Die Säulenfiguren des Brüggemann-Altars: David und Rahab - Frieder Knüppel - E-Book

Die Säulenfiguren des Brüggemann-Altars: David und Rahab E-Book

Frieder Knüppel

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Beschreibung

Spannender als ein Krimi: Wer sind die beiden Säulenfiguren, die den von Hans Brüggemann geschaffenen Bordesholmer Altar im Schleswiger Dom flankieren? Beobachtung und biblische Überlieferung führen auf David, der im Mittelalter als Vorläufer des Messias gilt, und Rahab aus Jericho. Ihr Haus, das bei bei der Erstürmung verschont wird, gilt als Vorform der christlichen Kirche. Der zweite Teil des Buches sammelt bekannte und neue Quellen zu Hans Brüggemann und diskutiert sie. Zieht Brüggemann als Mitarbeiter Claus Bergs im Auftrag von Königin Christine nach Odense? Brüggemanns Selbstbildnis im Bordesholmer Altar ziert ein merkwürdiger breiter Bruststreifen, wie die Mitarbeiter Claus Bergs ihn tragen. Bischof Ahlefeldt, der Mentor des Bordesholmer Altars, begibt sich auf eine beschwerliche Reise als Brautwerber für Christines Sohn König Christian II. In Brüggemanns 'Liebesmahl' sitzen sie vertraut nebeneinander: Christian II., Isabella von Burgund, und mit ihnen am runden Tisch Königin Christine und Bischof Ahlefeldt, für den Brüggemann das Goschhof-Retabel anfertigte. Die Hoffnung auf eine lange Friedenszeit stirbt schon 1521, dem Jahr der Vollendung des Altars.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Das ‘Liebesmahl’ im Brüggemann-Altar, Lithographie von August Böhndel

Zusammenfassung

Die Identitäten der etwa 500 Jahre alten Säulenfiguren des Bordesholmer Altars von Hans Brüggemann (Brüggemann-Altar) wurden bisher nicht auf Grundlage stichhaltiger Argumente bestimmt. Am Anfang steht die Beschreibung der Säulenfiguren. Nicht erwähnt in der vorhandenen Literatur werden beispielsweise der Reichsapfel über der Krone der männlichen Säulenfigur und der mit einem Stoffstreifen umwickelte Stab auf dem Kopf der weiblichen Säulenfigur. Ikonographische Merkmale und Beziehungen zu Hauptthemen des Retabels, Passionsgeschichte und Jüngstes Gericht, erweisen König David und Rahab aus Jericho als wahrscheinliche Kandidaten. In die weitere Analyse einbezogen sind Bischof Gottschalk von Ahlefeldt als Mentor des Altars, Herzog Friedrich (I) von Schleswig-Holstein und Anna von Brandenburg. In Dantes Göttlicher Komödie, die Ahlefeldt möglicherweise in Bologna kennenlernte, treten David und Rahab prominent auf. Die vermuteten Identitäten David und Rahab zeigen sich kompatibel zu allen Beobachtungen, die Gestaltung der Figuren stimmt faszinierend präzise in allen Details mit der biblischen Überlieferung zu David und Rahab überein. Die vorhandene Literatur verweigert überwiegend genaue Beobachtungen der Säulenfiguren und bemüht theologisch irrelevante Sibyllen und fromme Legenden. Die (nach einem mehr als 200 Jahre alten Gemälde) wahrscheinlich ursprünglichen Aufstellungsorte, die männliche Figur rechts und die weibliche links vor dem Durchgang der Chorschranke zum Altar, den Besuchern des Langhauses und dem Fürstenpaar Friedrich I. nebst Anna von Brandenburg auf dem Kenotaphen zugewendet, korrespondieren mit der Interpretation Davids als Präfiguration des Messias und Rahabs Haus als Präfiguration der Kirche, in welche Rahabs Gestik die Besucher im Langhaus einlädt. Schließlich wird hingewiesen auf die Analogie zu den beiden biblischen Säulen Jachin und Boas im Vorhof des Ersten Jerusalemer Tempels. Gedrehte Säulen und Säulen mit spiralförmigen Kanneluren werden im Mittelalter als Hinweis auf den Jerusalemer Tempel gesehen.

Der Innenraum der Bordesholmer Stiftskirche bildete also ein Gesamtkunstwerk, welches die Menschen im Langhaus, das Fürstenpaar auf dem Kenotaphen wie auch die Chorherren ein-schließt. David und Rahab auf den Säulen mahnen und leiten die Menschen im Langhaus zu einem gottgefälligen Leben eingebunden in Gottes Wirken, welches der Altar beginnend mit Adam und Eva bis zum Jüngsten Gericht zeigt. David und Rahab werden den Seelen des Fürstenpaares nach der Auferstehung den Weg weisen. Die Chorherren im Gestühl vor dem Altar haben ihr Leben dem Dienst am Christentum in der Kirche geweiht und brauchen keine Aufforderung durch David und Rahab.

Der zweite Teil der Arbeit, ‘Hans Brüggemann, Spuren, Biographie und sein Altar’, sammelt bekannte Quellen, fügt bisher unbeachtete – manchmal gewiss weitschweifig – hinzu und verknüpft sie. Dies liefert Hinweise zu Brüggemanns Biographie und zur Deutung des Bordes-holmer Altars.

Abschnitt 6. sammelt Beobachtungen zu Hans Brüggemann.

Die ‘dänische Spekulation’ 6.20 diskutiert einen Weg, auf dem Brüggemann nach Schleswig-Holstein gekommen sein könnte: als einer der zwölf Mitarbeiter, die Claus Berg nach Odense mitnehmen durfte zum Bau des Retabels der dänischen Königin Christine. Dieses Retabel zeigt eine Figur, deren Gesicht den Selbstportraits Brüggernanns im Goschhof-Retabel und im Bordesholmer Altar ähnelt. Bischof Ahlefeldt begibt sich zur Brautwerbung für den ältesten Sohn Königin Christines auf eine beschwerliche Reise. Hat Christine zum Dank ihren Bildschnitzer Brüggemann an Ahlefeldt ‘ausgeliehen’ und damit zum Entstehen des Goschhof-Retabels und auch des Bordesholmer Altars beigetragen? Für die ‘dänische Vermutung’ finden sich etliche Anhaltspunkte.

Die Gesprächspartnerin Bischof Ahlefeldts im Liebesmahl des Bordesholmer Altars sieht Königin Christine verblüffend ähnlich; eine Beobachtung, die in der vorhandenen Literatur nicht vermerkt ist.

