Die Schamanin - Marcia Rose - E-Book

Die Schamanin E-Book

Marcia Rose

5,0

Beschreibung

Sechs Generationen faszinierend starker Frauen – zwischen indianischer Heilkunst und moderner Medizin. 1637, am Ufer des Conneticut River. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter Bird flieht die Pequot-Indianerin Shining Stone nach einem Massaker an einen geheimen Ort. Dort weiht sie Bird in die große Kunst des Heilens ein - eine Gabe von unschätzbarem Wert, die Bird an ihre weiblichen Nachkommen weitergeben wird. Der weibliche "Medicus"... Ende des 20. Jahrhunderts hält die junge Ärztin Nina ein Rezeptbuch ihrer Urgroßmutter Morgan in der Hand, in dem das seit Generationen überlieferte Wissen indianischer Heilkunst gesammelt ist. Zu diesem Buch gehört auch ein kostbares Amulett aus dem Besitz von Ninas Vorfahrin Bird, die im 17. Jahrhundert eine große schamanische Heilerin war. Nina ist fasziniert von dem uralten Wissen, das bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat, und sie fühlt sich seltsam berührt von dem Hauch der Vergangenheit, der von ihren Vorfahrinnen zu ihr herüberweht... Weibliche Heilkunst hat Tradition, und in Marcia Roses großem Roman "Die Schamanin" wird dieser oft vergessenen Wahrheit in Gestalt von sechs Frauen Leben verliehen. Die Linie der Heilerinnen setzt ein im Jahr 1637 mit der Medizinfrau Bird, und sie endet in der Gegenwart bei der Psychologin Robin. Eine faszinierende Familiensaga, die das Wissen um weibliche Heilkräfte mit den Lebensabenteuern von Frauen aus sechs Generationen verbindet. "Marcia Rose versteht es meisterhaft, ihren Figuren Leben einzuhauchen, sie zu starken Charakteren zu formen. Große Emotionen vor einem stimmungsvollen, farbenprächtigen historischen Hintergrund." Publishers Weekly

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 855

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marcia Rose

Die Schamanin

ins Deutsche übertragen von Almuth Carstens

Roman

Edel eBooks

Inhalt

Prolog

Part 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Part 2

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Part 3

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Part 4

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Part 5

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Part 6

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Prolog

Shining Stone und ihre Tochter Bird

Pequot-Territorium am Massapoag nahe dem Fluss Konektikut, Sommer 1637

Shining Stone richtete sich blinzelnd auf und reckte sich. Es war so heiß auf der Wiese, dass ihr allmählich der Schweiß in die Augen lief. Nach einem dritten langen Tag des Kräutersammelns war sie erschöpft. Sie hätten sich bereits gestern auf den Heimweg machen sollen, doch die sonnigen Tage und abendlichen Regenschauer hatten die Schafgarben wuchern lassen und sie üppig mit heilenden Blüten bestückt. Sie wollte so viele pflücken, wie sie tragen konnte. Wie sie beide tragen konnten. Ihre Tochter Bird, inzwischen zwölf Sommer alt und fast eine Frau, hatte den Ausflug zusammen mit ihr unternommen. Bird war schon oft mit Shining Stone unterwegs gewesen, sogar als kleines Kind, als sie noch tollpatschig und unsicher lief; aber in diesem Jahr war es Zeit für sie, dass sie die Künste erlernte, in denen sich ihre Mutter so gut auskannte – im Heilen, in der Geburtshilfe und den Bestattungsriten.

Bird lernte, wie sie alles tat, nämlich rasch und mit Anmut. Shining Stone betrachtete ihre Tochter stolz. Das Mädchen, nicht wissend, dass sie beobachtet wurde, war eifrig mit Ausrupfen und Pflücken beschäftigt, beugte und streckte sich, geschmeidig wie ein Schilfrohr im Winde. Ihr langer Zopf schwang hin und her, während sie nach den kleinen, blassen Blüten des Wintergrüns Ausschau hielt. Bird war eine stattliche junge Frau, wenn auch nicht ausgesprochen schön. Sie war groß und breitschultrig, hatte hochangesetzte runde Brüste und kräftige Beine. Sie konnte weite Strecken gehen oder laufen. Und ihre Hände mit den langen, schmalen Fingern zeigten sich bei jeder Arbeit geschickt: beim Korbflechten, beim Sortieren von Muscheln, beim Gerben eines Hirschfells. Oder beim Sammeln von Pflanzen für den Medizinbeutel, was sie eben jetzt tat.

Viele junge Männer nickten ihr zu, wenn sie an ihrem Wigwam vorbeikamen, und warfen sich dabei ein bisschen in die Brust. Jeder hoffte, sie würde sagen: »Ihn will ich zum Mann.« Es nützte alles nichts. Shining Stone hatte bereits jemanden ausgesucht, mit dem Bird sich vermählen würde. White Wolf, der Sohn des Sachems, wie sie ihren Häuptling nannten, war der Mann, den sie sich für ihre Tochter wünschte. Wie gut die beiden zusammenpassten! Bird gehörte einer der angesehensten Familien im Dorf an, im Grunde genommen einer der bedeutendsten Familien des ganzen Stammes. Shining Stone war eine bekannte Heilerin und Hexe, ihr Mann Great Eagle der pawwow oder Schamane. Gemeinsam standen sie ganz oben in der Rangordnung der mächtigen Pequot.

Die Pequot waren, das wussten alle, das gefürchtetste Volk in dieser Gegend. Sie zählten Hunderte von hundertmal Hunderten, und jeder andere Stamm erzitterte in ihrer Gegenwart. Ganz allein hatten sie in diesem Teil der Welt sämtliche Völker besiegt – bis auf die Narragansett, diese listigen Wiesel, doch auch sie würden bald geschlagen werden. Shining Stone lächelte über ihre grimmigen Gedanken. Sie war keine Kriegerin, sie war moigu. Es war gut, moigu – Heilerin und Hexe – zu sein in dem Stamm, dessen Name eine Kurzform von pekawatawog – die Zerstörer – war.

Der Tag war herrlich, sonnig und klar, und ein zartes, goldenes Licht schien über die Wiese. Shining Stone schaute sich um und atmete die Schönheit ihres Landes ein, wo die Geister freundlich waren. Sie und Bird hatten Nieswurz, Bärentraube, Sassafras, Schlangenwurz, Holunderrinde und – beeren zum Schweißtreiben gefunden, Weiberwurz zur Linderung von Menstruationskrämpfen und Erleichterung der Geburt sowie Steinsame, um den Mondzyklus einer Frau zu beenden. Der um ihre Brust geschlungene Medizinbeutel war jetzt schwer und voll, wie eine schwangere Frau kurz vor der Niederkunft. Einige mussten für die Tiere übrig bleiben und andere Samen und damit eine neue Generation von Pflanzen hervorbringen.

»Komm, Bird«, rief sie. »Wir haben genug und ich möchte Wild Goose noch vor Anbruch der Dunkelheit sehen.«

Bird richtete sich gehorsam auf und kam auf die Mutter zu. »Ich habe letzte Nacht von meinem Bruder geträumt. Wild Goose schwamm zwischen vielen goldenen Fischen, und dann verwandelten sie sich in Sterne und fielen vom Himmel herab.«

Shining Stone runzelte die Stirn. Das war wirklich ein seltsamer Traum, und sie wusste nicht genau, was er bedeutete. Doch sie verspürte einen Anflug von Besorgnis und sagte: »Wir wollen uns beeilen, Bird.«

Als sie vor drei Tagen aufgebrochen waren, hatte ihr Sohn sich schon fast vollständig von einer eiternden Wunde am Fuß erholt. Er war am Tag zuvor am Strand auf eine zerbrochene Muschelschale getreten und trotzdem, wie es Jungen eben tun, mit seinen Freunden weiter auf die Jagd nach Austern und Muscheln gegangen, statt sich nach Hause zu begeben und seinen Fuß in einen Breiumschlag wickeln zu lassen. Er musste teuer dafür bezahlen, dass er den klaffenden Schnitt in seiner Sohle ignoriert hatte. Innerhalb eines Tages war der Fuß rot geworden und dann auf nahezu doppelte Größe angeschwollen. Er bekam Fieber, verdrehte die Augen und stammelte Worte, die keiner verstand.

Sein Vater war den ganzen Tag bei ihm geblieben, um für ihn zu beten. Mit den Geistern zu sprechen, war ja gut und schön, aber Shining Stone wusste, dass der Breiumschlag, den sie Wild Goose gemacht hatte, wirksamer sein würde. Dennoch, Birds merkwürdiger Traum ... Shining Stone war unbehaglich zu Mute und sie beschleunigte ihren Schritt.

»Mutter, ich habe etliche von den geheimen Wurzeln ausgegraben. Die alten Wurzeln haben ganz viele neue geboren«, sagte Bird, während sie sich beeilte, um sie einzuholen.

»Gut.« Shining Stone wusste, dass Bird Hundstod, Weiße Rübe und Haselwurz meinte, die wichtig waren, weil sie gekocht oder gemahlen eine starke Arznei waren, die verhindern konnte, dass eine Frau schwanger wurde. Shining Stones Mutter hatte ihr von diesen Wurzeln erzählt, so wie sie es von ihrer eigenen Mutter gehört hatte, und so weiter, bis zum Anbeginn der Zeit. Weil sie über dieses Wissen verfügte, war Shining Stone berühmt geworden. Keine andere hatte ihre Kenntnisse. Auch gewöhnliche Frauen wussten, dass Weiberwurz die Menses herbeiführen konnte, ebenso wie er Wehen erzeugte, wenn die Geburt des Babys fällig war. Doch Weiberwurz wirkte nicht immer. Shining Stones Arzneien dagegen taten es.

