Flucht über die Anden - Jan Flieger - E-Book

Flucht über die Anden E-Book

Jan Flieger

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Beschreibung

Vor 49 Jahren, am 11. September 1973, begann in Chile die Nacht. Unter General Pinochet putschte das Militär gegen die Regierung von Präsidenten Allende und errichtete eine Diktatur, die Angst und Schrecken, Tod und Verderben verbreitete und erst 1988 beseitigt werden konnte. Doch bis dahin war es ein langer und gefährlicher Weg – fast so lang und gefährlich wie der Weg über die Anden, um von Chile nach Argentinien zu gelangen. Diesen Weg muss Sardo nehmen, denn er ist gefährdet, und er ist – blind. Im Gefängnis hatten sie ihm das Augenlicht geraubt. Daher braucht Sardo Hilfe, einen Lotsen, einen, der sich auskennt, einen, der nicht weiter auffällt. So einer ist der achtjährige Paco. Er hat wild wachsende Haare, schwarz wie aus einer Teertonne. Die Augen sind braun und sehr wach. Der Hunger hat ihn wach gemacht, früher als sonst. Er werde zum Barrio Alto gehen, zur Oberstadt, denkt der Junge, als er aus seiner Kiste klettert, in der er die Nacht verbringt. Paco hat keine Eltern mehr: Die Generale haben auch Pacos Eltern geholt, in das große Stadion, wo sonst der Fußball rollte. Paco sah sie nie wieder. In der Siedlung trifft Paco auf Julio, der ihn auf einen Spaziergang mitnimmt: Sie verlassen die Siedlung. Die Straße führt zu einem Park. Er liegt wie ausgestorben, nur ein Bettler läuft an ihnen vorbei, er hat auf einer Bank geschlafen. „Ich habe dich beobachtet“, sagt Julio. Paco runzelt die Stirn. Was gibt es an ihm Besonderes? Ein Junge ohne Eltern. Tausende leben wie er in Santiago seit dem Tod Allendes. In Pacos Siedlung allein fünfzig. Vielleicht sogar mehr. Neue kommen hinzu; andere verschwinden, als hätte sie die Nacht verschluckt. „Wir müssen jemanden nach Argentinien bringen“, sagt Julio, „durch das Land und über die Anden, einen Freund deines Vaters. Er war im Gefängnis. Sie schlugen ihn blind. Es ist uns gelungen, ihn herauszuholen, und er braucht einen Lotsen, einen, der wenig auffällt, einen Jungen, klug und ohne Angst.“ Die Gedanken wirbeln in Pacos Kopf. „Überschlafe es“, sagt Julio, „wenn sie euch fassen …“ Paco nickt. „Ich komme morgen wieder“, sagt Julio. Paco sieht ihn ängstlich an. Wenn Julio nicht wiederkommt? Doch dessen Hand ruht schwer auf seiner Schulter, wie ein Versprechen. In der Nacht schläft Paco schlecht: Von riesigen Bergen träumt er, den Schneegipfeln der Anden. Bis in die Wolken sollen sie ragen, nicht mal ein Kondor fliegt so hoch. Wie können Menschen über diese Berge gehn, ein Junge und ein Blinder?

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Impressum

Jan Flieger

Flucht über die Anden

ISBN 978-3-86394-491-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1981 in DER Kinderbuchverlag Berlin in der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ (Band 148).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern

Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Der Hunger hat ihn wach gemacht, früher als sonst. Ich werde zum Barrio Alto gehen, zur Oberstadt, denkt der Junge, als er aus seiner Kiste klettert, in der er die Nacht verbringt.

Der Junge heißt Paco. Er hat wild wachsende Haare, schwarz wie aus einer Teertonne. Die Augen sind braun und sehr wach.

Der Himmel steht wolkenlos über Santiago, es gibt keinen Frühdunst wegen der trockenen Luft.

Im Barrio Alto ist es noch still. Die Villen scheinen zu schlafen. Das Beste an diesem Viertel, denkt Paco, sind die Mülltonnen. Heute sind sie schon durchwühlt. Die Hunde waren da, sie kamen in Rudeln.

Hungrig geht Paco zur Siedlung zurück. Sie ist eine von sechshundert in Santiago. Der Priester hatte es gesagt, bevor Guillermo ihn tot fand im Mapocho, dem schmutzigen Fluss.

Die Menschen sind wach.

Der Neger Guillermo sitzt vor seiner aus Kisten genagelten Hütte und kaut müde an einem Stück Holz. Sicher hat er in der Nacht vor der Fabrik gestanden — aber immer nur ein paar Männer bekommen Arbeit. Guillermo hat acht Kinder, darunter einen Sohn, den José, der so alt ist wie Paco.

Paco schlendert vorbei an Luz Maria. Sie kocht etwas in einem alten Kanister und sieht nicht hoch. Ihre Kinder hocken nebeneinander, klein und zerlumpt.