In 6.21 entdecken wir eine in der Inschrift des Bordesholmer Altars verborgene Chiffre: Er schaue und bedenke, wenn seinesgleichen in diesem Werk vorkommt. Die Botschaft fordert dazu auf, das eigene Verhalten zu prüfen: Wäre ich an Kaiphas Stelle, wie würde ich handeln?

Abschnitt 7. beleuchtet das Leben der Königin Christine insbesondere anhand der Hofhaushaltsbücher, in denen die Namen Claues malere und Hanns snittkere vorkommen.

Abschnitt 8. fasst 6.20 und 7. zusammen und zieht das Studium des ‘Liebesmahls’ in 12., der Szene ‘Abraham und Melchisedek’ in 13. sowie Vergleiche von Altar-Rankenwerken in 14. heran, um die ‘dänische Spekulation’ zu untermauern. Sowohl im Bordesholmer Altar wie auch im Claus-Berg-Retabel werden zwei Bilder von Dürers Kleiner Passion, das Letzte Abendmahl und die Fusswaschung Petri, zu einer Szene vereint, in welcher Jesus zweifach auftritt und Petrus in einer Doppelrolle (Abb. 48, 49). Im Bordesholmer Altar wie auch im Claus-Berg-Retabel trägt Maria Magdalena ein Kleid mit Puffärmeln.

Abschnitt 17. erwägt die Ähnlichkeit von Brüggernanns Selbstportrait im Bordesholmer Altar mit einem von Claus Berg geschaffenen Apostel im Dom von Güstrow. Graphiken Bischof Ahlefeldts mit Inschriften auf Spruchbändern zeigt der 9. Abschnitt.

Abschnitt 10. diskutiert zwei Textstellen Heinrich Rantzaus, in denen der Name Johannes Brüggemann als Schöpfer des Bordesholmer Altars vorkommt.

Abschnitt 11. sammelt spekulativ Lebensdaten Hans Brüggemanns aufgrund konkreter Anhaltspunkte.

In 12. werden die Personen des ‘Liebesmahls’ im Bordesholmer Altar identifiziert, historisch eingeordnet und Folgerungen zur Intention des Altars gezogen. Brüggemann bildet die Königinwitwe Christine und Christian ll. detailliert ab, ein Hinweis auf Brüggemanns Anwesenheit in Odense.

Passend zur im Liebesmahl aufscheinenden Eheschließung von Christian ll. mit Isabella ist König Salomo, Autor des Hohen Liedes, als Rahmenfigur des Liebesmahls anzunehmen. Die andere Rahmenfigur ist vermutlich der heilige Laurentius, an dessen Gedenktag Isabella in Kopenhagen einzog.

Abschnitt 13. bespricht die Szene ‘Abraham und Melchisedek’. Auch hier finden sich triftige Belege für die ‘dänische Spekulation’. Die Kleidung des sich als Maler (anläßlich der Visierung des Altars) präsentierenden Brüggemann sowie dreier weiterer Männer im Fach ‘Abraham und Melchisedek’ stimmt überein mit der Kleidung der Mitarbeiter Claus Bergs, welche uns der Enkel von Claus Berg beschreibt (7.4, 13.5). Eine chiffrierte Nachricht sendet uns Brüggemann möglicherweise durch den Hintergrund der Szenerie: Rechts ein Stadttor, in der Mitte eine mehr als mannshohe sich Überschlagende Woge, links ein Berg mit einem niedrigeren Ausläufer. Als entschlüsselte Botschaft bietet sich an: ein Stadttor Odenses, die stürmische Seefahrt über die Ostsee auf dem Weg nach Bordesholm, Claus Berg und sein Sohn Franz, die in Odense bleiben.

Accessoires des Selbstportrait Brüggemanns in der Predella des Bordesholmer Altars sind Thema von 13.6.

Ähnlichkeiten des Rankenwerks im Goschhof-Retabel mit dem Rankenwerk des Feldes Jesus vor Kaiphas im Claus-Berg-Retabel zeigt Abschnitt 14.

Kapitel 15 beobachtet ein mögliches Selbstportrait Claus Bergs. Das Gesicht des Portraits ähnelt dem einer Figur des Bordesholmer Altars.

Der Aufenthalt Hans Brüggemanns in der Werkstatt Claus Bergs in Odense bei Königin Christine, die dadurch entstandene Verbindung zu Bischof Ahlefeldt, der Bau des Goschhof-Retabels in Odense und der anschließende Auftrag Herzog Friedrichs zum Bordesholmer Altar werden in 6. zunächst als Spekulation formuliert. Wir haben keinen Urkundenbeweis. Die Spekulation wird jedoch durch stichhaltige Indizien gestützt (Zusammenfassung in 8.). Deshalb darf man als wahrscheinlich annehmen, dass diese ‘dänische Spekulation’ tatsächlich den wohl wichtigsten Abschnitt in Brüggemanns Leben zutreffend beschreibt.

Drei Personen haben den Bordesholmer Altar konzipiert: Bischof Ahlefeldt, Hans Brüggemann und Herzog Friedrich (I). Die Chorherren des Bordesholmer Klosters konnten allenfalls über ihren Probst oder Prior geringen Einfuß nehmen. Probst oder Prior erhielten Anweisungen (‘Missive’) aus Gottorf.

Die vorliegende Recherche berücksichtigt das historische Umfeld, die Biographien Bischof Gottschalk von Ahlefeldts und Herzog Friedrichs (I), die Beziehungen zu Königin Christine in Odense, zu Christian ll. und zu Claus Berg. Damit gelingt die Identifikation der Säulenfiguren und der Personen des Liebesmahls. Die Personen im ‘Liebesmahl’ dokumentieren den Wunsch nach Versöhnung und die Hoffnung auf eine lange Friedenszeit nach dem Tod des dänischen Königs Hans (Bruder von Herzog Friedrich (I)) und der Huldigung von Christian ll. als neuem König, der sich mit Isabella (Elisabeth), einer Schwester des späteren Kaisers Karl V., 1515 in Kopenhagen vermählt.

