun sich was«, schimpfte Jonas.

Sie fuhren vorbei an einem verlassenen Dorf mit verfallenen Steinhäusern. Gespenstisch blickten ihnen die Häuser mit leeren Fensterhöhlen entgegen. Später lag ein Dorf an der Straße, mit Häusern in sanftem Türkis, Lila und Pink. Danach radelten sie an Torfwiesen vorbei.

»Mensch, guckt mal!«, rief Daniel, denn da ragte sie aus der Ebene auf - die Ruine der von ihnen gesuchten Burg. Sie stand mitten auf einem Hügel in der Landschaft. Efeu und andere Kletterpflanzen überzogen die grauen Steinwände der Gemäuer und Türme, die Moosflechten taten ein Übriges.

Zwei Türme konnten sie sehen, der eine war gut erhalten, der andere zur Hälfte zerfallen. Die Burg schien mit ihren leeren Fensterhöhlen, die wie Löcher in einem Totenschädel wirkten, in das Land zu blicken, drohend und finster. In einem der Gemäuer waren die Fenster durch Steine verschlossen worden.

»Man hat irgendwie das Gefühl, dass die Burg keine Besucher will«, sagte Daniel nachdenklich.

»Wir müssen trotzdem rein«, kam es rasch und voller Eifer von Jonas. »Wer weiß, was es zu entdecken gibt. Das ist eine echt tolle Burg. Sie ist nicht freigegeben für Touristen. Hab ich gelesen. Das wird ein Superabenteuer.«

»Du sagst es, Alter«, grinste Daniel.

»Irgendein Clan hat hier regiert«, sagte Colin. »Es gab einmal einhundertfünfzig Königreiche auf Irland. Und alle haben sich um das Amt des Hochkönigs gekloppt.«

»Weiß ich«, verkündete Jonas stolz. »Weiß ich alles.«

Daniel wies grinsend auf Jonas. »Er ist der Geschichtsfan. Den kannst du alles fragen, der weiß sogar, wann Napoleon zum ersten Mal aufs Klo gegangen ist.«

Schwarze Wolken über der Burg kündigten Regen an.

»Ich schätze, wir sollten hier zelten«, schlug Daniel vor, als sie die Weiden vor der Burg erreicht hatten. »Hier ist sogar ein Bach zum Waschen.«

»Darfst du nicht«, warf Colin ein. »Alles Privatweiden.«

»Na, hier an der Seite«, wehrte Daniel den Einwand ab. »Kann doch kein Problem sein.«

»Du Känguru«, meinte Colin kopfschüttelnd. »Es gibt Pächter, die schießen mit Schrotflinten.«

»Die ticken wohl nicht richtig!«, meinte Daniel.

»Schrotkugeln im Arsch tun weh«, seufzte Colin.

Trotzdem bauten sie das Zelt auf.

Raben kreisten über der Burg, viele Raben - als ob irgendetwas in der Burg sie aufgescheucht hätte.

»Ein weißer Rabe«, stieß Colin plötzlich hervor. »Da fliegt ein weißer Rabe.«

»Du spinnst echt«, lachte Daniel auf, kniff aber die Augen zusammen. Dann sah er den Vogel auch. Es musste ein weißer Rabe sein.

»Jetzt ist er wieder weg«, ärgerte sich Colin.

Es war ein unheimliches Bild: Die finsteren Wolken. Die schwarzen Raben. Die so abweisend wirkende Ruine der Burg, die wie ein riesiger Totenschädel auf einem Hügel stand.

»Wollen wir da wirklich rein?«, fragte Colin vorsichtig.

Jonas nickte sofort. »Natürlich wollen wir«, versicherte er. »Wann kann man schon mal in eine Burg, die kein Museum ist? Wollen wir jetzt gleich gehen?«

»Wenn du meinst«, kam es von Daniel.

Sie stolperten los. Sie mussten durch dichtes Unterholz klettern, das die Burg wie ein künstlicher Wall umgab. Colin zerriss sich dabei sein Hemd. Fluchend und mit einem finsteren Blick zu Jonas kletterte er weiter.

Am Fuß der Burg lag ein Friedhof. Die Grabsteine, uralt und bemoost, ragten krumm und schief aus dem tiefen Gras hervor.

