Im Höllenfeuer stirbt man langsam - Jan Flieger - E-Book

Im Höllenfeuer stirbt man langsam E-Book

Jan Flieger

4,6

Beschreibung

Die vielen kleinen und großen Betrügereien, die nach der Wende im Osten geschehen, die lassen die Wut in Horst Horstmann hochkochen. Aber Horstmann ist nicht einfach nur ein Bürger, sondern Horstmann war auch ein NVA-Elitesoldat, ein Fallschirmjäger, der gelernt hat, lautlos zu töten. Der tödliche Plan der Rache von Horstmann, der sich „Satans tödliche Faust“ nennt, ist erfolgreich angelaufen. Den einen oder anderen Betrüger hat er schon auf seine Weise bestraft. Aber dann legt er sich in seiner Heimatstadt Leipzig mit der Russen-Mafia an, zu der längst auch deutsche gehören. Keine gute Situation für Horstmann, den einsamen Rächer … LESEPROBE: Es ist gut, dass Helga nicht spricht, dachte er, ich muss wieder zu meiner alten Ruhe finden, ich kann nicht wieder und wieder an diese Nacht denken, ich habe schon ganz anderes hinter mich gebracht, darf mich nicht ständig mit diesem Ereignis rumquälen. Wenn mich aber doch jemand gesehen hat? Kann eigentlich nicht sein, versuchte er sich zu beruhigen. Der Hof hinter der Spielothek war nicht einzusehen, und auf der Straße nach Bad Düben war ihm kein Auto begegnet. Und doch wurde er von einer Unruhe gequält, die nicht weichen wollte, die ihm im Nacken saß, ihm Albträume sandte und die Beziehung zu Helga veränderte, mehr und mehr. Denn da war er, dieser hartnäckige Gedanke, dass Helga eine Gefahr für ihn darstellte, eine tödliche Gefahr, wenn sie ihn an die Russen verriet, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Sie war Lebensversicherung und Gefahr zugleich. Aber die Gefahr war wohl größer. Welch ein wahnsinniger Gedanke! Aber er war nicht zu verdrängen, hatte ein brutale Logik, setzte sich fest als eine bedrohliche Überzeugung. Helga würde ihn verraten, wenn es um das nackte Leben ging! Sie schlief tief und fest, atmetete ruhig, ihre Brüste hoben und senkten sich gleichmäßig. Sein Herz schlug wieder heftig. Die Erinnerung wird verblassen, sie muss verblassen, befahl er sich. Doch vielleicht, wenn ich aus dem Flugzeug steige, vielleicht beobachten sie mich schon. Vielleicht warten sie auf mich, so, als würden sie einen harmlosen Passagier erwarten. Ein Schauer durchzog seinen Körper. Ich habe die Russen nicht getötet! Ich war es nicht! Niemand war bei mir! Das muss ich mir einhämmern! Die Toten werden mich nicht einholen! Eine andere Chance habe ich nicht. Seine Haut brannte am ganzen Körper.

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Impressum

Jan Flieger

Im Höllenfeuer stirbt man langsam

ISBN 978-3-86394-492-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1997 im Verlag Das Neue Berlin (DIE-Reihe).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Lieber einen Tag als Tiger gelebt, als tausend Jahre als Schaf.

Tibetanisches Sprichwort

Prolog

Es war tiefe Nacht, und er lief allein auf einer Straße im Leipziger Osten, einer sonst schmal wirkenden, dunklen Straße. Aber heute stand ein praller Mond über den Häusern, der ein helles, beinahe in die Augen stechendes Licht warf.

Horstmann sah die beiden Gestalten, die aus einem Hauseingang traten, und als er sich umwandte, zwei weitere Männer, die ihm folgten. Ihre Schritte hatte er nicht wahrgenommen, obwohl er wachsam gewesen war. Sie haben mich, schoss es ihm durch den Kopf. Ich bin ohne Waffe, ohne die Makarow, ohne die Luger.

Die Hamburger werden mich töten, sie werden es jetzt tun, und ich kann keinen von ihnen mit auf die letzte Reise nehmen ...

