Die Patriarchin - Marcia Rose - E-Book

Die Patriarchin E-Book

Marcia Rose

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Beschreibung

"Du brauchst keinen Mann, der für dich sorgt." So lautet das Familienmotto der Frauen in Marcia Roses groß angelegter Saga "Die Patriarchin", der über vier Generationen und zwei Kontinente hinweg die Geschichte von vier großartigen Frauen erzählt. Leah ist Die Patriarchin des Clans. Ihre Liebe zum gesprochenen und geschriebenen Wort treibt sie in den zwanziger Jahren fort von der New Yorker Lower East Side, mitten hinein in das Leben der Boheme von Greenwich Village, eine Welt voller intellektueller und künstlerischen Ideen, Wein, Gelächter und Liebe. Voller Leidenschaft führt sie von dort aus ihre Kreuzzüge gegen Ungerechtigkeit und Armut – und muss sich entscheiden zwischen der Liebe zweier Männer. Ihre Tochter Jo zieht es fort aus New York: Im Zweiten Weltkrieg erlebt sie in London die verheerenden Bombardements der Deutschen Luftwaffe. Mit ihren ausdrucksstarken, kompromisslosen Fotografien aus dieser Zeit wird sie berühmt. Doch hinter der Kamera versagt die Ehrlichkeit ihrer Kunst: Ihre Ehe mit einem RAF-Offizier entpuppt sich als abscheuliche Maskerade, und Jo muss feststellen, dass sie ihr Leben lang vor sich selbst geflohen ist. Jos Tochter Sarah ist Sängerin. Die Unzufriedenheit und Unruhe, die ihr Leben erfüllen, betäubt sie im bunten Rampenlicht der Bühne und im rauschenden Applaus ihres Publikums. Lebenshungrig stürzt sie sich in die wilden Exzesse der sechziger Jahre, nur um zu entdecken, dass deren vorgebliche Freiheit ein Gefängnis ist – und dass ihre kleine Tochter Annie sie an all das erinnert, was sie verloren hat. Annie schließlich stand immer im Schatten ihrer schönen, rätselhaften Mutter. Auf der verzweifelten Suche nach Selbstbehauptung strebt sie eine Karriere als Comedy-Star an, um mit ihrem Humor und ihrer vorgeblichen guten Laune die Liebe und Zuneigung ihrer Mitmenschen zu gewinnen. Die kluge und liebenswerte junge Frau schmiedet eine ganz besondere Beziehung zur ihrer Urgroßmutter Leah – eine Beziehung, die sie alle durch turbulente Zeiten führen und über die Generationen hinweg vier einzigartige Frauen wieder zueinander bringen wird.

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Marcia Rose

Die Patriarchin

ins Deutsche übertragen von Almuth Carstens

Roman

Edel eBooks

PROLOG

18. Juni 1990

Noch vor zehn Minuten hatte der Himmel über der Willow Street das tiefe Blauschwarz der Nacht aufgewiesen, mit einem ganz schwachen Anflug von dunstigem Weiß am Horizont. Jetzt plötzlich war er ein fahles, nahezu farbloses Gewölbe, das sich über die Welt spannte. Wie das Innere einer Eierschale, dachte Leah Lazarus, auf die Fensterbank gestützt, die Arme auf einem Kissen. Neuerdings waren ihre Ellbogen immer steif. Arthritis. Bursitis. Irgendein Zipperlein, um sie daran zu erinnern, dass sie mit sechsundneunzig zwar noch leben mochte, zur Hochnäsigkeit aber kein Grund bestand.

Sie atmete die süße Juniluft ein; der herrliche Duft stammte von dem Baum, der vor ihrem Haus stand. Jedes Jahr im Frühling verströmte er ihn. Komisch, sie wohnte jetzt seit fast fünfzig Jahren hier und wusste den Namen des Baums immer noch nicht.

Sie sollte sich wohl anziehen; Annie hatte verkündet, sie werde sie früh abholen. Und sie brauchte zurzeit weiß Gott ziemlich lang, um sich anzuziehen! Annie hatte für heute etwas Besonderes geplant – ein Geburtstagsgeschenk, hatte sie gesagt, und Leah solle sich bemühen, nicht zu spät dran zu sein.

Doch die Morgendämmerung war ihre Lieblingszeit, jene magische Stunde, wenn es nicht mehr Nacht, aber auch noch nicht Tag war... wenn die Schatten von Purpur zu Blassblau wechselten und selbst die Luft erwartungsvoll verstummte. Sie war seit drei Uhr auf – es geschah in letzter Zeit immer öfter, dass ihre Augen mitten in der Nacht aufflogen und sie, meist mit einer Erinnerung an etwas längst Vergangenes, hellwach war. Nun, das durfte sie nicht überraschen; sie war in ihr Buch vertieft... nicht Memoiren, das war ein zu hochgestochenes Wort. Es war ein Buch der Erinnerungen. Sie wurde heute sechsundneunzig, und sie erinnerte sich an alles, auch an die schlechten Zeiten. Oh, ja, es hatte eine Menge schlechter Zeiten gegeben.

Wie es war, so nannte sie es, obgleich ihr Agent betrübt den Kopf schüttelte und sagte, er wisse nicht, wer ein Buch mit diesem Titel aussuchen würde. Wenn der Verleger darauf bestand, dass sie ihn änderte, nun, dann würde sie sehen. Bis dahin blieb Wie es war wie es war.

Draußen kam eine Gruppe Spaziergänger vorbei, die sich mit lautem Oh und Ah über die hübsche Straße, die altmodischen Häuser, die ehrwürdigen Bäume ausließen. Um diese Morgenstunde! Sie sollten sich schämen; noch besser, sie sollten im Bett sein und schlafen, statt die Straßen zu bevölkern und das ganze Viertel aufzuwecken.

Willow Street Nr. 202, ein kleines Holzhaus, hellgrau gestrichen, mit schwarzer Tür und schwarzen Fensterläden, wirkte neben seinen Nachbarn ein bisschen fehl am Platz, breiten und geräumigen rötlichbraunen Sandsteinhäusern, von reichen Geschäftsleuten für ihre Frauen und großen Familien erbaut. Es waren prachtvolle Gebäude, Zeugen des Wohlstands mit verschnörkelten schmiedeeisernen Geländern, kunstvoll gemeißelten Tür- und Fensterstürzen und Steinvasen, gefüllt mit Petunien und Portulak. Im Gegensatz dazu sah Nr. 202 wie dazwischengekritzelt aus, wie die Kinderzeichnung von einem Haus; die Eingangstür in der Mitte, je ein Fenster ohne Gardinen zu beiden Seiten und vier gleichmäßig verteilte Fenster im Obergeschoss. Der einzige Schmuck des Hauses bestand aus einem kleinen Steinengel, der bescheiden neben der Eingangstür kniete und, ehrlich gesagt, deplatziert wirkte. Aber egal, er hatte ideellen Wert.