»Du hast ein gutes Gedächtnis, Bird. Und ich habe dich beobachtet, daher weiß ich, dass du sowohl fähige Hände als auch einen fähigen Geist hast. Du bist mit der Kraft zu heilen geboren und wirst eine berühmte Hexe werden.«

Bird errötete vor Freude. »Oh, das hoffe ich.«

Ein paar Minuten lang marschierten sie schweigend weiter. Dann sagte Bird ein wenig zaghaft: »Mutter?«

»Ja, meine Tochter?«

»Mein Traum hat dich beunruhigt. Bitte sag mir, ob es ein böses Omen für meinen Bruder ist.«

Shining Stone zögerte einen Moment, bevor sie eine Antwort gab, die sie sorgfältig erwog. »Ich weiß nicht, was dieser Traum bedeutet. Sich im Wasser zu befinden, ist gut für deinen Bruder, denn Wasser besitzt, wie uns allen bekannt ist, große Heilkraft. Aber inmitten vieler Fische zu sein, das ist nicht gut. Wir wissen, dass ein Kranker von den Gesunden isoliert werden muss, sonst verlässt die Krankheit seinen Körper und geht auf einen anderen über. Ich weiß also nicht, ob der Traum etwas Gutes oder Schlechtes bedeutet. Ich weiß nur, dass ich ihn gern sehen und berühren und sicher sein möchte, dass alles in Ordnung ist.« Und sie zwang sich, noch ein bisschen schneller zu gehen.

»Erzähl mir eine Geschichte, Mutter, aus der Zeit, als ihr beide jung wart, du und Vater.«

Das würde helfen, die Zeit zu vertreiben, dachte Shining Stone, und sie davon abhalten, allzu viel über Birds Traum nachzugrübeln.

»Als dein Vater, Great Eagle, noch ein Junge war, fiel er zu Boden, zitterte und bebte, und Schaum trat aus seinem Mund. Jeder, der dies sah, war von Ehrfurcht ergriffen. Wie viele Geister mussten in diesem kleinen Körper wohnen, dass er auf diese Weise zuckte und tanzte! Und als es vorbei war, erinnerte er sich an gar nichts und wollte nur schlafen. Die Leute sagten: ›Die Geister haben ihn erwählt‹ ...«

»Und dann, als er älter wurde –«, hakte Bird nach. Sie liebte diese Geschichte und wurde ihrer nie überdrüssig.

»Als er älter wurde, wusste er schon im Voraus, wann die Geister erscheinen würden, so wie jetzt. Er sieht die Luft zittern. Keiner sonst sieht es. Und sie erscheinen immer.«

Bird riss erstaunt die Augen auf. »Ich wünschte, die Geister würden auch mit mir sprechen, Mutter.«

»Scht! Du weißt nicht, was du sagst. Es ist nicht angenehm. Denk an Little Fern, die Mutter deines Vaters, deine Großmutter. Sie sprach oft mit den Geistern, und alle kamen zu ihr, um sich von ihren Krankheiten heilen zu lassen. Doch die Geister wurden wütend auf sie und sagten ihr, ihre Familie sei böse und wünsche ihr den Tod. Daraufhin ging sie in den Massapoag, wo sie ertrank. Auch vom Bruder ihres Vaters hieß es, er spreche mit den Geistern, und eines Tages, als er sechzehn war, sonderte er sich bei einer Jagd ab und verschwand. Er kehrte nie zu seiner Familie zurück. Wünsch dir also nichts, was dir wehtun könnte.«

Bird blieb hartnäckig und fragte: »Wenn es so gefährlich ist, warum wählen wir dann unsere Schamanen danach aus?«

»Du dummes Kind, wir wählen sie nicht aus. Sie werden durch Zeichen aus der Welt der Geister auserwählt. Es ist eine Bürde, die ihnen auferlegt wird, und die sie akzeptieren.«

Schweigend gingen sie weiter und streiften dabei die hohen, gefiederten Gräser, die im Sumpf wuchsen. Einen Pfad gab es nicht, doch das machte nichts. Sie kannten ihren Weg gut, und das Kreischen von Möwen verriet ihnen, dass sie ganz in der Nähe von Massapoag, dem Großen Wasser, waren, wo sie ihr Sommerlager errichtet hatten.

Bird schaute bewundernd zu ihrer Mutter hinüber. Sie trug ebenso wie Bird einen knielangen Wickelrock aus Hirschleder, der von einem Gürtel gehalten wurde. Shining Stones Gürtel war ein kunstvolles Geflecht aus winzigen Perlen in vielen Farben, und ihr Stirnband bestand aus ganz feiner Vogelhaut, bestickt mit Perlen. Birds Kleidung war wesentlich einfacher, wie es sich für eine jüngere Frau schickte. Ihr Glücksamulett war aus Stein, das ihrer Mutter hingegen ein wunderschöner, langer, röhrenförmiger Anhänger, geschnitzt aus einer schillernden Venusmuschel, purpurn wie der kostbarste Wampum. Er war sehr alt und mit einem ganz dünnen Stein durchbohrt worden – nicht mit einem Metallnagel des weißen Mannes perforiert wie der heutige Wampum. »Dieses Amulett ist etwas ganz Besonderes, Bird, und wenn du Frau wirst, geht es an dich über.« Dieser Tag würde bald kommen, dachte Bird und freute sich.

Plötzlich hielt Shining Stone im Gehen inne. Auch Bird blieb stehen.

»Dieser Geruch«, sagte Shining Stone. »Riechst du das?« Bird schnupperte. »Gebratenes Fleisch«, meinte sie.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, es ist ... etwas anderes. Etwas Schlimmes. Komm. Wir müssen uns beeilen.« Keuchend zwängte sie sich durch die hohen, gefiederten Gräser. Bird wurde ängstlich zu Mute und ihr Herz schlug rascher. »Mutter, was meinst du? Etwas Schlimmes? Was weißt du?« »Nichts. Ich weiß nichts. Beeilen wir uns!«

»Sie haben Essen gekocht, um es zum Fest des Sachems mitzunehmen.« Ihr Bruder hatte sich geärgert, weil er dableiben musste, erinnerte sich Bird. Er wollte so gern mit in das Fort des Sachems und mit den anderen zusammen feiern. Uncas und seine englischen Freunde hatten sich mit eingekniffenem Schwanz vom Pequot-Territorium geschlichen, deshalb wurde ein Fest anberaumt. Schrecklicher Uncas! Aus Wut darüber, dass er nicht zum Sachem ernannt worden war, hatte er sich von seinem Stamm losgesagt und andere zornige junge Männer mitgenommen. Er gab seiner Gruppe den alten Namen des Stammes, Mohegan, lebte getrennt vom Rest seines Volkes und schloss Verträge mit den Engländern. Sie hatten den Pequot Krieg angedroht, es sich jedoch anders überlegt und sich zurückgezogen. Daraufhin gab der Sachem bekannt, dass er ein großes Fest in seinem Fort veranstalten würde, und lud den ganzen Stamm dazu ein. Natürlich würde jedermann von Bedeutung zugegen sein. Oh, wie Wild Goose geweint und gehadert hatte – aber er konnte immer noch nicht laufen und hätte die anderen mit seinem geschwollenen Fuß behindert. Daher war Birds Vater gemeinsam mit denjenigen, die zu alt oder zu krank waren, um die Reise anzutreten, ebenfalls zurückgeblieben, um ihn gesundzubeten.

Der Geruch nach gebratenem Fleisch war jetzt furchtbar stark und vermischt mit einem anderen, dem Geruch nach etwas Bösem. Shining Stone ließ ihre Bündel fallen und rannte durch den Flugsand auf den Kamm der Dünen, dicht gefolgt von Bird.

Als sie hinabschauten, spürte Bird, wie ihr Herz stehen blieb. Wo war ihr Dorf? Wo war alles? Nur zwei oder drei Wigwams standen. Die übrigen waren zu Haufen von Schösslingen und Schilfrohr zertrampelt worden, die sich über die verkohlte Erde breiteten. Nur die steinernen Herdstellen in der Mitte der Lehmfußböden waren noch da. Keine Schlafplattform war heil geblieben; in Trümmern lagen sie zerstreut herum. Und alles hatte man verbrannt: die Schlafmatten, die Decken, die zum Nähen vorbereiteten Felle! Selbst der Sand war schwarz und versengt. Auch der Zeremonialbau, ein Langhaus, ihre heilige Stätte, war eingeschlagen und zerstört. Schluchzer der Angst und des Entsetzens entwichen Birds Kehle, aber ihre Mutter legte ihr eine Hand über den Mund, um jegliches Geräusch zu ersticken.

»Psst«, flüsterte sie mit einer Stimme, die fast keine Stimme mehr war. »Horch, ob du unseren Feind hörst.« Bird fühlte sich wie angewurzelt, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu atmen, doch sie gehorchte und lauschte. Keine lebende Seele stand aufrecht da oder ging umher. Ihr Vater! Ihr Bruder! Ihre betagten Großeltern! Sie duckte sich hinter die Düne und fühlte sich innerlich leer, während die Tränen, die sie nicht aufhalten konnte, ihr leise über die Wangen rannen.