1. Kapitel

Horstmann öffnete benommen die Augen. Grell schien die Sonne in sein Wohnzimmer und blendete ihn. Irgendwann musste er auf der Couch eingeschlafen sein. Der Albtraum hatte ihn aufgeschreckt. Sein Mund war ausgetrocknet, die Zunge ein schwerer Klumpen.

Ein elender Traum!

Langsam fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

Diese verfluchten Hamburger!

Aber er hatte es ihnen gegeben! Und wie er es ihnen gegeben hatte!

Er hatte das Töten theoretisch erlernt, bei den Fallschirmjägern der NVA, das Töten mit der Waffe und das lautlose Töten mit dem Messer und der Handkante. Nichts hatte er vergessen.

Wie Sam Croft war er, Sam, der Held des Buches, das er mehrmals gelesen hatte. Er ähnelte ihm sogar körperlich. Er war schlank, von mittlerer Größe und hielt sich immer so gerade, dass er groß erschien. Und genau wie dieser Sam hatte er ein schmales, kantiges Gesicht, das immer ausdruckslos wirkte. Eine harte Kinnlade, hagere straffe Wangen. Auch seine Augen waren ungewöhnlich blau. Er und Sam könnten eine Person sein, selbst der Hauptzug ihres Wesens war gleich, die überlegene Verachtung allen Menschen gegenüber. Und sie liebten beide nichts.

Hamburg war Horstmanns großer Triumph, sein allergrößter. Vier Mädchenhändler weggefegt! Die Erinnerung konnte er abrufen wie ein Video, wenn er die Augen geschlossen hielt, immer wieder.

Er kniff die Lider zu.

Und so beobachtete er sich selbst, wie in einem Film ...

... Als Streibele den Schlüssel in das Türschloss geschoben hatte, presste Horstmann ihm die Pistole in den Rücken. „Los, vorwärts!“, zischte er dem anderen zu. Schweigend stieg Streibele, dieser fette Hund, vor ihm die Stufen in den dritten Stock voraus. „Was soll das?“, fragte er, als sie in der Wohnung waren. Dabei taxierte er Horstmann gründlich. „Es ist aus, Streibele“, presste Horstmann heraus. „Du holst dir kein Frischfleisch mehr aus dem Osten für deine Puffs im Nahen Osten. Aus ist es mit den Miezen!“

„Was für Miezen?“, fragte Streibele.

„Du weißt es genau“, erwiderte Horstmann gelassen wie Sam Croft. Eine kalte Ruhe hatte ihn erfüllt.

„Sie sind wahnsinnig“, schnaubte Streibele. Er wich ein paar Schritte in die Zimmermitte zurück.

„Vielleicht“, knurrte Horstmann und lachte auf. „Du weißt doch, Wahnsinnige sind unberechenbar!“

Streibeles Augen wurden schmaler. „Verdufte! Verkriech dich wie eine Maus! Hau ab, sonst wirst du gejagt, egal wo du bist! Und du wirst nicht einmal wissen, wer hinter dir her ist!“ Streibele lachte höhnisch auf. „Du Ratte!“

Da feuerte Horstmann mit der Makarow auf Streibele, den Zuhälter, sah die leblose Gestalt am Boden, den Mann, der sächsische Mädchen für eine große Karriere als Fotomodell anlockte. Doch sie landeten in ausländischen Bordellen. Ohne Entrinnen. Ein Leben in der Falle! ...

„Scheiß Wessi!“, murmelte er. „Weggepustet der Hund. Und seine beiden Kumpane gleich mit. Von wegen Profis.“ Horstmann grinste verächtlich und angelte neben dem Bett nach dem Glas mit dem Whiskyrest. Er nahm einen tiefen Schluck.

Rache war ein herrliches Gefühl.

Und Töten konnte ein Genuss sein, wenn man im Recht war.

Und das Recht war auf seiner Seite, das Recht der Rache.

Ein unbeschreiblicher Genuss.

Töten war ein Rausch.

Horstmann spürte die Schwere seiner Zunge, wusste nicht, ob er wachte oder träumte, schlaff waren seine Glieder und matt.