Die Reformation, die in Husum schon im Jahr 1520 gepredigt wird und im dänischen ‘Epochenjahr’ 1527 (s. [52]) den ‘alten Glauben’ hinwegfegt, bewegt die drei Initiatoren des Altars. Friedrich I. unterstützt reformatorische Prediger und verhindert durch seine Toleranzpolitik einen Bürgerkrieg.1 Bischof Gottschalk von Ahlefeldt versucht vergeblich, die ‘papistische’ Kirche zu retten, zieht sich um 1527 aus dem öffentlichen Leben zurück, bleibt jedoch bis zu seinem Tod 1541 Bischof. Das ‘reine Wort des Evangeliums’ ist in der Muttersprache zu hören und zu lesen, das theologische Interpretationsmonopol der Kleriker und ihrer Künstler ist durch die Reformation gebrochen. Luthers Theologie erstickt Fegefeuer und Stiftungen, die meisten Bildschnitzer werden arbeitslos (s. [30]). Für Hans Brüggemann bedeutet die Reformation Ansehensverlust und möglicherweise eine Sinnkrise. Er stirbt vermutlich zwischen 1525 und 1528. Sein Kollege Claus Berg verläßt Odense im Jahr 1532, als das Franziskanerkloster dort aufgelöst wird. Seine zwölf Apostel in Güstrow streiten für den ‘alten Glauben’. Das Antlitz des Apostels Jacobus d.J. könnte von Claus Bergs Erinnerung an den jungen Hans Brüggemann inspiriert sein.

Kapitel 18. enthält Beobachtungen zum ‘Ungläubigen Thomas’ und zum ‘Passah-Mahl’ des Bordesholmer Altars. In 19. finden wir Gemeinsamkeiten der vier Szenen der Predella. Die fehlende Gestaltung des 1883 demontierten Flügelpaars behandelt Abschnitt 20. Vermutlich sollten die Flügel mit Bibeizitaten beschriftet werden wie die Flügel des Goschhof-Retabels.

1In Skandinavien und Schleswig-Holstein wurde meines wissens während der Reformationszeit aus religiösen Motiven nur ein Mensch getötet, nämlich der evangelische Prediger und Augustiner Mönch Henricus Zutphanniensis durch eine erregte Menschenmenge in Heide. S. [68], S. 787.

Übersicht(Kapitelüberschriften und Auswahl an Unterabschnitten)

Zusammenfassung

Die Säulenfiguren des Brüggemann-Altars: David und Rahab

Einleitung

1.

Beschreibungen nach Abb. 2 und 3

2.

Zu den Identitäten

(2.1 Zur männlichen Säulenfigur

,

2.2.9 Die Vorhölle

,

2.2.11 liber agendarum

,

2.3 Zur weiblichen Figur

,

2.3.10 Werkgerechtigkeit, Reformation, Mission und Rahab

,

2.4 David, Rahab, Brüggemann, Präfiguration)

3.

Herzog Friedrich (I), Anna von Brandenburg, Gottschalk von Ahlefeldt

(3.3 Passen David und Rahab als Leitbilder zu Friedrich und Anna?

,

3.6 Gottschalk von Ahlefeldt

)

4.

Jüngstes Gericht und alternative Zuschreibungen

(4.3 Sibyllen, Totenmessen, dies irae

,

4.4 liber agendarum und dies irae

,

4.7 Legenda aurea, Sibyllen und der Jurist Ahlefeldt

)

5.

Stillschweigen, Interpretationen, die Säulen, Jachin und Boas

(5.7 Gründe für das Incognito

,

5.9 Interpretationen

,

5.10 Aufstellungsorte der Säulenfiguren

,

5.11 Die Säulen des Bordesholmer Altars, der HI. Nikolaus von Uelzen, die Säulen vor dem Tempel Salomos)

Hans Brüggemann, Spuren, Biographie und sein Altar

6.

Beobachtungen und Vermutungen zu Hans Brüggemann

(6.3 Aufenthaltsorte in Schleswig-Holstein

,

6.4 Verbindungen nach Husum

,

6.5 Hofkünstler?

,

6.6 Das Altersheim in Husum

,

6.8 Berufung durch Gottschalk von Ahlefeldt?

,

6.9 Vage Spekulationen

,

6.10 Der Vertrag von Walsrode

,

6.12 Das Kloster von Walsrode

,

6.15 Die Inschrift am Bordesholmer Altar. Luthe Brüggemann, ein Bruder von Hans Brüggemann?

,

6.20 Die dänische Spekulation

,

6.20.1 Claus Berg

,

6.20.2 Der Bericht eines Enkels

,

6.20.6 Selbstportraits

,

6.20.7 Beim Liebesmahl: Bischof Ahlefeldt und Christine?)

7.

Königin Christine, Claus Berg, Hans Brüggemann

(7.1 Christine von Sachsen und König Hans

,

7.2 Der Hof von Königin Christine in Odense und die Hofhaushaltsbücher

,

7.3 Künstler in den Hofhaushaltsbüchern

,

7.4 Bericht von Claus Berg d.J. über Claus Berg d.Ä. und dessen Sohn

,

7.6 Bericht aus der Sammlung zur Geschichte von Odense

,

7.8 Folgerungen und Verknüpfungen)

8.

Zusammenfassung aus

6.20

,

7.

,

12.

,

13.

,

14.

,

15.

zur ‘dänischen Spekulation’ und weitere Beobachtungen

9.

Holzschnitt und Kupferstich von Bischof Ahlefeldt

10.

Hans Brüggemann in Heinrich Rantzaus Cimbricae Chersonesi desriptio

11.

Spekulative Lebensdaten Hans Brüggemanns

12.

Das Liebesmahl im Bordesholmer Altar

13.

Abraham und Melchisedek im Bordesholmer Altar

(13.3 Gefolgsleute Abrahams

,

13.4 Die Leute auf der Seite Melchisedeks

,

13.5 Folgerungen

,

13.6 Brüggemanns Accessoires im Selbstportrait)

14.

Rankenwerk im Goschhof-Retabel und im Claus-Berg-Retabel

15.

Claus Berg im Bordesholmer Altar?

16.

Bordesholmer Altar und der Altar in Sanderum

17.

Brüggemann und Jacobus d.J. in Güstrow

18.

Bemerkungen zum ‘Ungläubigen Thomas’ und zum ‘Passah-Mahl’

19.

Deutung der Predella des Bordesholmer Altars

20.

Mir fehlen die Worte. Zu den Retabel-Flügeln

Bildquellen

Danksagung

Literatur

Die Säulenfiguren des Brüggemann-Altars: David und Rahab

Einleitung

Den Brüggemann-Altar (Bordesholmer Altar) im Schleswiger Dom flankieren linkerhand des Betrachters eine männliche und rechts eine weibliche Figur auf einer Säule. Paul Nawrocki hat in [63] die bisherigen Deutungen der Säulenfiguren kritisch kompiliert. Er findet in jeder Zuschreibung gravierende Unstimmigkeiten und kommt zum Schluß, die realen Vorbilder der Säulenfiguren – so es denn solche gibt – seien bisher nicht glaubwürdig bestimmt.2 In sakralen Kunstwerken des Mittelalters hat nahezu jedes Detail eine Bedeutung. Eine korrekte Deutung der Säulenfiguren muss die Details der Figuren nachvollziehbar erklären und auch die Bedeutung der Figuren im Gesamtkunstwerk des Altars.

