Eine Stadt sucht einen Mörder - Jan Flieger - E-Book

Eine Stadt sucht einen Mörder E-Book

Jan Flieger

4,9

Beschreibung

Diesem Buch mit sechs Kriminalgeschichten liegen authentische Fälle zugrunde, die sich in den Jahren 1951 bis 1980 in der DDR zugetragen haben. Hier schreibt ein Autor, der die Arbeit der Kriminalpolizei genau kennt. Kindesmord (der legendäre Kreuzworträtselmörder und andere), Brandstiftung und Raubmord sind die Hauptthemen seiner Erzählungen, und der Autor zeigt das stille Heldentum der Männer, die die Verbrechen aufklären, ihre nie erlahmende Einsatzbereitschaft, ihre Arbeit bis über die physischen Grenzen hinaus, wenn es darum geht, einen komplizierten Fall zu lösen. INHALT: Die Fußspur im Schnee (Tatjahr: 1951) Mosaik einer Aufklärung (Tatjahr: 1956) Eine Stadt sucht einen Mörder (Tatjahr: 1959) Ein grausiger Fund (Tatjahr: 1980) Die Begegnung (Tatjahr: 1953) Onkel Willi (Tatjahr: 1953) LESEPROBE: Noch eine Viertelstunde Weg, denkt Lehmann, dann ist es geschafft. Er hebt den Kopf, setzt die Mütze ab und fährt sich mit der Hand durch das Haar, das noch dicht ist und schwarz, obwohl er die Fünfzig überschritten hat. Er setzt die Mütze wieder auf. Weiter! Schwelle folgt auf Schwelle. Oft ist das Holz noch vereist, dann muss er achtgeben. Da sieht er etwas Dunkles im Schnee, tief im Graben, neben dem ein Weg entlangführt. Vorsichtig klettert Lehmann hinab. Es ist ein Koffer, ein großer alter Koffer. Eine Eisschicht bedeckt ihn, die langsam schmilzt. Lange muss er hier schon liegen, sehr lange. Wie kommt ein Koffer in diese menschenleere Gegend? Lehmann kann keine Fußspuren entdecken. Es ist ein geheimnisvoller Koffer. Das Schloss auf der einen Seite ist gesprungen, sodass Lehmann, als er sich hinhockt, vorsichtig den Deckel heben kann. Er blickt sich noch einmal um. Er ist allein. Er hebt den Deckel an. Kindersachen, sorgsam zusammengelegt, eine Hose, Strümpfe, ein Hemd, ein ... Lehmann wird blass. Einen Augenblick lang setzt sein Atem aus. Er sieht eine Kinderhand! Er sieht ... Der Streckenwärter schnellt hoch, sein Herz rast. Er springt die Böschung hinauf auf die Schienen, läuft, läuft, läuft ... Er hat keine Angst mehr vor einem Sturz, er spürt keine Seitenstiche, er läuft, läuft keuchend, der Schreck treibt ihn vorwärts. Seine Füße trommeln auf die Schwellen. In seinen Ohren dröhnt es. Weiter! Er stolpert, aber er läuft weiter. Ein Telefon! Warum ist hier kein Mensch?

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Seitenzahl: 193

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Impressum

Jan Flieger

Eine Stadt sucht einen Mörder

Kriminalgeschichten

ISBN 978-3-86394-489-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 im Militärverlag der DDR, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Genossen Oberstleutnant a. D. Kurt Hader möchte ich für die Unterstützung danken, die er mir beim Schreiben dieser Geschichten gewährt hat. Alle Erzählungen beruhen auf wahren Begebenheiten. Die Namen der Personen und Handlungsorte wurden verändert.

Die Fußspur im Schnee (Tatjahr: 1951)

Ein Mörder trägt weder vor noch nach der Tat das Kainsmal auf der Stirn.

TOM WITTGEN

1. Kapitel

Der Minutenzeiger des Regulators wandert.

Unaufhörlich wandert er weiter auf die Zahl zwölf zu. Wenn er sie erreicht hat, ist das alte Jahr beendet.

Vor den Fenstern lauert der Frost. Es ist eine kalte Nacht, eine Eisnacht.