Ich werde wieder töten, dachte er grimmig, immer wieder. Ich werde das Werk der Rache fortsetzen, ich werde das Böse ausmerzen, ich bin Satans tötende Faust - jenseits von Gesetz und Urteil.

Er wusste nicht mehr, wie oft er bisher schon getötet hatte in den vergangenen Monaten, die Taten schienen so weit zurückzuliegen, dass er es vergessen hatte. Er war berufen, das Böse zu vernichten: Verbrecher, Halsabschneider, Abzocker, die Menschen im Osten plünderten, sogar in den Tod trieben. Ungestraft, denn es gab zu viele Löcher im Netz der viel zu humanen Rechtssprechung.

Der Tod war Horstmanns Begleiter, seine helfende Hand, wo die Justiz versagte. Nur flüchtig dachte er an Karin, seine Frau, die er töten musste, um seinen Rachefeldzug fortzuführen. Er hatte es tun müssen zu seinem Schutz und im Dienst seiner gerechten Sache. Horstmann konnte zufrieden sein, es hatte wie ein Selbstmord ausgesehen.

Ein Gedankenblitz durchzuckte ihn. Was, wenn ihn die Polizei nach Karins „Selbstmord“ doch im Visier hatte? Vorsicht war geboten. Gras musste wachsen über ihren Tod. Dann aber würde er seine gnadenlose Jagd fortsetzen.

Bis zum bitteren Ende ...

Ein kurzer Schauder schüttelte ihn.

Wieso dachte er an das Ende?

Er presste die Lippen zusammen und verdrängte dieses eigenartige Gefühl, dieses neue, unbekannte Gefühl, das ihn von einem Augenblick zum anderen befallen hatte.

Es durfte kein Ende geben!

Mein ist die Rache, dachte er.

Und ich bin das Gesetz!

Und der Tod!

Ich bin die tötende Faust Satans!

Ruckartig erhob er sich, ging in das Bad, um sich zu duschen. Kalt musste das Wasser sein, eiskalt, so liebte er es.

Später stand er auf dem Balkon, blickte in das staubige Grün der Bäume, reglos, ohne zu denken, minutenlang. Da war es wieder, dieses beklemmende Gefühl, das sich wie ein Eisenring um sein Herz legte.

Endlich straffte er sich.

Er würde weiter diese üblen Wessis töten. Mit Fünfzig und ohne Arbeit - welchen Lebenssinn hätte er sonst.

Töten war seine Bestimmung.

Rache sein Lebensinhalt.

Er war Sam Croft.

Der schrille Sirenenton eines Peterwagens war zu hören. Ich muss noch warten, dachte er bitter, aber meine Zeit kommt.

Der Peterwagen jagte weiter, einem fernen Einsatz entgegen in der zweitkriminellsten Stadt Deutschlands, die bald sogar an der Spitze liegen würde, vermutlich in nicht allzu ferner Zeit.

Teilnahmslos glitt Horstmanns Blick über die Baumwipfel, während an seinem rechten Mundwinkel eine harte Falte erschien.

Wieder würde ein einsamer Tag kommen, dem ein einsamer Abend folgte.

Vielleicht, dachte er, gehe ich heute wieder in dieses Spielcenter. Spielen lenkt ab, und vielleicht gewinne ich wie beim letzten Mal.

Abrupt drehte er sich um, ging in die Küche. Genussvoll trank er ein Bier gleich aus der Dose, ein Feldschlösschen.

2. Kapitel

Die Fensterläden des Spielcenters im Parterre des ehrenwerten alten Bürgerhauses waren geschlossen, doch die Tür stand offen, einladend offen. Horstmann betrat den ersten Raum. Messinglampen warfen ihre Lichtkegel auf den grünen Filz eines Billardtisches. Aber niemand spielte dort. An der rechten Wand hingen ein paar Automaten, ganz links stand eine kleine Theke.

Doch er ging weiter zu einer dunklen Türöffnung, nur erhellt durch das Geflacker der Lichter einer ganzen Reihe von dort aufgestellten und an der Wand montierten Spielautomaten, begleitet von der blechernen Musik der einzelnen Spiele, mit hypnotisierten Männern davor.