1. Beschreibungen nach Abb. 2 und 3und anderen Photos

Die männliche Figur ist ein alter Herr. Er trägt über einer Kappe mit Ohrenschützern einen prächtigen Turban, aus dem acht spitze Zacken (Strahlen) einer Krone oder Gloriole ragen (nur fünf sind erhalten). Auf der Kappe sehen wir einen Helm mit acht Spangen und darauf einen Reichsapfel (in Abb. 2 ist das Kreuz des Reichsapfels verschwunden, jedoch auf älteren Photos und Lithographien sichtbar). Jede Zacke ist zu einer Spange benachbart. Spangenhelm, Reichsapfel und Zacken bilden vermutlich eine Krone. Die Augen über Tränensäcken sind leicht nach oben gerichtet, der Vollbart reicht bis zur Brust, auf der eine Kette aus ringförmigen Gliedern liegt. Uber einem Umhang trägt er einen offenen Mantel (eine Schaube3) mit Pelzfutter. Die Füße stecken in Kuhmaul-Schuhen. Seine Unterarme in den weiten Ärmeln sind nach vorn gestreckt, die Handflächen offen. Vermutlich richtet er ein Gebet zum Himmel. Wir sehen drei Ringe an Fingern der linken Hand und rechts zwei.4 Die Gestalt ist zusammengesunken.

Die weibliche Figur (Abb. 3) zeigt eine etwa dreißig Jahre alte Frau. Ihr konzentrierter Blick ist nach rechts abwärts gerichtet. Ihre rechte Handfläche rafft das Kleid an den drallen Bauch, der linke Unterarm ist nach vorn gestreckt, und der Zeigefinger scheint jemanden zum Kommen aufzufordern oder in die Höhe zu deuten. Möglicherweise ist die Frau schwanger; allerdings galt um 1500 ein wohlgerundeter Bauch als erotisches Schönheitsideal. Uber dem linken Unterarm hängt ein Stück Tuch, welches hinter der Hüfte der Figur im Wind weht. Das sehr lange Kleid – es reicht etwa zwanzig Zentimetern über die Füße und bedeckt den Boden – hat Puffärmel, Manschetten und ein auffallend tief hinabreichendes rundes Dekolleté. Das Kleid umspannt eng die Brust, betont weibliche Rundungen und wird von einem schmalen Gürtel umfangen. Um den Hals trägt unsere Dame eine ähnliche Gliederkette wie die männliche Figur und auch die Brüggemann selbst darstellende Figur im Altar Eine eng anliegende Kette schmückt den Hals An einer schmalen Halskette hängt vermutlich ein im Dekolleté verborgenes Amulett Der Kopf ist von einer schlichten halbkugelförmigen Stoffhaube bedeckt, die Ohren sind sichtbar, jedoch kein Haupthaar, Auf der Haube liegt eine nach oben geweitete Kalotte, Darauf ruht ein Stab fast so lang wie die Schulterbreite, dessen Enden kleine Kugeln abschließen und auf den eine Stoffbahn gewickelt ist (s. auch Abb, 13 und Abb, 14), Von der rechten Seite des Stabes verläuft ein Stoffstreifen über rechte Schulter und Rücken bis zur Hüfte und wird vom linken Unterarm aufgenommen. Stab und Kalotte bedeckt ein quadratisches Tuch wie ein Gewölbe. An jeder Ecke hängt ein tropfenförmiger Anhänger.5 Die beiden diagonalen Parallelscharen des Tuchs gleichen den Stegen des Tabernakelgitters (Abb. 4), welches in christlicher Sicht den Leib Christi in Form geweihter Hostien bedeckt. Eine Perle bildet das Zentrum eines jeden Quadrats des Tuchs.

Abbildung 1: Brüggämann-Altar im Dom zu Schleswig

Abbildung 2: Männliche Säulenfigur. Das Kreuz des Reichsapfels fehlt auf diesem Photo.

Die Beiträge in [2] wie auch [4] und [63] ignorieren den Reichsapfel der männlichen Figur. Die genannte Literatur liefert auch keine genaue Beschreibung der merkwürdigen Kopfbedeckung der weiblichen Figur und erstrecht keine Erklärung ihrer Bedeutung.

Die beiden Figuren können aufgrund der Entfernung keinen Dialog führen.

Wir vermuten, dass der Originalzustand der Figuren nicht wesentlich von der Beschreibung abweicht, insbesondere die männliche Figur von jeher mit Turban, Krone und Reichsapfel ausgestattet war. Die meisten Szenen des Retabels sind inspiriert von Holzschnitten Albrecht Dürers (Kleine Passion). Eine Ausnahme ist die Szene ‘Abraham und Melchisedek’, in welcher eine Illustration aus der Lübecker Bibel von 1494 verarbeitet wird (im Exemplar der Bordesholmer Klosterbibliothek fehlt die entsprechende Seite).6 Für die Szene des Liebesmahls’ in der Predella 7 ist mir keine graphische Anregung bekannt, und dies gilt auch für die weibliche Säulenfigur.

Abbildung 3: Weibliche Säulenfigur

Abbildung 4: Tabernakel, Detail. Im Tuch auf dem Kopf der weiblichen Säulenfigur sieht man das Muster des Tabernakelgitters.

Abbildung 5: Figur im Altar (Szene Abraham und Melchisedek), in der Brüggemann sich als Gefolgsmann Melchisedeks selbst darstellt

2. Zu den Identitäten

Die etwa vier Meter hohen Säulen rechts und links des Altars ähneln in Gestaltungselementen den ebenfalls Figuren tragenden kleinen Säulen an den Feldern des Retabels. Die beiden großen Säulen und ihre Figuren bilden also mit dem Altar eine Einheit (hierzu auch 2.4). Zu den isoliert stehenden Säulenfiguren, den größten Figuren des Altars, muß der Betrachter aufschauen. Deshalb verkörpern sie vermutlich bedeutende christliche Idole in Verbindung mit im Retabel dargestellten Ereignissen. Bis in das 19. Jahrhundert hinein waren alltäglich nur das Jüngste Gericht sowie Adam und Eva mit dem Apfel sichtbar, denn das Retabel wurde nur an hohen kirchlichen Feiertagen geöffnet (s. 4.2).

2.1 Zur männlichen Säulenfigur

Die männliche Säulenfigur stellt aufgrund ihrer Ausstattung einen Herrscher dar.