Shining Stone vernahm ein lautes Dröhnen und Trommeln, das klang wie die Brandung. Nach einem Moment erkannte sie es als das schwere Klopfen ihres Herzens, eines Herzens, das vor Kummer und Leid brach. Dahin, alles dahin! Dahin! Sie mühte sich, es in sich aufzunehmen, zu begreifen, was ihre Augen sahen. Ihr Dorf, beinahe vollständig zerstört. Aber warum? Und von welchem Feind? Keiner von den Kriegern war hier gewesen, niemand außer den Kranken und sehr Alten zurückgeblieben. Warum sie töten? Es ergab keinen Sinn.

Sie hörte Stöhnen und schwache Schreie; das bedeutete, dass dort unten noch jemand lebte. Ihr eigener Wigwam war verschont worden. An den Rändern ein wenig schwelend, stand er da. Dann erblickte sie die aus dem Wigwam geschleuderten Leichen der alten Eltern ihres Mannes. Vielleicht lebten ihr Sohn und ihr Mann noch. Womöglich waren sie gefangen genommen worden. In diesem Falle würde sie sie befreien und anschließend diejenigen, die sie verschleppt hatten, mit einem Fluch belegen. Einem Fluch, der sie langsam und qualvoll sterben ließ! Heilsamer Zorn stieg in ihr auf.

»Komm«, sagte sie im Flüsterton, falls ein Feind in der Nähe war und horchte. »Wir gehen jetzt dort hinunter. Halte dich hinter mir.« Gemeinsam krochen sie vorsichtig die Düne hinab, wobei sie jeweils nach wenigen Schritten innehielten, um zu lauschen. Doch mit jeder Bewegung wuchs in Shining Stone die Gewissheit, dass der Feind abgezogen war, lange schon. Töten wie Feiglinge, wegrennen wie Feiglinge, dachte sie.

Rasch glitt sie mit hämmerndem Herzen den Hang der Düne hinunter und stürzte auf ihren Wigwam zu. Mein Sohn! Sie betete wortlos. Mein Mann! Lass sie am Leben sein! Sie hielt inne, um Atem zu holen, bückte sich und betrat ihr Heim. Ihr Herz blieb stehen. So viel Blut! So viele schreckliche Wunden! Man hatte sie beide gleichzeitig umgebracht; die toten Arme ihres Mannes waren noch um seinen Sohn geschlungen. Und dann sah sie, dass sein Kopf abgehackt worden war und seitlich herabhing wie bei einem zerschmetterten Vogel. Eine Woge der Dunkelheit schwappte über sie hinweg, und sie schloss die Augen, um zu verhindern, dass sie sie mitriss.

Hinter ihr ertönte ein furchtbarer Schrei. Bird, die nach ihr hereingekrochen war, stöhnte. »Oh nein! Das kann nicht sein!« Sie begann, sich auf den Knien hin und her zu schaukeln. Shining Stone fiel auf die Knie und drückte das Mädchen fest an sich. »Denk immer daran«, sagte sie. »Vergiss diesen entsetzlichen Tag nie, dein Leben lang.« Tot, alle tot, und kein weiser und angesehener Mann, der die Bestattungsriten für die armen Seelen, abgeschlachtet wie Tiere, vollziehen konnte, keine andere Frau, die mit ihr weinen, sie besuchen, »Kutchimmoke – sei guten Mutes« sagen würde, niemand, der den Trauernden Wange und Kopf streichelte. Shining Stone hielt ihre Tochter umfasst und gemeinsam beklagten sie ihr Leid.

Nach einer Weile erhob sich Shining Stone und Bird mit ihr. Sie gingen hinaus an den Strand, der vom blutroten Licht der untergehenden Sonne erhellt war. Shining Stone zitterte. Ihr ganzer Körper drängte sie zum Wegrennen. Aus der Nähe hörte sie ein leises, schmerzerfülltes Wispern. Sie bewegte sich auf das Geräusch zu, Bird gleich hinter ihr, sodass sie den Atem des Mädchens auf ihrer Schulter spürte.

»Au!« Fast wären sie über ihn gestolpert – einen schlanken jungen Mann, der zusammengekrümmt am Fuß einer Düne lag. Shining Stone kannte ihn. Er war einer von denen, die in der Hoffnung, Birds Aufmerksamkeit zu wecken, oft an ihrem Wigwam vorbeigekommen waren. Sein Name war Thundercloud. Er hatte so viele schreckliche Verletzungen, dass ihr nicht klar war, wie er damit noch leben konnte. Als sie sich neben ihn kniete, um zu sehen, ob sie ihn vielleicht retten könnte, öffnete er sein eines verbliebenes Auge. Er versuchte zu sprechen, doch sie verstand nichts, bis sie ihr Ohr direkt an seinen Mund legte. »Rennt weg«, sagte er, »rennt weg von hier ...« Er musste innehalten und ein dünnes Blutrinnsal zeigte sich auf seinen Lippen.

»Erzähle mir, so viel du kannst, kleiner Bruder«, drängte Shining Stone ihn. »Du bist schwer verwundet, und ich muss wissen, wer dir das angetan hat, bevor du stirbst. Sag mir, es waren die Naragansett, nicht wahr?« Aber sein Mund formte das Wort »Nein«.

Sie schickte Bird Wasser holen, um seine Lippen zu benetzen. Mit jeweils zwei oder drei Worten auf einmal berichtete er von dem Überfall. Als die Sonne unter den Horizont gesunken war und die ersten schwach leuchtenden Sterne am Himmel erschienen, kannte Shining Stone die ganze Geschichte. Es war schlimmer, als sie es sich hätte ausmalen können. Uncas hatte ihnen das Fürchterliche angetan, zusammen mit den Yenguese, den Engländern. Sie hatten nur so getan, als ob sie das Pequot-Territorium verließen. In der Nacht waren sie umgekehrt und bei Tagesanbruch in aller Stille den Fluss Mystic entlang dorthin gegangen, wo die Pequot im Fort feierten, hatten sie überfallen und alle hingemetzelt.

»Die ›Zerstörer‹ sind vernichtet worden«, sagte Thundercloud. »Vor zwei Tagen. Der Sachem auch.« Einige der Mohegan-Krieger waren vom Fort am Mystic ausgeschwärmt und hatten sich auf die Suche nach weiteren Pequot gemacht, um sie zu töten. Thundercloud war die vielen Meilen gerannt, um diejenigen zu warnen, die zu Hause geblieben waren. »Aber sie waren schon hier«, flüsterte er. Mehr Blut ergoss sich aus seinem Mund. Shining Stone nahm seine Hand in die ihre, um die Kraft ihres Körpers auf ihn übergehen zu lassen, und sei es nur für einen Augenblick. Neben ihr sagte Bird: »Aber Uncas ist ein Pequot, und die Pequot schlachten sich nicht gegenseitig ab.« Shining Stone erwiderte: »Nein, Uncas bezeichnet sich als Mohegan und nicht als Pequot. Ich bezeichne ihn als Abtrünnigen. Er hat sich gegen seine Brüder und Schwestern gewandt und das Volk der Pequot vernichtet.« Tränen strömten ihr aus den Augen, während sie sprach.

Schließlich tat Thundercloud seinen letzten Atemzug und sein Kopf fiel nach hinten. Bird sank weinend und jammernd auf die Knie.

Shining Stone legte die Arme um das Mädchen. Ihr Herz war zu Stein geworden. »Wir werden später weinen, meine Tochter«, sagte sie. »Du musst jetzt aufhören. Uns werden sie nicht erwischen. Wenn es künftig noch Pequot auf der Welt geben soll, müssen wir sofort aufbrechen. Wir werden zu einem geheimen Platz in der Nähe des Winterlagers gehen, den ich kenne. Vielleicht konnten einige der anderen fliehen und kommen auch dorthin.«

Sie rafften nur ein paar Sachen zusammen, ihre Arzneien, zwei Töpfe und Decken. Dann erklommen sie die Dünen und fingen an zu laufen. Als es vollkommen dunkel war, machten sie Rast, um zu schlafen. Bei Tagesanbruch standen sie auf und setzten ihren Marsch fort, immer wieder hinter sich blickend, bei jedem Rascheln im Gehölz zusammenfahrend. Sie stießen auf einen Fluss, wo sie tranken, Johannisbeeren von den Büschen pflückten und aßen. Shining Stone sagte: »Lass uns diesem Strom zu seiner Mutter folgen.« Sie meinte den breiten Fluss namens Konektikut, der hoch oben im Norden entsprang und sich brausend durch das Pequot-Land ergoss, bevor er sich in den Massapoag entleerte und sich mit dem großen Wasser vereinigte.

Bis Sonnenuntergang waren sie ein gutes Stück flussaufwärts gelaufen. »Sind wir bald an dem geheimen Ort, Mutter?«

»Ja, es dauert nicht mehr lange. Wir werden zu einer Flussbiegung kommen, und dort müssen wir dem Wasser den Rücken kehren und bergan durch den Wald steigen.«

Am nächsten Morgen entdeckte Shining Stone den verborgenen Pfad. Sie kletterten hoch und immer höher durch üppig wuchernde Gehölze, die von dem Gewisper zahlreicher Tiere erfüllt waren. Sie würden genug zu essen haben, dachte Bird. Sie bemerkte die vielen kräftigen Schösslinge, aus denen sie morgen einen neuen Wigwam bauen würden.