Hier gab es keinen Morgen, keinen Mittag, keinen Abend. Spieler standen immer im Licht der in den bunt bemalten Maschinen rotierenden Sonnen. Die erste Sonne weckte die Hoffnung, die zweite zeigte, ob man noch im Spiel war, die dritte entschied über Gewinn oder Verlust. Das wusste Horstmann. Der Automat war der Gegner, gegen den man kämpfte, den man besiegen musste, damit der Frust herausquoll, die Freude, die Angst, die Aggression. Diese Maschine konnte für viele Stunden ein Partner sein, ein Feind, ein anderes Ich. Es war ein Wechselbad der Gefühle, das man erleben konnte, zwischen Euphorie und Depression, es war wie auf einer Achterbahn, nur wusste man nie, in welches Ziel man hineinschoss. Spielen konnte wie eine Orgie sein. Wenn man gewann, fühlte man sich als der große Zampano. Wenn ...

Aber man konnte aus der Wirklichkeit entfliehen, für eine, für zwei, für mehrere Stunden, dachte an nichts anderes, nur an das Spiel. Und wie oft jagte man von Spiel zu Spiel, nur um das verlorene Geld zurückzuholen. Die Gier nach dem Risiko war ein Motor, den man nicht stoppen konnte. Aber war Risikobereitschaft nicht überall gefordert, sollte sie nicht der Motor für Fortschritt und Erfolg sein?

Horstmann stand an der Türöffnung, dann erst sah er sich um.

Fünf Zocker kämpften erbittert an den Automaten, vor den blinkenden Lämpchen und Bedienungsknöpfen.

Die beiden Mädchen an der Theke, die freundlich teilnahmslos die Geldscheine in Hartgeld wechselten und den Spielern kostenlos einen Kaffee servierten, blickten zu Horstmann hinüber.

Horstmann deutete ein Lächeln an. Ich will nur gucken, dachte er, nicht spielen. Oder vielleicht später. Der Einsatz betrug vierzig Pfennig je Spiel, der Höchstgewinn vier Mark. Das klang nach Kleingeld, gewiss, doch die Automaten wurden nicht mit Groschen gefüttert, sondern mit Fünfmark-Stücken. Natürlich gab es auch Automaten, die Scheine schluckten und Verlust und Gewinn abbuchten, wie eine Bank.

Die Räder rotierten.

Die Sonnen leuchteten, lockten.

Fünfzehn Sekunden dauerte ein Spiel. Vier in der Minute. Zweihundertvierzig in der Stunde.

Horstmann kaute auf seiner Unterlippe. Welcher wahre Spieler, dachte er, spielt nur eine Stunde? Und nur an einem Automaten? Keiner. Und so entscheiden die drehenden Walzen tausendmal und öfter am Tag über Sieg oder Niederlage.

Er beobachtete einen Mann in zerschlissenen Jeans und einem verschwitzen T-Shirt, der an drei Automaten zugleich spielte. Alle Sinne waren auf die Automaten gerichtet. Wie ein Pilot im Cockpit eines Airbus musste der sich fühlen. Doch, und das wusste Horstmann genau, im Gegensatz zum Flugzeug kam der Absturz am Automaten gewiss und einhundertprozentig. Wie hoch mochte dieser Mann bereits verschuldet sein?

An beiden Seiten des einen Automaten leuchteten die Lampen in schnellem Wirbel auf. Jetzt bekommt er Sonderspiele, dachte Horstmann spöttisch, nun kann er Geld machen. Das Zählwerk zeigte den Gewinn an: einhundert Mark. Im Gesicht des Mannes mit den zerschlissenen Jeans regte sich kein Muskel. Noch war er der große Zampano.