Den Herrscher eines westeuropäischen christlichen Landes hätte Brüggemann nicht mit einem prächtigen Turban versehen, denn das Vordringen der Turban tragenden Osmanen bedrohte christliche Reiche (erste Belagerung Belgrads 1456, Eroberung 1521). Der einzige im Westen geachtete islamische Herrscher, Saladin, wäre nicht mit einem das Kreuz tragenden Reichs-apfel dargestellt. Römische Kaiser des ersten Jahrhunderts wie etwa Kaiser Augustus trugen keinen Bart und werden nicht mit Reichsapfel abgebildet. Augustus, Kaiser der römischen Besatzungsmacht Israels, erkennt in christlicher Legende spontan und demütig das Jesuskind als mächtigeren Herrscher, was durch Kniefall und niedergelegte Krone zum Ausdruck kommt. Der Stifter des Altars, Herzog Friedrich (I) von Schleswig-Holstein, hat ein deutlich anderes Antlitz als die Säulenfigur. Auf dem Kenotaph der Bordesholmer Stiftskirche erscheinen Herzog Friedrich und seine Gattin Anna von Brandenburg lebensgroß als Relief. Beide sitzen am Tisch des ‘Liebesmahl’ des Retabels (s. 12.), und der Herzog erscheint auch als Ritter im Feld Abraham und Melchisedek (s. 13.).

Abbildung 6: David spielt Harfe für Saul, Lucas van Leyden, um 1508

2.2 Da kein Herrscher aus nachchristlicher Zeit mit passender Ikonographie zu finden ist, stellt die Säulenfigur wahrscheinlich eine biblische Person dar.

2.2.1 Suche nach Kandidaten Hauptamtliche Propheten, Priester und bodenständige Personen kann man ausschließen, denn der prächtige Turban und der teure Mantel sind Kleidungsstücke eines Herrschers. Stammväter wie Abraham tragen in keiner Darstellung eine Krone oder einen Reichsapfel.

Die bekanntesten Könige der Bibel sind Saul, David, Salomo.

Die Ikonographie der Figur passt zu Saul. Ein spezifisches Attribut fehlt. Saul hat ab einem gewissen Alter immer wieder versucht, seinen populären Schwiegersohn David, der Sauls Tochter Michal geheiratet hatte, heimtückisch zu ermorden. Nach jedem gescheiterten Versuch verflog die Reue schnell und war von keinem Gebet an Jahwe begleitet. Saul kann deshalb nicht als Leitfigur im christlichen Sinn gelten. 8

Salomo passt bei flüchtigem Hinsehen ikonographisch. Jedoch kommt im biblischen Bericht vom gealterten Salomo (ab 1 Könige 11) kein zu Jahwe betender König Salomo vor. Im Gegenteil: Auf seine alten Tage neigt er, der 700 Weiber zu Frauen und 300 Kebsfrauen hat, sein Herz entgegen dem Gebot Jahwes nach den Göttern ausländischer Weiber (1 Könige, 11, 1-13). 9 König Salomo zeigt nach der Kreuzholzlegende von Salomo und Sibylle kein Interesse an der Verkündigung der Ankunft des Messias oder dem Jüngsten Gericht, also Hauptthemen des Retabels. Der bejahrte König Salomo ist also keine christliche Leitfigur.

Eine enganliegende Kappe mit Ohrenschützern, wie sie die männliche Säulenfigur trägt, ist eine typische Kopfbedeckung von Landsknechten des Mittelalters und passt ebensowenig wie ein Helm zu König Salomo, der stets als pazifistischer König dargestellt wird.

Ein alttestamentlicher König auf einer zierlichen Säule bewacht (im Originalzustand des Altars) das ‘Liebesmahl’ in der Predella. Der Sinnzusammenhang mit dem Liebesmahl wie auch ikonographische Merkmale erweisen die Rahmenfigur mit Sicherheit als König Salomo (s. 12.6). – In der vorhandenen Literatur wird der ‘alttestamentliche König’ nicht genauer studiert.

Die Rahmenfigur unterscheidet sich im Aussehen deutlich von der großen Säulenfigur.

Die Figur auf der hohen Säule stellt jedenfalls nicht König Salomo dar.

David passt auf den ersten Blick ikonographisch wenig überzeugend. Meist wird er als junger Mann im Kampf gegen Goliath oder mit Harfe oder Schwert oder tanzend abgebildet.10

2.2.2Abb. 7 zeigt David zu Jesus aufblickend mit ausgebreiteten Armen in ähnlicher Haltung und mit Vollbart wie die Säulenfigur, und er trägt eine ebensolche Kette. Jesus taucht nicht nur als Weltenrichter sondern auch als drohender Vollstrecker mit einem Schwert und Totenkopf aus einer Wolke auf. Die Harfe liegt auf dem Boden. Eine liegende Harfe hätte auf der Säule kaum Platz und wäre auch nicht sichtbar. Das Bild stammt aus einem 1519 in Nürnberg gedruckten Exemplar des Psalmenbuchs des Aurelius Augustinus, welches möglicherweise in der Bordesholmer Bibliothek vorhanden war und Brüggemann als Anregung dienen konnte.11

Abbildung 7: Jesus mit Dornenkrone erscheint dem König David am Himmel, Schwert und Totenkopf haltend. Aus Aurelius Augustinus: Dy sybenn buß Psalmen ..., um 1519. Univ.bibl. Dresden.

Abbildung 8: David sieht Bathseba, Codex. Germanicus 206, 1457. Jenseits der Mauer vermutlich die Zukunft: Wie die Kreuz-Krone zeigt, ist Bathseba in den Stammbaum Jesu eingereiht.

Die Radierung ‘David im Gebet’ des Lucas van Leyden (1520, Staatsgalerie Stuttgart) zeigt den betenden alten David in trostloser Umgebung Kopfbedeckung, Zepter und die fast gänzlich verdeckte Harfe liegen auf der Erde, der linke Schuh ist ihm vom Fuß gefallen.

Abbildung 9: David, Illustration aus einem Buch über König David, vermutlich Flandern 1500-1525. Königliche Bibliothek Kopenhagen, NKS50h8°

2.2.3 Im Midrasch Tehillim wird gesagt: Mose gab den Israeliten die fünf Bücher der Tora, und David gab den Israeliten die fünf Bücher der Psalmen. Einer der bekanntesten Psalmen Davids (Nummer 23) beginnt mit den Worten: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Aufgrund seiner Psalmen gilt David auch als Prophet, der das Erscheinen des Messias und das Jüngste Gericht ankündigt.