Endlich zwängte sich Shining Stone durch einen dichten Birkenhain und sagte: »Hier.«

Die ebene Lichtung inmitten des Waldes wurde hell von der Sonne beschienen, gekühlt durch die umstehenden Bäume, und man konnte weit unten den rauschenden Fluss hören sowie ganz in der Nähe einen Bach. Auf der anderen Seite des Platzes stand ein mächtiger Hickorybaum. Mit seiner rauen Rinde sah er aus wie ein riesiger grauer Bär; seine weit verzweigten Äste hingen mit ihrer Last reifer Nüsse fast bis zum Boden herab. So ein großer und freundlicher Baum muss ein gutes Omen sein, dachte Bird.

»Wir müssen stark sein«, sagte ihre Mutter. »Wir können nicht zurück. Wir haben Manitook, Gottes Land, für alle Zeiten verlassen und werden diesen Ort zu unserer neuen Heimat machen.«

Bird umarmte die Mutter, um sie zu trösten, obgleich sie sich leer und verloren fühlte. Sie wusste kaum mehr, wer sie war. Wer konnte sie denn sein, ein Mädchen ohne Familie, ohne Dorf, ohne Stamm? Sie war so klein und die Welt so groß.

Während sie dastanden und sich umschlangen, kam ein Kitz aus dem Wald spaziert, starrte sie mit großen, sanften Augen an und nahm dann Reißaus. Beide lachten ein wenig. Shining Stone wischte Bird und sich selbst die Tränen von den Wangen. Sie nahm ihre Tochter bei der Hand und sie wanderten auf der Lichtung herum.

»Hier werden wir den Wigwam aufstellen und dort einen kleinen Garten anlegen, und wir werden Fallen bauen, um Kaninchen zu fangen. Siehst du den großen Baum da drüben, Bird? Dieser Baum wird unsere Mutter und unser Vater sein. Er wird uns beschützen. Bald schon werden andere ihren Weg hier herauf finden, und dann können wir beginnen. – Ja«, sagte sie entschlossen und schaute Bird tief in die Augen, damit diese sich stets ihrer Worte entsann. »Dies ist der richtige Ort für uns. Hier werden wir bleiben.«

Erster  Teil

Annis (Little Bird) Rebecca (Wounded Bird) Morgan (Water Bird)

1

August 1868 in den Hügeln oberhalb von East Haddam, Connecticut

Es war eine schwere Geburt. Das Baby hatte breite Schultern und einen großen Kopf, und Annis war alt – beinahe dreißig. Aber sie hieß den Schmerz willkommen, weil er ihr einen Sohn bescheren würde. Sie war sicher, dass es ein Junge war. Monatelang hatte er in ihr um sich getreten und geschlagen und war dabei stark geworden. Ihre Träume handelten alle von hohen Kiefern und Reihern und gefiederten Lanzen. Sie wusste, wie Träume und andere Zeichen zu deuten waren. Sie stammte von einer langen Ahnenreihe von Hexen und Heilerinnen ab und hatte das Recht, sich moigu zu nennen. Es würde ein Junge werden.

Annis hockte sich auf eine Decke, die sie unter dem großen Hickory mit der rauen Rinde, der dem Haus Schatten spendete, ausgebreitet hatte, und drängte ihren Sohn wortlos, seine Stärke dazu zu nutzen, auf die Welt zu kommen. Spätnachmittägliche Hitze legte sich wie ein keuchendes Tier über die Erde. Die Zikaden kreischten schrill. Das einzige Geräusch, das es sonst noch gab, war ihr eigenes schnaufendes, ächzendes Atmen. Der Schweiß rann ihr den Körper hinab. Keine Brise bewegte das lange, dürre Gras am Rande der Lichtung. Nicht einmal die Espenblätter regten sich.

Endlich, als die Sonne in einem lodernden Feuer aus Rot und Purpur unterzugehen begann, glitt das Kind heraus und fing an zu schreien. Es war dunkelhäutig, dunkel und rot. Sie würde ihn in der Sprache der Alten Red Sunset nennen.

Annis hob ihr Baby hoch, wischte es ab, blinzelte und schaute erneut hin. Das war kein Junge, kein Sohn. Die Zeichen waren falsch gewesen. Wie konnte das sein? Kein Zweifel jedoch: sie hatte eine Tochter bekommen, noch ein Mädchen. Aber was für eines! So dunkel und kampflustig mit ihren kräftigen Schreien und dem dichten Schopf glatter schwarzer Haare! Ganz anders als Becky, die ein winziges Ding war, wie die Elfen in den Geschichten, die Pa zu erzählen pflegte. Beckys Haut war rosig und weiß, und das kupferfarbene Haar fiel ihr in Ringellocken bis zur Taille. Eine kleine Schönheit, sagten alle. Was sie meinten, war: Die hat nichts Indianisches an sich. Nun, sie war das genaue Ebenbild von Pa, einem Engländer, der über das weite Wasser gekommen war, um zu sehen, was es in der Neuen Welt zu entdecken gab. Und er hatte Annis’ Mam entdeckt – Margaret für die Städter, aber ihr richtiger Name war White Bird.

Die Eltern ihrer Mutter hatten sich von ihr abgewandt, als Margaret den Engländer in ihr Lager mitbrachte. Sie waren Vollblut-Pequot. Mochten sie sich auch christliche Namen zulegen – das war einfacher bei ihren Handelsgeschäften –, so würden sie doch niemals zum Gott der Christen beten und nie einen Christen als Lebensgefährten akzeptieren. Nach dem Massaker, das die Yenguese als den Pequot-Krieg bezeichneten, hatten einige wenige aus ihrem Volk fliehen können und ein paar davon zu diesem Ort gefunden. Gott sei Dank waren die Pequot nicht völlig ausgerottet worden, doch ihnen war klar, dass sie an ihrer ureigenen Lebensweise festhalten und für sich bleiben mussten. Margaret und ihre Familie nahmen unter ihnen einen hohen Rang ein. Sie stammten direkt von der berühmten Bird ab, der moigu, die Krämpfe lindern konnte, indem sie einen nur anschaute, und blutige Messer aus dem Nichts herbeizauberte, genau wie ein Schamane. Wieso auch nicht? Schließlich war Birds Mutter moigu gewesen und ihr Vater ein bekannter Schamane, der von den Mohegan, diesen Verrätern, in seinem eigenen Wigwam getötet worden war, während er sich um seinen sterbenden Sohn kümmerte. Die direkten Nachfahren eines Schamanen und einer moigu billigten ihren Yengue mit seinem seltsamen kupferroten Haar, der milchweißen Haut und den winzigen orangefarbenen Flecken im Gesicht nicht.

White Bird aber hatte sich verliebt und machte sich nichts daraus. Sie verachtete die Männer ihres Stammes, von denen viele dem Übel Rum erlegen waren und betrunken herumhockten. Sie verdiene etwas Besseres, sagte sie zu ihrer Mutter. Sie war bereits eine berühmte Heilerin. Sie konnte jeden Mann haben, den sie wollte, und sie wollte Arthur Armstrong, ihren Engländer. Die beiden bekamen eine Tochter – das war Annis – und einen Sohn, Tristram. Dann jedoch starb Arthur auf einer Reise flussaufwärts nach Vermont. Zumindest kehrte er nie zu seiner Familie zurück. White Bird kam daraufhin mit ihren zwei Kindern wieder hierher und beugte den Kopf vor ihren Eltern. Ihren Enkeln zuliebe und weil ihr einziges weiteres Kind, White Birds Schwester, ihnen mittlerweile von den Geistern genommen worden war, nahmen sie sie auf.

Annis’ Erinnerungen an ihren Pa blitzten nur bruchstückhaft in ihrem Gedächtnis auf. Ganz lebhaft entsann sie sich aber des fürchterlichen Kummers ihrer Mutter, eines Sturzbachs aus Schluchzern und Anrufungen der Götter, der scheinbar nie versiegen wollte. Eine solche alles verzehrende Liebe hatte Annis nur einmal kennen gelernt – und ihn fortgeschickt. Ihn fortgeschickt und sein Kind, das schon deutlich ein Junge war, aus ihrem Leib verstoßen. Sie war bereits mit Todd Wellburn verheiratet, der losgezogen war, um im Großen Krieg zu kämpfen, irgendwo weit weg. Wie konnte sie Todd einen Sohn präsentieren, wenn er so lange nicht in ihrer Nähe gewesen war? Also hatte sie sich ihre Pflanzenkenntnisse zu Nutze gemacht und sich einen Aufguss aus gemahlenem Schlangenwurz in warmem Wasser verabreicht. Sie bereitete ihn aus der Septembersilberkerze zu, die auf den Wiesen wuchs und stärker war als die Blaubeere aus dem tiefen Wald. Sorgfältig kochte sie einen Tee und trank ihn in einem Zug aus. Nach ungefähr einer Stunde begannen die Krämpfe, und bald darauf glitt das winzige Wesen heraus, das mit seinen angewinkelten kleinen Armen und Beinen so süß und unschuldig wirkte. Dann hob sie ein Erdloch aus, wickelte ihn in ein hübsches Stück Leinen, das sie von einer der Frauen erhalten hatte, deren Hebamme sie gewesen war, und begrub ihn. Sie dachte, der Kummer würde sie umbringen. Doch Becky brauchte ihre Mam, deshalb kam Sterben nicht in Frage. Trotzdem vergaß sie den erst halb entwickelten Kleinen nie. Und seinen Vater auch nicht.

