Die ungewöhnliche Brautfahrt und andere Geschichten - Jan Flieger - E-Book

Die ungewöhnliche Brautfahrt und andere Geschichten E-Book

Jan Flieger

4,9

Beschreibung

Das ist ein sympathisches Buch mit 34 sympathischen Kurzgeschichten. Schon bei der allerersten Geschichte liest man sich fest und denkt „Mann!“. Es lohnt sich auf jeden Fall, Dzimbulla kennenzulernen und wie er zu seiner Flaschenpost gekommen ist, der einzigen seit Langem, was darin steckt, was dann passiert und wie es überhaupt weitergeht – in diesem Buch voller literarischer Einfälle. Und vergessen Sie Dzimbulla nicht! INHALT: Flaschenpost für Dzimbulla Zimmer 582 Der Anfang eines Tages Die Schilfinsel Nachmittag eines Mädchens Die Katze Die Schöne ist noch weit … Das letzte Licht In einer Halle freitags nach vier Der Schreiber Hausdurchsuchung Die Kaderakte Antrittsbesuch Die ungewöhnliche Brautfahrt des Fängers Jonas Anatomie eines Selbstmordes Schach im 50-dimensionalen Raum Urlaub in Jalta Die Stromschnellen Abendbrot Nadine Puzzlespiel Der Marienkäfer Deutschdeutscher Mittag Ein Café mit Wiener Stühlen Das Fährhaus Ein Tag im Leben des Rex Maron Pillig holt seinen Blazer Verzweiflung Von einem Mann, einer Fee und dem Glück Das Finnenhaus Die Heiratsannonce Der Besuch Der große Mehlmann Ein blauer Herbst mit Cynthia

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Seitenzahl: 191

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Impressum

Jan Flieger

Die ungewöhnliche Brautfahrt und andere Geschichten

ISBN 978-3-86394-485-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Flaschenpost für Dzimbulla

Denken Sie nicht, ich hätte sie mir ausgedacht, diese Geschichte, weil es keine Märchen gäbe in unserer Zeit. Sie ist wahr, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Ich beginne also mit der Flasche ...

Die Flasche treibt im Strom, mit einem Tuch, einem weißen, das jemand um ihren Hals geschlungen hat. Immer wenn ein Boot vorbeigleitet, schaukelt die Flasche, und es sieht aus, als winke sie mit dem Tuch. Das Winken sieht man erst, wenn die Wellen kommen, aber dann gleitet das Boot schon vorbei.

Dzimbulla sieht das weiße Tuch und auch die Flasche, als ihn ein Motorboot überholt und er dem Winken nun entgegenstampft auf seinem Schubschiff, das gekoppelt fährt mit zwei Prahmen voller Kohle.

Dzimbulla ist Bootsmann und seit zwanzig Jahren auf den Planken. Im Ruderhaus steht Karl-Heinz, der Schiffsführer, und auf der Brücke der Lehrling Bodo. Bächler, der Maschinist, hockt in seiner Kajüte. Es ist ein sonniger Märztag und Hochwasser. An manchen Stellen ist der Strom doppelt so breit wie bei normalem Wasser, Buhnen und Dämme, die ihn regulieren, sind überflutet durch die Schneeschmelze im Gebirge und die Niederschläge der letzten Wochen.

Es ist eine kurze Fahrt. Mit der Strömung geht es immer zügig. In umgekehrter Richtung, bergwärts, wie Dzimbulla sagen würde, brauchen sie die dreifache Zeit. Nach Hause, zu den Familien, geht es nie schnell genug. Dzimbulla ist es gleich, er ist geschieden, hat von der letzten Ehe genug, will nur anlegen bei einer ruhigen, geduldigen Frau, aber die bäckt ihm keiner.

