Die Sanftmütige - Marcia Rose - E-Book

Die Sanftmütige E-Book

Marcia Rose

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Beschreibung

Liebe und Krieg - ein bewegender und farbenprächtiger Roman vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkriegs Amerika im Jahr 1866: Der Bürgerkrieg ist vorüber, Abertausende sind ihm zum Opfer gefallen. Die junge Waise Jessie macht sich auf die Suche nach ihrem vermissten Zwillingsbruder Jacob, dem sie sich tief verbunden fühlt. Hilfe erhält sie von der mutigen Krankenschwester Clara Barton, die entzweite Familien wieder vereint. Doch erst als Jessie auf den angehenden Arzt Thomas Lavery trifft, der schwer traumatisiert aus dem Krieg heimkehrt, findet sie einen neuen Seelenverwandten. Gibt es eine gemeinsame Zukunft für das junge Paar? "Marcia Rose versteht es meisterhaft, ihren Figuren Leben einzuhauchen, sie zu starken Charakteren zu formen. Große Emotionen vor einem stimmungsvollen, farbenprächtigen historischen Hintergrund." Publishers Weekly

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Seitenzahl: 469

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Marcia Rose

Die Sanftmütige

ins Deutsche übertragen von Leon Mengden

Roman

Edel eBooks

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum

1

Während der Wagen über den von Karrenrädern zerfurchten Fahrweg holperte, musste Jessie die Zähne fest zusammenbeißen, damit sie ihr nicht im Mund klapperten. Wäre sie als Kuh auf die Welt gekommen, hätte sie jetzt schon Butter in ihrem Euter. Man sollte doch erwarten können, dass eine Chaussee, die immerhin zur Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika führte, anständig gepflegt würde. Als sie Mr. Bump fragte, ob es nicht eine bessere Straße nach Washington gebe, grinste er nur, entblößte dabei seine verbliebenen fünf oder sechs Zähne – von denen zwei damit beschäftigt waren, seine Pfeife umklammert zu halten – und sagte: »Wieso, Missie? Das hier ist eine gute Straße. Sie sehen doch, wohin sie führt, oder? Nein, besser wird die nicht mehr, bis wir die Mautstrecke erreichen. Halten Sie sich nur ordentlich fest, und wir bringen Sie schon zu Ihrem Ziel… und zwar unversehrt.« Dabei gluckste er vor Vergnügen.

Mr. Bump war ein Farmer aus Maryland, der sich auf dem Weg nach Washington befand, um dort sein Geflügel zu verkaufen – eine Wagenladung schnatternder Enten und gackernder Hühner. Er hatte Jessie in der Nähe von Baltimore wie eine Landstreicherin am Wegesrand aufgelesen, als sie sich gerade fragte, wie sie es bloß jemals bis nach Washington schaffen sollte. Nachdem sie in Albany von Bord der Fähre gegangen war, hatte sie fast kein Geld mehr übriggehabt, und von irgendetwas musste sie ja schließlich noch ihr Essen und ihre Unterkunft bestreiten.

Also war sie marschiert und marschiert; ab und zu hatte sich irgendein grinsender Lümmel von seinem Wagen oder seinem Maultier zu ihr herabgebeugt und sie gefragt, ob sie bei ihm aufspringen wolle. Diese Männer waren ihr nicht geheuer vorgekommen; sie hielten sie wohl für ein hergelaufenes Bauerntrampel und lagen damit vielleicht auch gar nicht so verkehrt, doch dumm war sie deshalb noch lange nicht! Also hatte sie darauf geachtet, dass ihre Antwort stets höflich ausfiel, aber es blieb jedes Mal bei einem »Vielen Dank, nein«, obwohl sie sich, als die Frühjahrssonne heißer vom Himmel brannte, der Staub ihr in die Kehle drang und die Stiefel ihre kleinen Zehen drückten, wünschte, sie hätte das Angebot angenommen. Ihre große Reisetasche kam ihr immer schwerer vor, und als sie gerade befürchtete, sie könne keinen einzigen Schritt mehr weitergehen, hatte neben ihr ein alter Bauernwagen mit einer Negerfamilie darauf gehalten. Jessie vermutete jedenfalls, dass es sich um eine Familie handelte, denn es waren ein Mann, eine Frau und vier oder fünf kichernde Kinder.

»Sie seh’n ja mächtig erledigt aus, Missie«, hatte die Frau gesagt. »Klettern Sie hinten drauf, und wir nehmen Sie so weit mit, wie wir fahren.« Als Jessie zögerte – der Akzent war fremd für ihre Ohren, und sie musste sich die Worte erst im Geiste übersetzen –, fügte die Frau rasch hinzu: »Der Wagen hier ist unser eigener. Wir sind’s freie Neger schon lange, Missie. Wir ham’ nich viel, aber Sie sind’s mächtig willkommen, mit uns zu fahren.«

Also war sie hinten zu den Kindern auf den Wagen gestiegen, die sich gleich dicht um sie scharten und versuchten, ihr rotes Haar und ihre Sommersprossen zu berühren, bis ihre Mutter sie scharf zurechtwies. Jessie ihrerseits betrachtete die braunen Gesichter und stellte voller Bewunderung fest, wie sehr die weißen Zähne im Kontrast zu der dunklen Haut blitzten. Diese Neger sahen ganz anders aus als alle, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte. In Mechanicville gab es keinen einzigen Schwarzen. Einmal hatte sie einen mit dunkelhäutigen Männern beladenen Viehwagen in die bewaldeten Hügel hinauffahren sehen – jemandes Sklaven, die sich ein anderer für Abholzarbeiten ausgeliehen hatte, wie ihr gesagt wurde. Dieser von zwei Pferden gezogene Wagen war mitten durch die Stadt gerumpelt, und alles war stehen geblieben, um ihn und die Dutzende fremdartiger dunkler Gesichter darauf anzustarren. Die Männer hatten allesamt gelächelt; die meisten von ihnen hatten Sitzplätze, aber einige waren aufgestanden, um zu sehen, was es zu schauen gab. Und sie hatten gesungen und in die Hände geklatscht. Das hatte sie nie vergessen – wie ihr Gesang einem in die Füße fuhr und sie aufforderte, mitzutanzen. Sie waren offenbar ausgelassener Stimmung, doch Jessie hatte sich gefragt, wie das denn sein konnte. Sie hatte Onkel Toms Hütte gelesen und sogar eine Bühnenfassung des Buches gesehen, als einmal ein reisendes Theaterensemble im Opernhaus gastierte. Sklaverei war etwas Abscheuliches – es widerspräche der menschlichen Natur, predigten die Pfarrer, wenn ein Mensch einen anderen besäße.

Sofern sie je darüber nachdachte, hatte sie immer geglaubt, alle Schwarzen wären Sklaven. Aber hatte diese Frau nicht eben gerade zu ihr gesagt, sie seien schon seit langer Zeit frei? Doch was ging sie das eigentlich an? Es tat einfach nur gut, eine Weile lang zu sitzen. Die schaukelnde Bewegung des Wagens lullte sie fast in den Schlaf – und dann war die Fahrt mit einem Mal vorbei. Die Familie wollte in einen schmalen Feldweg abbiegen, während Jessie selbst sich weiter gen Süden halten musste, die Kelseytown Road entlang. »Wird Sie schon wer mitnehmen, Missie, werden Sie schon sehn. Lässt doch keiner ein hübsches junges Mädchen wie Sie so einfach im Dustern rumspazieren.«

Sie war kaum fünf Minuten lang wieder auf den Füßen gewesen, als Mr. Bump neben ihr hielt und ihr über das Gegacker und Getröte seiner Ladung Vögel hinweg zurief: »Steigen Sie mal lieber zu mir hoch, Missie, bevor Sie sich noch Ihre feinen Stiefel kaputtlaufen«, und er hatte dabei freundlich gelacht, was ihn gleich für sie eingenommen hatte, obwohl er ansonsten einen eher grobschlächtigen Eindruck machte.

Als Miss Heywood, Jessies alte Lehrerin, ihr auf einer der großen Wandkarten in der Schule den Weg nach Washington gezeigt hatte, hatte sie sie gleich davor gewarnt, Fremden zu vertrauen. »Es sind heutzutage so viele Verrückte unterwegs, Jessie, Soldaten, die im Krieg den Verstand verloren haben… befreite Sklaven auf der Suche nach einer neuen Bleibe… und obwohl ich es nur äußerst ungern sage, auch Frauen, denen man besser nicht über den Weg trauen sollte. Du musst dich sehr, sehr vorsehen.«

Nun, sie war ja kein Schulkind mehr. Sie hatte sich mit dem Erwachsenwerden beeilen müssen, nachdem ihre Mutter schwer erkrankt war, sie hatte die Hebammenpraxis ihrer Mutter übernehmen und dabei so tun müssen, als ginge es Mutter noch gut genug, alles zu überwachen, während sie in Wirklichkeit meistens schlief oder zusammengekrümmt auf dem Bett lag und vor Schmerzen stöhnte. Jessie war gezwungen gewesen, sämtliche Bedürfnisse einer Heranwachsenden hintanzustellen und die Pflegerin ihrer Mutter zu werden.