2.2.4 David wird in der Bibel mehrfach als Vorfahr von Jesus benannt.12 Die männliche Säulen-figur und die Gottesfigur des Altars haben auffallend ähnliche Gesichtszüge. Dies ist nicht erstaunlich, wenn die Säulenfigur den Jesus-Vorfahr David darstellt.

2.2.5 Die männliche Figur trägt einen Reichsapfel, wie er im Bordesholmer Chorgestühl im Wappen der Maria erscheint und als Attribut oft in Darstellungen des Jesuskind zu sehen ist. Der Reichsapfel über der Krone eines Königs steht als Zeichen, dass der weltliche Herrscher seine Macht einem überlegenen göttlichen Herrscher verdankt.13 Zum alten David passt dieses Zeichen – anders als zu Saul und dem alten Salomo; denn er befolgt als letzte Amtshandlung einen bei Jahwe geleisteten Schwur und spricht zu Bathseba So wahr der HERR lebt, der mich erlöst hat aus aller Not: Ich will heute tun, wie ich dir geschworen habe bei dem HERRN, dem Gott Israels, als ich sagte: Salomo, dein Sohn, soll nach mir König sein... (1 Könige 1). König David auf der Säule wird als Präfiguration des Messias gesehen (2.4 und 5.10). Das Kreuz auf dem Reichsapfel mag darauf ein Hinweis sein.

2.2.6 Einen Mantel mit Pelzfutter, wie ihn die Säulenfigur trägt, kann David gut brauchen, denn er friert im Alter.14 Brüggemann hilft mit Pelzfutter, Abisag von Sunem mit menschlicher Wärme.

Die Zackenkrone entstand in vorchristlichen Kulturen, in denen der Sonnengott mit einer Gloriole aus Strahlen oder Zacken abgebildet wird. Kaiser Probus trägt auf einer römischen Münze eine solche Strahlenkrone (3. Jh., Attribut des Reichsgottes Sol invictus), wie auch die statue of liberty (Gloriole mit 7 Strahlen). In der Heraldik sind 7 Zacken üblich.

Warum trägt König David eine Strahlenkrone oder Gloriole heidnischen Ursprungs?15

Eine Erklärung liefert 2 Sam 26 ff. (auch 1 Chronik 20, 2): So kämpfte nun Joab gegen Rabba, die Stadt der Ammoniter, und eroberte die Königsstadt und sandte Boten zu David und ließ ihm sagen: Ich habe gekämpft gegen Rabba und auch die Wasserstadt eingenommen. So bring nun das übrige Kriegsvolk zusammen und belagere die Stadt und erobere sie, damit nicht ich sie erobere und mein Name über ihr ausgerufen werde. So brachte David das ganze Kriegsvolk zusammen und zog hin und kämpfte gegen Rabba und eroberte es und nahm seinem König die Krone vom Haupt; die war an Gewicht einen Zentner Gold schwer, und an ihr waren Edelsteine; und sie wurde David aufs Haupt gesetzt. Und er führte aus der Stadt viel Beute weg. Der König David im Goschhof-Retabel trägt keine Krone. Er wird zusammen mit Urija gezeigt während der Belagerung Rabbas bevor David dem König der Ammoniter die Krone vom Haupt nimmt (s. [46]).

Ein frierender König David an der Pforte ins Jenseits trägt weder Schwert noch Harfe.

2.2.7 David übt keine Rache an Saul und hält auch seine Knechte zurück, obwohl er Saul trotz dessen Leibwächtern heimlich hätte töten können (Versteck in der Höhle, nächtliches Eindringen in Sauls Lager). Damit praktiziert er das Jesusgebot der Nächstenliebe und der Vergebung.

David lebte zeitweise als Straßenräuber. Diese dunklen Jahre ebenso wie sein Verbrechen, den Urija aus Eigennutz in den Tod zu schicken, werden nach Gebet und Reue von Jahwe verziehen.

2.2.8 Die Ringe an den Fingern der Figur könnten auf Frauen hindeuten, mit denen David verheiratet war. Die bekanntesten sind Michal, Abigail, Bathseba. Aber ich vermute in den fünf Ringen Symbole der fünf Psalmenbücher Davids. – Das Tragen mehrerer Fingerringe ist eine skandinavische Männermode der Reformationszeit (hierzu Abschnitt 8. (xvii)).

2.2.9 Die Vorhölle, auch Limbus oder Schoß Abrahams genannt, wird durch Jesus kurz nach seiner Auferstehung aufgelöst. Bis dahin ist die Vorhölle Aufenthalt gottgefälliger verstorbener Prominenter des Alten Testaments (in der Abteilung Limbus patrum) sowie verstorbener unschuldiger Kinder.

Eine Analyse (s. Fußnote) der Figuren von Brüggemanns Vorhölle (Abb. 21) zeigt, dass David hier nicht vertreten ist; gewiss ein Argument, David als eine der bedeutendsten Personen des Alten Testaments als Säulenfigur zu würdigen. 16

2.2.10 Breviarium Ecclesiae Slesvicensis Dieses Breviarium hat der letzte katholische Bischof Schleswigs, Gottschalk (Godske) von Ahlefeldt, zusammengestellt und 1512 in Paris drucken lassen.17 Gottschalk von Ahlefeldt (Biographie in 3.6) war mit großer Wahrscheinlichkeit der geistliche Mentor des Bordesholmer Altars. Im 11. Jahrhundert entstand die Verpflichtung für Kleriker, mehrmals am Tag zu beten, was oft als privates Lesegebet mithilfe eines Breviarium, eines Gebetbuchs, wahrgenommen wurde (in Klöstern oft zu bestimmten Zeiten die Prim, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet). Ein Breviarium besteht zum großen Teil aus Psalmen. Im Frühjahr 1517 (vor den ‘Thesen’) erscheint Luthers Übersetzung der sieben Bußpsalmen ins Deutsche (1524 vollständige Übersetzung des Psalters). Zur Zeit Brüggemanns wurden die Psalmen (Psalterbuch des Alten Testaments) König David zugeschrieben.