Paco bleibt vor der Hütte von Christian stehen. Sie ist die stabilste in der Siedlung und durch das Blechdach immer trocken. Christian war zur Zeit Präsident Allendes ein Pächter, lebte im Norden des Landes. Doch dann verkaufte der Gutsherr sein Land einem amerikanischen Konzern.

Paco stand neben Guillermo, als Christian kam, auf dem Rücken ein Bündel, hinter sich seine Frau und die Kinder. Die Frau ist eine Indianerin und gibt Paco manchmal Maisbrei. Aber nur, wenn Christian ein paar Eskudos verdient. Selten genug. Wunder gibt es für keinen mehr in der Siedlung. Die Generale haben sie ihnen genommen. Die Generale haben auch Pacos Eltern geholt, in das große Stadion, wo sonst der Fußball rollte. Paco sah sie nie wieder. Auch Luz Maria weint um ihren Mann, und ihre Jüngste, Beatriz, wurde geboren, als er schon tot war.

Der kleine Rico kommt angerannt. Seine Worte prasseln. Paco sieht an der Hütte der alten Franziska den Fremden stehen. Woher kennt Paco das Gesicht mit diesen schwarzen, tief liegenden Augen und den breiten Backenknochen, über die sich die Haut spannt wie braunes Leder?

„Tag, Paco“, sagt der Mann. Paco kann sich nicht erinnern, ob es ein gutes Treffen war oder ein schlechtes.

„Gehen wir ein Stück“, sagt der Mann, „willst du einen Apfel?“

Paco nickt und beißt in den Apfel. Der Fremde hat eine Narbe über dem Auge, die seine rechte Braue spaltet. Mit einem Mal weiß Paco auch, wer der Mann ist. Es war noch, als die Eltern lebten, er hatte Fieber und lag im Bett, der Mann holte Plakate vom Vater. Plakate mit dem Bild Allendes. Er klebte sie vor der Wahl an die Häuserwände. Der Vater rief ihn Julio. Kinder laufen vor ihnen her und jagen eine Ratte. Staub und Lärm füllen die Gasse. „Wie lebst du?“, fragt Julio.

„Wie alle“, sagt Paco. Was soll er antworten auf solch eine Frage?

„Wer ernährt dich?“

„Ich suche mir was.“

„Und heute?“, fragt Julio. Paco zeigt auf den Apfel.

Sie verlassen die Siedlung. Die Straße führt zu einem Park. Er liegt wie ausgestorben, nur ein Bettler läuft an ihnen vorbei, er hat auf einer Bank geschlafen. „Ich habe dich beobachtet“, sagt Julio. Paco runzelt die Stirn. Was gibt es an ihm Besonderes? Ein Junge ohne Eltern. Tausende leben wie er in Santiago seit dem Tod Allendes. In Pacos Siedlung allein fünfzig. Vielleicht sogar mehr. Neue kommen hinzu; andere verschwinden, als hätte sie die Nacht verschluckt.

Wir müssen jemanden nach Argentinien bringen“, sagt Julio, „durch das Land und über die Anden, einen Freund deines Vaters. Er war im Gefängnis. Sie schlugen ihn blind. Es ist uns gelungen, ihn herauszuholen, und er braucht einen Lotsen, einen, der wenig auffällt, einen Jungen, klug und ohne Angst.“

Die Gedanken wirbeln in Pacos Kopf.

„Überschlafe es“, sagt Julio, „wenn sie euch fassen …“

Paco nickt.

„Ich komme morgen wieder“, sagt Julio. Paco sieht ihn ängstlich an. Wenn Julio nicht wiederkommt? Doch dessen Hand ruht schwer auf seiner Schulter, wie ein Versprechen.

In dieser Nacht kann Paco kaum schlafen. Von riesigen Bergen träumt er, den Schneegipfeln der Anden. Bis in die Wolken sollen sie ragen, nicht mal ein Kondor fliegt so hoch. Wie können Menschen über diese Berge gehn, ein Junge und ein Blinder?

Sehr früh ist Paco im Park bei den Pinien. Und plötzlich steht Julio hinter ihm.

„Du hast es überschlafen?“

Paco nickt, aber ein Kloß sitzt in seinem Hals.

Julio ahnt, was Paco denkt. „Du wirst Sardo kennenlernen“, sagt er, „den Blinden. Er entscheidet als letzter. Sein Leben hängt von dir ab."

Paco und Julio gehen in das Hafenviertel. Die Gassen kennt Paco nicht, eng und verwinkelt. Sie stehen in einem schmalen Flur. Dreimal klopft Julio. Eine Tür öffnet sich, und sie treten in einen niedrigen Raum, der nur ein winziges Fenster dicht unter der Decke hat. Paco sieht einen kleinen schmächtigen Mann mit einem faltigen, zernarbten Gesicht, So alt, wie er aussieht, wird er nicht sein, obwohl er schon grau ist und ihm Zähne fehlen, fast alle. Der Mann gibt ihm die Hand, ihr Druck ist fest und verrät Kraft.