Jedenfalls passte Mr. Bump in keine der Kategorien Menschen, vor denen Miss Heywood sie gewarnt hatte, aber am allermeisten zählte, dass ihre Füße trotz der kurzen Erholungspause bei der Negerfamilie ihr inzwischen höllisch wehtaten. Sie war heilfroh, sich wieder hinsetzen zu können. Dankbar stemmte sie sich und ihre schwere Reisetasche auf die harte Sitzbank. Ein alter Mann, der so nett lachte, stellte keine Gefahr dar, sagte sie sich – ganz abgesehen davon, dass er geradewegs nach Washington unterwegs war und ihr versicherte, sie würden garantiert noch vor Einbruch der Dunkelheit dort ankommen.

Er war wirklich ein lieber alter Mann, auch wenn er die Eigenheit hatte, sich über jede lächerliche Kleinigkeit zu amüsieren – etwa, wenn eines seiner Maultiere sich plötzlich mitten auf der Straße hinsetzte oder das andere lustlos und müßig einen Huf vor den anderen hob und es überhaupt nicht eilig zu haben schien.

Aber Müßiggang war genau das, was Jessie sich nicht erlauben wollte. Sie hatte eine Mission zu erfüllen – nämlich, mit der Hilfe von Miss Clara Barton ihren Bruder Jacob zu finden. Also durfte sie keine Zeit damit verlieren, dem Starrsinn eines vertrackten Esels nachzugeben.

Mr. Bump hingegen fand das lustig und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Hat keinen Zweck, sie zu triezen, Miss Jessie. Wenn Barbie beschließt, eine Pause zu machen, packt sie sich einfach an Ort und Stelle auf ihren Hintern, bis es wieder weitergehen soll.« Tatsächlich musste sie zugeben, dass es wirklich drollig aussah, wie jedes der beiden Tiere seinen eigenen Kopf durchzusetzen versuchte und sie beide in verschiedene Richtungen zogen.

So waren sie und Mr. Bump vom Kutschbock gestiegen, hatten die Körbe mit Vögeln hinten auf dem Wagen ihrem Geschnatter überlassen und sich eine begraste trockene Kuppe gesucht, die trocken genug war, um sich hinzusetzen. Vor gut einer Stunde war ein Regenguss niedergegangen, der sie beide bis auf die Haut durchnässt und ihr Vorankommen erheblich verlangsamt hatte, weil sich die Straße dadurch natürlich sofort in einen Morast verwandelte, in dem dicke braune Lehmklumpen an den Rädern hängenblieben und rundherum Matsch aufspritzte. Jessie war froh, sich das Kleid glätten und ihr Haar lösen und sich in der Sonne trocknen zu können.

Einen schönen Anblick würde sie bieten, wenn sie endlich bei Miss Barton ankam, zerzaust und staubig von der tagelangen Reise und nun auch noch durchnässt und voller Lehmspritzer. Aber es spielte keine Rolle, was für einen Eindruck sie machte, sagte sie sich – wichtig war nur, dass Miss Clara Barton im Krieg verlorengegangene Soldaten aufspüren konnte, und Jacob Snow war im wahrsten Sinne des Wortes verschollen. Sein letzter Brief datierte vor über einem Jahr, 1865. Sie kannte ihren Bruder Jake so gut, wie sie sich selbst kannte – vielleicht sogar noch besser –, und sie wusste genau: Wäre er nur an einen Stift und ein Stück Papier gekommen und kräftig genug gewesen, um zu schreiben, dann hätte er etwas von sich hören lassen.

Er hatte ihr und ihrer Mutter während des gesamten Krieges Dutzende von Briefen geschrieben, manchmal in Reichweite der Schüsse und der explodierenden Sprengladungen und so nahe am Geschehen, dass er die Schreie seinen Kameraden im Kampf zuordnen konnte. Er müsse eine genaue Chronik all dessen, was er sah und hörte, zu Papier bringen, schrieb er, denn sowie er wieder zu Hause wäre, wolle er ein Buch darüber verfassen. Es war ihm wirklich wichtig, das alles für die Nachwelt festzuhalten. Ja, Jacob steckte in irgendwelchen Schwierigkeiten – es konnte nicht anders sein –, und sie musste einfach herausbekommen, was aus ihm geworden war, ob er nun noch lebte oder… nein, sie wollte nicht darüber nachdenken, solange sie nicht dazu gezwungen war.

Samstag vor zwei Wochen erst hatte sie beschlossen, Miss Barton einen Besuch abzustatten. Sie war zu Hause in Mechanicville auf dem Wochenendmarkt am Brickyard Hill gewesen und hatte vor den Erbsenschoten und den Salatköpfen, die so gut in der kalten Frühlingserde gediehen, gestanden. Allerdings war sie wie immer knapp bei Kasse gewesen und hatte es dann bei einem dürren Hühnchen – dem besten, das sie sich leisten konnte – und einem kleinen Sack Maismehl belassen. Im Keller gab es noch Kartoffeln, und mit etwas Glück fände sie auch noch eine vereinzelte Zwiebel. Ja, eine Zwiebel würde dem Hühnereintopf das gewisse Etwas verleihen.

Sie zählte ihr Geld ab – sie hasste es, etwas davon herauszurücken. Viel blieb ihr nicht mehr. Die Beerdigung ihrer Mutter war teurer gewesen als erwartet, aber es gab sonst niemanden, der sie bezahlen konnte, kein weiteres Familienmitglied, nur sie und Jacob, und ihr Bruder war verschwunden. Sie hatte sich für ihre Mutter eine würdige Beerdigung gewünscht, also musste sie die Zähne zusammenbeißen und eisern sparen.

Alle waren gekommen, die Nachbarn und die Frauen, deren Kinder Hattie Snow auf die Welt gebracht hatte, und all ihre übrigen Patienten. Aber natürlich keine Angehörigen. Es gab ja auch keine mehr. Keinen einzigen Verwandten. Das hatte die beiden Zwillinge immer vor ein Rätsel gestellt; sie hatten sich oft in der Dachkammer, in der sie schliefen, flüsternd darüber unterhalten, was wohl mit dem Rest ihrer Familie geschehen war. Ihre beiden Eltern hatten sich stets bemüht, entsprechenden Fragen aus dem Weg zu gehen, doch wenn Jessie und Jacob ihnen dann zu sehr auf die Pelle rückten, hatte ihr Papa etwas von einem schrecklichen Familienstreit gemurmelt. »Eine verdammt verfluchte Angelegenheit war’s. Ihr beide werdet nichts davon hören wollen«, redete er sich heraus. Doch als die beiden, damals neun oder zehn Jahre alt, dann zu lamentieren anfingen – »Doch, Pa, wollen wir! Erzähl’s uns, Papa, wir wollen es hören!« –, hatte ihr Vater, der ansonsten ein gutmütiger Mensch war, eine finstere Miene gezogen und erklärt, er würde sich nicht aufsässigen Kindern beugen. Und danach hatten sie kein weiteres Wort mehr darüber aus ihm herausbekommen.

Aber es war sonderbar, oder? Dass es keine einzige Cousine oder Großmutter oder wenigstens eine alte, entfernte Tante gab, die sie ihre Verwandten nennen konnten? Als ihre Mutter ihren baldigen Tod herannahen spürte, hatte sie wiederholt Anstalten gemacht, Jessie etwas davon zu erzählen… und Jessie hatte dann mit pochendem Herzen neben ihr gesessen, ihre Hand festgehalten und versucht, sie dazu zu zwingen, es auszusprechen, ihr die Geschichte zu erzählen, wie traurig auch immer sie ausfallen möge. Doch sooft sie ihren Mund öffnete, hatte Mutter gleich wieder den Kopf geschüttelt und ihre Lippen fest zusammengepresst, als könnte das Geheimnis sonst aus ihr hervorsprudeln und sich selbst verraten.