»Karl-Heinz«, ruft er, »eine Flasche.«

Der Schiffsführer winkt ab, Hochwasser fordert sein ganzes navigatorisches Können, verlangt volle Konzentration, und er muss ansetzen zu einem Ausweichmanöver, weil ein Schiff entgegenkommt, sein Verband kann auflaufen auf überflutete Buhnen, kann festsitzen, kann beschädigt werden.

Zeitverzug haben sie mehr als genug: diese verdammte Schiffsschraube, die sich löste beim Auskuppeln der Steuerbordmaschine. Lange hatten sie gebraucht mit Stangen und Haken, bis sie sie fanden auf dem Grund.

Die Flasche treibt näher, und wie gebannt starrt Dzimbulla auf sie. Eine Flaschenpost, denkt Dzimbulla, die einzige seit Langem.

Es ist nicht einfach, sie zu angeln.

Dann hält er die Flasche in der Hand, eine dunkelbraune mit langem Hals. Dzimbulla geht in die Kajüte, und mit einem Stück Draht fischt er den Inhalt heraus: ein Röhrchen aus Papier mit einem Text und ein Foto. Eine Frau lehnt an einem Zaun. Es ist nur ein Teil von einem Foto, die anderen Personen wurden weggeschnitten. Die Frau wird wohl blond sein, vielleicht dreißig, sie lächelt und hat ein hübsches Gesicht.

Dzimbulla liest nun den Zettel: ein fröhlicher Schiffer gesucht, der Anker werfen möchte. Ein Dorf wird genannt, eine Straße, und am günstigsten sei es sonnabends. Wäre die Absenderin nicht da, solle man warten.

Dzimbulla schmunzelt. Das ist eine Art, einen Mann zu angeln, die ist ihm neu. Aber das Gesicht sagt ihm zu, und wenn sie in Magdeburg anlegen, hat er drei Tage Zeit, und sein Motorrad steht bereit.

Dzimbulla steht wieder an Deck. Bäume ziehen vorbei, Felder und Wiesen, einmal ein anderer Schuber. Rhythmisch stampfen die zwei Dieselmotoren. Als die Ruderhäuser in gleicher Höhe sind, hebt Dzimbulla die Hand zum Gruß. Es ist ein Freitag, und am Nachmittag geht er in Magdeburg von Deck.

Der Sonnabend kommt mit Sonne. Dzimbulla steigt auf das Motorrad gleich früh, aber das Dorf liegt weit entfernt, und vom Strom aus wäre es besser zu erreichen gewesen. Dzimbulla braucht fast zwei Stunden, verfährt sich, und eine Umleitung hält ihn auch noch auf. Endlich steht er vor einem Haus mit dem Namen der Frau auf dem Türschild.

»Bitte?«, fragt eine Frau, die aussieht wie auf dem Foto, nur ein wenig molliger.

»Sind Sie Frau Zapf?«

Die Frau nickt erstaunt: sie kennt Dzimbulla nicht.

»Ich komme wegen der Flaschenpost«, sagt Dzimbulla und wird verlegen, ausgerechnet jetzt, da alles ins Lot kommen könnte. Die Frau lächelt unsicher.

»Na ja«, sagt Dzimbulla, »ich habe sie herausgefischt.«

Er kramt in seiner Brusttasche, aber seine Finger zittern, und so zieht er den ganzen Inhalt heraus: Ausweise, die Brieftasche und auch das Foto und den Zettel.

Ein Schatten gleitet über das Gesicht der Frau, als sie den Zettel liest, aber es ist wohl die Wolke, die die Sonne verdeckt. Das Lächeln der Frau verfliegt.

»Der Zettel ist nicht von mir.«

»Nicht von Ihnen?«

Die Frau hebt die Schultern, senkt sie und schüttelt den Kopf.

»Na dann«, sagt sie, »ich muss ins andere Dorf.«

Am Zaun lehnt ihr Rad.

»Ich fahr Sie«, sagt Dzimbullä, der nun nichts mehr verstehen will, aber so bricht er die Geschichte nicht ab, eine Ladung wird gelöscht, im Hafen.