Bamberg hört das harte Ticken des Regulators. Er ist Kriminalist und arbeitet im Dezernat G, dem Branddezernat. In dieser Silvesternacht trinkt er keinen Schnaps, denn diese Nacht ist eine der Nächte, in der man mit Bränden rechnen muss, auch mit bewusst entfachten. Das wissen alle im Dezernat G, auch Bamberg weiß das, und deshalb sitzt er in Bereitschaft, auch ohne Baumanns ausdrückliche Anweisung. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz im Dezernat G, dass in bestimmten Nächten kein Alkohol getrunken wird.

Nur Gisela, die Frau, mit der Bamberg erst ein halbes Jahr verheiratet ist, blickt traurig. Sie hätte ihn lieber beschwipst im Arm, ihren Ernst, ihren «Bär». Er war oft nicht zu Hause in den Monaten, die zurückliegen. Wochenlang musste er Brände aufklären in Orten, die sie nicht einmal auf einer Karte fand.

«Bei Rappels ist eine Stimmung», sagt sie leise, aber ohne Vorwurf.

Bamberg hört das Grölen auch. Er mag keine grölenden Männer. Vielleicht ist er auch wirklich zu ernst. Oder der Krieg hat ihn so ernst gemacht.

«Aber um zwölf stößt du doch mit mir an?»

Bamberg nickt. «Sicherlich», sagt er, doch es klingt zurückhaltend.

Gisela schmiegt sich an ihn. Ihre Augen blicken zärtlich.

Aber da erstarrt ihr Lächeln, als wäre es eingefroren in ihrem Gesicht: das Telefon!

Bamberg hebt den Hörer ab, lauscht.

«Gut», sagt er dann, «ich stehe vor dem Haus, wenn ihr kommt.» Er legt auf.

«Ich wusste es», sagt er leise. «Ich hatte es im Gefühl!»

Bamberg nennt den Ort, in dem es brennt, und Gisela erschrickt erneut, denn nun, das weiß sie, wird er eine Nacht lang bleiben und den nächsten Tag, und ... Weiter wagt sie nicht zu denken.

«Vergiss nicht die Handschuhe», sagt sie so leise, dass Bamberg sie kaum verstehen kann.

Er erhebt sich und weiß, dass seine Frau schon die ersten Minuten des neuen Jahres allein ist.

«Ich mach' dir zwei Schnitten», sagt Gisela und kratzt das letzte Schmalz aus dem Topf, Schmalz mit Zwiebeln - das Weihnachtsgeschenk der Mutter.

2. Kapitel

Sie sitzen zu fünft in dem alten Auto: VP-Meister Baumann, Hauptwachtmeister Hänsel, Kramer und Bamberg und Wachtmeister Erbrich, der den Wagen führt und dessen rote Haare so gut zum «Feuerdezernat» zu passen scheinen.

Der Wagen ist alt, er hat lila Bezüge, und eine Glasscheibe trennt den Fahrer von den Fahrgästen. Erbrich, der gelernte Schlosser, ist der einzige, der den Wagen reparieren kann. Ohne Erbrich würde keiner gerne in das Auto steigen, und erst recht nicht bei Frost, denn wenn so ein Wagen stehen bleibt, weitab von der Stadt ...

Wie die anderen vier ist auch Bamberg kein «gelernter» Brandfachmann. Damals, als er aus der Gefangenschaft kam, an diesem Maitag des Jahres 1949, in seiner grünen Wehrmachtshose, der Jacke italienischer Flieger und den klobigen Schuhen, hieß es: «Die Besten brauchen wir für die Polizei. Auch dich.» Warum ich, hatte er gedacht. Nur weil ich im Lager für das Nationalkomitee «Freies Deutschland» die Zeitung «Das freie Wort» verteilt habe? Das konnten auch andere. Und gearbeitet haben auch andere gut. Aber er wurde Schutzpolizist, kam nach einem halben Jahr in das Dezernat G zu Fiedler und Scheuer, die beide fristlos entlassen wurden, weil sie bestechlich waren und «Geschädigten» geholfen hatten beim Versicherungsbetrug.

Einmal war eine Frau zu Bamberg ins Zimmer gekommen mit einer Gans. «Ich wollte zu Herrn Fiedler», hatte sie erklärt.

Bamberg hatte hochgeblickt von dem alten Buch über die verschiedensten Brandarten, in dem er gelesen hatte, um sein Fachwissen zu erweitern, denn es gab noch keine Lehrbücher. «Sie kommen morgen», war seine Antwort gewesen, und er hatte an die beiden gedacht, die die Meinung vertraten, er müsse erst mal lernen, auf der Schreibmaschine zu schreiben, ehe er mit hinaus könne. Nun hatte er gewusst, warum sie ihn nicht mitnehmen wollten.