Eine ansehnliche Menschenmenge war zur Beerdigung erschienen, aber das war nicht weiter verwunderlich. Jeder kannte Hattie Snow, die Hebamme. Sie hatte nicht nur dafür gesorgt, dass Kinder auf die Welt kamen, sondern sie hinterher auch bemuttert und verarztet – wie die meisten Eltern in der Gegend, denn der nächste Arzt war in Albany, zwanzig Meilen entfernt. Jessie hatte die Praxis ihrer Mutter übernehmen wollen; fast alles, was ihre Mutter konnte, konnte sie auch. Sie wusste einen Breiumschlag auf eine eiternde Wunde aufzulegen und einen wohltuenden Sirup gegen Husten anzumischen, und sie wusste auch, wie man ein Kind auf die Welt holte. Mutter hatte immer gesagt, sie hätte eine Gabe dafür. Aber es würde dauern, bis die ersten Patienten zu ihr fänden, obwohl sie die Tochter ihrer Mutter war. Wovon sollte sie in der Zwischenzeit ihren Lebensunterhalt bestreiten? Die Speisen, die die Trauergäste zur Beerdigung mitgebracht hatten, waren binnen einer Woche aufgebraucht. Sie konnte nicht mehr viel länger darauf warten, dass die guten Leute aus Mechanicville entschieden, ob sie Jessie klug genug oder alt genug oder gut genug fanden, um mit ihren Wehwehchen zu ihr zu kommen. Entweder betrieb sie die Praxis weiter, oder sie müsste verhungern. Oder der Stadt, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, den Rücken kehren… dem kleinen Haus an der Newman Street zwischen dem Champlain Canal und dem Hudson River mit der riesigen alten Ulme davor… sich von all den Menschen trennen, die sie so gut kannte.

Mary Bennett, ihre beste Freundin, hatte gewollt, dass Jessie zu ihr ins Haus ihrer Familie zog. »Oh, das könnte so schön werden, Jessie – als wären wir beide Schwestern. Sag doch bitte ja; ich bin es leid, das einzige Mädchen unter den vier Flegeln zu sein, die sich meine Brüder schimpfen.« Mary war ein liebes Mädchen, aber ihre Mutter war ganz anders geartet, sie ging einem gehörig auf die Nerven und war obendrein noch geizig. Sosehr Jessie ihre Freundin mochte – sie könnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, mit Anne Bennett unter einem Dach zu leben. Sie würde dort wie eine Bedienstete behandelt werden, wie Mary, die vier kräftige Männer bekochen und sich den Temperamentsausbrüchen ihrer Mutter fügen musste.

Natürlich konnte sie immer noch Albert George heiraten; er hatte schon wiederholt um ihre Hand angehalten, aber nein, sie liebte ihn einfach nicht, und sie hatte den Blicken und versteckten Andeutungen ihrer Mutter entnommen, dass Alberts Vater seine Frau schlug, wenn er betrunken war. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, vergiss das nie«, hatte ihre Mutter sie oft ermahnt, aber Jessie musste gar nicht erst mit der Nase darauf gestoßen werden. Sie war von Albert alles andere als angetan, und bei der Vorstellung, seine Frau zu werden und mit ihm das Bett zu teilen, drehte sich ihr der Magen um. Nein, vielen Dank. Ihr blieb nur, ihren eigenen Weg zu suchen, wohin er sie auch führen mochte.

Wie sie nun an jenem Tag im goldenen Sonnenschein auf dem Markt stand, die Wärme nach dem langen, kalten Winter genoss und die Salatblätter befühlte, hörte sie unwillkürlich das Gespräch mit, das gleich neben ihr geführt wurde. Martha Townsend und Emily Franklin unterhielten sich über die Liste der vermissten Soldaten, die im Postamt aushing, und darüber, dass es doch eine Schande sei mit dem Sohn von Amos, der sich angeblich in den Westen aufgemacht habe, anstatt nach Hause zurückzukehren und mit seinem Vater die Farm zu bewirtschaften, wie man es von einem guten Sohn erwarten würde…

… Ja, und ist es nicht sonderbar, Russ Nobles Namen auf der Liste wiederzufinden, wo er doch fröhlich auf der Main Street herumspaziert, als Vater zweier gesunder Söhne, während seine Kameraden ihn für kriegsgefangen oder gefallen halten? Er hat sich selbst aus dem Hospital entlassen und ist gewandert, bis er zu Hause ankam…

… Nun ja, er hat gesagt, das sei gar kein richtiges Hospital gewesen, weißt du, bloß so ein Zelt auf einer Kuhweide, in dem überall, wo man hinschaute, Ärzte gerade Arme und Beine absägten. Draußen vor dem Lazarettzelt sollen ja gewaltige Haufen von abgetrennten Gliedmaßen gelegen haben, und zwar jeweils einer für Arme und einer für Beine, kann man sich das vorstellen? Da mochte er nicht bleiben, hat er gesagt, und wer wollte es ihm verübeln…?

… Ich ganz bestimmt nicht. Wenn man allerdings an Jake Snow denkt, der sich aus dem Staub gemacht und seine Kameraden zurückgelassen hat, damit sie ohne ihn weiterkämpfen …

… Und seine arme Schwester hat er auch im Stich gelassen, die musste sich ganz alleine um alles kümmern, wo doch ihre Mutter im Sterben lag und überhaupt…

…Ich hoffe, er schämt sich wenigstens. Und außerdem habe ich noch gehört…

Da hatte Jessie sich dann zu ihnen umgedreht und die beiden so lange unverwandt angesehen, bis auch sie ihr den Blick zuwandten. »Mein Bruder hat nichts getan, dessen er sich schämen müsste, absolut nichts, und das solltest du wissen, Martha. Und auch du, Emily, die doch immer gesagt hat, was für ein lieber Junge Jake ist! Wie könnt ihr nur so über ihn reden, wo ihr ihn doch gekannt habt, seit er …«

Sie unterbrach sich, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr gleich die Tränen kämen, und vor diesen beiden wollte sie sich keine Blöße geben. »Ihr solltet euch schämen, ihr, weil ihr wie zwei alte Tratschweiber jeden Klatsch nachplappert, der euch zu Ohren kommt.«

Martha und Emily waren wie erstarrt gewesen und hatten sie nur angeglotzt. »Ihr irrt euch gewaltig«, hatte Jessie triumphierend ihre Tirade beendet. »Ich werde herausfinden, was wirklich mit Jake passiert ist, und bis dahin solltet ihr schön eure Zungen hüten.« So! Sie hatte ihrem Herzen Luft gemacht und war stolz darauf. Sie wandte sich auf dem Absatz um und ging davon. Wie konnten sie es wagen! Sie mussten doch wissen, dass ihr Bruder niemals sein Land oder seine Kameraden im Stich lassen würde! Allerdings kannte sie den Ursprung dieser Gerüchte: Jeder in der Stadt hatte den Aushang im Postamt gesehen, über dem in scheußlichen schwarzen Buchstaben DESERTIERT stand – mit Jakes Namen gleich darunter. Es musste sich um einen Irrtum handeln, anders war das nicht zu erklären. Einen furchtbaren Irrtum.

Und in diesem Augenblick war es ihr mit einem Schlag bewusst geworden, dass sie genau das tun würde, was sie soeben gerade gesagt hatte: Sie würde Jacob suchen! Sie griff sich den Jutebeutel mit ihren Einkäufen und marschierte den Hügel hinunter zum Postamt. Sie erinnerte sich, dass am Fuße des Aushanges um etwaige Informationen zu den oben genannten Männern gebeten wurde. Man möge sich an Miss Clara Barton, Suchdienst für vermisste Armeeangehörige, 437 Seventh Street, NW, Raum 9, Washington City, District of Columbia, wenden.

Mit einem Male stand ihr Entschluss fest: Ich fahre dorthin. Ich begebe mich nach Washington, spreche mit Miss Clara Barton, zeige ihr Jakes Briefe und bitte sie um ihren Rat. Sowie sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wusste sie auch schon, dass das genau das Richtige war. Allerdings blieb noch die Frage, wie sie es nach Washington schaffen sollte. Aber Clara Barton war während des gesamten Krieges über Schlachtfelder gepilgert, hatte Verwundete – erwachsene Männer! – aufgesammelt und sie aus eigener Kraft zu ihrem Lazarett geschleppt. In der Schlacht am Fluss Antietam hatte sie auch Jacob in Sicherheit gebracht; davon hatte er in einem seiner Briefe berichtet. Wenn diese Frau sich ins Kampfgetümmel gewagt hatte, wo ihr die Kugeln nur so um die Ohren pfiffen, dann konnte sie selbst, eine junge, gesunde und einigermaßen intelligente Person, sich ja wohl bis zur Hauptstadt des Landes durchschlagen.

»Stehen Sie auf, Miss Jessie. Barbie ist wieder auf den Beinen, und wenn wir uns nicht beeilen, läuft sie ohne uns nach Washington.«

Jessie blinzelte; als sie die Augen öffnete, sah sie, dass die Sonne schon viel tiefer am Himmel stand. Sie war eingenickt, ohne es zu merken. Wie spät war es bereits? Sie musste Miss Bartons Büro erreichen, ehe es am Abend geschlossen wurde. Eilig erhob sie sich, kletterte wieder zu Mr. Bump auf den Kutschbock, strich sich so akkurat wie möglich ihr Kleid zurecht und band sich ihr Tuch fester um die Schultern. Es wurde langsam ziemlich kühl.