Er kann nicht schnell fahren auf dem Feldweg, und Dzimbulla erzählt alles noch einmal, nur mit mehr Worten, und hilft nach mit der linken Hand.

»Da sucht mir das Dorf einen Mann«, sagt die Frau, runzelt die Stirn und schweigt.

Dzimbulla schweigt auch und muss achtgeben, weil ein Weg kommt mit vielen Löchern und Pfützen. Er sieht ein einzelnes Haus, dahinter noch zwei, dann nur Wiesen, ganz fern ein paar Weiden.

»Da ist es«, sagt die Frau. »Wissen Sie, ich bin Gemeindeschwester.«

Dzimbulla hält vor dem Haus. Die Frau steigt ab.

»Ich gebe nur eine Spritze und massiere.«

»Ich warte«, sagt Dzimbulla und raucht einen Stumpen, den Rest wirft er weg, als die Frau aus dem Haus tritt. Dzimbulla atmet tief, er reckt sich und riecht den Strom, der hinter den Weiden fließt. Er spürt den Blick der Frau, länger als es ihm lieb ist.

»Einundsiebzig Jahre«, sagt die Frau, als sie schon fahren, »und rechtsseitig gelähmt, aber erledigt noch links Schriftkram für die Genossenschaft.«

Sie kommen wieder an im Dorf der Frau, aber zurück nach Magdeburg will Dzimbulla nicht. Er geht in die Hocke, als ob es was zu tun gäbe am Motor seiner Maschine, er weiß nicht, was er tun soll. Vor ihm, zum Greifen nah, steht die Frau. Dzimbulla blickt sie an, und der Schweiß bricht ihm aus allen Poren. So einen Hafen nach jeder Fahrt, so ein paar Augen, die einen warm machen wie ein Wodka, so eine Frau, die einen nicht wandeln will, die einen auch auszieht ohne Murren, wenn es im Dorfkrug mal besser schmeckt, als es gut ist, und der Boden unter einem weg will. So etwas liest man aus einem Gesicht.

»Nun muss ich Sie wohl reinbitten«, sagt die Frau, »wenn ich schon eine Flasche in den Fluss werfe mit einer Nachricht und hier ein Mann ist und ein Schiffer dazu.«

Dzimbulla folgt ihr in das Haus.

Dass sie die Flasche nicht treiben ließ, glaubt er ihr auch später nie.

Zimmer 582

Die Richterin hastete in das Polizeipräsidium, fuhr im Paternoster hinauf in den fünften Stock und lief den Gang entlang, bis sie an einer Tür die Zahl las, die sie suchte: 582.

Sie klopfte und atmete so schnell, dass sie nicht sprechen konnte. Sie wartete auf kein »Ja«. Als sie den Raum betrat, sah sie einen Tisch und drei Stühle und auf dem einen, am Fenster, den Jungen. Ein Mann lehnte an der Wand, die grün war, kahl und grün, und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Die Richterin war angerufen worden, weil man den Jungen gestellt hatte beim Zerstören von Signalanlagen.

Wie durch ein Wunder war nichts geschehen, ein Rangierer hatte den Schaden entdeckt, bevor der erste Zug kam von der Küste, mit Monteuren und Soldaten. Die Richterin betrat den Raum als Mutter.

Der Mann ging auf sie zu, er war schlank, auffallend schlank, schon grauhaarig und trug Zivil, und er nickte als Begrüßung, so, als ob er sie gut kennen würde.

»Sie können mit ihm reden«, sagte er, als er den Raum verließ. Der Junge sah die Mutter an, er war sechzehn, aber er sah älter aus.

»Klaus«, sagte die Richterin, »Klaus ...«

Sie atmete noch immer sehr schnell, und das Sprechen fiel ihr schwer.

Der Junge schwieg, seine Augen blickten kalt, und er kaute auf einem Kaugummi, schob das Kinn manchmal vor dabei und zurück.