«Prost Neujahr», sagt Hänsel plötzlich.

Baumann schweigt. Also schweigen auch die anderen. Jetzt, denkt Bamberg, steht Gisela am Fenster, allein.

Sie fahren mit dem Auto durch die Nacht.

Keiner der fünf hat getrunken, jeder von ihnen hat wohl doch an den möglichen Einsatz gedacht.

In den meisten Häusern, die sie sehen, brennt Licht.

«Warum liegt das Dorf nur am Ende der Welt?», knurrt Baumann.

Einmal rutscht der Wagen, dreht sich, und noch ehe sie es begreifen können, rollt er in den Graben.

Keuchend schieben sie das Auto auf die Straße zurück, und ihr Keuchen ist das einzige Geräusch in der Schneelandschaft.

Und der Mond ist eine Sichel aus Frost.

Eine scharfe Sichel.

Sie sehen den Atem vor ihren Mündern. Der Frost brennt ihre Gesichter rot.

Und weiter!

Weiter hinein in die Nacht.

Bäume scheinen vorbeizufliegen und Häuser.

Der Frost dringt auch in das Auto, macht die Hände klamm. Und Bamberg bemerkt erst jetzt, dass er die Handschuhe verloren hat. Sie werden dort liegen, wo sie den Wagen aus dem Graben geschoben haben.

Aber er sagt nichts.

Er haucht seine Hände warm.

So ein Pech!

So ein dreimal verfluchtes Pech!

Die anderen feiern, in allen Häusern feiern sie. Aber die Menschen in dem Ort, zu dem sie hinfahren, feiern nicht. Ihnen ist das Feiern vergangen. Und für den Mann, dem die Scheune gehört, wird es eine böse Nacht werden. Wenn er gar selbst den Brand gelegt hat?

Bamberg verscheucht den Gedanken. Aber misstrauisch wird man bei einem solchen Dienst.

Fern, ganz fern sehen sie einen Lichtschein.

Baumann ruft plötzlich: «Das ist ja nicht nur ein Brand! Seht doch! Es brennt an drei Stellen! An drei!«

Bamberg denkt einen Augenblick lang an die russische Steppe, an die brennenden Dörfer bei Kursk. Aber diese Erinnerung liegt Jahre zurück, viele Jahre. Damals war Krieg. Und heute? Was ist das für eine Wirklichkeit, wenn er an die Brandstiftungen denkt, auf die sie immer wieder stoßen? Nur: Jetzt steht er auf der richtigen Seite.

Vor ihm in der Dunkelheit lodert es an drei Stellen. Offensichtlich waren im Ort noch zwei weitere Brände gelegt worden.

3. Kapitel

Gelbrot hüllen die Flammen die Scheune ein.

Und wie eine Fackel brennt das Tor. Flammen sind überall. Eine Fackel, denkt Bamberg, eine einzige Fackel ist diese Scheune. Eine Hitzewelle schlägt ihm entgegen, als er näher tritt, näher heran an die Männer der freiwilligen Feuerwehr, die nichts mehr tun können.

Auf der rechten Seite der Scheune brechen Balken, geben den Blick frei auf das Inferno im Innern.

Scharf fauchen die Flammen. Bamberg tritt zurück und steht nun neben Baumann.

Das brennende Gebälk kracht und knackt, aber die Geräusche übertönen nicht den Donner der Flammen.

Balken fallen herab.

Im flackernden Schein des Feuers blickt Bamberg in die Gesichter der Menschen, die verstört herumstehen. In den Gesichtern steht die Angst. Drei Brände in einer einzigen Nacht! Drei!

Wird meine Scheune die nächste sein? Die übernächste?

Wie gelähmt stehen manche, bleich.

Da stürzt das Dach der Scheune ein.

Und ein Schrei fliegt durch das Dorf, ein vielfacher Schrei: ein neuer Brand!

Bei Rauschenbach brannte schon der Stall, nichts war zu retten, keine Kuh, kein Schwein. Die Schreie der Tiere waren lauter als die dröhnenden Flammen.

Bamberg blickt in Baumanns bleiches Gesicht und auf seine Hand, die nach Süden weist. «Der nächste Brand! Beginnen die Löscharbeiten an einem Ort, brennt es an einem anderen. Und immer liegen die Brände weit voneinander entfernt, so, als wurde alles vorbereitet für einen großen Schlag.»