In den Häusern gegenüber wurden Fensterläden aufgeklappt und Rollos hochgezogen. Als sie auf ihr Handgelenk blickte, konnte Leah die Ziffern auf der übergroßen Armbanduhr ausmachen, die die junge Annie ihr geschenkt hatte. O Gott, sieben schon? Zeit, dass sie in die Gänge kam.

Sie stemmte sich hoch und ging zu der großen Frisierkommode, wo sie eine der Lampen mit rosa Schirmchen anknipste. Sie hatte bereits geduscht und sich in einen Männermorgenmantel aus verblichenem Brokat gehüllt. Er wies inzwischen eine Art staubiges Rosé auf, obgleich er einst tiefbraun gewesen war. Sie hatte das Gefühl, wie die schwere Seide über ihre Haut glitt, immer geliebt; je älter der Stoff wurde, desto weicher wurde er. Manchmal dachte sie, aus den Falten steige ihr der Geruch von Pimentöl in die Nase, doch sie wusste, dass das Unsinn war. Der Mantel wurde seit Ewigkeiten nicht mehr von seinem ursprünglichen Besitzer getragen. Seit wann... dreißig Jahren? Sie hielt einen Moment inne, um nachzurechnen, und stellte schockiert fest, dass es eher fünfzig Jahre waren. Gott, so lange her!

Sie hatte den Morgenmantel für Jim gekauft. Sie griff an die Brusttasche und zog mit den Fingerspitzen die verschlungenen, eingestickten Initialen nach, die sie von einer Näherin in London hatte anfertigen lassen.

Sie erinnerte sich noch heute daran, wie schuldbewusst ihr Herz geklopft hatte, als Jim den Mantel aus der glänzenden Harrods-Schachtel nahm. Aber er hatte nie etwas von ihrer flüchtigen Londoner Affäre geahnt und sie hatte ihm nie von Emile erzählt. Mittlerweile war die Stickerei so verblasst, dass sie kaum mehr zu sehen war. Doch zu fühlen war sie noch. J.W.M., in kunstvoll verschnörkelter Schreibschrift. Auffällig wie Jim McCready selbst.

Big Jim McCready, stets überlebensgroß. Wieder verspürte sie den seltsamen kleinen Stich in der Brust. Jim war seit so vielen Jahren tot, Emile ebenfalls. Und Joe Lazarus. Annie Bernstein. Jeder Mensch aus ihrer Jugend. Ihr Leben gehörte allmählich grauer Vorzeit an.

Sie lockerte ihr feuchtes Haar mit den Fingern auf, ohne in den Spiegel zu gucken. Es war von Natur aus lockig, und sie trug es kurz, damit sie keine großen Umstände damit hatte. Gott, früher gingen ihr die Haare bis zum Po! Sie lachte, als sie sich daran erinnerte, wie lang es gedauert hatte, sie zu waschen; wie lang, bis sie trocken waren. Und dann musste man sie jeden Abend mit hundert Strichen bürsten, damit sie immer schön glänzten. In jenen Tagen zeigte sich die Schönheit einer Frau, möglicherweise ihre einzige, in ihrem Haar. Keine anständige Frau trug Rouge oder Puder; man musste mit dem Gesicht in die Welt hinausspazieren, das Gott einem gegeben hatte. Aber mit dem Haar durfte man etwas anstellen, es hochstecken, flechten, locken, zum Knoten zwirbeln.

Sie und Annie Bernstein hatten sich einmal pro Woche in der Badeanstalt in der Cherry Street gegenseitig die Haare gewaschen und waren dann mit Turbanen, wie Araber sie trugen, nach Hause gelaufen. Und während ihr Haar trocknete, redeten sie über ihre Träume und ihre Pläne. Sie waren ganz einfach Teenager. Doch in jenen Tagen war man mit sechzehn eine junge Dame, ein berufstätiges Mädchen, eine unabhängige Frau.

Den Gürtel lösend, ließ Leah den schweren Morgenmantel zu Boden gleiten, während sie in ihren Kleiderschrank schaute. Sie würde etwas Funkelnagelneues anziehen, beschloss sie. Die junge Annie war letzte Woche mit ihr zu Loehmann’s in Brooklyn gegangen, wo Leah mehrere Sachen nach dem neuesten Schrei gekauft hatte. Hosen waren wieder in Mode; sie war froh darüber. Wer konnte sich schon ständig Gedanken über die Rocklänge machen... bis übers Knie, bis zu den Oberschenkeln, bis zu den Fesseln! Sie holte die Seidenhose hervor und die bedruckte Seidentunika. Perfekt. Genau ihre Farben. Nachdem sie angezogen war, drehte sie sich in einem bedächtigen Foxtrott durchs Zimmer – ihre Knie waren auch nicht mehr die besten – und sang: »My funny valentine... Sweet comic valentine...« Mochte ihr in letzter Zeit auch nicht mehr jeder Name einfallen, so erinnerte sie sich doch noch an alle Liedtexte, die sie je gekannt hatte. Sie tanzte und sang, bis sie außer Atem war.

Darüber lachend, was für eine alte Närrin sie war, schaute sich Leah in ihrem Schlafzimmer um, einem Raum, der ihr so vertraut war, dass sie ihn nicht hätte beschreiben können. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs lebte sie hier. Eine lange Zeit. Was sagte ihr Zimmer über sie aus, fragte sie sich. Ein großes Bett, obgleich sie inzwischen allein schlief. Gegenüber ein Kamin, der nie richtig funktioniert hatte und dessen Marmorsims überquoll von Fotos, zum Teil Porträts, zum Teil Aufnahmen von Familien in heruntergekommenen Wohnungen, alle mit jenem starren Gesichtsausdruck, den die Leute früher hatten, als das Fotografieren noch nicht so schnell ging.

Der Raum war mit zu vielen Möbeln, zu vielen Bildern voll gestopft. Aber an jedem Gegenstand hing eine Erinnerung. Der Weinfleck auf der Chaiselongue von der Auseinandersetzung, bei der sie ein volles Glas nach Jim geworfen und nicht getroffen hatte. Der hölzerne Schaukelstuhl aus der Lower East Side – das einzige Überbleibsel von dort. Die Wände waren bedeckt mit Gemälden und Fotografien, Titelseiten alter Zeitschriften aus Village-Tagen, Theaterplakaten und Veranstaltungs-, Demonstrations- und Vortragsankündigungen.