»So rede doch!«

Der Junge schwieg, er kaute weiter, kaute und kaute und sah zum Fenster.

Die Hand der Richterin schnellte vor, traf die Wange des Jungen, aber er zuckte kaum zusammen. Die Richterin spürte einen bohrenden Schmerz in der Magengegend. Vor zwei Jahren, dachte sie, hatte es so begonnen mit dem Geschwür.

Die Richterin sah nur das Profil des Jungen, sie sah schon den Mann, aber sie sah auch noch das Kind, ihr Kind. Sie sah eine Wiese, und es war ein irrsinniges Bild in dieser Situation, aber es war da: Sie lief, lachte und lief, und der Junge lief vor ihr her, klein und blond. Die Wiese führte an einen Wald, und erst an seinem Rand holte sie den Jungen ein, sie fielen beide in das Gras, das sehr hoch stand. Sie lachten, und sie presste ihr Gesicht in das blonde Haar, sie küsste den Mund.

Ihr schien es, als habe es nur diese einzige Wiese gegeben, es kam kein anderes Bild ...

Der Junge vor ihr saß ganz starr. Die Richterin sah den Haarflaum über dem Mund, so, wie sie ihn nie gesehen hatte vorher, sah ein kantiges Kinn, jeden Mitesser, jeden Pickel, die kleine Narbe unter dem Auge, die sie vergessen hatte. Der Junge auf der Wiese hatte ein weiches Kinn, er schmuste gern.

Da war die Erinnerung an diesen Abend: Sie kam spät, sie kann sich noch heute erinnern an die Verhandlung, die Unterschlagung im Möbelwerk und die hohe Strafe, fast zu hoch, aber sie sprachen sie aus, weil sie abschrecken sollte, und sie war noch erregt, als sie die Wohnung betrat.

Aus dem Zimmer des Jungen drang Lachen, sie sah auf die Uhr und riss die Tür auf, ohne zu klopfen. Sie hatten sie nicht kommen hören, ihr Junge und das Mädchen, weil sie unter Kopfhörern saßen.

Das Mädchen trug geflickte Jeans. Die Richterin mochte keine geflickten Jeans, sie erinnerten sie an Gammler.

»Das ist Sylvia«, sagte der Junge, und das Mädchen sagte: »Hallo.« Die Richterin gab dem Mädchen nicht die Hand, sie ging wortlos aus dem Raum, schlug die Tür hart zu.

»Nicht in unserer Abwesenheit«, sagte sie später, als das Mädchen gegangen war.

»Es ist mein Zimmer«, sagte der Junge.

»Wir bezahlen es«, sagte die Richterin, »auch deine Stereoanlage haben wir bezahlt.«

Der Junge blickte finster, schwieg.

Das Mädchen sah sie nicht wieder.

Auf dem Gang hallten Schritte, von seinem Anfang bis zu seinem Ende, dem Paternoster; eine Tür schlug zu. Die Richterin schluckte, und es schien ihr, als würde das Geräusch im ganzen Raum hallen, und ihr Mund war trocken, wie nach einem langen, durstigen Marsch.

Wieder ein Abend. Sie saßen an ihren Schreibtischen, sie und Bernd, in ihren Zimmern, die nebeneinanderlagen, durch eine Tür getrennt, die offen blieb.

»Der Junge«, rief sie, »ist noch nicht da, und es ist elf.«

»Er wird schon wissen, was er tut.«

Die Richterin erschrak, sie stand auf und trat an Bernds Schreibtisch. »Wie gleichgültig du das sagst.«

Bernd blickte erstaunt. »Wir waren auch mal jung.«

»Wir müssen ihn suchen«, sagte sie.

Bernd blätterte weiter in einem Ordner. »Ich habe morgen eine Intensivierungskonferenz«, sagte er, »mit allen Größen aus dem Kombinat.«

»Ich kann nicht schlafen, Bernd, ich gehe!«

Er schüttelte den Kopf, und er sah sie verwundert an.