«Eine Feuerkette», antwortet Bamberg. «Brand folgt auf Brand.»

Die Täter kommen im Dunkel der Nacht, denkt er, tauchen in ihr unter. Und noch immer ist vieles nicht klar.

Vier Brände in einer Nacht!

Bei Rauschenbach, bei Winkler, bei Fiebig, bei Merkel.

Getreide ...

Vieh ...

Scheunen ...

Ställe ...

Feuerwehrleute schleppen einen Bauern auf einer Trage vorbei. Er liegt wie tot. Sein Haar ist versengt, das Gesicht verrußt.

Er wagte sein Leben für eine Kuh, die kurz vor dem Kalben stand, doch es gelang ihm nicht, das Tier zu retten, die Flammen waren schneller.

Der schrille Todesschrei von Schweinen am westlichen Dorfrand.

Die Bauern bilden eine Kette, reichen einander Wassereimer zu. Aber sie retten den Stall nicht.

Bamberg läuft von Brandherd zu Brandherd.

Da springt der Bauer Winkler in die Flammen, taucht wieder auf mit einem Ferkel, holt ein zweites.

Und ein vielfacher Schrei: «Winkler, pass auf!»

Aber Winkler springt erneut. Und da hält es auch Bamberg nicht mehr, er springt ihm nach, und er steht im brennenden Stall, fühlt einen heißen Schmerz im Gesicht.

«Da!», schreit Winkler und hält ein quiekendes Ferkel im Arm. «Nimm!»

Bamberg packt das Ferkel, spürt die Schnauze des Tieres an seinem Gesicht, springt durch die Flammen in den rettenden Schnee vor dem Stall.

Und noch einmal.

Im dichten Rauch kann er kaum atmen, er hustet, würgt.

Und ein drittes Mal. Er holt tief Luft, springt erneut in den Stall.

Und ein viertes Mal.

Er springt, bis ihn kräftige Arme packen, ihn zurückstoßen, weil das Dach des Stalles zusammenstürzt.

Keuchend steht er im Schnee, neben ihm hockt Winkler. Seine Ferkel laufen in der Wohnstube herum, aber die Sau ist verbrannt und die Kühe.

Balken fallen, und ein Funkenregen prasselt herab, sodass Bamberg zurückspringt.

Er spürt Winklers schwere Hand auf seiner Schulter. «Danke, Fremder!»

So stehen sie und blicken in die Flammen ...

4. Kapitel

Der Morgen ist trübe und kalt. Wenn man zum Himmel sieht, weiß man, dass es bald schneien wird. Sie gehen die Brandherde ab.

Eine Scheune ...

Zwei Ställe ...

Eine Tischlerwerkstatt ...

Ein Teil der Werkstatt konnte gerettet werden.

Bamberg hat die Hände in den Taschen vergraben.

Der Morgen nach einem Brand ist immer bedrückend. Und ein Morgen nach vier Bränden ...

Sie stellen immer wieder dieselben Fragen.

Wo hat der Brand begonnen?

Wo sah man die ersten Flammen?

Gibt es im Brandschutt eine Spur?

Systematisch müssen die vier Brandherde abgesucht werden, Zentimeter für Zentimeter. Dann folgt die Umgebung, die unmittelbare, die weitere.

Baumanns Gesicht scheint wie aus Erz gegossen.

Aber da huscht ein Erstaunen über sein Gesicht, er bückt sich, starrt vor sich in den Schnee.

Von der Rückseite der verbrannten Scheune weg führt eine Spur! Baumann läuft neben der Spur, immer weiter. Sie macht einen Bogen und wird auf der Dorfstraße durch andere Spuren verwischt. Er hetzt weiter, findet die Spur erneut bei dem verbrannten Stall.

«Das war er!», sagt Baumann leise. «Ich wette, wir finden die Spur auch an der Werkstatt.»

Er hat recht, dieser Baumann.

Die gleiche Spur! Überall!

Und es war kein Neuschnee gefallen.

Eine Schuheindruckspur führt von den Brandorten weg!

Die Spur wird ausgemessen, gezeichnet, fotografiert. Und der Fährtenhund folgt der Spur, die ihn zur Dorfstraße führt. Aber dann läuft der Hund im Kreis, verliert die Spur, auch beim zweiten Versuch und beim dritten.