»Man kann die Inschriften nicht mehr lesen«, verkündete Colin enttäuscht. »Die sind uralt. Wer weiß, wer hier liegt. Vielleicht ein König?«

»Vampire mit Sicherheit«, spöttelte Daniel. »Die kommen heute Nacht in unser Zelt und polen uns zu Vampiren um. Und Jonas und ich machen dann zu Hause weiter.«

»Du redest einen Scheiß«, ließ sich Jonas vernehmen. Colin stolperte über einen Grabstein.

»Ich hab’s ja gesagt«, kam es lachend von Daniel. »Das war der erste Auftritt der Untoten.«

Sie erreichten nun die Burg. Durch ein verwittertes Tor, dem der steinerne Rundbogen fehlte, wollten sie den Burghof betreten. Da sahen sie einen Igel, der dicht neben dem steinernen Tor bewegungslos im Gras hockte. Vorsichtig schlich Jonas zu ihm hin.

»Ein Igel«, rief er laut.

Doch der Igel lief nicht weg, er schien zu schlafen.

»Vielleicht kommen hier wenig Menschen hin«, meinte Colin. »Der rennt nicht weg. Der sonnt sich.«

Jonas blickte auf den Igel hinab, der nun zu seinen Füßen hockte. Die Stacheln bebten leicht, also lebte er. Hatte er sie noch immer nicht bemerkt? Das war höchst seltsam.

Vorsichtig berührte ihn Jonas mit den Fuß. Aber der Igel lief nicht weg.

»Lass ihn doch«, schimpfte Daniel. »Es ist sein Revier. Wir sind hier nur Gäste.«

Aber Jonas sah sich den Igel genauer an. Der Igel lebte, wieso stellte er sich tot? Kopfschüttelnd sah Daniel seinen Bruder an. »Nun komm schon, Alter.«

Jonas berührte den Igel nochmals mit dem Fuß, nun etwas heftiger. Erschrocken fuhr er zurück. Kreidebleich wurde sein Gesicht. Sein Herz wummerte.

Aus dem Igel brach ein Gewimmel weißer Maden hervor, aus dem Maul, den Augen, den Ohren. Der Igel war tot, doch gleichzeitig war Leben in ihm, fremdes Leben.

»Scheußlich«, schüttelte sich Daniel angeekelt.

»Wie eine Warnung«, entfuhr es Colin leise.

»Eine Warnung?«, wollte Daniel wissen. »Wovor?«

Colin rieb sich nachdenklich den Nacken. »Na ja, als ob wir nicht in die Ruine gehen sollten. Ich seh das so.«

Daniel grinste spöttisch.

»Hosen voll?«, spottete er dann.

Jonas musste sich übergeben, minutenlang.

Daniel berührte mitfühlend die Schulter seines Bruders.

»Geht’s wieder?«, fragte er leise.

»Ja«, keuchte Jonas, spuckte aber noch mehrmals ins Gras.

»Wir können«, sagte er endlich.

DAS LABYRINTH

Und so betraten sie den Hof der Burg. Über ihnen flogen aufgeregte, kreischende Raben. Die Ruine war nahezu völlig zugewachsen. Es wirkte gespenstisch. Die Eingänge zu den Türmen hatte man zugemauert, nur die Schießscharten waren offen geblieben, allerdings lagen sie sehr hoch.

»Wir passen nicht durch«, maulte Jonas enttäuscht. »Hier ist überhaupt alles zugemauert. Hier kommt man nirgends in die Burg.«

Sie untersuchten das Gebäude neben dem Eingang. Jonas war es, der unter dichtem Blattwerk einen Spalt im Mauerwerk fand, durch den ein Junge passen konnte, wenn er nicht dick, sondern sehr schlank war. Als er Blätter und Ranken beiseiteschob, schrie er auf und sprang entsetzt zurück. Daniel und Colin zuckten zusammen.

»Was ist denn?«, wollte Colin wissen.

»Eine Kreuzspinne«, murmelte Jonas. »Beinahe hätte ich sie angefasst. Ein Riesending.«

Vorsichtig zwängten sie sich durch den Spalt. Die Schreie der Raben klangen ihnen auch, als sie eine schmale Treppe hinabstiegen, noch laut in den Ohren.

»Die kommen uns wohl nach?«, ließ sich Colin vemehmen. Aber da zuckte er zusammen, presste sich erschrocken an die Wand. Daniel und Jonas taten es ihm nach, denn ein dunkler schwarzer Blitz schoss an ihnen vorbei.