Wenn Todd nicht in den Krieg gezogen wäre, wäre das alles nie passiert. Aber jeder ging, also auch er. »Will mir den Spaß nicht entgehen lassen«, sagte er zu Annis und marschierte am 20. April 1862 von Hartford aus in vollem Glanz mit den Ersten Freiwilligen von Connecticut von dannen. Für drei Monate hatte er sich verpflichtet, doch es dauerte fünf Jahre, bis sie ihn wieder sah. Oh ja, er ließ jemanden ein paar Briefe an sie schreiben. Daher wusste sie, dass er sich nach Bull Run erneut für drei Jahre verpflichtet hatte, wie so viele, die Narren. Dann hatte sie etwa ein Jahr später einen Brief aus einem Gefangenenlager unten im Süden bekommen, der von einer »wirklich feinen Dame« verfasst worden war. Und das war alles, was sie von ihm hörte. Er hätte gefallen sein können, aber sie war sicher, dass dem nicht so war. Wenn er gestorben wäre, hätte sie im Traum ein Zeichen bekommen, ganz bestimmt. Sie wusste gewiss, dass er heimkehren würde, und er war heimgekehrt, vor beinahe einem Jahr.

Annis blickte über die Lichtung hinweg auf ihr Haus. Auf der Veranda standen, wie sie es ihnen befohlen hatte, Todd und Becky und warteten. Rebecca hieß in der Sprache der Alten Wounded Bird. Das war alles, was sie von der alten Sprache noch kannte: Namen und die Bezeichnungen von Kräutern und Pflanzen, die sie für ihre Arbeit benötigte. Ihr eigener indianischer Name war Little Bird, und Becky hieß Wounded Bird, weil während der Geburt ein Sperling mit gebrochenem Flügel auf den Boden gefallen und herumgeflattert war. Und dieses Kind, diese neue Tochter? Mit ihrem Namen konnte Annis warten, bis sie ein Zeichen erhielt.

Heiser rief sie ihrer Familie zu: »Kommt her und guckt! Wir haben noch ein kleines Mädchen!«

Todd kam im Laufschritt, kaum noch hinkend. Er schonte sein verletztes Bein sehr wenig. Sie hatte gut daran getan, es in einen Ameisenhaufen zu legen, wo die Insekten das verweste Fleisch abfraßen und es anschließend sauber heilen konnte. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, im letzten Spätsommer, war er, auf einen Stock gestützt, auf die Lichtung gehumpelt. Man konnte seine Ankunft riechen, da sein Bein ganz geschwollen und purpurrot vor Fäulnis war. Sein Gesicht war bärtig und zerfurcht von Schmerzen. Sie hatte ihren eigenen Mann nicht erkannt. Seitwärts war sie auf die Tür der Hütte zugekrochen und hatte nach dem Jagdgewehr gegriffen, weil sie den sonnenverbrannten Eindringling geradewegs in die Hölle befördern wollte.

»Was ist los mit dir, Frau?«, hatte er ihr zugeschrien. »Siehst du nicht, dass dies hier dein Mann ist, der die letzten Jahre gegen Johnny Reb gekämpft hat?« Nun, sie war immer noch nicht sicher; erst als er ihr einen heißen Kuss aufzwang, erkannte sie seinen Geruch und Geschmack sofort wieder, trotz des stinkenden Beines und der Schichten von Ruß und Schmutz, die ihn bedeckten.

Jetzt nahm er ihr das neugeborene Baby ab und studierte es. »Sieht indianisch aus, nick? Schade, dass es wieder ’n Mädchen is. Hätte ‘n Jungen gebrauchen können, der mir beim Fallenstellen und Abhäuten und so hilft. Und denn hatten wir doch so’n schönen Namen für ihn. Morgan. Die Familie von meiner Ma, das waren alles Morgans.« Die Kleine in seinen Händen strampelte, wandte sich ihm zu, und ihr Mund öffnete sich auf der Suche nach Milch. Todd fing an zu lachen. »Teufel noch mal, Mädel, von mir willst du bestimmt nichts!« Das Baby begann zu schreien. Er drehte sich zu Annis um und sagte: »Sie is ‘n munteres kleines Ding, genau wie ihre Ma. Ich meine, wen kümmert’s, dass sie ‘n Mädchen is, was, Becky? Mädchen sind notwendig für die menschliche Rasse, is es nich wahr? Sie wird sich schon machen. Was soll’s, wir nennen sie trotzdem Morgan. Morgan Wellburn, das is doch mal ‘n Name, den man sich merkt.«

»Morgan le Fay«, sagte Annis und langte nach dem Baby, um es zu stillen. Der winzige Mund schnappte einen Moment auf und zu, umschloss dann die Brustwarze und fing an zu saugen. Die machte kein Getue. »Ich entsinne mich an Morgan le Fay aus einer alten Geschichte, die mein Vater uns vorlas, über König Arthur und seine Ritter. Sie war eine Hexe!« Sie spuckte drei Mal aus, was Glück bringen sollte, obwohl ihr Mund staubtrocken war. »Und wenn schon! Meine Familie besteht schließlich aus einer ununterbrochenen Reihe von Hexen! Wer weiß, welche Geister mit Quare Auntie sprechen?« Annis spuckte erneut aus und schaute sich um. Die alte Frau wanderte gewöhnlich in den Wäldern umher, wo sie sich vor anderen Menschen versteckte. Aber hin und wieder kam sie auf die Lichtung und schrie aus vollem Halse, sei es bei Tag oder bei Nacht.

»Jetzt pass mal gut auf, Rebecca«, sagte Annis und zog ihre zweite Tochter neben sich. »Es sind deine Vorfahren, über die ich hier rede. Und meine alte Großmutter, die hat ihre Großmutter moigu genannt, weil ihre Oma von den Mohegan abstammte, und moigu ist das Mohegan-Wort für Hexe. Oder Medizinmann. Es gilt für beide, dasselbe Wort, für Frau oder Mann. Hörst du auch zu?« Becky lächelte sie an und sagte: »Ja, Mam«, aber Annis bezweifelte, dass ihre schöne Tochter jemals moigu sein würde. Sie war fügsam und befolgte Anweisungen, doch sie besaß weder das zweite Gesicht noch die Kraft zu heilen.

»Fang bloß nick mit dem indianischen Gespensterquatsch an, Annis. Dieses Baby is auch mein Kind, und sie is keine Moyguh.«

»Sei kein Trottel, Todd. Eine Hexe ist nichts Schlechtes«, sagte Annis. »Eine Hexe hat Macht. Diese Morgan le Fay da, von der ich spreche, die war eine weiße Hexe. Mein Daddy hat uns die ganze Geschichte über Arthur und das Schwert in dem Stein und das alles vorgelesen. Sie haben meine Mutter eine Hexe genannt, weil sie Angst vor ihr hatten. Aber trotzdem sind sie zu ihr gekommen, wenn sie krank waren oder in den Wehen lagen. Sie wurde mit dieser Macht geboren, genau wie ich, und –«

Sie brach ab und starrte über Todds Schulter. Hatte sie es sich nicht gedacht? Da kam Quare Auntie aus dem Wald. Besser als das letzte Mal, als Annis sie zu Gesicht bekommen hatte, sah sie ganz sicher nicht aus. Sie war mit Schmutz bedeckt, und ihr zottiges weißes Haar war seit langem weder gebürstet noch geflochten worden, womöglich seit Jahren nicht. An einem Bein hatte sie eine hässliche rote Wunde, und obgleich sie erst am Rande der Lichtung war, konnte man sie schon riechen: eine Mischung aus Tierkadaver, Exkrementen und Fäulnis. Annis hätte am liebsten gerufen: »Geh weg, du schreckliche alte Frau! Komm meinem Baby bloß nicht zu nahe!« Aber das tat sie natürlich nicht. Mochte Quare Auntie auch von Geistern besessen sein, so war sie doch die Schwester von Annis’ Mutter. Wie alt sie wohl war? Schwer zu sagen. Um die sechzig wahrscheinlich. Es war ein Wunder, dass sie dieses Alter erreicht hatte, wo sie doch ganz allein lebte und im Wald umherwanderte. Es musste also stimmen: Die Geister, mit denen sie sprach, beschützten sie.

»Wer ist da?«, rief Annis, und Quare Auntie antwortete: »Small Sparrow«. Annis hatte vergessen, dass sie so hieß, denn es war lange her, dass jemand diesen Namen benutzt hatte. Einst musste sie ein liebes kleines Mädchen mit munteren Knopfaugen gewesen sein. Annis versuchte sich vorzustellen, wie ihre Großmutter Small Sparrow zärtlich die Hand auf den Kopf gelegt und ihr gesagt hatte, wie hübsch sie sei.