Und etwas ist sonderbar an dieser Spur: der Absatz und die Sohle.

«Wir müssen die Spur ausgießen», knurrt Baumann.

Bamberg blickt ihn ungläubig an. Wie kann man denn eine Schneespur ausgießen, ohne sie zu zerstören? Gießt man sie mit Gips aus, wird sie schmelzen.

«Wir brauchen Schellack, der den Schnee verfestigt», sagt Baumann, als habe er Bambergs Gedanken erraten. Und er winkt Erbrich.

5. Kapitel

Sie gehen gemeinsam durch das Dorf, die vier Männer der Brandkommission. Baumann und Bamberg sind sehr groß und sehr schlank, Hänsel, der Brandursachenermittler, und Kramer, der Kriminaltechniker und Fotograf, sind wesentlich kleiner und, wie Hänsel selber einmal sagte: «So breit wie hoch.» Sie gehen immer in Marschordnung, vorn die beiden Langen, also Baumann und Bamberg, und in einem Abstand von genau drei Metern Hänsel und Kramer. Bamberg und Hänsel tragen Hüte, Baumann und Kramer Mützen. Schon immer. So sind sie bekannt.

Die Dorfbewohner blicken auf diese Männer. Die kommen aus der Stadt, um die Brandleger zu finden. Ob sie Erfolg haben? Die Bauern denken an Kilberg, das ferne Dorf, in dem es so oft brannte. Immer hatte es da gebrannt, unter dem Kaiser und auch danach! Das «Feuerdorf» hieß es. Und nie wurde ein Brand aufgeklärt. Selbst die Nazis fanden die Brandleger nicht. Wenn dort kein Brandleger gefunden wurde, wie soll er dann hier gefunden werden? Diese zwei Langen und diese zwei Dicken und der Mann mit dem Feuerschopf werden wohl wieder abfahren, ohne den oder die Täter gefunden zu haben.

Aber die fünf fahren nicht ab.

Und das also ist ihre Ausbeute: der Abdruck einer Sohle und eines Absatzes mit einer «Backpfeife», einer ausgebesserten schadhaften Stelle, weil der Schuster so begehrtes Leder gespart hat, eingesprüht mit Schellack und dann ausgegossen mit Gips, eine ausgemessene Spur, eine Fotografie, die vervielfältigt wird.

Aber wer trug den Schuh in dieser Nacht?

Irgendwo in einem Haus lebt dieser Mann, der die Brände legte und vielleicht weitere legen wird. Sie müssen den positiven Kern des Dorfes erfassen, der ihnen helfen wird. Wie überall, wo sie gewesen waren. Der Bürgermeister wird der erste sein.

«Klinkenputzen», knurrt Baumann. «Klinkenputzen und nochmals Klinkenputzen! Und jedem Schuster in allen Dörfern legen wir den Abdruck vor, die <Backpfeife>. Aber wie viele <Backpfeifen> gibt es? Wie soll sich da ein Schuster erinnern können. Wie?»

Nur Hartnäckigkeit und Glück, die richtige Mischung von beidem, können sie zu dem Täter hinführen.

Bamberg hat ein paar Pflaster auf Gesicht und Hals, eine Hand ist verbunden, und die Augenbrauen sind weggesengt. Aber krank sein will er nicht. Die Leute im Dorf sehen ihn mit Achtung an, das lässt den Schmerz vergessen.

6. Kapitel

Der ehemalige Ortsgendarm heißt Wagenbreit und wohnt im Lilienweg 5. Ihn wird man fragen können, er wird manches wissen aus einem langen Polizistenleben. Er kennt alle im Ort und in den Gemeinden ringsum, ihre Schwächen, ihre Fehler, ihre Strafen.

Der Weg ist schnell gefunden, auch das Haus. Baumann klingelt einmal, klingelt zweimal, aber das Haus liegt ruhig da. Doch der Schornstein raucht. Also muss einer zu Hause sein!

Ob die Klingel nicht funktioniert? denkt Bamberg.

Baumann öffnet das Tor, und seine Schritte knirschen im Schnee, als er auf das Haus zugeht.

Dann klopft er.

Er klopft einmal, zweimal.

Dann ganz stark.

Endlich hören sie Schritte im Haus, ein alter Mann steht in der Tür, der den langen Baumann von unten mustert.

Baumann weist sich aus.

Über das Gesicht des Alten huscht ein Lächeln. «Ich weiß, dass Sie hier sind.»