»Willst du durch die Stadt irren, oder kennst du seine Freunde, ihre Adressen?«

Sie atmete schwer, sie konnte nicht antworten, sie holte nur tief Luft, immer wieder. Mein Gott, dachte sie, wir leben miteinander, jeder an seinem Schreibtisch. Ohne Schlaf lag sie später neben ihm, er schnarchte, schlief tief und fest, und minutenlang hasste sie ihren Mann.

Sie hörte den Jungen, sie rüttelte Bernd wach.

»Warum kommst du so spät?«, fragte Bernd.

Der Junge zuckte die Schultern, stellte den Sturzhelm lässig auf den Schrank, wandte sich dann um.

»Ihr kommt auch spät.«

Er zuckte bei der Ohrfeige nicht zurück.

Die Richterin verkrampfte ihre Hände ineinander, sie fröstelte.

»Klaus ...«

Der Junge winkte ab, er würde nicht reden wollen, und die Richterin wusste, dass sie ihn nicht zwingen konnte. Er kaute auf seinem Gummi wie eine Maschine, gleichmäßig, ohne Pause.

Sie sah ihre Datsche, den See, einen sonnigen Tag, und Bernd stand dem Jungen gegenüber auf dem Bootssteg und ganz bleich. »Spuck den Gummi aus!«

Der Junge blickte ihn an, ohne Regung, blickte ihn lange an, so, als würde er die Tiefe des Zorns ausloten, dann spuckte er den Gummi in den See.

Wortlos ging er zum Moped.

Bernd stand noch immer auf dem Steg, und sie hielt sich fest an seiner Schulter.

»Lass ihn nicht gehn.«

Bernds Hände glitten in die Taschen seiner Hose, und er lächelte, als er dem Jungen nachsah, der davonfuhr in einer Wolke aus Staub.

»Er regt sich wieder ab, er ist wie ich, so sind sie in diesem Alter.«

Der Junge kaute gleichmäßig weiter.

Die Richterin fröstelte, obwohl der Raum überheizt war. Und der Schmerz im Magen wurde stärker, sie spürte den Schweiß auf den Handflächen, als sie sich über die Stirn fuhr.

Die Tür wurde geöffnet, und die Richterin erschrak. Der Junge sah zur Tür, blickte aber dann aus dem Fenster und zum Himmel, als wollte er die Wolken zählen.

Der Mann sah die Richterin an, aber sie wich seinen Augen aus, als sie zur Tür ging. Das Denken war ein einziger Schmerz.

Ihre Schritte hallten auf dem Gang, der ihr endlos erschien, ehe sie den Paternoster erreichte.

Der Anfang eines Tages

Da war ein Stechen in der Brust, als er im Bad stand und die Klinge am Kinn ansetzte, aber vielleicht war es immer so gewesen an all den Montagen, und er hatte nur nicht auf diesen Schmerz geachtet und war sicher auch nervöser vor der Konferenz im Kombinat.

Wendland zog die Klinge vom Kinn herab bis zum Hals, beobachtete im Spiegel sein Gesicht, das ihm nicht anders schien als sonst, und nach dem Abspülen cremte er die Haut ein. Im Auto verschwand der Schmerz, und erst, als er schon die Treppe hinaufstieg in sein Büro, spürte er einen leichten Druck auf der Brust. Er würde ihn ignorieren, diesen Druck, so wie er jeden Schmerz ignorierte und ihm nicht nachgab, auch nicht in den Wochen auf dem neuen Platz, dessen Schwere er erst begriff, als er in dem schwarzen Drehsessel saß und Leiter war für drei Betriebe, die man angegliedert hatte an ein Kombinat.

Es waren Betriebe, die sich deutlich voneinander unterschieden und die man doch vereinte, und Wendland war nicht glücklich gewesen über diese Struktur.

Wendland nickte der Sekretärin zu, gab ihr flüchtig die Hand und war froh, als er im Drehsessel saß und das schwarze Polster im Rücken spürte.