»Glauben Sie, dass wir noch vor der Dunkelheit in Washington sind?«, fragte sie.

»Ich schätze schon. Allzu weit haben wir es nicht mehr. Wo wollen Sie genau hin?«

»Nun… ich kenne mich dort nicht so richtig aus. Sie wissen nicht zufällig, wo sich die Seventh Street North West befindet?«

»Die Seventh Street? Aber sicher doch. Die ist mitten in der Stadt. Wen besuchen Sie denn da? Einen Verwandten?«

»Miss Clara Barton.«

»Den Engel der Schlachtfelder! Dann müssen Sie auf der Suche nach einem vermissten Soldaten sein. Ihr Herzallerliebster?«

»Mein Zwillingsbruder.«

»Ihr Zwilling! Was Sie nicht sagen!« Mr. Bump schnalzte anerkennend, als hätte sie ihm gerade einen Zaubertrick vorgeführt. Die Leute reagierten häufig so, vor allem wenn sie Jessie und Jake mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen gemeinsam begegneten. Sie klatschten dann in die Hände und gaben bewundernde oder erstaunte Kommentare von sich. Jessie war das zuwider – sie mochte nicht angestarrt werden –, aber Jacob hatte sich darin gesonnt, über beide Backen gegrinst und die Aufmerksamkeit ganz nach seinem Geschmack gefunden. Sie hatte ihm damals immer gesagt, dass es sie nicht wundern würde, wenn er eines Tages eine Bühnenkarriere einschlüge.

»Nun denn«, sagte Mr. Bump, »dann müssen Sie ja wirklich den Wunsch haben, ihn zu finden. Es ist, als würde einem die zweite Hälfte fehlen, nicht wahr?«

»In gewisser Weise schon«, gab sie zu. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Aber… woher wissen Sie das?«

»Ich? Ach, während meiner ganzen Kindheit hatte ich immer das Gefühl, als würde etwas fehlen, etwas, was da sein sollte, verstehen Sie? Und dann hat meine Ma es mir gesagt. Wir waren zwei, aber einer von uns ist gleich nach der Geburt gestorben. Er hat nie auch nur einen Atemzug getan, meinte meine Ma, und sie hatte es mir nicht erzählen wollen, bis ich erwachsen war. Und dann hat sie mich gefragt, warum ich lächle, und ich habe gesagt, weil ich jetzt weiß, was mir gefehlt hat. Mein Zwillingsbruder nämlich. Als hätte ich es stets gewusst.«

»Wie traurig.«

»Ja, schon. Aber es war eine Erleichterung für mich, Gewissheit zu haben.« Und er schnalzte mit der Zunge, damit die Maultiere sich ins Zeug legten.

Jessie war von seiner tragischen Geschichte tief berührt. Seinem Zwilling nie begegnet zu sein! Sie konnte sich das kaum vorstellen. Ihre frühesten Erinnerungen galten alle ihrem Bruder, ihrer zweiten Hälfte. Lange, bevor sie lernte, wie man sich in einer Glasscheibe spiegeln konnte, hatte sie jeden seiner Gesichtszüge in- und auswendig gekannt. Als sie dann zum ersten Mal wirklich ihr Spiegelbild erblickte, erschrak sie, weil sie glaubte, eine Fremde vor sich zu sehen. Schon während sie noch Babys waren und zusammen in ihrem Bettchen lagen, hätte immer, wenn eines der beiden sich umdrehte, das andere es ihm sofort nachgetan, hatte Mutter ihr erzählt. Und ihre ersten Worte wären kein Englisch gewesen, auch nicht irgendeine andere Sprache, sondern eine Art ganz eigener Geheimcode. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, hatte ihr Mutter mit vor Stolz leuchtenden Augen gesagt. »Ihr habt euch beide wunderbar verständigt, obwohl sonst kein Mensch auf der Welt euch verstehen konnte.«

Und selbst nachdem sie angefangen hatten, wie andere Kinder zu sprechen, und auch ihre Geheimsprache längst vergessen war, beendete weiterhin der eine Zwilling die Sätze für den anderen. Es hätte ihnen nichts ausgemacht, völlig allein auf der Welt zu sein, denn sie hatten einander, und sie würden für immer zusammenbleiben.

Wie sie so über Jake nachdachte, musste Jessie blinzeln, damit ihr nicht die Tränen kamen. Sie versuchte dabei immer, sich ihren Bruder nicht zu genau vorzustellen, damit der Gedanke nicht ganz unerträglich würde, er könne – aber nein. Er konnte gar nicht tot sein. Sonst würde sie es spüren. Womöglich wanderte er ziellos umher, verwirrt von einem Schlag auf den Kopf oder einer Verwundung, oder er siechte auf einem Krankenlager dahin. Doch tot? Das hätte sie bestimmt gewusst.

»Ich habe gedacht, dass Miss Barton mir möglicherweise helfen kann. Ich möchte nach meinem Bruder suchen, und sie hat schon so viele Männer ihren Familien zurückgegeben. Einmal hat sie ihn sogar persönlich gerettet. Vielleicht erinnert sie sich noch an ihn.«

»Sie hat Ihren Bruder gerettet! Na, dann sollte sie erst recht ein Interesse haben, ihn für Sie zu finden, Miss Jessie. Sie ist berühmt dafür. Sie ist den ganzen Weg durch das Höllenloch gegangen – verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, aber das war’s, ein Höllenloch. Ich spreche von Andersonville, wo sie sich hinbegeben hat, um die Leichen all jener armen toten Soldaten zu identifizieren – ach, ich sollte nicht darüber reden, Miss Jessie. Entschuldigen Sie.«

»Aber nicht doch, Mr. Bump. Mein Bruder ist nie in Andersonville gewesen. Er wurde auch nie gefangen genommen und in ein Gefängnis geworfen.«

»Da hat er ja ein Riesenglück gehabt. Nun, dann ruft es in Ihnen ja keine schmerzlichen Gefühle hervor, über Andersonville zu reden. Miss Barton hat dafür gesorgt, dass die Jungs alle in anständigen Gräbern beerdigt wurden, wissen Sie, und den Ort zu einer nationalen Gedenkstätte erklären lassen. Sie selber hat bei der Trauerfeier das Sternenbanner gehisst.«

Fasziniert lauschte Jessie seiner Schilderung. »Sind Sie ihr je begegnet?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Mr. Bump lachte. »Aber Washington ist eine große Stadt voller Menschen, also könnte es gut möglich sein. Und Sie?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich bin noch nie weiter von zu Hause fort gewesen als bis nach Saratoga oder Albany. Ich habe mich nur gefragt… wie sie wohl aussieht, verstehen Sie?«

»Und was glauben Sie, wie sie aussieht?«

»Mein Bruder hat sie in ein, zwei Briefen erwähnt. Auch er nannte sie den Engel der Schlachtfelder. Oder glauben Sie, es hat noch mehr solcher Frauen gegeben?«

»Nein, Ma’am. Ich glaube, sie hat es ganz alleine getan.«

»Zumindest weiß ich, dass sie von eher zierlicher Statur ist. So hat Jacob sie uns beschrieben.«

»Bald werden Sie es mit eigenen Augen sehen. Wir fahren soeben in Washington City ein.« Die ländliche Weite um sie herum war erst bewirtschaftetem Farm- und Weideland gewichen und dann Wohnhäusern und anderen Gebäuden, die in immer dichteren Abständen zueinander standen, während sich der Wagen holpernd und schaukelnd über die zerfurchte Straße mühte, ab und zu eine Pfütze durchquerte und dabei nach allen Seiten Wasser spritzte.

»Bald …«, wiederholte Jessie. Bald würde sie der berühmten Clara Barton begegnen. Vielleicht hatte sie sogar schon etwas über Jacob Snow, Sergeant im 77sten New Yorker Freiwilligen-Infanterieregiment, in Erfahrung gebracht? Der Gedanke, dicht vor dem Ziel ihrer Reise zu stehen, ließ ihr das Herz in der Brust pochen. Sie strich sich so gut als möglich das Haar glatt und setzte ihre Haube wieder auf.

Die Straße wurde ein wenig ebener und war breit genug, dass zwei Wagen einander passieren konnten, und es waren hier jede Menge aller möglichen Kutschen und Karren und anderer von Pferden oder Eseln gezogener Transportfahrzeuge unterwegs. Gentlemen ritten auf ihren Pferden entlang und zogen die Hüte vor den Damen. Auf beiden Seiten des Fahrdamms bewegte sich ein nie endender Fußgängerstrom. So viele Menschen! Es ging hier zu wie in Mechanicville an einem Festtag. Jessie schaute abwechselnd nach links und nach rechts und versuchte, alles in sich aufzunehmen. Wie elegant die Leute gekleidet waren, was für hübsche, mit Federn und Blumen verzierte Hauben die Frauen trugen. Und dann entfuhr ihr ein Ausruf des Entzückens, denn gar nicht sehr weit entfernt ragten große Paläste in den Himmel. Aber natürlich waren dies keine fürstlichen Schlösser; Amerika hatte keine Könige.