»Nur eine schwarze Katze mit einem Jungen im Maul«, grinste Daniel. »Wir haben mehr Angst gehabt als die blöde schwarze Katze.«

Sie stiegen tiefer hinab, gelangten in ein Gewölbe, das nur ein schwacher Lichtschein erhellte.

»Taschenlampe lässt grüßen«, sagte Daniel. Aber sie hatten nun mal keine mitgenommen. »Wollen wir nun umkehren?«, fragte Daniel spöttisch.

»Nein, nein«, wehrte Jonas die Frage ab. Wenn es um Burgen ging, hatte er nie Angst oder er unterdrückte sie.

Bald konnten sie sich nur noch tastend vorwärts bewegen, dicht beieinanderbleibend.

Plötzlich war im Dunkel die Stimme von Jonas zu hören. »Hier ist ein Loch in der Mauer. Da kann man durchklettern.«

»Jeder hält sich am anderen fest«, schlug Daniel vor. »So können wir uns nicht verlieren.«

Vorsichtig krochen sie durch das Loch. Jonas war der Erste. Er ließ seine Füße in das Dunkel hinabgleiten, fand felsigen Boden.

»Hier geht’s weiter«, flüsterte er.

Nun sprach keiner mehr laut. Sie waren umgeben von absoluter Dunkelheit und absoluter Stille. Sie standen reglos, ehe sie, sich weitertastend, dem Gang folgten.

»Es geht nach rechts«, flüsterte Jonas.

»Aber man kann auch nach links gehen«, stellte Daniel überrascht fest.

»Wir gehen nach rechts«, kam es von Jonas.

Tiefer und tiefer drangen sie in dieses seltsame Labyrinth ein.

»Irgendwann muss ein Ausgang kommen«, erklärte Jonas leise. Aber seine Stimme zitterte.

»Deine Worte in Gottes Gehörgang«, antwortete Daniel leise.

Ein Geräusch war plötzlich da, ein seltsames Geräusch.

Sie erstarrten, verharrten dicht aneinander gedrängt.

»Mich hat was ins Bein gebissen«, stöhnte Jonas auf. Offenbar wagte er nicht zu schreien. Welche Tiere konnten in den Gängen hausen? Ratten?

»Bestimmt ein Vampir«, lachte Daniel unsicher auf.

»Sehr witzig«, ärgerte sich Jonas.

Aber auch Daniel hatte plötzlich Angst. Sicher lag es an der Dunkelheit. Wenn es nun Wesen gab, die sie nicht kannten und die im Dunkel alles sahen?

»Quatsch«, machte er sich laut Mut.

»Was?«, wollte Colin wissen und seine Stimme bebte leicht.

»Weiter!«, kommandierte Daniel.

»Hier geht es nach links«, rief Jonas plötzlich. »Hier teilt sich der Gang wieder. Wir gehen nach rechts. Vielleicht gibt es einen alten Fluchtweg, der zur Burgmauer fuhrt. Jede Burg hat solche Gänge.«

Sie wussten nicht, wie lange sie schon in der Dunkelheit umhergeirrt waren, aber es musste einige Zeit vergangen sein. Colin schlug vor, doch lieber umzukehren und beim nächsten Mal Taschenlampen mitzunehmen. Jonas war einverstanden.

Plötzlich war dicht neben ihren Köpfen ein pfeifendes Geräusch zu hören.

»Fledermäuse«, vermutete Daniel, um die anderen, aber auch sich selbst zu beruhigen. Die Jungen tasteten sich zurück.

Doch sie mussten falsch gelaufen sein, denn plötzlich berührten ihre Hände eine Wand.

»Scheiße«, keuchte Colin. »Wir haben ein Problem.«

Jonas schrie auf. Es war ein gellender Schrei und Daniel packte die Schultern seines Bruders.

»Verdammt, ich bin gegen einen Felsvorsprung gerannt«, stöhnte Jonas auf.

Wieder ertasteten sie drei Gänge.

»Es muss nach rechts gehen«, meinte Daniel nachdenklich.

Erneut endete der Gang an einer Mauer.

»Das ist ein Labyrinth«, stöhnte Daniel auf. Und dann kam es leise von Colin: »Wenn wir Pech haben, findet man uns alle einmal als Skelette. Wenn überhaupt!«

Seine Worte waren nicht als Spaß gemeint. Keiner antwortete ihm, weder Daniel noch Jonas. Die Angst beherrschte die Jungen. Eine dunkle, unergründliche Angst.