«Vielleicht können Sie uns helfen», sagt Baumann.

«Aber gern», erwidert der Alte und reißt nun die Tür weit auf. «Kommen Sie herein.»

Das Wohnzimmer, stellt Baumann fest, ist überheizt.

«Legen Sie doch ab», fordert sie der Alte auf.

Baumann dankt und auch Bamberg.

Sie mustern den grünen Ofen, der doch bald platzen muss bei einer solchen Hitze.

Sie versinken in zwei ledernen Sesseln, sehr tief.

Der Alte holt drei Gläser.

«Selbstgebrannter», sagt er stolz. «Eine eiserne Reserve.»

Baumann und Bamberg schütteln den Kopf, beinahe im selben Augenblick.

Es wird über den Ort gesprochen, über den kalten Winter, über das, was es nicht im Laden zu kaufen gibt.

«Tja», sagt Baumann, «Herr Wagenbreit, es geht um die Brände.»

Der Alte nickt. «Ja, ja.»

Baumann blickt kurz zu Bamberg.

«Haben Sie einen Verdacht?»

Der Alte verneint. «Den Täter fassen Sie nicht.»

«Jeder ist zu fassen», erwidert Baumann.

«Nicht jeder! Glauben Sie mir. Nicht jeder. Es gibt Brände, da denkt man, die haben Geister gelegt.»

«Kein Geist legt einen Brand, Herr Wagenbreit.»

«Ja, ja.» Der Alte reibt sich das Kinn. «Wie wollen Sie die Täter finden?» Er blickt Baumann und Bamberg an. «Wissen Sie, da kamen schon, das war unter Hitler, ganz erfahrene Männer in das Nachbardorf, auch nach einem Brand, ganz alte Hasen. Aber sie haben gepasst.»

Baumann winkt ab. Alte Hasen? Etwa solche wie sein Vorgänger, den sie abgelöst haben? Der vertrat die Auffassung, bei Bränden sei eine Aufklärung über dreißig Prozent nicht zu erreichen, sie seien eine von der Gesellschaft isolierte Erscheinung. Wie er sich irrte! Wie gewaltig! Er brachte mehr Schaden als Nutzen, dieser Mann.

«Ach was, Herr Wagenbreit.»

Der Alte beginnt erneut. «Den oder die Täter finden Sie nie. Ehe das Feuer hochlodert, sind sie weg. Und die hinrennen zum Feuer zertrampeln die Spur. Und das Löschen muss sein.»

«Keiner löst sich in Luft auf», lässt sich Bamberg vernehmen.

«Ja, ja», brummt der Alte.

Bamberg und Baumann blicken sich an. Was heißt ja, ja?

«Und Sie haben nicht den geringsten Verdacht?»

Der Alte schüttelt den Kopf. «Nicht den geringsten. Ich hab' hin und her überlegt. Wer soll so etwas tun? Wir haben nicht einmal Verrückte im Dorf.»

Bamberg kann ein Lächeln nicht verbergen.

«Lachen Sie nur», sagt Wagenbreit. «Sie finden den Feuerleger nie! Sie werden es sehen. Ihr könnt vier sein oder zwanzig. Ihr werdet wieder abfahren. Ohne Erfolg.» Er blickt Baumann an und dann Bamberg.

«Nein», sagt Baumann hart. «Wir fahren nicht ohne die Täter weg.»

«Dann werdet ihr hier ansässig! Für immer!»

Baumann erhebt sich.

«Nicht doch einen Schluck?», brummt Wagenbreit und lächelt mitleidig.

Baumann winkt ab.

Der Alte blinzelt hin zum Fenster. «Wenn Sie die fassen, dann zieh' ich den Hut vor Ihnen auf fünfzig Meter und halt' ihn in der Hand, bis Sie vorbei sind. Das schwör' ich.»

Baumann schweigt. Wenn du wüsstest, denkt er, wie viele wir schon gefasst haben! Wenn noch härterer Frost kommt, wird dir der Kopf sehr kalt werden, lieber Wagenbreit.

Und wenn sie die Täter nicht fassten? Unsinn! Dieser Gedanke darf gar nicht aufkommen, ich muss ihn verdrängen, in den hintersten Winkel meines Gehirns.

Als sie die Gartenpforte hinter sich zuziehen, steht Wagenbreit noch immer in der Tür. Er trägt eine Mütze aus Kaninchenfell.