So weit darf es bei mir nie kommen, dachte Horstmann. Ein paar Spiele, mehr sollen es nicht sein, nicht werden. Er war gewarnt! Die Schlagzeilen der gelben Presse meldeten es jeden Tag. So wie dieser Mann verfielen in den neuen Bundesländern Hunderttausende der Faszination der Automaten, dem Traum von Reichtum und Glück. Ein Abklatsch von Las Vegas, das elektronische Abenteuer vor der Haustür. Die Drogenwelle war nicht herübergeschwappt in den Osten, wohl aber die Sucht nach dem schnellen Geld, das die Automaten nur so ausspuckten - diese Daddelkisten. Die Ostdeutschen holten im Wahnsinnstempo auf: vom ersten Spiel bis zur Suchtberatungsstelle. Sie ließen sich gnadenlos leimen, abzocken. Und doch fühlte sich auch Horstmann auf eine seltsame Weise hingezogen zu dieser Welt. Er aber würde sich in der Gewalt behalten. Mal spielen, ja, aber Sucht war ausgeschlossen. Er hatte schließlich eine Aufgabe; diese da hatten nichts weiter als die Hoffnungsgaukelei der Automaten.

Es gefiel ihm, Beobachter im Kampf gegen die einarmigen Banditen zu sein. In einer Spielothek gewann man keine Freunde, hier spielte jeder nur für sich und mit sich allein. Einsam vor den rotierenden Sonnen.

Aus einem der Automaten klimperten Münzen heraus. Der Hagere ließ die Münzen sorgsam in die Handfläche gleiten, und mit einem fast freundschaftlichen Schlag auf das Blechgehäuse wandte er sich zum Gehen.

Der Mann in den zerschlissenen Jeans hatte wieder verloren.

Vielleicht, dachte Horstmann, verspielt er gerade seine Stütze? Verluste von hundert Mark am Tag waren keine Seltenheit. Und dann? Diebstahl, Urkundenfälschung, Scheckbetrug, Raub? So sah es aus, heutzutage, welche anderen Perspektiven sollte einer wie der haben?

Einige der Automaten gaben ein seltsames Heulen von sich ...

Dann sah Horstmann die Frau. Die war keine Angestellte, so sah sie nicht aus, dafür war der Fummel, den sie trug, viel zu gediegen. Aber sie spielte auch nicht. Sie war nicht mehr jung, er schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie war füllig, so wie er die Frauen liebte. Sein Blick ruhte auf ihrem Busen, minutenlang. Im Ausschnitt der Kostümjacke sah er den hohen, faltenfreien Ansatz ihrer Brüste.

Herrgott, wie lange hatte er keine Frau gehabt. Eine gewaltige Lust erfüllte ihn plötzlich, sie brannte förmlich zwischen seinen Lenden. Diese Frau. Aber ihr Blick glitt über ihn hinweg, auch als er die Chips kaufte, musterte sie ihn nur flüchtig. Bei ihr war er chancenlos.

Er stand im Flimmern der Automaten, ehe er zu spielen begann, und sah verstohlen zu ihr hin. Eine Frau mit Temperament, da war er sich sicher. Er würde sich vom abweisenden Gesicht und dem geschäftsmäßigen Lächeln, das sie auflegte, wenn ein Kunde an die Kasse trat, nicht täuschen lassen, wusste aber auch, dass er für sie nicht zählte. Für die bist du ein Nichts, dachte Horstmann, nicht einmal einen Blick wert.

Er trat an den Automaten, begann zu spielen, ohne sich auf den Vorgang konzentrieren zu können. Die Frau ging ihm nicht aus dem Kopf.

Und er verlor.

Dann, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, lehnte er sich an den Billardtisch, an dem noch immer keine Spieler standen.

Die Frau bemerkte seinen Blick.

Sie schaute durch ihn hindurch.

Sie wirkt müde, dachte er, hundemüde.

Dann spielte er weiter.

Und er gewann und verlor.

Verlor und gewann.

Später, viel später, torkelte ein Betrunkener in den dämmrigen Raum, ein Mann mit einem gewaltigen Kreuz, und über einsachtzig groß. Sein Schatten fiel auf die Frau. Als der Kerl dann am Automaten stand, schien die Trunkenheit wie weggeblasen, konzentriert blickte er, mit wachen Augen.

Er verlor. Er verlor immer wieder.

„Scheiße“, brüllte er plötzlich los. „Alles Scheiße hier. Ein Scheißladen.“

Hasserfüllt hämmerte er mit den Fäusten gegen den Automaten. Die Frau in dem teuren Kostüm lief zu ihm hin, wollte ihn mit Worten beruhigen und versuchte, seine Hände festzuhalten. Er schlug zu.