»Ist das das Capitol?«, erkundigte sie sich bei Mr. Bump.

»Das große Haus mit der Kuppel? Ja, das ist es. Man hat es auf einem Hügel erbaut, damit es meilenweit zu sehen ist. Und wenn Sie ganz genau hinschauen, können Sie dann das große dunkle Ziegelgebäude ein Stückchen weiter links erkennen? Das ist das Smithsonian-Institut. Dahinter befindet sich ein prächtiger Garten, und es heißt, wenn man sich dort nachmittags hinsetzt, könne man all die bedeutenden öffentlichen Gebäude wie in einem Halbkreis um sich versammelt sehen.«

Jessie reckte den Hals; am liebsten wäre sie von ihrem Sitz aufgestanden. Und sie hatte das Crosby-Opernhaus in ihrer Heimatstadt, von dessen Türmchen Wimpel wehten, schon für einen Prachtbau gehalten! Aber im Vergleich dazu war es geradezu kümmerlich. »Meine Güte«, sagte sie. »Ob ich mich hier je zurechtfinden werde?«

»Ach, so riesig ist die Stadt gar nicht, sobald Sie sich erst einmal daran gewöhnt haben, Missie. Es ist ein Ort wie alle anderen auch, wissen Sie – mit Häusern und Gasthöfen und Büros und Theatern, in denen die Menschen leben und arbeiten und ihre Kinder aufziehen. Und was Klatsch und Tratsch betrifft, geht es hier eher wie in einer Kleinstadt zu. Sie werden sich in Washington schon bald sehr gut auskennen, da bin ich mir sicher.«

»Wird man mir Auskunft geben können, wenn ich nach Miss Barton frage?«

»Bestimmt. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Miss Jessie, ich fahre Sie bis zur bewussten Straßenecke. Dort sehen Sie dann gleich das Schild der Suchstelle für vermisste Armeeangehörige, brauchen nur ein paar Stufen hinaufzugehen und sind schon da.«

»Ach, vielen Dank, Mr. Bump, das ist eine Erleichterung.«

Nun konnte sie aufhören, sich zu sorgen, und sich in aller Ruhe umschauen. Sie hatte es wirklich den ganzen Weg bis hierher nach Washington City geschafft. Sie war zwar zu Tode erschöpft, aber in sicheren Händen. Und bald würde sie tatsächlich Clara Barton gegenüberstehen, und die Suche nach Jacob konnte endlich richtig beginnen!

2

Clara Barton seufzte und legte den Brief hin, den sie sich immer näher ans Gesicht gehalten hatte, bis die Schrift vor ihren Augen verschwommen war. Oh je, dachte sie, mir können doch nicht schon jetzt die Augen versagen. Es gab noch so viele Briefe, die sie lesen – und beantworten – musste. Vier Körbe voller Briefe standen vor ihr auf dem Schreibtisch, auch neben ihrem rechten Ellbogen hatte sie Stapel, und weitere Schriftstücke lagen kreuz und quer herum. Es war ein geräumiges Zimmer, trotzdem wurde es eng darin mit den drei großen Tischen und einem halben Dutzend Stühlen, ganz zu schweigen von dem alten Sofa mit dem an manchen Stellen schon fast durchgescheuerten Samtbezug. Es gab ein Stickgestell, auf dem Thomas sein lahmes Bein ausruhen konnte, ein Beistelltischchen mit einem Teeservice für sie neben dem Kamin und stapelweise Bücher und Regierungspapiere – diese wurden auf dem Fußboden aufbewahrt, weil sonst nirgendwo mehr Platz war. An den Kleiderhaken neben der Tür hingen Mäntel und Schirme. Ein unvorbereiteter Besucher hätte es für ein heilloses Durcheinander gehalten, doch Clara wusste ganz genau, wo jedes einzelne Schriftstück und jeder einzelne Brief lagen, wenn sie sie benötigte. Etwas unaufgeräumt, aber gemütlich, dachte sie. Sogar anheimelnd. Allerdings ziemlich düster. Sie rieb sich die Augen und blinzelte ein paarmal rasch hintereinander, als könnte sie durch schiere Willensanstrengung alles gleich ein wenig besser erkennen.

»Ich sag’s Ihnen doch immer. Es ist töricht, bei so schlechtem Licht zu lesen. Bald werden Sie eine Brille brauchen, und wie wollen Sie dann mit Ihrem bezaubernden Augenaufschlag die Senatoren herumkriegen?«

Die Stimme, die von einem Tisch in der hintersten Ecke beim Fenster kam, gehörte einem hoch gewachsenen, etwas zu dürren Mann mit einer dichten, unbändigen Haarmähne und einem langen, an Abraham Lincoln erinnernden Kinn, obwohl er Mitte zwanzig war. Er lächelte ihr zu.

»Sie sollten sich gegenüber älteren Herrschaften zurückhalten, junger Mann«, ermahnte sie ihn, musste aber ebenfalls lächeln.

»Ältere Herrschaften? Dass ich nicht lache! Sie sind weitaus jünger als die meisten Menschen meines Alters!«

»Jünger, sagen Sie? Man könnte es fast glauben, schließlich wachen Sie über mich ja wie eine Glucke. Sie sollten lieber zum Tanz ins Gemeindehaus gehen und sich ein nettes Mädchen anlachen. Sie werden auch nicht jünger, Thomas.«

»Das ist also der Dank dafür, dass ich Ihnen ein Kompliment mache! Aber ich bin keine Glucke. Sie sind es, die nicht auf ihre Gesundheit achtet, und dabei zählen so viele Ehefrauen und Liebchen und Mütter mit gebrochenem Herzen auf Sie und darauf, dass Sie für sie Detektiv spielen.«

»Wenn Sie so besorgt um meine Gesundheit sind, warum gehen Sie dann nicht zurück auf die Universität und beenden das vierte Semester Ihres Medizinstudiums?«

»Das ist ein unangenehmes Thema… wie Sie wohl wissen dürften.« Er beugte sich wieder über die Papiere vor sich und fügte in möglichst beiläufigem. Ton hinzu: »Man sagt, Präsident Lincoln verdanke seine verminderte Sehschärfe dem Lesen im Halbdunkel. Und Kurzsichtigkeit ist keine aufreizende Tugend bei einer Frau, Miss Barton.« Er warf ihr ein Lächeln zu, damit sie merkte, dass er nur gescherzt hatte.

Clara Barton nickte und machte sich scheinbar wieder über ihre Arbeit her, doch in Wirklichkeit beobachtete sie heimlich ihren Assistenten. Thomas Lavery war ein gut aussehender junger Mann, bloß eben viel zu dünn; doch im Krieg gewöhnte man sich rasch an den Anblick junger Männer, die aussahen, als stünden sie kurz vor dem Verhungern. Und häufig genug sahen sie nicht nur so aus; sie waren dem Hungertod nahe! Gott allein wusste, wie solche Truppen überhaupt kämpften konnten; die Rationen waren meistens sehr knapp, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.

Die Kugel, die er sich in der Schlacht am Antietam eingefangen hatte, hatte einen Knochen seines Beins gestreift und ein paar Muskeln durchtrennt, so dass er ein wenig humpelte. Und dabei konnte er noch von Glück reden, dass er nicht schlimmer dran war, denn sonst hätten die Feldärzte ihm gleich das Bein amputiert, was oft die einzige Möglichkeit blieb, das Leben eines Mannes zu retten, versicherte man ihr. Sie glaubte nicht so recht daran, aber da sie keine medizinische Ausbildung vorweisen konnte, hörte man nicht auf ihre unbedeutenden weiblichen Bedenken. Sie wusste, dass der arme Tom oft unter Schmerzen litt; trotzdem unternahm er lange Spaziergänge, auf denen er sich zwang, schneller und immer schneller voranzuschreiten, und er verbrachte viele Stunden damit, Holz zu hacken – um seine Muskeln in Schuss zu halten, wie er behauptete. Er war recht kräftig, aber nur deswegen verausgabte er sich wohl kaum so gerne mit hirnloser Körperertüchtigung.