Quare Annie schlich sich vom Rande der Lichtung her an, wobei sie sich ständig argwöhnisch umschaute, irgendwelche unsichtbaren Wesen beschimpfte und gestikulierte und schrie: »Wech da! Zurück! Wech, sag ich!«

Todd erstarrte und Becky barg den Kopf an der Schulter ihrer Mutter. In möglichst freundlichem, gelassenem Ton begrüßte Annies ihre Tante. »Warum kommst du uns heute Abend besuchen?«, fragte sie.

Mit völlig normaler Stimme sagte Quare Auntie: »Nun, ein Geist hat mir im Traum gesagt, ich soll aufstehen und zu dem neugeborenen Baby gehen. Ich soll ihr meine Hand auf den Kopf legen und ihr einen Namen geben.«

»Woher weißt du denn, dass es ein Mädchen ist?«, fragte Todd. »Überhaupt, wie um alles in der Welt konntest du wissen, dass Annis ein Kind kriegt? Beobachtest du uns, Auntie? Bist du immer in der Nähe und spionierst uns aus? Ist es das, was du den ganzen Tag tust?«

Quare Auntie beachtete ihn gar nicht – das war so ihre Art –, sondern kam einfach anmarschiert und legte dem Säugling ihre Hand auf den Kopf. »Ich nenne dich Woman of the River«, intonierte sie, einen Namen aus der Sprache der Alten wählend, »und du wirst dem Fluss zu deinem Schicksal folgen.«

Plötzlich bemerkte sie ein Muttermal auf der Schulter des Babys und wich zurück. »Ein Vogel! Ein Adler! Sie hätte ein Junge sein sollen!« Sie beugte sich zu Annis hinab, kniff die Augen zusammen und rief: »Hure! Deine schamlose Unzucht am Fluss hat das Kind vergiftet! Oh ja, ich habe dich gesehen, dich und deinen schwarzhaarigen Liebhaber!« Annis’ Herz begann zu hämmern. Quare Auntie hatte sie beobachtet? Sie und Nattie Marcus? Galle stieg in ihr hoch und sie schluckte. Und wenn schon! Sie war bloß eine alte Frau, die Dinge sah, die sonst niemand sah, und Stimmen hörte, die sonst niemand hörte. Und keiner außer ihr konnte sich so geräuschlos bewegen wie die Geister, die sie umgaben. Annis erschauerte.

Die zerlumpte alte Frau grinste sie an und entblößte dabei ihre grünlichen Zähne. Dann trat sie ein Stück zurück und sang: »Black is the colour of my true love’s hair ...« Schließlich entfernte sie sich. Gut so. Genug von dem Gerede über einen schwarzhaarigen Liebhaber. Außerdem stank Quare Auntie noch schlimmer als Todds Wunde bei seiner Heimkehr. Quare Auntie brach in ein wildes, freudloses Gelächter aus, drehte sich um und marschierte auf den Wald zu. Sie hielt inne, um etwas auf Pequot hervorzustoßen, und wechselte dann ins Englische. »Hör mir gut zu, kleine Nichte: unsere Familie endet mit diesem Kind. Dieses Kind wird alles verändern! Pass auf sie auf!«

Annis hatte bemerkt, dass Quare Auntie so tat, als sähe sie Becky nicht, als wäre Becky nicht vorhanden. An dem Tag, als Rebecca geboren wurde, war sie nicht aus ihrem Versteck gekommen; sie hatte keinen Traum gehabt, der ihr einen Namen für sie mitgab. Was bedeutete das? Annis lief es kalt den Rücken hinunter. Natürlich bedeutete es etwas; alles, was geschah, bedeutete etwas. War Becky ein baldiger Tod vorherbestimmt? Konnte oder wollte Quare Auntie sie deshalb nicht sehen? Dann, auf einmal, warf Quare Auntie Becky einen langen, strengen Blick zu und zischte wie eine Schlange. Einen Moment darauf verschmolz sie mit den Bäumen.

Schweigend blieben sie zurück, selbst das Baby, das aufgehört hatte zu saugen, lag still in ihren Armen. Annis wagte nicht, Todd anzuschauen, obwohl sie spürte, dass sein Blick auf ihr haftete. Schließlich sagte er mit gefährlich leiser Stimme: »Schwarzhaariger Liebhaber, Annis?«

Ihn immer noch nicht anschauend, erwiderte Annis: »Sei nicht dumm, Todd. Es lohnt sich nicht, Quare Auntie zuzuhören, das weißt du doch! Entsinnst du dich, wie sie kam und davon sprach, dass dein Hund tot nahe dem Hain aus weißen Birken liege?« Es war kein toter Hund in jenem Hain gewesen. Allerdings hatte ein Waschbär eine Woche später diesen Hund im Kampf getötet. Aber Todd war keiner, der an Zeichen und Wunder glaubte. Er hielt das alles für Indianer-Unsinn.

»War sie immer schon verrückt?«

»So wie wir es sehen, ist sie nicht verrückt. Sie redet mit den Geistern. Die Frauen in unserer Familie sind bekannt dafür.« Todd spuckte in den Staub. Ärgerlich sagte Annis: »Und was ist mit diesem Moses in der Bibel, der mit Gott sprach und Wasser aus einem Felsen fließen ließ und einen Stock in eine Schlange verwandelte? Das glaubst du!‹

»Das ist was anderes!«

»Es ist überhaupt nichts anderes. Denk mal drüber nach, Todd Wellburn. Aber jetzt hilf mir erst mal auf die Füße. Ich möchte in mein Bett.«

Sie reichte Becky das Baby und ergriff Todds Hand, damit er ihr aufhalf. Ihr Körper war innerlich ein wenig wund und sie würde ihrem Mann ein paar Tage nicht zu nahe kommen. Und sie war todmüde. Doch Hunger hatte sie auch. Heute Morgen, als sie fühlte, dass sich das Kind in ihr verlagerte, und ihr ausladender Leib anfing, sich zu verkrampfen, hatte sie einen Eintopf aufgesetzt und darin, als sie aus dem Haus ging, um das Baby zu gebären, Becky befohlen, das Feuer in Gang zu halten, damit ihr Essen warm blieb.

Sie stütze sich auf Todds Arm, während sie über die Lichtung auf das stabile Haus aus Stein und Holz zugingen, das direkt vor einem kleinen Obstgarten mit Holzapfel- und Kirschbäumen stand. Mittlerweile herrschte Zwielicht; der blassblaue Himmel füllte sich mit flockigen grauen Wolken. Über dem Horizont schien bereits der erste Stern des Abends auf. Vielleicht würde der Anbruch der Nacht eine Brise mit sich bringen und sie von der Hitze befreien, die sich den ganzen Tag über aufgestaut hatte. Ihr Urururgroßvater hatte das Haus gebaut, und er hatte es gut gebaut, mit einer Feuerstelle, in der man stehen konnte, zwei Zimmern und einer Empore zum Schlafen. Die beiden Fenster waren mit dicken Läden gegen schlechtes Wetter gerüstet – jetzt standen sie natürlich weit offen –, und die vordere Veranda zog sich über die ganze Breite des Hauses. Auf dieser Veranda standen Annis’ Schaukelstühle, die sie im Tausch für die Geburtshilfe bei Mrs. Carter erhalten hatte, deren Mann unten in East Haddam Schreiner war – für jedes Carter-Kind einen Stuhl, vier insgesamt. Ihr Butterfass war ebenfalls dort und ihr Webstuhl. Sie lebten wirklich gut hier oben in den Hügeln. Sie hatten Schweine in einem Gehege auf der einen Seite der Lichtung und einen Schuppen und einen Heuschober und einen Hühnerstall, in den sie die Vögel nachts sperrte, um sie vor umherstreifenden Wölfen zu schützen. Ihre Stute Josie weidete auf ihrer Koppel, und für Milch und Butter besaßen sie eine Kuh. Ja, es war ein gutes Leben. Jede Frau in der Gegend wusste, an wen sie sich wenden musste, wenn sie ein Baby wollte, oder wenn sie kein Baby wollte, oder wenn sie in den Wehen lag und kurz vor der Entbindung stand. Auch wegen anderer Arzneien kamen sie zu Annis, bei Wassersucht und Rheumatismus und Verbrennungen und dergleichen. Manche Frauen fragten, ob sie etwas hätte, das die schlafende Leidenschaft eines Mannes weckte. Wenn man hier in der Gegend verarztet werden musste, gab es nur einen Menschen, von dem man behandelt werden wollte, und das war Annis Wellburn. Trotzdem nannten sie sie hinter ihrem Rücken die Squaw.

Als Todd ihr die Verandastufen hochhalf, fiel ihr auf, dass er sein Bein nachzog. »Gib mir das Baby, Becky«, sagte Annis. »Und dann hol deinem Daddy ein paar Schafgarbenblätter, damit er darauf kaut ... oder nein, warte. Nein, mach ihm einen Tee aus Buchsbeeren, hörst du? Den trinkst du, Todd, dann tut dir dein Bein nicht mehr weh.«

Nun musste sie nur noch in ihr schönes, weiches Bett steigen, sie war so erschöpft. Becky hatte alles sauber gemacht und aufgeräumt und einen kleinen Strauß aus gelben Blumen in einem Glas neben das Bett gestellt. Becky war ein liebes Kind, wenn auch bei weitem zu hübsch. Ihr Aussehen war ein Fluch. Annis hatte bemerkt, wie Männer sie anschauten, dabei war sie noch ein Kind! Schlimmer noch, Rebecca genoss die Aufmerksamkeit und verstand nicht, was sie bedeutete. Sie lächelte nur, zeigte ihre Grübchen und errötete ein wenig. Annis hatte versucht, sie zu warnen, ihr zu sagen, sie solle aufpassen. Doch als Becky fragte: »Aber wieso, Mam? Warum soll ich mich nicht bedanken, wenn Mr. Cartwright mir sagt, dass ich ein hübsches kleines Ding bin?«, hatte Annis keine Antwort parat. Sie konnte nur dafür sorgen, dass Becky stets in ihrer Nähe blieb. Aber mit einem neugeborenen Baby, um das sie sich kümmern musste, wie konnte sie da Tag und Nacht ein Auge auf Becky haben?