Ihre Finger tasteten nun immer schneller über die Felswände und sie keuchten, als fehlte ihnen die Luft.

»Schneller!«, drängte Colin. »Macht doch schneller!«

Und wieder endete der Gang an einer Mauer. Und wieder tasteten sie sich zurück. Endlich sahen sie einen Lichtschein. Und sie hörten die Schreie der Raben. Erleichtert atmeten sie auf.

IM DORF

War doch völlig ungefährlich«, meinte Daniel aufatmend, als sie auf dem Burghof standen. Colin sagte nichts, er sah sich den Igel noch einmal nachdenklich an.

Sie beschlossen einen Abstecher zum Dorf zu machen und liefen zu ihrem Zelt zurück, wo ihre Räder standen.

Sie brauchten nur wenige Minuten, bis sie das Dorf sahen. Die Häuser standen fast alle am Rand der Straße, aber nur auf der rechten Seite. Das erste Haus war flach, pinkfarben und hatte ein braunes Dach. Das nächste war einstöckig und weiß. Die Fensterrahmen hatte der Besitzer grün gestrichen. Dann folgte ein einstöckiges blaues Haus mit gelben Fenstern, dann ein flaches rotes Haus mit weißen Rahmen. Auch alle anderen Häuser waren bunt gestrichen. Am lustigsten sah der »Pub« aus. Das Haus war oben rosa und unten blau. Die Tür zum Pub war rot und hatte weiße Streben. »Larry O’Larrys Pub», stand auf einem blauen Schild über der Tür.

»Ein lustiges Haus«, fand Daniel. »Gehen wir rein. Ich habe Kohldampf.«

Sie lehnten die Räder an die Hauswand und betraten die Gaststube. Am Tresen zapfte der Wirt gerade ein Guinness, dieses dunkle Bier mit dem festen, sahnigen Schaum. Ein Meer von Flaschen stand in den Regalen im Rücken des Wirtes. Aber noch viele andere Dinge fielen sofort ins Auge: die in Schweinsleder gebundenen Bücher, die Tonkrüge und bunten Blechbüchsen, die unter der Decke auf den Regalen vor sich hin staubten. Auch ein Dudelsack, eine alte Petroleumlampe mit elektrischen Kerzen und nostalgische Werbeplakate.

»Wow«, entfuhr es Daniel begeistert. »Echt urig hier.«

Sicher sollte man in diesem Pub vor allem etwas trinken, aber eine Kleinigkeit essen konnte man bestimmt auch.

So setzten sie sich auf die alten dunklen Holzstühle an einen der Tische und warteten darauf, dass der Wirt zu ihnen kam. Er ließ sich Zeit. Ein Büschel von roten Haaren hing in sein breites, freundliches und rosiges Gesicht.

»Na, die Herren?«, fragte er schmunzelnd. »Guinness darf ich ja wohl nicht bringen.«

»Ich nehme eine Cola«, rief Jonas. »Und Würstchen.«

Daniel und Colin schlossen sich dieser gelungenen Bestellung an.

»Mm«, brummte der Wirt freundlich. »Wo seid ihr denn her?«

»Deutschland«, antwortete Daniel. »Aber Colin ist Ire. Unser Cousin und Fremdenführer.«

Der Wirt strahlte noch mehr. »Gut«, lobte er. »Fahrt ihr hier durch?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Wir zelten an der Burgruine. Die ist super.«

Der Wirt hob ein wenig die Brauen. »Aber kriecht dort nicht rein! Die ist nicht ungefährlich! Da gibt es unterirdische Gänge, die noch gar nicht alle erforscht worden sind. Da ist mal ein Engländer reingekrochen und nie wiedergekommen. Und spuken tut es auch.«

»Was?«, entfuhr es Jonas. »Da spukt es echt?«

»Ja«, bestätigte der Wirt die Frage. »Es spukt, wenn einige Dinge zusammenkommen.«

»Was für Dinge?«, wollte Jonas wissen.

»Ein anderes Mal, Jungs«, rief der Wirt. »Das ist eine längere Geschichte. Aber vielleicht kann sie euch Maureen erzählen.«

Und da sahen sie das Mädchen. Es stand plötzlich hinter dem Wirt.