2.2.11 liber agendarum Dieses Werk [1]18 hat Gottschalk von Ahlefeldt verfasst und 1512 in Paris drucken lassen, also kurz vor Baubeginn des Bordesholmer Altars und auch des Goschhof-Retabels. Es liefert verbindliche Handlungsanweisungen, Texte und Gesang für die Priester des Bistums Schleswig. Das liber agendarum erlaubt Einblicke in die Geisteshaltung und Denkweise des Verfassers und Herausgebers. Zum Beispiel wird auf S. 14719 ‘In sabbato pasche’ vorgeschrieben, die sieben Bußpsalmen zu lesen: ‘leguntur septem psalmi penitentiales...’ Da Gottschalk von Ahlefeldt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der geistliche Mentor des Altars war (s. 3.6), sind Zusammenhänge zwischen Buchinhalt und der Konzeption des Altars zu vermuten. König David wird im liber agendarum häufig genannt (neun Mal, übertroffen nur von ‘Gott’, ‘Jesus’ und ‘Abraham’20; Salomo, die Königin von Saba und Sibyllen werden nicht erwähnt, König Saul nur in Zusammenhang mit David: ‘... david de manu sauli regis...’). David kommt vor als ‘Stern (Löwe) vom Stamm Juda, die Wurzel David’, ‘leo de tribu iuda radix david’ (z. B. auf S. 105 in [1]). Auf S. 113 wird der zivilisierte Umgang König Davids hervorgehoben: ‘Memento dñe david: et omnis mansuetudinis eius.’ Auf S. 134 und an anderen Stellen wird David als Vorfahr von Jesus benannt: ‘Ave rex noster Fili david redemtor mundi ... nunc osanna filio david benedictus qui venit in nomine domini...’

Der Bischof und Jurist Ahlefeldt schätzt David vermutlich auch als König, der seinem Volk Gerechtigkeit beschert (vgl. Jes 9,1-6; 2 Sam 8, 15), bevor der im Altar stets sichtbare Weltenrichter Gerechtigkeit schafft am Ende aller Tage.

König David ist auch im Goschhof-Retabel zu beobachten; dort ist er jünger und trägt eine Schaube ohne Pelzfutter (siehe [46]).

König David tritt im Schrein und in den mit dem Schrein verbundenen Teilen des Altars nicht auf (s. 2.2.9). Aufgrund seiner Wertschätzung durch Bischof Ahlefeldt muss David im Bordesholmer Altar vertreten sein. Allein dies ist Grund genug, David auf der Säule zu sehen.

2.2.12 Gibt es für Ahlefeldt Gründe, die Identität König Davids auf der Säule zu verbergen? Etliche Psalmentexte lassen sich als Kritik der Unterdrückten an Herrschern interpretieren; zum Beispiel heißt es in Psalm 56: Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können mir Menschen tun? Und in Psalm 119: Die Fürsten verfolgen mich ohne Ursache, und mein Herz fürchtet sich vor deinen Worten. Auf solche Texte können sich politische Reformatoren wie Thomas Müntzer (1489-1525) berufen, wenn sie fordern Verlasset euch nicht auf Fürsten/ Sie sind Menschen/ die können ja nicht helfen. Gewiß wollte Ahlefeldt seinen Herzog Friedrich (I), der auf die Unterstützung des Adels angewiesen war und dessen Privilegien festigte, nicht verärgern durch Hinweis auf aufrührerische Texte in den Psalmen Davids.

2.2.13 Zusammenfassung In 2.2.2, 2.2.4, 2.2.5, 2.2.6, 2.2.8, 2.2.9 beobachten wir: Die Abb. 7 und die ikonographischen Merkmale des König David der Bibel passen zur männlichen Säulenfigur, die betende Gott im Himmel zugewandte Säulenfigur passt zum Urheber von Lobpreisungen und Gebeten, den Psalmen. Die Bedeutung Davids für die christliche Lehre, die Prophezeiung der Ankunft des Messias, des Jüngsten Gerichts und damit der Bezug zum Retabel werden in 2.2.3 und 2.2.7 vermerkt (s. auch Abschnitt 4.); der Bezug zum letzten katholischen Bischof Schleswigs und Mentor des Altars in 2.2.10 und 2.2.11.

Wir können mit Sicherheit folgern, dass Brüggemann König David auf Veranlassung von Bischof Ahlefeldt darstellt, – möglicherweise beim Gebet nach seiner letzten Amtshandlung, der Regelung der Nachfolge an Salomo.21

2.3 Zur weiblichen Figur

2.3.1 Suche nach Kandidaten In dem volkstümlichen Gedicht ‘Dies irae, dies illa’ (Thomas von Celano) ist von David und Sibylla die Rede. Dies spricht für Sibylla als Säulenfigur. Sibyllen sind mystische Figuren und wenig konkret. Die Königin von Saba als Sibylle? Das beruht auf der Legende vom Treffen Salomos mit der Königin von Saba am Bach Kidron (Kreuzholzlegende). Die Königin von Saba taucht nur kurz im Alten Testament auf, und dort werden im wesentlichen Salomos Weisheit und der Wert ihrer Geschenke betont.

Weder die Königin von Saba noch eine Sibylle tragen in einer Darstellung die merkwürdige Kopfbedeckung der Säulenfigur oder ein Kleid mit weit hinabreichendem Dekolleté, welches die weiblichen Rundungen betont. Dies schließt auch eine biblische Heilige mit ‘ererbter Heiligkeit’ aus.

Da David Vorfahr von Jesus ist, fragen wir: Welche Frauen werden in Zusammenhang mit Vorfahren von Jesus genannt? Tamar (mit Juda), Rahab (Mutter des Boa, Frau des Salmos), Rut, Bathseba (Frau des Urija, Mutter von Salomo); eventuell einbeziehen könnte man noch Elisabet (Mutter des Johannes) und die heilige Anna (Großmutter Jesu).

Von diesen Frauen kommen Tamar, Rut, Elisabet und die heilige Anna nicht infrage, weil angesichts ihrer bescheidenen Verhältnisse das aufwendige Kleid der Figur und die gediegenen Ketten nicht angemessen sind.

Bleiben Rahab (laut Matthäus-Evangelium Vorfahr von Jesus) und Bathseba (eine der Frauen Davids). Ikonographisch passt Bathseba nicht, weil sie bildlich meistens mehr oder weniger entblößt beim Baden auftritt. Als Frau des Urija, der als Elitesoldat durch Davids ‘Urija-Brief’ in den Tod geschickt wird nachdem sie von David schwanger ist, gerät Bathseba in ein sehr dunkles Kapitel von Davids Leben. Ihre einzige in der Bibel geschilderte Handlung aus eigenem Antrieb ist die Promotion ihres Sohnes Salomo zum Nachfolger Davids. In Verbindung mit dem Jüngsten Gericht wird sie nicht erwähnt. Die merkwürdige Kopfbedeckung der weiblichen Säulenfigur ist mit Bathseba nicht in Verbindung zu bringen. Einzige Kandidatin ist Rahab.22

Abbildung 10: Rahab nimmt die Kundschafter auf, Bibel Cod Pal germ16, Univ.bibl. Heidelberg

Zu Rahab führen nicht nur Accessoires der Figur und die Ahnenreihe von Jesus; Rahab ist die einzige Frau des Alten Testaments, die eng mit dem Jüngsten Gericht, einem Hauptthema des Retabels, verbunden ist (s. 2.3.5).