Über dem Kamin, wo sie jeden Tag damit konfrontiert war, hing das große Ölbild einer nackten Frau, eines Mädchens eigentlich, das sich in einem riesigen thronartigen Sessel rekelte, schmollend unter dunklen Brauen hervorschaute, ein leicht provozierendes Lächeln auf den Lippen. Leah ging hin, berührte die Leinwand sacht mit den Fingerspitzen und erwiderte das Lächeln des jungen Modells. Jim hatte ihr das Bild gekauft und einem Eisenbahnmagnaten, der die Wände eines ganzen Zimmers mit nackten Frauen tapeziert hatte, viel zu viel Geld dafür gezahlt. »Jetzt wirst du dich ja wohl von Ärger fernhalten«, sagte er an dem Tag zu ihr, als das Bild in einer Holzkiste geliefert wurde. Während sie ihn fest umarmte, antwortete sie: »Nun, ich verspreche zumindest, dass ich vor einem Mann mit einem Malerpinsel in der Hand nie wieder die Kleider ablege.« Leah nahm an, dass es inzwischen eine Menge wert war; Walter Morris wurde gerade zum zweiten oder dritten Mal »wiederentdeckt«. Aber sie würde es nie verkaufen. Zu viel in ihrem Leben verband sie damit.

Leah schaute auf ihre Armbanduhr. Annie würde jede Minute klingeln und sie dachte hier über alten Unsinn nach, statt sich ausgehfertig zu machen! Sie marschierte zu der großen Lackkommode, die sie bei einer Auktion erstanden hatte, kurz nachdem Jim... nein, nein, keine Erinnerungen mehr! Sie fing an, ihre Schmuckschublade zu durchsuchen.

Ach, da war es ja, in einem abgenutzten schwarzen Kästchen – ihr Medaillon. Sie und Annie Bernstein hatten sich 1910 zu ihrem Geburtstag gegenseitig Medaillons geschenkt. Sie hatte eigentlich beabsichtigt, dass jede Frau in ihrer Familie es trüge; doch das hatte nicht sein sollen. Seufzend fuhr sie mit dem Daumen über den Deckel. Sie spürte kaum noch, dass dort einmal ein Muster eingraviert gewesen war. Dann öffnete sie das Medaillon und betrachtete die beiden braunen und verblichenen Fotos. Sie kannte diese Bilder in- und auswendig: Annie Bernstein, hellhäutig und sommersprossig, deren krause rotblonde Haare ständig den Nadeln entwischten; und auf dem zweiten Leah Vogel, die Lippen gegen ein Lächeln ankämpfend, mit dunklen Augen, die sogar auf dieser alten Fotografie vor Übermut blitzten.

Leah steckte das Medaillon in ihre Handtasche. Es war an der Zeit, es der jungen Annie zu geben. Es konnte kein Unglück mehr bringen; zu viele Jahre waren vergangen. Annie sollte es haben. Annie Diamond war eine Frau vom alten Schlag, eine Frau, die keine Angst hatte, das Leben beim Schopf zu packen und zu ziehen! Jedenfalls war sie die Namensschwester des blonden Mädchens auf dem Bild, und die junge Annie wusste noch nicht einmal, wie Annie Bernstein ausgesehen hatte!

Tränen brannten in Leahs Augen, sodass sie sie kurz schloss. Als sie sie wieder aufmachte, schaute sie aus dem Spiegel eine gebräunte alte Frau an, runzlig, das dichte, kurz geschnittene Haar lodernd weiß. Wie zurzeit immer stieg angesichts ihres Spiegelbildes ein heftiger Schmerz in ihr auf. Wie hatte das so schnell passieren können?

»Nein«, sagte sie trotzig zu der alten Frau im Spiegel. »Nein. Du bist nicht ich. Du kannst nicht ich sein. Innerlich bin ich immer noch sechzehn. Ein sechzehnjähriges Mädchen.«

1

18. Juni 1910

Es war ein zauberhafter Abend, die Luft ganz weich von einer leichten Meeresbrise, der Himmel so tiefblau, dass er wie Samt aussah. »Guck mal, Annie.« Leah Vogel zeigte aus dem Fenster, während der Zug lärmend durch Sheepshead Bay schaukelte und rumpelte. »Guck mal, wie schön.« Dann veränderte sich ihre Stimme. »Ooh! Da! Sieh nur, Annie, die Lichter. Sieh nur!«

Sie drehten sich beide auf ihren Sitzen um und starrten aus dem Zugfenster, zwei Augenpaare, aufgerissen vor Staunen, zwei leicht geöffnete Münder. Ihr Gesichtsausdruck war identisch; ansonsten waren sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht – die eine hellhäutig und blond, die andere mit Haaren so dunkel und glänzend wie Rabenflügel und munteren dunklen Augen, gerahmt von dichten schwarzen Wimpern.

»Ganz gleich, wie oft wir es sehen...«, hauchte Annie. Sie griff nach Leahs Hand. »Es ist wie ein... ein... Märchenland.«

»Besser als ein Märchenland, Annie! Coney Island!«

Eine Insel aus Licht und Feuer tauchte aus der Nacht auf. Glitzernde Türme und funkelnde Minarette. Schlösser, die in der zunehmenden Dunkelheit schimmerten. Ihr Schein reichte bis in den Himmel; man sagte, Schiffe richteten ihre Navigation danach. Leah glaubte es. Sie hatte gelesen, die Umrisse der fantastischen Konstruktionen von Luna Park würden von einer Million elektrischer Lichter nachgezeichnet. Eine Million! Wie viel war eine Million? Eine Zahl, die sie sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnte.

Nirgendwo auf der Welt gab es so etwas wie hier. Das sagte jeder. Es hieß, dass Menschen aus der ganzen Welt extra nach Brooklyn reisten, nur um Coney Island zu sehen. »Sodom am Meer« nannten es die verknöcherten Greise. Egal, was die alten Kochers meinten; es war magisch, magisch! Auf Coney Island waren alle üblichen Regeln vergessen. Es war der äußerste Rand von Amerika, die äußerste Grenze von Brooklyn – von New York City, genau genommen. Hier traf das Land auf die See und die Stadt auf das Land; Realität traf auf Träume. Hier war man an einem Samstagabend in einer Welt, wo alles, wirklich alles möglich war, und der Montag war so weit weg, dass man nicht an ihn denken musste.

In all den Glanz schauend, der den Himmel erleuchtete und die Sterne verbarg, spürte Leah, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Spaziergang auf der Surf Avenue zu beginnen. Es war immer so aufregend, wenn die jungen Männer ihnen schöne Augen machten, sich zum Gruß an den Hut tippten, vielleicht näher kamen, um ein Gespräch anzufangen, wenn die beiden jungen Frauen nicht wegschauten oder ein bisschen schneller gingen.