Sie wusste, dass ihn das Gefühl plagte, seine Pflicht versäumt zu haben, indem er sich hatte anschießen lassen und dann nach Hause geschickt worden war. »Und das gleich zu Beginn des Krieges!«, hatte er mehr als einmal geklagt. Sie fand es ein bisschen übertrieben, nur bei sich selbst die Schuld zu suchen, und ihrer Meinung nach verkehrte er damit auch die Tatsachen, aber das ließ sich nun eben nicht ändern. Dennoch konnte dies nicht der einzige Grund für seine offensichtliche Unzufriedenheit sein. Es musste noch etwas anderes geben, was ihm zu schaffen machte.

Anstatt mit anderen jungen Leuten Lokale und Tanzveranstaltungen zu besuchen, schob er oft Überstunden im Büro und arbeitete oft, bis ihm die Augen zufielen. Aber Clara hatte Tom und seinen trockenen Witz ziemlich ins Herz geschlossen. Sie wusste, dass die Mädchen ihn attraktiv fanden; so manches Augenpaar hatte sie schon scheu in seine Richtung blicken sehen, doch falls er das überhaupt bemerkte, achtete er gar nicht weiter darauf. Das konnte doch nicht normal sein! Er lief Gefahr, ein mürrischer alter Junggeselle zu werden. Und wie steht es mit dir selber, Clarissa?, fragte sie sich innerlich. Was ist mit all den Heiratsanträgen, von denen du nichts hattest wissen wollen? Mit all der Aufmerksamkeit, die du verschmäht hast? Zweiundvierzig Jahre alt, kein Mann, keine Kinder, und immer noch von plötzlichen Schüchternheitsanwandlungen geplagt.

Thomas stand auf und streckte sich. »Besorgen wir uns eine Kleinigkeit zum Abendessen«, schlug er vor. »Sie haben seit Mittag keinen Bissen mehr zu sich genommen. Ich gehe runter und hole uns etwas guten Käse und Brot und einen Krug Ale aus dem Wirtshaus.«

»Sehen Sie? Die Glucke.«

»Unsinn. Ich habe Hunger. Sie etwa nicht? Selbstverständlich sind Sie hungrig. Warum waschen Sie sich nicht das Gesicht und die Hände? Sie haben überall Tintenflecken, wenn mir die Bemerkung gestattet ist… Ich räume eine Ecke dieses Tisches frei, und dann genehmigen wir uns gleich ein kleines Festmahl.«

Beide sahen auf, als sie müde Schritte sich die Treppe hinaufschleppen hörten, und lauschten, ob dieser späte Besucher vielleicht woanders hinwollte, aber nein, die Schritte kamen immer näher, hielten inne, und dann klopfte es auch schon an der Tür. Sie tauschten rasche Blicke miteinander aus. Eigentlich wollten sie doch gerade für heute Schluss machen, und wer auch immer vor der Tür stand, hatte bestimmt ein Anliegen, das etliche Zeit in Anspruch nehmen würde.

»Ich könnte denjenigen auf morgen vertrösten«, flüsterte Thomas.

Clara zögerte; beinahe war sie versucht, seinem Rat zu folgen. Sie hatte vergangene Nacht schlecht geschlafen, war mehrfach aufgewacht und hatte sich nicht mehr an die Träume erinnern können, die sie aus ihrem Schlummer gerissen hatten. Andererseits tat jeder, der dieses Büro aufsuchte, es aus Verzweiflung, und die meisten hatten wirklich interessante Geschichten zu erzählen. Wie konnten sie da einfach jemanden abweisen?

»Nein, nein«, sagte sie, streckte ihr Kreuz durch und lächelte. »Auf keinen Fall. Wollen wir doch mal sehen, was das Schicksal heute Abend noch für uns bereithält.«

Thomas gab ihr ein Zeichen, Platz zu behalten – sie sah wirklich reichlich übermüdet aus, fand er –, riss die Tür auf… und konnte es zunächst nicht glauben, denn vor ihm stand eine kleine, zierliche Person mit milchweißer Haut und einem rotblonden Zopf, der unter der Haube hervorschaute, die ihr Gesicht umschloss. Sie trug eine Reisetasche bei sich – offenbar eine ziemlich schwere. Die Schatten unter ihren Augen sahen aus wie rußige Fingerabdrücke, doch ihre Augen selbst waren groß und bildschön und von einem klaren Grün. Und sie sahen ihn unverwandt an – weise und wissend, blickten geradewegs in seine Seele, wie es ihm vorkam.

Sie schwankte ein wenig, woraus er schloss, dass sie sehr erschöpft sein musste. Er schob ihr seine Hand unter den Arm, um sie zu stützen, und verfluchte die Röte, die ihm ins Gesicht stieg, als sie zu ihm aufschaute und ihm ein dankbares Lächeln schenkte. Mach dich nicht lächerlich, schimpfte er mit sich selbst. Du benimmst dich ja wie ein dummer Junge. Er hatte wohl doch zu lange auf weibliche Nähe verzichtet.

»Ich habe gar nicht gewusst«, begann die Fremde ziemlich unvermittelt, »dass Reisen so anstrengend sein kann. Die meiste Zeit sitzt man nur herum, aber ich bin so entkräftet, als hätte ich stundenlang Holz gehackt.« Sie machte eine Pause, holte tief Luft und fuhr dann fort: »Es ist ein weiter Weg vom nördlichen New York State. Und ich habe ein gutes Stück zu Fuß zurückgelegt.«

Bei diesen Worten horchte Clara auf. »Ganz von New York? Zu Fuß? Mein armes Kind, Sie müssen ja völlig am Ende sein. Haben Sie unterwegs überhaupt geschlafen? Etwas gegessen? Nein? Wusste ich’s doch.« Das Mädchen hatte keine Silbe von sich gegeben, also beantwortete Clara ihre Fragen gleich selbst. So war sie eben, dachte Thomas. Oft kam es ihm vor, als könne sie Gedanken lesen.

»Also, Thomas, lassen Sie die Lady nicht in der Tür stehen. Führen Sie sie zum Sessel. Wir sind hier nicht sehr komfortabel eingerichtet, aber ein oder zwei Kissen treiben wir schon noch auf. Sie sehen aus, als könnten Sie etwas für Ihr leibliches Wohl vertragen, meine Gute. Und da haben Sie ja richtig Glück gehabt, denn Tom wollte uns gerade etwas zum Abendbrot holen. Sie bleiben doch und essen einen Happen mit uns, oder? Und wenn Sie dann was im Magen haben, erzählen Sie uns, welche Mission Sie zu uns führt.«

»Sind Sie Miss Barton? Miss Clara Barton?«

»Höchstpersönlich, wie es auch schon unten an der Tür steht.« Sie schenkte dem Mädchen ein wohlwollendes Lächeln. »Und Sie sind –?«

»Oh, Verzeihung. Ich bin Jessie Snow aus Mechanicville. Meine Eltern sind Seth und Hattie Snow… vielmehr sie waren es.« Ihr Kinn zitterte ein wenig.

»Ach, das tut mir leid. Ihre beiden Eltern sind tot? Mein armes Kind, so ein Unglück!«

»Es ist erst einen Monat her, dass meine Mutter… sie war lange krank, und wir konnten ihr nicht helfen, obwohl sie selber Hebamme und Heilerin war – eine der besten. Aber sie sagte mir, nicht einmal sie hätte eine Medizin gegen das, was sie befallen hatte – eine Art Schwindsucht… verzeihen Sie bitte …« Aus den großen grünen Augen quollen die Tränen.

Thomas suchte in seinen Taschen nach einem Tuch, aber Miss Barton, stets die barmherzige Samariterin, war bereits aufgesprungen und hatte dem Mädchen mit ihrem eigenen Leinentaschentuch ausgeholfen. »Sie brauchen sich für nichts zu entschuldigen. Es ist immer hart, einen geliebten Menschen zu verlieren, und in diesem langen Krieg haben wir alle es schon viel zu oft erleben müssen.«

Das Mädchen erwiderte ihr Lächeln aus tränenfeuchten Augen. »Sie haben nach meiner Mission gefragt. Woher wussten Sie, dass ich eine Mission habe?«

»Jeder, der herkommt, hat eine Mission zu erfüllen, nämlich, einen verschollenen Soldaten zu suchen«, sagte Clara. »Dafür sind wir ja schließlich die Suchstelle für vermisste Armeeangehörige. Und deswegen haben auch Sie den weiten Weg zu uns auf sich genommen, nicht wahr?«

»Ja, natürlich. Ich möchte meinen Bruder Jake finden… vielmehr Jacob, wie sein richtiger Name lautet.«

Mehr oder weniger unbemerkt von den beiden Frauen zog Thomas sich diskret zurück. Er wäre gerne dabeigeblieben, um sich Jessie Snows Geschichte anzuhören, aber er war wirklich fast am Verhungern. Und ihn machte das unerwartete Interesse nervös, das dieses Mädchen in ihm ausgelöst hatte. Er hatte geglaubt, sich gegen solche Gefühlsanwandlungen gewappnet zu haben. Wie töricht, sich dermaßen aus der Fassung bringen zu lassen, wo er doch genau wusste, dass sie noch im Büro sein würde, wenn er zurückkam – und dass sie sogar mit ihnen zu Abend essen würde.