Nun, das war jetzt nicht wichtig. Über Becky würde sie sich später Gedanken machen. Jetzt war die Kleine an der Reihe, Morgan. Annis musste ihr Kind studieren und auf ein Zeichen für ihren indianischen Namen warten. Woman of the Water sollte ihr geheimer, heiliger Name sein. Sie brauchte einen Spitznamen. Besonders weil sie mit ihren dunklen, leuchtenden Knopfaugen, den hohen Wangenknochen und dem vollen Schopf glatter, glänzender schwarzer Haare so sehr den Angehörigen ihrer Mutter ähnelte. Jetzt, da die Röte langsam von ihr wich, sah Annis, dass ihre Haut fast ebenso milchweiß war wie Beckys. Nicht olivbraun wie diejenige des anderen, des kleinen Jungen .... Sie blinzelte, um nicht zu weinen. Sie durfte nicht daran denken. Das war vergangen und vorbei. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen; sie hatte gewusst, was sie tat.

Wieder richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den in ihre Arme geschmiegten Säugling. »Wie heißt du, Kleines?«, murmelte sie. Sie dachte an Quare Auntie. Die alte Frau mochte zwar zum Himmel stinken, doch sie lebte mit den Geistern, und die hatten ihr befohlen, ihre Hand auf das Baby zu legen und ihm einen Namen zu geben. Wenn der Fluss ihr Schicksal war, und wenn sie nach einem Vogel benannt werden sollte ...

»Jetzt weiß ich, wie du heißt, meine Tochter«, sagte Annis und zog das Baby an ihre Brust. »Water Bird. Meine wunderschöne Water Bird.« Sie war wunderschön, aber sie hatte ein indianisches Gesicht, und Annis wusste, dass ein indianisches Gesicht viel Kummer mit sich bringen konnte. Auch ihre Tochter würden die Rufe »Squaw!« verfolgen, wenn sie von diesen Hügeln in die Stadt hinabging. Dort wohnten nur Engländer. Die meisten Pequot waren längst geflohen oder an den Pocken gestorben, und diejenigen, die noch übrig waren, entweder »betende Indianer«, oder sie lebten – wie Annis und vielleicht ein halbes Dutzend andere – vereinzelt in den Hügeln.

Annis döste ein und träumte von Indianern, die am Strand um ein Feuer tanzten. Todd kam auf Zehenspitzen herein, aber sie spürte seine Anwesenheit. Sie öffnete die Augen, während ein paar Bilder des Traums noch in ihrem Kopf umherschwirrten.

Todd sagte: »Na ja, macht nichts, nächstes Mal kriegen wir unseren Jungen.« War das nicht typisch Mann, zu glauben, dass sie sich grämte, weil das Baby kein Junge war? Belustigt schüttelte sie den Kopf. »Ich will keine Kinder mehr, Todd, nicht in meinem Alter.« Er dachte ein Weilchen darüber nach. Dann grunzte er und sagte: »Na gut, dann muss ich ihr wohl all das beibringen, was ich einem Sohn beigebracht hätte.« Er blickte sie schräg von der Seite an und wartete, was sie dazu meinte.

»Wir werden sehen.«

Er räusperte sich nervös. »Nach dem Tee, den unsere kleine Becky mir gemacht hat, warn die Schmerzen in mei’m Bein wie weggeblasen«, sagte er. »Vielleicht wird sie später mal ’ne Heilerin wie ihre Mam.«

Das war als Kompliment gemeint, doch Annis schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »Becky weiß, wie man Arzneien macht, wenn ich ihr genau sage, was sie tun muss, und sie weiß, wozu die einzelnen Arzneien gut sind. Aber die innere Kraft zu heilen? Nein, Todd, tut mir Leid, die hat sie nicht.« Sie hielt inne und schaute auf das schwarzhaarige Baby, das an ihrer Brust saugte, so kräftig, so ungestüm, so stark.

»Becky nicht«, sagte sie. »Aber vielleicht die hier. Vielleicht Morgan.«

2

Oktober 1880

»Da läuft sie«, dachte Annis, als Morgan ihrem Pa entgegenrannte. Sie konnte ihn durch den Wald kommen, durch das Unterholz krachen hören, denn er machte genug Lärm, um Tote aufzuwecken. Er war heute Morgen in die Stadt gegangen, um zu handeln. Sie hoffte, dass er den Stoff bekommen hatte, den sie wollte, den rot karierten Gingham. Beide Mädchen brauchten Kleider, etwas Robustes, vor allem Morgan. Die Kleine wuchs einfach zu schnell aus ihren Sachen raus. Kaum hatte Annis ihr etwas angezogen, war es auch schon zu kurz und zu eng. Es war nicht etwa so, dass Morgan sich ein neues Kleid wünschte. Sie wäre ebenso gern herumgelaufen wie ein Junge. Sie sagte immer, sie wollte, sie wäre ein Junge.

Daran gab Annis Todd die Schuld. Morgan war sein Liebling, und sie himmelte ihren Daddy an, hing an jedem seiner Worte, wollte ihm überallhin folgen. Nun, er redete mit ihr – mehr als mit irgendjemandem sonst auf dieser Welt. Aber Morgan war nun mal kein Sohn, egal, was Todd am Tag ihrer Geburt gesagt hatte. Morgan war ein Mädchen – fast schon eine Frau. Es war Zeit, dass sie von ihrer Mam lernte, ebenso wie Annis von der ihren gelernt hatte.

Annis beugte sich zu dem Korb mit nasser Wäsche hinab und nahm ein Hemd heraus, zog daran, bis es glatt war, und legte es dann zum Trocknen über einen Busch. Als sie sich aufrichtete, erinnerte sie ein Stechen im Kreuz daran, dass sie achtunddreißig, beinahe neununddreißig war. Bald würde sie eine alte Frau sein, weise und respektiert. Bei diesem Gedanken musste sie lachen. Heutzutage wurden die Älteren nicht mit der Ehrerbietung behandelt, die sie ihren Eltern entgegengebracht hatte. Sie konnte sich glücklich schätzen, wenn Morgan ihr von zehn Malen einmal gehorchte. Sie hängte den Rest der Wäsche auf und trug den leeren Korb auf die Veranda. Als sie nach drinnen ging, fiel ihr Blick auf den Spiegel, den Todd im Tausch für ein Kaninchen erhalten hatte. Eine Ecke fehlte, aber das schadete nichts. Sie hatte nie zuvor einen Spiegel gehabt. Jahrelang hatte sie ihr Haar am Teich hinter dem Haus kniend geflochten. Während sie stehen blieb, um ihr Spiegelbild zu bewundern, dachte sie: Immer noch schlank wie ein Mädchen, der Rücken so gerade wie eh und je, wenn er auch ab und zu schmerzte. Todd fand sie schön. Er sagte es ihr nie, doch sie wusste es. Nachts kam er ungeduldig und steif zu ihr wie ein Jüngling. Sie betrachtete sich. War sie denn schön? Nicht in den Augen der Städter, so viel war ihr klar. Aber ihr langes, dunkles Haar glänzte und hing ihr in einem dicken Zopf bis aufs Hinterteil hinab. Ihre Haut war dunkel, ja, zu dunkel. Das Baumwollkleid, das sie trug, unterschied sich nicht von denen unten in der Stadt, eng in der Taille und mit langem, weitem Rock. Sicher, sie hatte ihn hochgeschlagen und in ihr Schürzenband geklemmt, um bei der Arbeit die Beine frei zu haben. Das taten die Frauen in East Haddam nicht.

Also sah sie anders aus. Nun, und sie war auch anders, weil sie Indianerblut in sich hatte. Das verlieh ihr gewisse Kräfte, die weiße Frauen nicht hatten. Und trotzdem sahen sie auf sie als eine Wilde herab. Das war doch unsinnig.

Sie fasste das Amulett an, das ihr an einer geflochtenen Schnur um den Hals hing. Es war aus glänzender, purpurner Muschelschale geschnitzt, und ihre Mutter hatte es ihr gegeben, als sie zur Frau wurde, und ihr erzählt, dass es ihrer Ahne Bird gehört hatte, der moigu. An ihrem Gürtel baumelte ein lederner Medizinbeutel, den sie ebenfalls von ihrer Mutter bekommen hatte. Diesen Beutel berührte sie oft, als wäre es ein Talisman. Aber sie berührte ihn nicht, damit er Glück brachte. Er war Zeichen für das, was sie war. Sie war Annis Wellburn, die Heilerin.