Baumann hebt den Arm und winkt.

7. Kapitel

Es ist Abend. Sie stehen vor der Kneipe und klopfen den Schnee ab.

«Los», sagt Bamberg. «Gehen wir rein.»

Die Bauern blicken auf.

Einer, der Neumann heißt, hebt den Arm. «Nun könnt ihr wieder abziehen.»

Baumann blickt verblüfft. «Wir haben erst angefangen.»

Neumann lacht. «Aber jemand anders hat bald alles aufgeklärt!»

Lachen füllt den Raum. Sie lachen über Baumanns verblüfftes Gesicht.

«Wieso? Aufgeklärt?»

«Die Wahrsagerin! Morgen hat sie den Brandstifter. Sie ist schon mit der Wünschelrute los.»

«Die Wahrsagerin?»

Die Bauern schlagen sich auf die Schenkel.

«Sie ist seit dem Mittag im Dorf», ruft es aus dem hintersten Winkel des Raumes. «Morgen hat sie den Brandleger. Sie hat schon viele befragt im Dorf. Und nun fragt sie ihre Karten und was weiß ich ...»

Baumann schüttelt den Kopf, er sagt nichts mehr. Er ist sprachlos, und die Männer, die hinter ihm stehen, sind es auch, alle drei. Sie steigen die Stufen hinauf, einer hinter dem anderen, und das Lachen folgt ihnen nach, den zwei Langen und den zwei Dicken.

8. Kapitel

Bamberg wirft sich herum im Schlaf. Er denkt an Gisela.

Frisch verheiratet und immer die Nächte weg! Diese langen Nächte. Kurz liegt er wach, blickt in das Dunkel, schläft wieder ein. «Gisela», murmelt er im Schlaf.

Sie standen im Zimmer, und Gisela drehte den Schlüssel im Schloss. «Wir sind allein», sagte sie leise, «endlich.»

So ein Glück, dachte Bamberg. Warum nimmt sie mich? Was ist an mir dran? Er spürte ihre Arme um seinen Hals.

«Gisela!»

«Du hast nur den einen Vornamen, Ernst?»

«Ja», sagte er leise und mit rauer Stimme. Was soll diese Frage?

Er spürte den Schweiß unter den Achselhöhlen.

Er sah zu, wie sie sich auszog, langsam, bedächtig, ohne Scheu.

Da legte auch er die Jacke ab, streifte das Hemd über den Kopf, das Unterhemd, schlüpfte aus der Hose.

Gisela stand nackt vor ihm, mit runden kleinen Brüsten und offenem Haar.

«Komm!», sagte sie leise.

Er umschlang sie im Bett. Ihre Haut war kühl.

Ihre Hände glitten durch sein Haar, seinen Rücken entlang. In seinen Adern brannte ein Feuer, im ganzen Körper, ein Feuer, das jeden Gedanken löschte bis auf den einen: Gisela!

Sie bäumte sich auf unter ihm, und er spürte einen Schmerz in seinen Lippen, einen scharfen Schmerz, und schmeckte Blut.

Wie ein Feuer so wild war sie, diese Gisela.

Noch nie war es bei einem Mädchen oder einer Frau so schön gewesen.

Sie lagen nebeneinander, aber ihre Hand blieb in seiner Hand.

«Ernst», sagte sie leise.

«Ja?»

«Dein Name ist zu ernst.»

«Ach was.»

«Ich geb' dir einen neuen.»

«Was?»

«Einen, den nur wir kennen, du und ich.»

«Also, du ...»

«Doch, Ernst.»

Sie schwieg.

«Bär», sagte sie dann leise.

«Bär?»

«Ja, mein Bär.»

Ein verrücktes Weib, diese Gisela, dachte Bamberg. «Mein Bär», hauchte sie ihm ins Ohr und drängte sich wieder an ihn. Und sie küsste ihn wild.

Durch seinen Körper raste ein Feuersturm.

Sie schliefen, Gesicht an Gesicht.

Aber da ist ein Schrei, weit noch, sehr fern, sehr leise, und doch dringt er in den Schlaf.

Feuer!

Feuer?

Bamberg schreckt hoch.

Mit einem Satz ist er aus dem Bett, reißt das Fenster auf.

Das Dorf liegt friedlich!

Das Dorf schläft!

Der Mond scheint auf die Dächer.