Er atmete tief durch, und ihm schien, als ließe der Druck nach, als lockere sich die Klammer, die seine Brust zusammenpresste, und falle ab.

Er schloss den Schreibtisch auf und griff nach der grünen Mappe, die ganz oben lag, im ersten Fach auf seiner rechten Seite.

Die Blätter, die er herauszog, waren die Durchschläge der geplanten Rede für die Konferenz im Kombinat, auf der er sprechen sollte, sprechen über sein neues Werk, über die neue Struktur. Die Rede hatte Kühnel schon bekommen, Kühnel wollte alle Reden vorher sehen, Kühnel war das Gewissen des Generaldirektors, er leitete sein Büro ...

Wendland überflog die Rede noch einmal, unwillkürlich dachte er dabei an Bormann, seinen technischen Leiter, an ihr letztes Gespräch. Bormann hatte die Hände gehoben, die schmal waren wie Frauenhände oder wie die Hände mancher Chirurgen.

»Was soll ich Ihnen für Vorschläge unterbreiten? Die da oben haben es so gewollt, wir haben den Beschluss nicht gefasst. Wollen Sie rebellieren? Wogegen? Gegen eine Tatsache? Das ist zwecklos, Kollege Wendland, von Ihnen erwartet man einen positiven Bericht, weiter nichts.«

Bormann, dieser zynische Bormann, dessen Lächeln nie schwand, der jeden Werkleiter überlebte.

Wendland rieb sich das Kinn, er spürte noch Barthaare, wo er die Klinge nicht richtig geführt hatte.

Diese Struktur, diese verdammte neue Struktur, die geboren worden war in Köpfen von Männern in der Leitung des Kombinates. Wendland lächelte bitter. Da vereinen sie drei Betriebe, da sparen sie Verwaltungskräfte ein, können diesen Erfolg melden zum Ministerium, aber andere, die eigentlich überflüssig waren im Stammbetrieb, blieben, forderten Zuarbeiten, als wäre die Verwaltung noch voll besetzt bei Wendland, wiesen ihre Existenz nach durch beschriebenes Papier, schrieben Mücken zu Elefanten. Wendland spürte leichte Kopfschmerzen, bis um neun, zum Rapport, musste er sie weghaben. Er griff zur Tablette, spülte mit Selterswasser nach, es schmeckte abgestanden, und er schüttelte sich. Um neun hatte er die Meister bei sich, die Meister aus allen Betriebsteilen, und beim Rapport tischten sie ihm ihre Probleme auf, die gleichen wie beim letzten Mal. Und für die es keine Rezepte gab. Der Papierkrieg nehme zu, die Löhne seien unterschiedlich in den drei Betriebsteilen, für die gleiche Arbeit gäbe es ungleichen Lohn, ihre Leute machten den Dienst nach Vorschrift, der aber mache den Betrieb kaputt.

Wendland griff zur Zigarette, der ersten an diesem Morgen, aber sie wollte nicht schmecken, er ließ sie ausgehen, sah ihrem Verglimmen zu.

Da war wieder das Stechen in der Brust, ganz schwach, aber es blieb, die Klammer schloss sich.

Wendland sah auf die grüne Taste, griff zum Hörer, und da war sie, die sanfte Stimme, die immer gleich blieb: Kühnel, die rechte Hand des »Generals«. Sie wechselten ein paar Worte über das Wetter in der Hauptstadt und in Wendlands Stadt, dann sprach nur noch Kühnel. Die Rede könne Wendland nicht so halten, sie sei nicht progressiv, man vermisse die kämpferische Position. Nur ein paar Beispiele. Was Wendland da aufzähle ... Ungleiche Löhne im gleichen Betrieb ... Kein Zusammenfassen gleichartiger Fertigungsprozesse, weil Räume fehlten, aber eine Auflage, als wären sie da ... Der Stammbetrieb des Kombinates weise die Aufgaben des eingesparten Verwaltungspersonals zurück ... Sperrung von Planstellen stehe im Widerspruch zu den Aufgaben des Betriebes ... Mein lieber Wendland ... Die Stimme wurde immer sanfter, als ob ihr Besitzer Wendlands Wut spürte und sie zerreden wollte, wie ein Arzt die Sorgen seines Patienten.