»Oh, Annie, es ist ein vollkommener Abend, ein vollkommener Abend. Ich hab dir gesagt, dass es so sein würde... nur für uns.«

Annie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du hast immer Recht, Leah.«

Es war ihr sechzehnter Geburtstag. Am achtzehnten Juni waren sowohl Leah Vogel als auch Annie Bernstein zur Welt gekommen, weit jenseits des Atlantiks in verschiedenen Städten Russlands. In Kleinrussland eigentlich, in der Ukraine. Das Wunder war, dass sie sich hier begegnet waren, in Amerika, in der Triangle Shirtwaist Factory, einer Hemdblusennäherei, ganz zufällig. Und jetzt waren sie die besten Freundinnen, unzertrennlich!

»Ich bin ein Glückskind, deshalb hat dich dieser Tunichtgut Morris Levinsky neben mich gesetzt«, sagte Leah gleich am ersten Tag zu Annie. »Ich bin allein auf der Welt und du auch. Glaubst du nicht, es gibt einen Grund dafür, dass wir uns heute kennen gelernt haben? Hör zu, in dem Haus neben dem, wo ich wohne, ist ein Zimmer, das wir zusammen beziehen könnten. Bei den Roths. Unsere Mahlzeiten können wir unten bei Mrs. Katz einnehmen. Sie ist eine gute Köchin, und ich weiß zufällig, dass sie Kostgänger sucht. Wenn wir uns die Kosten teilen, reichen unsere sieben Dollar, die wir pro Woche verdienen, viel länger. Was meinst du?«

Nun, sie hatten es getan, noch in derselben Woche. Das war im März gewesen, und heute war ihr erster gemeinsamer Geburtstag. Was für ein Fest sie geplant hatten! Zunächst hatte jede drei Dollar für identische Goldmedaillons ausgegeben, in die man zwei Fotos stecken konnte. Sie hatten sie sogar auf der Rückseite gravieren lassen – eine Geldverschwendung, die Annie fast den Atem raubte.

»Sollen wir das wirklich tun, Leah?«, murmelte sie, doch Leah tat ihre Ängste leichthin ab. »Vielleicht nicht«, sagte sie forsch, »aber man lebt nur einmal. Dann müssen wir eben ein paar Tage ohne Mittagessen auskommen. Das macht schlank.«

Annie musste lächeln, doch sie sagte: »Männer mögen keine Mädchen, die zu mager sind.«

»Pah! Wer hat dir denn das erzählt? Sind nicht die neuesten Korsetts aus Gummielastik dazu da, um ›das Fleisch einzudämmern‹?« Sie sprach mit affektiertem Tonfall, als sie die Vogue zitierte. Die anderen Mädchen machten sich über Leah lustig, weil sie die Zeitschriften der Reichen las – gojische Zeitschriften –, die voll Dingen waren, die sie nie auch nur hoffen konnten zu besitzen. Aber ihr kamen beim Anschauen der Bilder und beim Lesen dessen, was die Modeexperten zu sagen hatten, alle möglichen Ideen. Sie war stets auf der Höhe der Zeit.

»Männer mögen Mädchen, punktum«, beharrte Leah. »Auf das Aussehen kommt es gar nicht an. Was sie wollen, ist ein bisschen Lebhaftigkeit, ein bisschen Pep, Annie!« Das hatte sie auch in einer Zeitschrift gelesen.

Als ihre Freundin errötete, bedauerte Leah ihre Unbedachtheit sofort. Annie war so schüchtern, dass sie kaum ein Wort herausbrachte, wenn ein Mann sie ansprach. Und sie schämte sich dieser Schwäche.

»Ich meinte nicht dich, Annie, ich meinte... generell.« Generell war eines der neuen Wörter, die sie vor kurzem gelernt hatte. Die Lehrerin bei der Educational Alliance, einer Art Volkshochschule, wo sie einen Abendkurs besuchte, hatte ihr gesagt, sie habe eine natürliche Begabung für Sprachen.

»Generell?«, wiederholte Annie verdutzt.

»Das bedeutet, dass es allgemein zutrifft, auf alle Mädchen... nicht bloß auf die scheue Annie!« Damit entlockte sie ihr wenigstens ein Lächeln.

Sie ließen also die Rückseiten der Medaillons gravieren; und Leah meinte, Annie müsse bestimmen, was da stehen sollte. Auf Leahs stand: »Für Leah. 18. 6. 10, Freundinnen auf ewig.« Auf Annies stand dasselbe, bis auf den Namen. Als der Graveur fertig war und ihnen die Medaillons aushändigte, kamen die Mädchen gar nicht darüber hinweg, wie schön seine Arbeit gelungen war. Er hatte den Text in winziger, vollkommen deutlicher Schrift eingeritzt und an die Enden der Großbuchstaben sogar noch Schnörkel gefügt.

Er wehrte ihre Bewunderung ab und sagte: »Für zwei so reizende junge Damen eine spezielle Leistung für einen speziellen Preis.« Und er berechnete ihnen einen Dollar.

Das war letzte Woche gewesen. Sie hatten bis heute Morgen, bis zu ihrem Geburtstag, damit gewartet, einander die Medaillons zu überreichen. Auf der Kante des Eisenbetts mit dem geschwungenen Kopfende sitzend, die langen Zöpfe noch ganz zerzaust vom Schlafen, bewunderten sie ihre Geschenke, den einzigen echten Schmuck, den sie beide besaßen. Leah hatte Annies Medaillon auf ein rosa Satinband gefädelt, Annie für Leah ein leuchtendes Rot gewählt. Feierlich legten sie sich, während sie einstimmig »Herzlichen Glückwunsch« sagten, gegenseitig die Medaillons um den Hals. Und dann umarmten sie sich.

In dem Moment fiel Leah etwas ein. »Bilder. Wir sollten Bilder von uns reinstecken. Heute Abend, wenn wir nach Coney fahren, suchen wir uns einen Fotografen.«

Annie strahlte. »Oh Leah, wie extrav-extrav... – Ach du liebe Güte, ich habe vergessen, wie es heißt.«

»Extravagant«, ergänzte Leah. »Was soll’s? Heute ist unser Geburtstag.«

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, kam rüttelnd zum Stehen, und der Schaffner rief: »Coney Island! Endstation!« Als ob das den Leuten gesagt werden musste! Alle strömten hinaus in Richtung Treppe, die zur Surf Avenue führte. Dort würde das nächtliche Abenteuer beginnen.