Bamberg reibt sich die Augen. Ich bin überreizt, denkt er. Ich höre den Feuerschrei schon im Schlaf. Er schließt das Fenster. Baumann im anderen Bett schnarcht.

Ehe Bamberg einschläft, denkt er wieder an Gisela.

9. Kapitel

Der Morgen ist kalt. Eisblumen bedecken die Fenster.

Bamberg erhebt sich als erster, geht zur Kommode, wo die Wasserkanne steht und die Schüssel.

Dann zieht er sich aus, greift den Henkel der Kanne, um das Wasser in die Schüssel zu gießen. Aber das Wasser ist gefroren.

In seinem Rücken dröhnt Baumanns Lachen.

«Na», sagt Bamberg, «ich geh dann zum Wirt.»

Hänsel betritt den Raum. «Wer kauft heute ein?»

«Erbrich», antwortet Baumann und zieht die Reisemarken, mit denen sie heute einkaufen wollen, aus der Brusttasche seiner Jacke.

Es ist «Spinnstunde». Jeder sagt, was er denkt, jeder äußert Verdachtsmomente, auch wenn sie nicht bewiesen werden können.

Baumann beginnt. «Also, da ist Rauschenbach, dem der Stall abbrennt. Er erleidet starke Verletzungen beim Brand, versengt sich das Haar, das Gesicht. Rauschenbach ist ein Neubauer. Er hätte kaum einen Grund, einen Brand zu legen.»

Baumann räuspert sich, ehe er fortfährt. «Dann Winkler. Ihm brennt auch der Stall ab, und er rettet zusammen mit unserem Ernst ein paar Ferkel. Dann brennen noch die Tischlerwerkstatt von Fiebig und die Scheune von Merkel. Vom Bürgermeister wissen wir, dass Winkler und Merkel das nachplappern, was sie im RIAS hören.»

«Winkler rettete Tiere unter Einsatz seines Lebens», wirft Bamberg ein.

«Das kann man spielen», lässt sich Hänsel vernehmen. «Du weißt, was wir schon erlebt haben.»

«Wir brauchen von allen das Alibi», sagt Baumann, «obwohl ich nicht glaube, dass einer von ihnen der Täter ist.»

«Du gehst davon aus, dass es sich um einen Täter handelt?», fragt Kramer.

«Ja. Die Brände begannen in Abständen. Wir wissen das. Zwischen jedem Brand lagen zwanzig Minuten. Und die Spur taucht auch auf an der Tischlerei, dort, wo das Fenster zerschlagen wurde. Der Täter umging das Dorf.»

«Ich denke auch», lässt sich Hänsel vernehmen, «dass es ein Täter ist.»

«Wir werden von jedem im Dorf das Alibi überprüfen müssen», beginnt Baumann erneut. «Aber das Entscheidende ist und bleibt die Spur. Wir dürfen keinen Schuster auslassen.»

«Und nicht den Fiebig», sagt Bamberg nun und berichtet von Aussagen im Dorf, die auf die Feindschaft zwischen Fiebig und Winkler hinweisen. Wenn nun Fiebig bei Winkler das Feuer gelegt hat und bei sich selbst, um abzulenken? Bei ihm konnte der Brand gelöscht werden. Bei Winkler brannte alles nieder.

Aber noch immer bleiben die anderen Brände. Dann müsste Fiebig alle Brände gelegt haben. Und Winkler? Wie steht es mit Winkler, dem Mittelbauern? Seine abfälligen Worte über die Neubauern sind bekannt, auch über Rauschenbach. Besonders über Rauschenbach.

«Die Männer der freiwilligen Feuerwehr sind die einzigen, die nicht verdächtig sind», sagt Baumann langsam und lächelt dabei. «Wir wissen, dass sie alle dabei waren, bei jedem Brand!»

Bamberg sitzt im Auto, das ihn zusammen mit Baumann zur Wahrsagerin bringen soll.

Die Wahrsagerin lebt in der nahen Stadt in einem alten Haus, an dem der Putz fehlt und die Dachrinne defekt ist. Sie wohnt im zweiten Stock.

Eine Alte öffnet, die am Stock geht, ganz krumm.

«Wir möchten zu Frau Wegener.»

«Aber gern.» Die Alte lächelt.

Hinter ihr steht die Wahrsagerin. «Sie sind Kriminalisten, meine Herren.»

Baumann lächelt. Die Alte blickt plötzlich ernst, sehr ernst.

«Woran sehen Sie das?», fragt Baumann.