Mein lieber Wendland, schließlich haben wir uns doch etwas gedacht bei der neuen Struktur, und dann vergiss nicht die klugen Köpfe in deinem neuen Werk. Nutze sie, nutze die Kraft des Kollektivs, du hast Bormann ... du hast ...

Wendland schnaufte in den Apparat, aber Kühnels Stimme blieb, die Worte flossen wie das milde Wasser eines Baches, gleichmäßig, plätschernd, beruhigend.

»Du wirst doch nicht einen auf höchster Ebene gefassten Beschluss anfechten, Wendland, hörst du mich, du stehst doch wohl als Genosse zu unseren Beschlüssen?«

Wendland brüllte in den Apparat, die ganze Wut von Wochen, diese gespeicherte Wut brüllte er in die Muschel, und sein Brüllen sprengte den Druck in seiner Brust. Er wolle einen ehrlichen Bericht, auch wenn sie da wären vom Ministerium, gerade dann, er wolle kein Potemkinsches Dorf ...

Wendland spürte wieder den stechenden Schmerz in der Brust, als er den Hörer auf die Gabel warf.

Der Betriebsarzt war in Wendlands Alter, fünfundvierzig, und sie duzten sich, weil sie sich seit der Schulzeit kannten. An diesem Tag stand Wendlands Name in seinem Kalender, aber es war nur eine Routineuntersuchung.

»Du brauchst Ruhe«, sagte der Arzt.

»Alles zu seiner Zeit«, murmelte Wendland und bemühte sich zu lächeln, als er sich erhob.

Der Schmerz kam ganz plötzlich, er nahm ihm beinahe den Atem, als er zur Tür schritt.

Aber Wendland verschwieg ihn.

Die Schilfinsel

Winter kam von den Rapsfeldern hinter dem See, lief am Ufer entlang. Er hatte beobachtet, wo der Junge immer saß, auf dem Steg, mit einem Fernglas, durch das er zur Insel sah, die, klein und dicht bewachsen, aber mit großen Bäumen, in der Mitte des Sees lag.

Der Junge setzte das Glas ab und sah Winter an. Er wusste, dass es der Vorsitzende aus dem Nachbardorf war. Vor Jahren sollte er das schon einmal gewesen sein, ehe er mit seiner Frau nach Kuba gegangen war, um die gleichen Rinder zu züchten, wie sie um Bernbach auf den Weiden standen.

Er sah nicht aus wie ein Vorsitzender, nicht wie ein Bauer, er war nicht groß, war sehr schmal, er hatte die Figur des Buchhalters in Stetten, und wenn er lächelte, sah man zwei Grübchen. Die sah man selten, aber das wusste der Junge nicht.

»Gute Sicht?«, fragte Winter.

Der Junge lächelte, und Winter sah zwei Grübchen, und er hatte ein Gefühl, als schnüre man ihm den Hals zu.

Es war zum ersten Mal, dass er den Jungen aus der Nähe sah. Nur von Weitem hatte er ihn sonst gesehen, den weißblonden Haarschopf.

»Ein gutes Fernglas«, sagte der Junge, »von Vater.«

Winter schluckte. Er setzte sich auf die Planken neben den Jungen, der zehn sein musste, denn zehn Sommer waren gefolgt auf den Sommer mit Inge. Winter sah in das Wasser des Sees. Rotfedern huschten vorbei. Er sah den Grund, weil sie auf dem Steg saßen und das Rohr einen Weg frei ließ zum Wasser.