Die rechte Faust des Mannes traf die Wange der Frau. Taumelnd prallte sie gegen einen der Automaten.

Die Männer an den anderen Automaten drehten sich herum und guckten neugierig, aber tatenlos der Szene zu.

Horstmann presste die Lippen aufeinander, stellte sich zwischen den Riesen und die Frau, sagte kein Wort, kalt blickte er dem wütenden Mann ins Gesicht, jeder Muskel seines Körpers war angespannt.

„Gnom“, knurrte der Riese abfällig, ehe er ausholte.

Horstmann drehte sich auf dem linken Bein um die eigene Achse, und aus dem Schwung heraus schnellte sein rechtes Bein gestreckt nach vorn. Sein Fuß traf das Kinn des Riesen wie ein Hammer, fällte ihn, als wäre er eine Eiche nach dem letzten Beilschlag.

Die Frau, die sich heftig ihre Wange rieb, starrte ihn nun voller Verwunderung an.

Betont lässig stand Horstmann da, genoss ihren Blick.

„Das war ein Tritt“, sagte die Frau anerkennend. „Soll ich die Polizei holen?“

Horstmann winkte ab.

„Der wird schon wieder munter. Noch mal schlägt der nicht zu.“

„Sie meinen …“, erwiderte die Frau. Horstmann nickte nur.

„Mich greift keiner ein zweites Mal an.“

„So einen Mann wie Sie könnte ich brauchen“, sagte die Frau. „So ein Mann wie Sie sorgt für Ruhe. Was meinen Sie?“

Er sah sie nachdenklich an. Das war ein rein geschäftliches Angebot, gewiss, aber mehr war vielleicht auch drin. Wer konnte das wissen? Wollte er wirklich wieder „sesshaft“ werden? Und seine Mission? Satans tötende Faust?

Für einen kurzen Moment blitzte das verzerrte Gesicht Streibeles in Horstmanns Erinnerung auf, das Blut, das durch die Finger des Fetten aus dem Sakko gequollen war. Mit diesem Bild, Horstmann registrierte es, ohne sich dagegen wehren zu können, war auch wieder dieses seltsame Gefühl aufgetaucht, dieser Eisenring ...

Horstmann riss sich zusammen. Die Frau sah verdammt gut aus, er fand sie anziehend, gerade weil sie sich abweisend gab. Und ein paar Monate Ausspannen würden ihm bestimmt guttun; dieses Angebot war wie ein Lottogewinn.

„Viertausend im Monat“, sagte die Frau, während sie kurz auf den am Boden liegenden Mann blickte. Ihre Stimme klang fest, als gäbe es nichts zu verhandeln um diese einmal genannte Summe.

Horstmann kaute auf seiner Unterlippe und überlegte noch immer. „Mm“, machte er unschlüssig. „Ich überleg’s mir. Wie lange gilt das Angebot?“

„Jetzt!“

Was für ein Weib, stellte Horstmann bewundernd fest, kalt wie Hundeschnauze, aber die leibhaftige Verlockung.

Der Riese richtete sich langsam auf, benommen, die Hände an das Kinn gepresst, leise stöhnend.

„Rufen Sie ein Taxi“, meinte Horstmann, „damit er in die Klinik kann. Sie werden den Kiefer röntgen müssen.“

Wortlos drehte sie sich um, ging zum Telefon. Während sie telefonierte, ruhte ihr Blick auf ihm, lange und abschätzend.

„Gehört Ihnen der Laden?“, fragte er.

Sie deutete ein Nicken an.

3. Kapitel

Später, als die letzten Männer gegangen waren und auch die beiden Tresenmädchen, begleitete er sie nach draußen.

„Kommen Sie noch mit?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. „Auf einen Kaffee?“

Da wusste er, es würde mehr geben als ein Getränk.

Und er täuschte sich nicht.

Im Bett war sie hingebungsvoll und zärtlich, aber auch fordernd. Sie kam viermal und wollte noch mehr, weil auch er nicht aufgab.

„Du kannst wohl eine ganze Nacht?“, fragte sie, mit dem Gesicht an seiner Brust.