Ihre Tränke und Besprechungen galten bei den Leuten auf dem Lande als Zauberei, und sie kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Sie war bekannt dafür, dass sie hohes Fieber senkte und Verletzungen heilte, die sonst niemand heilen konnte. Sie schickten regelmäßig nach ihr, wenn eine Geburt begann, wollten keine andere. Annis lächelte. Immer wieder fragten sie sie nach den Rezepten für ihre Arzneien. Sie konnte ihnen genau sagen, wo sie die richtigen Kräuter und sonstigen Pflanzen fanden, doch das nützte ihnen nichts. Keine Einzige von ihnen besaß nämlich die innere Kraft des Heilens. Diese Kraft des Heilens hatte sie von ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter und der Mutter der Mutter ihrer Mutter, und so weiter bis zum Anfang aller Zeiten, geerbt. Sie konnte einen Kranken ansehen, ihm einfach nur in die Augen sehen und seine Gliedmaßen betasten, und wusste dann ziemlich genau, was ihm fehlte, und was wahrscheinlich dagegen half.

Ihre Mutter und ihre Großmutter hatten sie jeden Tag mit nach draußen genommen und sie in der Heilkunst unterwiesen, ihr Lieder vorgesungen, mit deren Hilfe sie sich an die Namen der Pflanzen und ihre Heilwirkung erinnern sollte. Und abends hatte der Großvater ihr Geschichten erzählt – von Great Eagle, dem pawwow oder Schamanen des Pequot-Stammes, und seinem Sohn Wild Goose, beide hingemetzelt von dem bösen Uncas und seinen Mohegan, die ihre Brüder im Stich ließen, um Seite an Seite mit den Yankees zu kämpfen. Er erzählte ihr von der Frau des Schamanen, einer großen moigu namens Shining Stone, und ihrer Tochter Bird, davon, wie sie nach dem Sammeln von Kräutern und Blättern heimgekehrt waren und das Lager am Strand zerstört, alle tot vorgefunden hatten.

Annis entsann sich, dass ihr Großvater wehklagend sagte: »Das war das Ende der mächtigen Pequot, Tochter meiner Tochter. Sie töteten den Sachem und tausend Angehörige seines Volkes in seinem Fort am Fluss Mystic. Diejenigen, die übrig blieben, waren wenige, in alle Winde zerstreut und verängstigt.« Zum Schluss erzählte er die Geschichte, wie Shining Stone und Bird zu einem geheimen Ort in den Hügeln weit oberhalb des Flusses Connecticut hatten fliehen müssen.

»Und dieser Ort ist genau hier«, sagte ihr Großvater dann. Wie oft sie derselben Geschichte auch in denselben Worten lauschte, bei diesem letzten Satz lief es Annis immer kalt den Rücken herunter.

Morgan hingegen interessierte sich nicht dafür. Morgan sehnte sich nach dem Unmöglichen. Sie hatte versucht, dem Kind Stolz auf seine Pequot-Herkunft zu vermitteln, doch Morgan wollte nur ihrer dicken, übellaunigen Freundin Lizzie Bushnell gleichen, der Tochter des Pfarrers. Morgan sah nicht, dass Lizzie mit ihrer teigigen Haut und dem blassen, beinahe weißen Haar unscheinbar wie ein Türpfosten wirkte. Farblos. Wie ein Gespenst. Oder, dachte Annis belustigt, wie ein schlecht gelauntes Kaninchen. Aber Morgan wollte kein Wort gegen Lizzie hören, die unten in der Stadt neben ihr auf der Schulbank saß. Annis war dafür, Morgan aus der Schule zu nehmen, doch davon wollte Todd nichts wissen.

»Sie soll lesen und schreiben lernen wie jedes anständige Mädchen«, sagte er. »Denk daran, sie ist keine ganze Indjanerin.« Das wusste Annis. Aber sie wusste auch, dass Morgan die Gabe des Heilens besaß, auch wenn sie sich sträubte, sie anzunehmen. Morgan hatte ihren eigenen Kopf und wollte nicht auf die Mutter hören. Annis seufzte. Sie wusste, dass das Mädchen genug Verstand hatte, um zu lernen. Ihr fehlte bloß der Wille ... Und Annis musste dem Mädchen alles über Medizin beibringen, was sie wusste. Denn inzwischen war ihr klar, dass Becky nie lernen würde. Niemals.

Beim Geräusch knackender Zweige am Rande der Lichtung drehte Annis sich um, ein Willkommen für Todd und Morgan auf den Lippen. Doch die Worte erstarben in ihr, als eine magere weibliche Gestalt, ins Sonnenlicht blinzelnd, sichtbar wurde. Sie hatte ein verschmiertes Gesicht und dreckige, verfilzte Haare, und ein zerlumptes Etwas war mit Weinranken um ihre Taille geschlungen. Ihre Brüste waren nackt, schmutzbedeckt und wunderschön. Sie stank.

»Einen guten Tag wünsche ich dir, Becky«, sagte Annis laut mit ruhiger, unbewegter Stimme. Die Streunerin antwortete nicht, sondern blickte sich nur furchtsam und vor sich hin murmelnd um. »Hier bist du in Sicherheit, Rebecca, du bist zu Hause. Keiner wird dir wehtun.«

Becky reagierte nicht, und als Todd und Morgan kurz darauf aus dem Schatten des Waldes traten, eine mit Waren beladene Trage aus zusammengezurrten Ästen schleppend, hastete sie zurück in den Schutz der Bäume. Diesmal allerdings blieb sie in Annis’ Sichtweite. Wahrscheinlich hatte sie Hunger; das war in letzter Zeit der einzige Grund, weshalb sie je nach Hause kam. Als Becky Morgan anstarrte, spürte Annis, wie sie sich aus Angst um ihre jüngere Tochter verkrampfte. Man wusste nie, was Becky sich in den Kopf setzen würde.

Vor ein paar Wochen war Becky vorbeigekommen und hatte gesagt: »Hunger. Essen«, einfach so. Kein Bitte oder Danke, Mam, kein Hallo oder Wie geht es dir – nur diese Forderung. Als Morgan ihr Brot und Fleisch herausbrachte, hatte Becky es sich geschnappt und zu geifern angefangen. Dass Morgan von bösen Geistern behaust sei, hatte sie gesagt; klar wie der helle Tag könne sie sie aus Morgans Nase und Ohren und Mund und zwischen ihren Beinen hervorkriechen sehen. Todd, der sich in der Nähe aufhielt, war voll Ungestüm und Wut herbeigestürzt und hatte Becky ins Gesicht geschlagen. Sie hatte nicht geweint. Es schienen keine Tränen mehr in ihr zu sein, seit die Geister gekommen waren und von ihr Besitz ergriffen hatten. Sie hatte ihn angespuckt und war in den Wald gerannt.

Heute war das erste Mal seither, dass sie sie wieder sahen. So sehr er sich auch bemühte, Todd fand ihr Versteck einfach nicht – er, der die Fährte eines Tieres riechen konnte, bevor er sie sah.

»Hallo, Becky«, sagte Morgan sanft.

»Komm du mir bloß nicht zu nahe! Hörst du? Ich weiß, was du denkst! Du glaubst, das weiß ich nicht? Bleib mir vom Leibe!«, schrie Becky aus vollem Halse.

Morgan lief zu Annis. »Was hat Becky, Mam? Warum sagt sie solche Sachen? Warum hasst sie mich?«

»Sie hasst dich nicht, Morgan«, sagte Annis. »Sie ist von Geistern besessen, genau wie Quare Auntie. Es ist so, als ob sie uns nicht mehr hören kann, nur ihre Geister. Wenn es wie zu alten Zeiten wäre, würde sie vielleicht als heilig gelten. Mit den Geistern zu sprechen, Morgan, das ist ein machtvoller Zauber. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die meisten Leute haben Angst vor Geistern. Keiner opfert ihnen mehr. Keiner geht mehr hinaus in die Wildnis, um von ihnen zu träumen. Vielleicht sind deshalb alle guten weggegangen, und die übrigen haben sich deiner Schwester bemächtigt. Doch um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«

Das Kind schmiegte sich Schutz suchend an sie. Eine Weile schwieg Morgan. Dann fragte sie: »Werde ich auch wie Becky, wenn ich älter bin?«

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Annis.»Würdest du das denn gern?«

»Nein! In der Schule machen sich alle über meine Schwester lustig! Sie sagen, dass sie verrückt ist! Sie machen sie nach! Das kann ich nicht leiden!« Morgan brach in Tränen aus. »Deshalb muss ich es wissen. Sind die Geister hinter mir her?«

Annis schüttelte den Kopf und antwortete traurig: »Ich weiß nicht, Morgan. Becky war ungefähr in deinem Alter, als du geboren wurdest, und sie war so lieb zu dir, dass wir sie Mütterchen nannten. Ich habe mir nie träumen lassen, dass so etwas geschehen könnte. Die Kinder in der Schule, die können sie nennen, wie sie wollen, aber wir beide wissen, dass es die Geister sind, nicht wahr, Morgan?«

Mit einem erstickten Laut riss Morgan sich von ihr los und rannte ins Haus. Annis hörte, wie sie, so schnell sie konnte, die Leiter zur Empore hochkletterte. Als ob sie schneller laufen könnte als die Geister!

Nun, am besten kümmerte sie sich um das Nächstliegende. »Du willst was zu essen, Becky?«, rief Annis.