»Also«, meinte Leah, während sie sich vorsichtig die steilen Stufen hinab ihren Weg bahnten, »wer sind wir heute Abend?«

»Sag du, Leah. Du hast immer so gute Ideen.«

»Okeydokey. Wir sind neunzehn, wir sind seit acht, nein, neun Jahren in Amerika, und wir sind...« Sie hielt inne bei dem Versuch, sich den am schicksten klingenden Beruf auszudenken, der glaubhaft wäre, »...wir sind Telefonistinnen. Nein, warte. Wir sind Buchhalterinnen. Bei einer Versicherung.« Ihre Englischlehrerin bei der Alliance war Buchhalterin bei einer Versicherung, daher wusste sie, dass das eine gute Stellung für eine gebildete Frau war. Was sie, so gelobte sie sich jeden Abend inbrünstig, auch sein würde... was sie sein würden. Sie und Annie. Gebildete Frauen, niemandem verpflichtet.

Auf der Straße schüttelten sie ihre Röcke aus und vergewisserten sich, dass ihre großen Hüte sicher an ihren Pompadourrollen befestigt waren. Es war ein warmer Abend, sodass sie beide Sommerkleider trugen, Annie ein hellblaues, Leah ein weißes. Die Röcke wurden neuerdings immer praktischer, und Gott sei Dank wurde nicht mehr erwartet, dass man sich die Hüften polsterte. Trotzdem musste sich eine Frau nach wie vor in ein Korsett schnüren. Eines Tages würden sie etwas erfinden, das einem nicht ganz den Atem nahm, wie es Korsetts taten. Aber was sollten sie machen? Das Gibson-Girl mit der Wespentaille und dem runden Busen war zurzeit das Ideal, und die einzige Möglichkeit, so auszusehen, war die, ein Korsett zu tragen.

Nachdem sie sich gegenseitig begutachtet hatten, erklärten sie sich für wunderschön, dann waren sie startbereit.

»Denk dran, nach einem Fotografen Ausschau zu halten«, sagte Leah. Das sollte ein Witz sein. Man konnte heutzutage keine zwei Ecken weit gehen, ohne auf einen Straßenfotografen samt Ausrüstung zu stoßen, der einen zu sich bat und eine Erinnerung für die Ewigkeit versprach.

Da entdeckte Leah ihn auch schon: einen jungen Mann mit dichtem, geschwungenem Schnauzbart und blitzenden Augen, ein gut aussehender Typ, der vor seiner winzigen Bude stand und rief: »Lassen Sie sich fotografieren, Ma’am. Lassen Sie Ihre Begleiterin fotografieren, Sir. Nur ein Vierteldollar, zwei Momentchen, und Sie haben eine Erinnerung, die Sie in den Händen halten und jederzeit betrachten können.«

Als er sah, dass Annie und Leah näher kamen, verstärkte sich sein Lächeln, und er trat mit einer tiefen Verbeugung auf sie zu. »Ah, nicht eine, sondern zwei schöne Damen... meine Gebete wurden erhört.«

Annie errötete und wäre weitergeeilt. Sobald ein Mann sie unverhohlen anschaute oder direkt ansprach, zitterte sie vor Verlegenheit. Doch Leah hielt sie am Arm fest. Ihr gefiel sein Äußeres, und vielleicht würde er, wenn sie ihm ein strahlendes Lächeln schenkte, den Preis senken.

»Und was sind das für Gebete, Sir?«, fragte sie, legte den Kopf zur Seite und warf ihm unter den Wimpern hervor einen schrägen Blick zu, der, wie sie wusste, die Jungs verrückt machte.

»Nun, Bilder machen zu können, die es wert sind, gerahmt und hier vor meinem Laden ausgestellt zu werden... um aller Welt zu zeigen, was für ein guter Fotograf ich bin.« Er senkte die Stimme. »Aber ich muss Ihnen die Wahrheit sagen, meine Damen. So gut ich auch bin, kann ich doch aus einem Schweineohr kein Seidentäschchen machen... Ich brauche Ihre schönen Gesichter vor meiner Kamera, um schöne Bilder zu machen.« Er verdrehte die Augen und küsste seine Fingerspitzen. »Wenn ich Ihre reizenden Porträts hier ausstelle, auf diesem Stück schwarzen Samt, werden die Leute mir nur so zuströmen und verlangen, dass ich auch von ihnen ein Foto mache. Sie sehen also...«

»Ja?«

»Sie sehen also, ich muss Sie fotografieren, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Ich verstehe«, sagte sie mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Dann geben Sie uns die Bilder umsonst, wenn wir Ihnen diesen Gefallen tun?«

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ich wünschte, das könnte ich. Aber hören Sie, ich mache von Ihnen beiden ein Foto, zwei zum Preis von einem, wie wär’s? Könnte irgendetwas liebreizender sein – außer Ihre blitzenden dunklen Augen?«

Es überraschte Leah nicht, dass er mit ihr flirtete, und sie willigte rasch ein, bevor er seine Meinung änderte. Als er Annie bedeutete, als Erste Platz zu nehmen und sie dabei »blonde Maid« nannte, dachte sie, Annies Gesicht würde in Flammen aufgehen. Aber er war nett. Er merkte, dass Annie nicht der Typ war, der seine Witzeleien erwidern konnte, und ging sanfter, vorsichtiger mit ihr um, nannte sie Ma’am und sagte »bitte«, wenn er sie aufforderte, den Kopf zur Seite zu legen oder zu lächeln. Trotzdem sprach er so zu ihr, dass jede Frau errötet wäre, verglich die Farbe ihres Haars mit Flachs und sagte, ihre hellen Augen erinnerten ihn an Bachwasser. An Annies Miene und ihren irgendwie glasigen, weit aufgerissenen Augen und der Art und Weise, wie sie über seine unerhörten Komplimente kicherte, erkannte Leah, dass ihre Freundin auf den Kerl hereinfiel, auf seine Masche reinfiel.

Ach, Annie, dachte sie, wenn ich nicht auf dich aufpassen würde, würdest du dich bei diesem Mann sicher zum Narren machen, stimmt’s? Eigentlich konnte sie Annie keinen Vorwurf machen. Er war ein rechter Charmeur mit seinem flüchtigen Lächeln, den funkelnden Augen und stets dem richtigen Wort auf der Zunge.

»Und nun... Schneewittchen mit den kirschroten Lippen und den Haaren, glänzend wie...« Aha, jetzt war sie dran. Nun, sie würde er nicht einwickeln. Eine Menge Männer flirteten mit ihr; einigen wenigen hatte sie sogar einen keuschen Kuss oder zwei gestattet.

Und, einmal erst, als sie knapp vierzehn war, hatte sie einen Vorgeschmack dessen erlebt, was sie wirklich wollten.