Er grinste stolz, genoss diese Worte, erwiderte aber nichts.

„Du bist’n Volltreffer“, sagte sie. „In jeder Hinsicht.“

Später erfuhr er, dass sie Helga Nentwirch hieß. Sie lebte ohne Mann, war aus Köln gekommen. Ihr gehörten zwei Spielotheken und eine Disco in und bei Leipzig. Die Läden liefen gut, vom Gewinn wollte sie weitere Spielsalons aufbauen und Diskotheken. Auch die teure Maisonettenwohnung, in der sie sich jetzt aufhielten, war ihr Eigentum. Was gehört den Wessis hier im Osten eigentlich nicht, dachte er bitter. Und wir, die Eingeborenen, sind ihre Kulis.

Dann löschten ihre Zärtlichkeiten seine bitteren Gedanken. Herrgott, dachte er, ist das ein wildes Weib. Er genoss es, dass sie ihn gewollt hatte. Bei ihr würde er bleiben, ging es ihm durch den Kopf, bleiben, solange er durfte ... Er konnte nur hoffen, es würde eine lange Zeit sein. Es konnte nur eine gute Zeit werden, in finanzieller und in sexueller Hinsicht.

Irgendwann in dieser Nacht sagte sie ihm, dass er bei ihr wohnen könne ...

4. Kapitel

Es war ein Dienstag.

Horstmann hatte die Spielothek längst abgeschlossen. Helga prüfte im Hinterzimmer den Gewinn der Nacht, da klopften zwei Männer an das Glas der Tür.

„Geschlossen“, rief Horstmann. „Morgen ist wieder auf.“

Aber das Klopfen hörte nicht auf, wurde heftiger. Wütend öffnete Horstmann die Tür. Wenn die einen Streit wollten, konnten sie ihn bekommen.

Dann standen zwei Männer im Raum, ein schwarzhaariger Hüne um die Vierzig, dunkelhäutig, mit einem buschigen Schnauzer, und ein blonder, dürrer Bursche mit glatten Haaren. Dieser zweite Mann blieb im Hintergrund, als wäre er nur der blonde Schatten des anderen.

Russen! dachte Horstmann überrascht. Man erkennt sie auf hundert Meter Entfernung.

„Wir schlagen Geschäft vor“, sagte der Schwarzhaarige und grinste breit.

„So“, knurrte Horstmann und kniff die Augen zusammen. Lässig steckte er die rechte Hand in seine Sakkotasche. Seine Finger fühlten nach dem Springmesser, als der Russe fortfuhr.

„Wir machen Schutz für Spielotheken. Guter Schutz. Deine Freundin zahlen für Schutz. Zahlen gut. Auch für Disco. Wir gut aufpassen.“

Horstmann fühlte unbezähmbaren Zorn in sich hochsteigen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, zu harten Fäusten.

„Wir brauchen keinen Schutz! Wir schützen uns selbst“, stieß er gepresst hervor. Seine Hand fuhr mechanisch aus der Tasche.

Der Schwarzhaarige rieb sich das Kinn.

„Spielothek kann explodieren. Disco kann abbrennen. Wie in Schildau.“

„Wir zahlen bereits“, erwiderte Horstmann eisig.

„Jetzt wir da“, erwiderte der Russe ungerührt. „Wir wissen zwei Spielotheken, eine Diskothek. Geschäfte gehen gut. Auf Namen von schöne Frau.“

Horstmann spürte, wie die Wut, die seinen Körper durchflutete, seinen Jähzorn entfachte, und so bemühte er sich, ruhig zu bleiben, ganz ruhig. Aber seine Hände verkrampften sich wieder zu Fäusten.

„Haut ab“, stieß er hervor. „Hier ist für euch nichts zu holen.“

Ungerührt machte der Schwarzhaarige einen Schritt auf ihn zu. „Genau überlegen, mein Freund. Kein Fehler machen.“

Horstmann trat kalter Schweiß auf die Stirn, plötzlich spürte er den Schmerz seiner Nägel in den Handflächen.