2.3.2 Die biblische Rahab lebt in Jericho als Hure23 und bietet, obwohl keine Israelitin, zwei bedrängten israelitischen Spionen Josuas Unterschlupf unter trocknendem Flachs auf dem Flachdach ihrer Herberge an der Stadtmauer.24 Im Gespräch mit den Kundschaftern anerkennt sie Jahwe als mächtigsten Herrscher, der Israel das Land zugesprochen habe. Rahab fordert das Versprechen der Kundschafter, ihr Haus samt Insassen im Fall einer Eroberung Jerichos durch Israel zu schonen. Den Verfolgern der Spione erklärt Rahab, die Spione hätten zwar ihr Haus betreten aber bereits wieder verlassen; man solle die Verfolgung sofort aufnehmen. An einem ‘roten Tau’ läßt sie dann die beiden Kundschafter vom Dach herunter und verhilft ihnen zur Flucht. Das Tau ist vermutlich eine Stoffbahn, denn ein Seil kann man schlecht färben.25 Mit den Spionen hat Rahab vereinbart, im Fall der Erstürmung Jerichos ihr Haus durch das rote Tau (Tuch) zu kennzeichnen. In der Lübecker Bibel von 1533/34 (Abb. 11) ist die Rede von ...dyt rode touw*l dar mere du uns dale late heft. Bei der folgenden Eroberung Jerichos26 bleibt ihr Haus samt Insassen verschont, alle anderen Lebewesen werden niedergemetzelt. Abschließend wird Rahabs gelungene Integration vermerkt:...unde wanede middene mank deme israhelitischeme volke...

Abbildung 11: Rahab am Fenster mit rotem Fähnchen (rechts oben). Aus der Lübecker Bibel von 1533/34.

Nach Einschätzung des Theologen Ed Noort gehört diese Erzählung zu den schönsten und eigenwilligsten im Buch Josua.

Abbildung 12: Rahab und ihre Freunde werden aus dem eroberten Jericho geleitet. Ausschnitt aus einem Wandteppich, Entwurf Pieter Coecke van Aelst 1537, Kunsthistorisches Museum Wien. Den Teppich hat wahrscheinlich Kaiser Karl V. 1544 erworben.

2.3.3 Der Kirchenvater Augustinus (Patron der Bordesholmer Augustiner) sieht Rahab als große Heilsgestalt des Alten Testaments; sie wird aus dem sündhaften Heidentum errettet und erlöst. Der Jakobusbrief (s. 2.3.10) und der Hebräerbrief loben Rahab. Heb 11, 31 lautet: Durch den Glauben kam die Hure Rahab nicht mit den Ungehorsamen um, weil sie die Kundschafter freundlich aufgenommen hatte.

Rahab gilt nach Mt. 1, 1-17 als eine Ururoma von David.27

2.3.4 Die Darstellung der Säulenfigur als geschmückte betont weibliche Dame passt zu Rahabs Broterwerb.

In der Stoffbahn der Säulenfigur vermute ich das rote Tau (Tuch), an welchem die Spione heruntergelassen werden und welches später der Kennzeichnung des zu schonenden Hauses dient. Da die Erstürmung der Stadt ohne Vorwarnung schnelles Handeln erfordert, trägt Rahab das rettende rote Tau griffbereit auf ihrem Kopf.

In Abb. 12 wehen rote Stoffbahnen, die Rahabs Kopf bedecken.

2.3.5 Der Fall von Jericho wird gedeutet als die Welt unter dem Zorn Gottes beim Jüngsten Gericht. Wer sich unter dem Kreuz versammelt, symbolisch im Haus der Rahab, wird errettet. Die Posaunen symbolisieren das Evangelium von Christus, durch dessen Laut Jericho fällt.

Rahab riskiert unter Lebensgefahr die Rettung der ihr anvertrauten Menschen. Die enge schwere Kette um Rahabs grazilen Hals verdeutlicht die Gefahr, denn die Todesstrafe wurde zu Brüggemanns Zeit oft durch Enthauptung oder den Strick um den Hals vollzogen.

2.3.6 Zum Spinnen von Flachsfasern dienen seit Jahrtausenden Spinnrocken und Spindel (Abb. 15); erst im späten Mittelalter kamen Spinnräder in Gebrauch. Die rote Stoffbahn auf dem Kopf Rahabs ist auf einem Spinnrocken aufgewickelt, den Rahab zur Flachsverarbeitung in ihrem Haushalt hat.

2.3.7 Das Tuch auf dem Kopf Rahabs (Abb. 3) ist durch zwei Parallelscharen diagonal laufender Streifen, die sich rechtwinklig schneiden, in Quadrate geteilt. In jedem Quadrat sitzt eine Perle (wie ein Blutstropfen?). Das Tabernakelgitter des Altars (Abb. 1, Abb. 4, s. auch 16.4) besteht aus zwei Parallelscharen diagonal laufender Stege, die sich annähernd rechtwinklig schneiden. Das Tuch bedeckt die rote Stoffbahn, welche im Mittelalter mit dem Blut Jesu assoziiert wird. Das Gitter des Tabernakels (hebräischer Wortsinn: Heimstatt Gottes) bedeckt geweihte Hostien, also nach katholischer Lehre den Leib Christi (Realpräsenz).

Ein Tuch mit dem Muster des Tabernakelgitters auf dem Haupt einer heidnischen Sibylle? Kaum zu glauben, – aber der Chor der Kunsthistoriker beschwört dies unisono seit August Sach. Sibyllen sind berufen zum Joker im kunstgeschichtlichen Deutungs-Ratespiel, da fast jede weibliche Figur die diffusen Kriterien einer Sibyllen-Überprüfung erfüllt.28 Allerdings kenne ich keine Darstellung einer Sibylle, die ein auf Figur gearbeitetes eng die Brust umspannendes Kleid mit weit hinabreichendem Dekolleté trägt.

2.3.8 Durch die Geste der linken Hand lädt Rahab ein, vor dem heranbrechenden Unheil in ihr Haus zu fliehen, also Schutz bei Jahwe zu suchen und so den Strafen des Jüngsten Gerichts zu entgehen. Die rechte Hand, die das Kleid rafft, verstärkt die Aufforderung. Raffen des Kleides wie Umgürten der Lenden sind Signale sofortigen Aufbruchs. Zögernde stimuliert der Anblick zur Eile.

Rahab erkennt prophetisch die Übereignung des Landes durch Gott an Israel.