Es war ihre erste Stelle. Zwölf Stunden am Tag klebte sie Federn auf Damenhüte, und einmal monatlich half sie dem Chef, seine Rechnungen zu bezahlen, denn der Trottel konnte weder lesen noch schreiben. Wenn er etwas unterschreiben musste, ließ er sie in seinem winzigen Büro am Schreibtisch Platz nehmen und stellte sich dicht hinter sie – zu dicht. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Dann drückte sie ihm den Federhalter in die Hand und führte seine Hand mit der ihren, damit er seinen Namen schreiben konnte. Diesen Namen würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Irving Moscow.

Eines Tages, als sie sich vom Stuhl erhob, packte er sie, drehte sie zu sich um und fing an, sie zu begrapschen und seltsam zu reden, sodass sie sich unwohl fühlte und Angst bekam. Dann drängte er sie gegen die Wand und küsste sie, ein schrecklicher, nasser Kuss.

Aber sie biss ihn in seine eklige Zunge und er schrie, als ob er ermordet würde. Dann befahl er ihr zu verschwinden. Innerlich war sie in Panik, weil sie fürchtete, er würde ihr kein Zeugnis geben. Doch zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: »Ach ja? Nun, ich kündige! Ich würde nicht eine Minute länger hier arbeiten! Und des Weiteren werde ich wohl an all Ihre Kunden schreiben und ihnen mitteilen, dass Sie ein Dummkopf sind, der nie Lesen und Schreiben gelernt hat!«

»Wenn du das tust, dann...« Er hielt inne, das Gesicht von der Farbe einer Pflaume. Und all ihre Befürchtungen verschwanden. Er hatte Angst vor ihr. Vor ihr! Er wusste nicht einmal mehr, was er sagen sollte.

Aber sie! »Sie werden nichts tun, Sie böser alter Mann. Sie sind zu dumm, sich etwas einfallen zu lassen. Geben Sie mir sofort meinen Lohn!«

»Du kriegst nichts, meine liebe junge Klugschwätzerin. Von mir kriegst du nichts!«

»Meinen Lohn, oder ich schreibe die Briefe. Und wenn Ihre Kunden Ihnen schreiben, um Ihnen mitzuteilen, dass sie mit Ihnen keine Geschäfte mehr machen wollen, werden Sie das nicht einmal erfahren, weil Sie so dumm sind! Ich werde... ich werde es sogar den Huren erzählen! Dann kaufen die auch nicht mehr bei Ihnen!«

Da erbleichte Moscow. Er war dumm, wurde ihr klar. Er hatte sie jeden Freitag zum Brooklyn Navy Yard, dem Marinehafen, geschickt und gedacht, sie wisse nicht, auf wen sie dort traf. Leah trug immer sechs Hutschachteln über den Schultern – jede mit einer sorgfältig aufgerollten Reiherfeder darin – und übergab sie an eine Frau namens Lil. Leah fand schnell heraus, dass sie ins Rotlichtviertel lieferte. Lil, die eine der Prostituierten war, erzählte es ihr.

Anscheinend hatte sie den alten Irving Moscow mit dem drohenden Verlust eines sehr lukrativen Geschäfts in Angst und Schrecken versetzt, denn innerhalb einer Minute hatte er die Geldkassette aufgeschlossen und zählte ihr die Dollarscheine vor. Drei Dollar, ein Wochenlohn. Dann, während sie ihn anstarrte, gab er ihr widerwillig noch drei. Blutgeld.

Sie ging hinaus in dem Wissen, dass Worte Macht bedeuteten, echte Macht. Und sie wusste noch etwas: dass in ihren Blicken Macht lag, etwas, das Männer dazu bringen konnte, sich töricht zu verhalten. Beide Überlegungen verbannte sie in ihren Hinterkopf. Wer wusste, wann sie sie brauchen konnte?

Unterdessen vergeudete sie ihre Zeit nicht mit Straßenfotografen, auch wenn sie noch so gut aussahen und schlagfertig waren. Egal, was für charmante Komplimente sie machten. Sie beantwortete seine Fragen – Gott, steckte der voller Fragen –, indem sie ihm die Flunkereien auftischte, auf die Annie und sie sich geeinigt hatten. Er glaubte ihr. Warum auch nicht? Sie wusste, dass sie wie neunzehn aussah, nicht wie sechzehn. Und warum sollte man ihr und Annie in ihren hübschen Kleidern und neuen Schuhen nicht die Buchhalterinnen abnehmen?

Als sie jedoch auf dem Stuhl saß und er ihr Gesicht berührte, um ihr zu zeigen, wie sie den Kopf halten sollte, verspürte sie ein Kribbeln auf der Haut. Sie musste dagegen ankämpfen, sich nicht vor seiner Berührung zurückzuziehen. Und als er murmelte: »Eine Haut wie Seide«, presste sie nur die Lippen aufeinander und befahl ihrem Herzen, mit dem Gehüpfe aufzuhören.

Er verschwand unter dem schwarzen Tuch, fuhr aber fort zu reden. »Und wie heißen Sie, meine Damen? Ich heiße Lazarus, Joe Lazarus.«

Leah hatte nicht vor, ihm die Befriedigung einer Antwort zu verschaffen, aber zu ihrem Erstaunen legte Annie los. »Sie heißt Leah Vogel und ich heiße Annie Bernstein.«

Wenig später kam er unter dem Tuch hervor. »Ich wusste es. Ihre Namen passen zu Ihnen. Bernstein. Vogel. Sie funkeln so golden wie Bernstein...« Woraufhin Annies Gesicht sich alarmierend rötete. »Und Sie... Sie erinnern mich an einen Vogel, bereit fortzufliegen, wenn ich zu nahe komme.«

Was für eine Frechheit! Er hatte ja Recht, aber... nun, Leah wollte nichts davon hören. Dennoch, als er ihren Blick auffing und ein Lächeln um seine Lippen zuckte, konnte sie einfach nicht anders. Sie brach in Gelächter aus. Er war ein Teufel! Sie sollte sich besser in Acht nehmen vor ihm. »Sind Sie fertig mit mir, Mr. Lazarus?« Sehr kühl und korrekt.

»Mit Ihnen werde ich nie fertig sein, Miss Vogel.« Sehr leise und anzüglich.