Verärgert über sich selbst schüttelte er den Kopf, als er die Treppe hinunterging. Wenn er nicht besser auf sich achtgab, wäre seine Vorsicht für die Katz, und er würde aller Welt seinen schwachen Punkt offenbaren. Und das sollte nicht noch einmal, nie wieder passieren, hatte er sich geschworen.

Clara lauschte den sich entfernenden Schritten. Thomas’ Humpeln hatte sich während der letzten Wochen ein wenig gegeben. Auch jetzt hörte sie es deutlich an dem veränderten Rhythmus seiner Schritte auf den Stufen. Es war gut, dass es mit dem Bein des Jungen besser wurde. Und was seinen anderen wunden Punkt betraf… nun, zunächst musste sie sich um Miss Jessie Snow kümmern. Eine bemerkenswerte junge Frau. So jung sie noch wirkte und so erschöpft sie sein musste, sie war doch, ohne zu zögern, eingetreten und hatte ihr Anliegen vorgebracht, ohne dabei peinlich berührt oder verlegen den Blick gesenkt zu halten. Auch ihr plötzlicher Tränenausbruch wirkte ehrlich und ungekünstelt. An ihr war keinerlei Dünkel, nichts von der Gefallsucht, der Koketterie, die junge Mädchen häufig zur Schau stellen zu müssen meinten. Und sie hatte die Hunderte von Meilen ganz alleine zurückgelegt. Ja, eine wirklich bemerkenswerte junge Dame, die ein paar zusätzliche Minuten am Ende eines langen Tages durchaus wert war. Clara gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie mit ihrer Geschichte fortfahren solle.

Jessie holte tief Luft. »Ich habe all seine Briefe dabei. Der letzte ist am 21. November 1864 datiert und in einem Spital hier in Washington geschrieben worden – seit Ende 1864 hat mir niemand sagen können, ob er noch lebt oder irgendwo sein Grab gefunden hat. Nun haben wir Frühjahr 1866.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, aber sie ließ sich davon nicht beirren. »Jake würde mir geschrieben haben, wenn er gekonnt hätte… das Schreiben war seine ganze Leidenschaft. Er wollte nach dem Krieg ein Buch darüber veröffentlichen, und ich bin mir sicher, dass er das auch noch tun wird. Er hat viele Geschichten zu Papier gebracht; einige davon waren richtig gut, Miss Barton. Das fand selbst unser Lehrer.« Sie machte eine kurze Pause. »Diejenigen Kameraden, die nach Hause zurückgekehrt sind, sagten, dass er eines Tages auf dem Rückzug von Chancellorsville – hieß der Ort so? – plötzlich verschwunden wäre und sie ihn nie wiedergesehen hätten. Da muss ihm etwas zugestoßen sein. Er würde sich nicht einfach von seinen Pflichten entfernen. Zweimal ist er befördert worden, bis zum Sergeant. Und er hat als Fahnenträger gedient!«

»Eine große Ehre, die Fahne tragen zu dürfen.« Das grenzenlose Vertrauen des Mädchens in ihren Bruder war gleichzeitig typisch und doch anrührend, aber sie war noch zu jung und unerfahren, um zu wissen, wie Männer sich in Zeiten des Krieges oft veränderten. Wenn jeder Tag, jede Stunde, den Tod bringen konnte, mochten sie mit einem Mal alt und weise und zynisch werden – und, ja, selbst zum Verrat bereit.

»Ehre war ihm in die Wiege gelegt, Miss Barton. Er war so stolz darauf, seinem Land und seinem Präsidenten zu dienen. Er hat Mr. Lincoln so sehr bewundert wie wir alle. Ursprünglich war der Fahnenträger Sergeant Anthony Bemis. Da das Bataillon sich Bemis-Heights-Bataillon nannte, war es ja auch nur naheliegend, dass ein Bemis… aber ihn traf eine Kugel, und so hat Jake die Fahne aufgenommen.« Noch einmal holte sie tief Luft. »Das Schreckliche ist… die Ungewissheit.« Der Ton des Mädchens wurde bestimmter. »Ich kann diese Ungewissheit nicht länger ertragen. Wenn man nichts Genaues weiß, nimmt das Trauern nie ein Ende.«

»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Clara ihr bei. Das Mädchen mochte ein wenig blauäugig sein, was ihren Bruder betraf, aber dumm war diese junge Miss Snow nicht. »Das hat Sie alles sicher sehr angestrengt. Waschen Sie sich zunächst einmal, Miss Snow. Danach werden Sie sich bestimmt gleich viel besser fühlen.« Sie wies auf eine Schüssel und einen Wasserkrug, neben denen ordentlich zusammengefaltet ein fast sauberes Handtuch lag. Wie eine Schlafwandlerin trat das Mädchen gehorsam an den Waschtisch heran. »Selbstverständlich machen Sie sich Sorgen um Ihren Bruder, Miss Snow, doch Sie dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen, ehe wir nicht sämtliche Möglichkeiten erkundet haben. Viele Vermisste sind gar nicht tot, sondern nur schwer verwundet worden und haben Aufnahme bei hilfsbereiten Menschen gefunden… und sind dann einfach dort hängengeblieben. In gewisser Weise vergessen diese Männer ihr früheres Leben.«

»Aber das würde Jake nie wollen! Er wäre gar nicht dazu fähig! Das können Sie nicht begreifen – aber ich habe es Ihnen ja noch nicht gesagt, wie also sollten Sie es verstehen? Jake ist mein Zwillingsbruder, und ich kenne ihn besser, als unsere Mutter ihn gekannt hat! Das hat sie selber immer zugegeben. Und er ist für mich nun der wichtigste Mensch auf der Welt, weil unsere Eltern beide gestorben und wir als Einzige übriggeblieben sind. Nur wir beide!«

»Ach? Keine Vettern oder Cousinen, keine fürsorglichen Großeltern?«

»Keine.« Dies kam für Clara unerwartet. »Kein anderer Verwandter. Es gab immer nur uns vier – Mutter und Papa und Jake und mich.« Jessie sah sie an, das feuchte Handtuch immer noch an ihre Wange gepresst. »Das war das Sonderbare an unserer Familie.«

»Rätselhaft, allerdings. Das ist sehr ungewöhnlich.« Es war nicht nur ungewöhnlich; es war vielmehr fast unmöglich. Soweit sie wusste, gab es niemanden auf der Welt, der gar keine weiteren Verwandten hatte. Manchmal mochte der nächste Angehörige ein über zwei Ecken entfernt verwandter Vetter sein, aber es gab immer irgendeinen Blutsverwandten. Alle Menschen gehörten zu einer Art Familie, sei es eine Sippschaft oder ein Klan oder ein Geschlecht oder – ja, auch eine Armee. Das Sonderbare an unserer Familie hatte das Mädchen es genannt. Clara schloss daraus, dass man sich auf die eine oder andere Weise entfremdet hatte, dass verletzter Stolz die Betroffenen hinderte, den Zwist beizulegen. Bestimmt kein düsteres Geheimnis; wohl eher eine bittere Entzweiung.

Jessie legte das Handtuch sorgfältig zusammen. »Ich sollte nicht so viel reden«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Bei mir wird ständig aus einer Mücke ein Elefant, das sagte Mutter auch immer –« Wieder unterbrach sie sich, machte eine große Geste daraus, mit dem feuchten Tuch über ihr Gesicht zu streichen, sich die Wangen damit abzureiben. »Verzeihen Sie mir, Miss Barton. Ich muss Ihnen ja wie eine Heulsuse vorkommen. Aber ich war nicht immer so weinerlich veranlagt.«

»Sie brauchen mir kein Wort weiter zu erzählen. Sie brauchen gar nichts zu sagen. In ein paar Minuten wird Thomas mit etwas zu unserer Stärkung zurück sein. Sobald Sie erst ein Abendbrot zu sich genommen haben, werden Sie sich gleich erfrischt fühlen. Und vergessen Sie bitte nicht, dass wir hier in diesem Büro eine Menge Erfahrung darin besitzen, alle möglichen sonderbaren Geheimnisse zu lösen. Wir sollten zunächst einmal versuchen, den derzeitigen Aufenthaltsort Ihres Bruders in Erfahrung zu bringen.«

Clara bemühte sich, mit gleichmäßiger, beruhigender Stimme zu sprechen. Am besten besann man sich auf die eigentliche Aufgabe der Suchstelle, das Auffinden vermisster Soldaten. Von Kriegsgräbern sollte vorerst überhaupt keine Rede sein, auch nicht von Männern mit hohlen Augen, die wie verlorene Seelen ruhelos umherstreiften, oder dergleichen. Miss Snow war ein tapferes Mädchen, aber im Moment stand sie am Rande des Zusammenbruchs, und das wunderte einen ja auch nicht. Sie war so jung und bereits mutterseelenallein – noch dazu hatte sie sich geradewegs auf eine wenig hoffnungsvolle Suche begeben. Doch schon bald würden sie mehr über den Verbleib dieses Jacob Snow herausbekommen. Sie und Thomas hatten bereits so viele vermisste Männer gefunden – zu viele davon leider in den Massengräbern des Gefängnisses von Andersonville.