„Und morgen kommen die nächsten und wollen auch Geld.“

Der Schwarzhaarige grinste wieder. „Wir schützen. Du nur sagen, dass wir schon da. Das genügen. Wir gut für Geschäft. Bester Schutz bald in Leipzig.“

„Ich lass mir nicht drohen“, brüllte Horstmann nun los. „Verzieht euch, ihr Kanaken!“

„Sehr schlechte Meinung von uns, nicht klug“, klagte der Schwarzhaarige kopfschüttelnd.

Horstmann spürte deutlich das Kribbeln im Magen, das immer einsetzte, wenn die Gefahr bestand, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte.

Das Grinsen des Schwarzhaarigen wurde breiter.

Eine verfluchte Fratze, schoss es Horstmann durch den Kopf, eine elende, verfluchte Fratze ...

Der andere Mann war nun dicht hinter den Schwarzhaarigen getreten, und Horstmann konnte noch immer nicht dessen Gesicht erkennen.

„Du überlegen“, forderte nun der Schwarzhaarige.

Helga stand plötzlich im Raum, die rechte Hand auf den Mund gepresst.

„Verdammter Iwan“, schrie Horstmann hasserfüllt.

Das Grinsen des Schwarzhaarigen wich jählings, seine Augen glitzerten metallisch.

„Du genau überlegen, was du sagen. Sehr genau. Noch ein Wort und du nur noch ein Ohr.“

Ein Messer blitzte auf in der Hand des Schwarzhaarigen. Dann kam der Mann auf ihn zu, und sein Knoblauchatem wehte Horstmann entgegen.

Das Springmesser, dachte er, griff in die Sakkotasche und ließ die Klinge springen. Sein Fuß schnellte vor, traf das Kinn des Russen. Fast im gleichen Moment stieß er ihm das Messer in die Brust, dorthin, wo das Herz pochte. Über den Getroffenen hinweg sprang er den zweiten Russen an, hämmerte ihm die Handkante gegen den Kehlkopf, traf präzise, mit tödlicher Härte, vor der es keinen Schutz gab.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Helga auf die Toten.

Horstmann stand reglos und blickte gleichfalls auf die beiden Körper herab. Seine Wut war gewichen, nur sein Atem ging heftig.

Ich bin wahnsinnig, schoss es ihm durch den Kopf, die Russen-Mafia ist die gefürchtetste, die es gibt, dagegen ist die sizilianische Cosa Nostra ein Knabenchor.

Horstmann schauderte. „Ich muss verrückt sein. Mich mit denen anzulegen. Und ich töte ihre Leute! Ich!“

Sein Herz hämmerte wild, und er fuhr sich mit der Hand an den Hals, als drückte ihn der Kragen des Hemdes. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde und sein Magen sich verkrampfte.

Das diffuse Gefühl der letzten Wochen ballte sich zusammen. Horstmann brach der Schweiß aus. Angstschweiß! Horstmann erschrak: Er hatte ANGST!

Gab es überhaupt einen Ausweg? War er rettungslos verloren? Würden ihre Killer ihn nun suchen? Suchen, um ihn zu töten? Die Gedanken kreisten in seinem Hirn, schneller und schneller.

Die Toten konnte er wegschaffen. Aber andere würden kommen, sie würden ihn nach den Besuchern fragen. Doch konnten sie ihm überhaupt nachweisen, dass diese Männer hier verschwunden waren? Die Spielothek war bestimmt nicht deren einziger Kunde an diesem Tag. Die Männer waren gewiss im Auto gekommen, also würde er es in einen anderen Stadtteil fahren und abstellen, die Schlüssel würde er bei den beiden finden. Er musste nur warten, bis es auf den Straßen ruhig genug war, dann würde er das zu den Schlüsseln passende Auto schon finden können, denn es musste in der Nähe der Spielothek stehen. Und die Leichen würde er vergraben, im Wald, am besten irgendwo in der Dübener Heide, noch hinter dem „Roten Haus“.

Stoßartig kam sein Atem, die Gedanken jagten in seinem Kopf, panikartige Gedanken. Sie würden kommen, gewiss. O ja, er kannte dieses Verlangen nur zu gut - Rache! Nur: der Rächer war diesmal nicht er. Nicht der Jäger, Horstmann war der Gejagte.