Sie schaute schnell beiseite in der Hoffnung, dass sie nicht errötete. »Das tun Sie also«, sagte sie, um das Gespräch wieder in sachlichere Bahnen zu lenken, »um Ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Auf Coney? Nur an den Wochenenden. Ich mache Fotos von den Einwanderern in der City und arbeite für einen Verlag, New World Books. Er ist sehr progressiv. Er will nicht nur hübsche Bilder von glücklichen Familien, er will, dass ich in die Slums gehe und zeige, wie es wirklich ist. Dann langen die dicken Bonzen zur Abwechslung vielleicht mal in ihre dicken Brieftaschen und sorgen dafür, dass brave Menschen, deren einzige Schuld es ist, dass sie arm sind und neu im Land, nicht verhungern! – Verzeihen Sie mir, meine Damen, manchmal lasse ich mich hinreißen.« In ganz anderem Ton fügte er hinzu: »Ich habe Ihre Bilder in fünf Minuten fertig. Wenn Sie mir Ihre Medaillons geben, kann ich sie auch für Sie reinstecken.«

Er klang plötzlich ganz geschäftsmäßig, und Leah war enttäuscht. Was er sagte, hatte ihr gefallen, und sie hätte gern mehr gehört. Sie mochte Männer mit klaren Meinungen. Fast hätte sie den Mund geöffnet, um ihm zu beichten, dass sie in Wahrheit keine Buchhalterinnen waren, sondern nur Näherinnen in der Triangle Shirtwaist Factory, und dass sie wussten, wie es war, kaum genug zum Essen zu haben. Aber warum dachte sie so? Was bedeutete er ihr? Nichts. Trotzdem, es wäre vielleicht interessant gewesen, eine Diskussion mit diesem Joe Lazarus zu führen. Vorhin hätte sie darauf gewettet, dass er mit seinem unbekümmerten Geplauder und der geckenhaften Kleidung nicht tiefgründiger war als eine Regenpfütze, doch er hatte sie getäuscht. Nun, wenn er nicht reden wollte, dann wollte sie auch nicht.

Also wandte sie sich Annie zu und schwatzte mit ihr, als ob er nicht vorhanden wäre. Und er ging mit ihren Medaillons in sein Kabäuschen.

»Oh, Leah, sieht er nicht gut aus?« Annies Gesicht war ganz rosig.

»Was ist los mit dir? Hast du Fieber?«

»Sag doch nicht so was. Ich dachte nur... na ja, er sieht gut aus, Leah, und er ist so nett.«

»Entschuldige, liebste Annie, ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Ja, er sieht sehr gut aus und hat ein flottes Mundwerk. Aber das gehört zum Geschäft, das weißt du doch. Hat nicht jeder Straßenhändler immer das Frischeste, das Süßeste, das Billigste, das Feinste? Na, siehst du. Ich würde ihn nicht ernst nehmen, Annie, das sage ich dir.«

»Ich bin nicht... ich dachte bloß...«

Ach du liebe Güte. Der Fotograf hatte es ihr wirklich angetan. Arme Annie, sie war unbeholfen beim Flirten und sie neigte dazu zu glauben, dass jeder meinte, was er sagte. Bei ihr, Gott segne sie, war es so. Sie war eine gute, liebe Person und Leah würde dafür sorgen, dass sie einen guten, lieben Mann fand, keinen attraktiven Herzensbrecher wie diesen. Leah drückte Annies Hand und sagte: »Ich kann’s gar nicht abwarten zu sehen, wie die Fotos geworden sind; du?«

Joe Lazarus hielt sein Versprechen. Nach wenigen Minuten tauchte er, von einem Ohr zum anderen grinsend, aus seiner Bude auf.

»Hier ist der Beweis, was die Kamera vermag – beim richtigen Motiv«, sagte er und schaute Leah in die Augen.

Mochte ihr Herz flattern wie ein eingesperrter Vogel! Sie würde es ignorieren. Sie würde er nicht einwickeln! Aber er bezirzte Annie, die ihn schwärmerisch anschaute, die Hände vor ihrem Herzen gefaltet.

»Dann sehen wir doch mal, ob Sie Recht haben«, konterte Leah. Er streckte ihnen die geöffneten Medaillons hin, jedes in einer Hand.

Schon beim ersten Blick musste sie einfach lächeln. Er war gut, kein Zweifel. Das war Annie, wie sie leibte und lebte, und sehr hübsch sah sie aus mit dem leichten Lächeln, das ihren Mund umspielte. Leah studierte ihr eigenes Foto. Sogar auf dem winzigen Bild wirkten ihre Augen herausfordernd. Er hatte sie eingefangen, tatsächlich! Selbst das kleine Grübchen rechts neben ihrem Mund... ja, und die Haarsträhnen, die immer entwischten und sich um ihre Schläfen und Ohren lockten. Er hatte versucht, sie dazu zu bringen, dass sie ihn richtig anlachte, doch dann hätte man ihren abgesplitterten Vorderzahn gesehen. Das brauchte sie nun wirklich nicht als Erinnerung.

»Das haben Sie gut gemacht, Mr. Lazarus.«

»Wie ich schon sagte, das Foto ist nur so gut wie das Motiv.«

»Und nun schulden wir Ihnen, glaube ich, fünfundzwanzig Cents.«

»Laufen Sie nicht so schnell weg. Wenn Sie hier stehen, sieht es aus, als liefen meine Geschäfte gut. Bleiben Sie, dann können Sie die Bilder umsonst haben.«

Es war verlockend. Sie war fasziniert von ihm. Doch heute war ihr Geburtstag, und sie hatten andere Pläne. »Nein, aber trotzdem danke. Wir werden zahlen wie jeder andere auch. Wir wollen rechtzeitig zu Feuer und Flammen, damit wir gute Plätze bekommen.«

Annie lobte die Fotos schüchtern und dankte ihm tausendmal; Leah musste sie praktisch fortzerren.

»Annie, Annie, hör mir zu«, sagte sie, während sie die Surf Avenue entlang auf den Luna Park zugingen. »Das macht er bei jedem Mädchen, das ein Bild bestellt. Glaub mir, es bedeutet nichts.«

Stur: »Bei uns war er anders. Und Leah, er ist so viel netter als die Jungen in der Nachbarschaft. Ein echter Yankee, und dann hat er auch noch sein eigenes Geschäft.«

»Ja, ja, ja... Ich will dir was sagen, Annie, meine Liebe, sie sind alle gleich! Aber«, fügte sie hinzu, als sie sah, dass ihre Freundin ein langes Gesicht machte, »vielleicht auch nicht, vielleicht auch nicht. Also, meinst du, wir sollen umkehren?«

»Nun...«, Annie dachte nach. »Nein, lieber nicht. Das wäre schrecklich dreist.«

»Ja, und wir wollen doch Feuer und Flammen sehen. Alle sagen, es sei so aufregend.«

»Aufregend«, wiederholte Annie. »Ich... ich weiß nicht, Leah...«

»Ach, Annie, es wird dir gut tun, es anzuschauen. Wirklich! Es wird dich stärken. Es ist alles nur gestellt und ich bin bei dir, und wenn du es gesehen hast, gehen vielleicht die Dämonen weg und du hast keine Albträume mehr.«

Als Annie nicht antwortete, nahm Leah das als Zustimmung. Sie beschleunigte ihren Schritt, zog die Freundin mit sich, und dann war er da: der Eingang zum Luna Park, glitzernd und funkelnd. Helle Lampen zeichneten die Umrisse der hohen Zwillingstürme zu beiden Seiten des riesigen Rundbogens nach. Unter einem gewaltigen Herzen mit der Ankündigung »Das Herz von Coney Island« stand in gigantischen Leuchtbuchstaben LUNA PARK. Durch riesige Bögen konnte man die Turmspitzen und Zwiebelkuppeln, die vor elektrischen Lichtern erglühten, und deren orangene, weiße und goldene Fahnen in der Meeresbrise wehten und knatterten, hoch in den abendlichen Himmel aufragen sehen.