»Ich habe alle seine Briefe mitgebracht.« Jessie ging zu ihrer Reisetasche, suchte darin und förderte ein dickes, mit einer Schleife zusammengehaltenes Bündel zutage. »Ich habe mir das so vorgestellt, dass ich seinen Weg verfolge, die Orte, aus denen er geschrieben hat, und –«

In diesem Augenblick trat Thomas zur Tür herein, einen Krug mit Ale in der einen Hand und einen Korb in dem anderen Arm. Dem Korb entströmte der leckere Duft frisch gebackenen Brotes.

»Ich habe Brot und Käse und gebratenes Huhn.« Mit einem Schwung stellte er seine Last auf dem freigeräumten Tisch ab, wobei er Jessie einen verstohlenen Seitenblick zuwarf. Er ist ja ziemlich von ihr angetan, dachte Clara. Das überraschte sie ein wenig. Schon so manche Frau hatte diese Stufen betreten – es waren meistens die Ehefrauen vermisster Männer, die dieses Büro aufsuchten –, und nie zuvor hatte Thomas auch nur einen Blick für sie übriggehabt.

Natürlich bot dieses Mädchen trotz ihrer Erschöpfung einen hübschen Anblick. Unter ihren Augen mochten Schatten sein, aber dennoch lag ein Leuchten darin. Und obwohl sie so jung war, wusste sie sich durchzusetzen; das konnte Clara deutlich spüren. Nichts und niemand würde diese Miss Jessie Snow beirren können. Sie benahm sich genau so, wie die junge Clarissa Harlowe Barton hatte werden wollen, doch hatte ihr ihre lähmende Schüchternheit leider immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht, eine unüberwindbare Mauer um sie herum gezogen. Obwohl sie schon lange kein junges Mädchen mehr war und von so vielen Menschen bewundert wurde, gab es manchmal Augenblicke, ganze Tage, Wochen sogar, während derer sie sich mit pochendem Herzen aus Angst vor irgendwelchen Dämonen in ihrem Zimmer verkroch. Dann brauchte sie manchmal eine halbe Stunde, um den Mut aufzubringen, auf die Straße hinauszutreten. Die wenigsten wussten davon, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es auch nie jemand erfahren. Dies war einer der Gründe für sie gewesen, nicht zu heiraten. Dies war das Kreuz, das sie zu tragen hatte, und sie wollte es alleine tragen – ohne bemitleidet zu werden oder Verständnislosigkeit zu erregen. Es war ihr heute noch ein Rätsel, wie sie ihre Furcht und ihre Hemmungen überwunden hatte, um sich geradewegs in den Schmutz und die Scheußlichkeiten der Schlachtfelder und Lazarette zu begeben … aber sie konnte es einfach nicht ertragen, die Schreie von Männern zu hören, die man wie Hunde sterben ließ, ohne wenigstens den Versuch zu unternehmen, ihnen zu helfen. Und irgendwie war es ihr dann gelungen, Taten zu vollbringen, die sie sich nie zuvor zugetraut hatte – und das alles ohne eine Spur von Angst.

Das war also die berühmte Clara Barton. Sie und der Engel der Schlachtfelder waren ganz ähnlich gebaut, dachte Jessie – zierlich und mit einem etwas zu kleinen Busen. Und sie mochte es, wie Miss Barton eben nicht viele Worte und viel Aufhebens um sie machte, sondern in ihrer wohlmeinenden, aber bestimmten Art gleich auf den Punkt kam. Darin ähnelte sie sehr ihrer Mutter. Doch immer, wenn sie an ihre Mutter dachte, wurde Jessie mit einem Mal sehr traurig zumute. Als es mit ihr aufs Ende zuging, hatte Hattie Snow nur noch so dünn wie ein Blatt Pergament unter ihrer Bettdecke gelegen, dahingeschwunden zu einer blassen Erinnerung an den Menschen, der sie einmal gewesen war.

Zuletzt hatte sie nicht einmal mehr die Augen geöffnet, obwohl sie wusste, wen sie vor sich hatte, und sich auch noch genug an ihren Sohn Jacob erinnerte, um Fragen nach ihm zu stellen, etwa ob schon wieder ein Brief von ihm gekommen sei und wo er denn wäre. Jessie hatte ihre Mutter immerzu anlügen müssen, hatte sich eine ganze Korrespondenz zusammengesponnen und ihrer Mutter erzählt, Jacob befände sich mit seinen Kameraden zurück auf dem Weg nach Hause. Sie las ihr, gerade so, als hätte Jake es in einem seiner eigenen Briefe beschrieben, von der großen Parade in Washington City nach der Kapitulation von General Lee vor, wie das 77ste Freiwilligen-Infanterieregiment stolz mit wehender Flagge zwischen den anderen marschierte, doch in Wirklichkeit entnahm sie das alles der Zeitung und änderte nur hier und dort einen Ausdruck, damit es sich mehr nach den Worten ihres Bruders anhörte. Nie hätte sie ihrer Mutter sagen können, was die heimgekehrten Soldaten über Jake berichteten. Sie drückten es schonend aus, sprachen davon, er wäre ›verschwunden‹, aber Jessie wusste genau, was sie damit meinten, denn sie sahen ihr dabei nicht in die Augen. Sie hielten ihn für einen Deserteur. Und dann war im Postamt die Namensliste mit dem gefürchteten Wort darüber ausgehängt worden. Sie wollte dafür sorgen, dass sein Name eines Tages von diesem Makel befreit würde, und wenn sie ihr ganzes Leben darauf verwenden musste!

Erst, als Miss Bartons Assistent mit einem Krug und einem Korb beladen zurückkam, merkte sie, wie hungrig sie war. Sie wollte sich aus ihrem Sessel erheben, um ihm zu helfen, aber er gab ihr zu verstehen, sie solle sitzen bleiben – und errötete dabei. Er schien überhaupt leicht zu erröten, wie ein Mädchen. Aber auch Jacob war oft rot geworden, so, wie jeder hellhäutige Mensch sich damit abfinden musste, dass einem seine Gefühle im Gesicht abzulesen waren, ob man es nun wollte oder nicht. Doch was für eine sonderbare Reaktion war das seitens eines Wildfremden? Sie konnte ihn ja wohl kaum in Verlegenheit gebracht haben.

»Sie sollten sich mit ein wenig Brot und Bier stärken, Miss. Sie sehen mir ein wenig angeschlagen aus.« Er mied dabei nach Möglichkeit ihren Blick, und da durchfuhr es sie mit einem Mal, dass sie ihm gefiel. Sie – mit ihren staubbedeckten Kleidern und ihrem zerzausten Haar! Was für eine Albernheit! Doch dann fühlte sie die Hitze in ihren eigenen Wangen aufsteigen, der Fluch aller Rothaarigen. Verdammnis! So hatte ihr Vater immer geflucht, wenn ihm etwas gegen den Strich gegangen war.

Sie griff nach dem Brot und brach sich ein großes Stück ab. Sie war froh, sich irgendwie beschäftigen zu können. Miss Barton zog sich ihren Schreibtischstuhl an den Tisch heran und bereitete sich ebenfalls darauf vor, ihr Abendessen einzunehmen. Sie aßen schweigend; der junge Assistent bedachte sie mit keinem weiteren Blick. Sie hätte ebenso gut auch gar nicht da sein können.

Um die Situation zu entspannen, fragte sie ihn: »Ich wüsste gerne, ob Ihnen der Name meines Bruders irgendwo untergekommen ist. Jacob Snow, Sergeant. Er war zum Sergeanten befördert worden, als er aus Gettysburg zurückkam.«

»Gettysburg… das war eine bedeutende Schlacht.«

»Jake ist verwundet worden. Am Bein.«

»Oh je«, kommentierte Miss Barton. »Und dann?«

»Und dann …« Wollten sie wirklich die komplette Geschichte hören? Es schien so, also erzählte sie sie ihnen. Er hatte sich mit dem Chirurgen angelegt, der ihm das Bein amputieren wollte – und hatte den Arzt überzeugt.

»Wie hat er das denn geschafft?« Thomas schien plötzlich ganz Ohr.