Was sind zehn Jahre, dachte Winter: Zehnmal Aussaat, zehnmal Ernte, zehnmal Kirmes? Zehn Jahre ... Wie war das vor den zehn Sommern? Damals, als er mit dem Diplom zurückkam in das Dorf, traurig, wütend, denn Inge hatte nicht gewartet wie versprochen, Inge trug einen Ring, und zur Krippe brachte sie ihr erstes Kind. Winters Gesicht wurde schmal in dieser Zeit, und die Leute dachten im Dorf: Die Arbeit macht ihn kaputt, er sitzt bis in die Nacht — dieser Schreibkram. Er heiratete Martina, er war auf sie zugetrieben wie auf eine Boje im Meer, und sie hatte ihm Halt geboten, denn sie hatte ihn immer gewollt. Inge sah er nie, sie wich ihm aus und grüßte nur von fern. Der Sommer, der auf seine Heimkehr folgte, war heißer als die in den Jahren zuvor. Einmal trafen sie sich auf dem Feldweg, der vorbeiführte an den Rapsfeldern dicht am See, Winter und Inge, und sie konnte nicht ausweichen, nichts half mehr, keine Vernunft, es war wie ein Rausch. Die Insel im See schützte vor jedem Blick, und Inge weinte und lachte zugleich.

Aber einen Sommer bläst der Herbstwind weg. Die Störche zogen in den Süden, über die Felder von Stetten und die von Bernbach und weiter. Inge stand vor Winter auf der Insel, bleich, mit wirrem Haar. Sie sei schwanger von ihm, und sie wisse, es war die Stunde bei dem Gewitter unter dem Baum. Aber niemand lasse sich scheiden im Dorf, niemand, es war so, und es bliebe so. Der Agronom hatte gehen müssen, als er es tat. Niemand im Dorf hatte es ihm verziehen, denn die Menschen in Bernbach und in Stetten seien ein besonderer Schlag. Und zwei Ehen? Und Winter in seiner Position? Und ihr erstes Kind? Und Wenzel, ihr Mann, dieser gutmütige Bär? Keiner, der geboren wurde in Bernbach oder Stetten wollte weg, die Menschen wären wie Bäume mit tiefen Wurzeln, auch Inge. Riss man sie aus, verdorrten sie. Inges Gesicht war nass von Tränen, und Winter konnte nicht sprechen, er liebte zu stark. Nie, beschwor ihn Inge, dürfe es einer wissen im Dorf von ihr und von ihm und dem Kind, und nie dürfe es das Kind erfahren. Winter nickte stumm. Inge kam nicht mehr auf die Insel, sie ging ihm aus dem Weg, ja, als er sie schwanger sah, war sie schon im fünften Monat. Vier Monate danach kam ihr zweites Kind, der Junge, der zwei Grübchen hatte, wenn er lachte, und Inges Haar und Augen, die nicht grau und nicht blau waren, aber wohl doch mehr grau. Das waren nicht Inges Augen und nicht die von ihrem Mann. Aber Winter war damals schon auf Kuba, sie brauchten einen Fachmann für die Rinderzucht und einen der Besten, den es gab.

Winter bot sich an.

»Ein Eisvogel«, rief der Junge und zeigte auf den blaugrünen Vogel mit dem rostroten Bauch, der über das Wasser schoss und einen Fisch speerte. Winter nickte.

»Glückswinter« nannten sie ihn dörferweit. Obwohl: Glück hatte Winter selten genug. Die Ehe mit Martina blieb ohne Kind. In der Arbeit freilich hatte er Glück, die Genossenschaft blühte auf, wurde reich, reicher sogar als die in Krampen, und auch auf Kuba hatte er Erfolg mit dieser Mischzucht, die dem Klima standhielt. Rinder wie in Bernbach.

Der Junge war nicht groß, er war klein für sein Alter, zu klein und schmächtig. Sein Bruder, der ein Jahr älter war, überragte ihn um einen ganzen Kopf, und kein Gleichaltriger legte sich mit ihm an.