Leah und Annie folgten der Prozession von Menschen, die in ihrem Sonntagsstaat an bunt gestrichenen Gebäuden vorbeischlenderten, die aussahen wie Schlösser in einem Märchenbuch. Da war der mächtige elektrische Turm mit seiner Anordnung von Fensterrosetten. Und die Drachenschlucht, und ein Stück weiter die erhöht liegende Promenade mit ihren übergroßen Entenköpfen und kunstvollen Rabatten. Auf der Lagune von Venedig trieben junge Leute, lachend und einander zurufend, in Booten dahin.

»Entschuldigen Sie, meine Damen.« Ein junger Mann mit karottenrotem Haar lüftete den Hut und verbeugte sich tief. »Ich heiße Nathan Goldman und dies ist mein Freund Harry Fink. Wir wären entzückt, wenn die jungen Damen uns auf einer Bootsfahrt begleiten würden. Was sagen Sie dazu? Wir sind wirklich ordentliche Kerle mit fester Arbeit. Ihre Mütter würden uns beide lieben.« Er lachte gutmütig.

Leah gefiel seine Art. Er wäre etwas für Annie; schade nur, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte. Das sah sie. Sein Freund Harry war nicht ihr Geschmack, ein wenig zu dick. Und überhaupt, dieser Fotograf...

»Vielen Dank«, sagte sie mit ihrer vornehmsten Stimme. »Aber wir wollten Feuer und Flammen sehen.«

»Ach, das hatten wir auch vor. Dürfen wir Sie vielleicht begleiten?«

Rasch sagte Leah: »Gewiss. Das wäre nett. Meine Freundin Annie Bernstein nimmt Ihre Begleitung gern an.« Nun, das musste man ihm zugestehen; Nathan Goldman war enttäuscht, spielte jedoch mit. Er bot Annie seinen Arm und sagte sehr höflich, er sei entzückt. Während sie aus Venedig hinaus und an den japanischen Gärten mit ihren putzigen Buckelbrücken und Sonnenschirm tragenden Damen vorbeispazierten, lachte Leah über die Scherze, die Harry Fink erzählte. Er mochte nicht besonders hübsch sein, aber er war sehr witzig!

»Manchmal heuern sie mich dazu an, auf Hochzeitsgesellschaften komische Geschichten zu erzählen. Und ich lese all die Briefe von den Verwandten vor, die nicht kommen konnten... und ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Die meisten von ihnen können weder Englisch lesen noch schreiben, also denke ich sie mir aus!«

Als sie sich für ihre Eintrittskarten anstellten, bemerkte Harry Fink, dass Annie zurückblieb. »Was ist los?«

Leah zog ihn ein wenig zur Seite und sprach schnell und mit leiser Stimme. »Ihre ganze Familie kam bei einem Pogrom um. Die dreckigen Kosaken, es reichte ihnen nicht, alle zu ermorden, einen nach dem anderen, dann setzten sie das Haus auch noch mit einer Fackel in Brand!«

»Momsers!«

»Annie war noch klein und sie hatte im Getreidespeicher gespielt und versteckte sich dort. Aber sie sah das Ganze mit an. Sie sah, wie das Feuer ihr Haus verschlang und ihr Bett und ihre Mama und ihren Papa und ihre Geschwister... hu!« Leah schauderte.

»Ist es denn dann eine so gute Idee, dass sie sich das hier anguckt? Auch wenn niemand verletzt wird, ein echtes Feuer ist es doch, wissen Sie.«

»Ich habe mir gedacht, weil doch hier jeder gerettet wird, könnte es gut für sie sein, es zu sehen. Sie hat fürchterliche Träume deswegen... fürchterlich. Schreit im Schlaf und wacht schweißgebadet auf.«

»Die Ärmste.«

»Nun, ich sage Ihnen was, Mr. Fink. Annie steht mir nahe wie eine Schwester, vielleicht noch näher. Und ich fühle mit ihr. Aber ich stimme mit der Educational Alliance überein. Wachse oder geh unter. Wir haben alle schwere Zeiten erlebt. Was Annie passiert ist, ist schrecklich, aber was vorbei ist, ist vorbei. Sie kann es nicht ändern, deshalb sollte sie es lieber vergessen und mit ihrem Leben weitermachen. Wenn wir so klug sind, die Vergangenheit hinter uns zu lassen, sind wir die Zukunft dieses Landes. Wir sind diejenigen, die es schaffen werden.« Sie hielt inne, ein wenig außer Atem.

Er klatschte Beifall und grinste sie an. »Sie haben ja ein recht lockeres Mundwerk«, sagte er, doch es klang bewundernd. »Vielleicht könnten Sie sich damit was verdienen; wissen Sie, was ich meine? So, wie ich es tue.«

Leah lachte. »Wenn jemand daherkommen und mich dafür bezahlen würde, dass ich meine Meinung sage, glauben Sie mir, den Job nähme ich an!«

»Und wenn ich das Geld hätte, glauben Sie mir, ich würde Sie einstellen!«

Er war ein angenehmer junger Mann, dachte Leah, und hatte Humor. Und er mochte sie. Insgeheim taxierte sie ihn und zählte sich alles Gute an ihm auf. Doch vor ihren Augen tauchte immer wieder das schelmische Lächeln des Fotografen, dieses Joe Lazarus, auf. Himmel noch mal, sie war genau so schlimm wie Annie!

»Dann komme ich zu Ihnen, Mr. Fink, wenn ich je eine andere Arbeit brauche.« Sie sah, wie sein Gesicht lang wurde; gut, er hatte kapiert.

Die Schlange bewegte sich nur langsam, und endlich konnten sie ihre Karten kaufen und hineingehen. Annie warf Leah einen flehenden Blick zu, lächelte dann aber. Sie war sehr tapfer. Leah würde dafür sorgen, dass sie sich das nächste Mal die Straßen von Delhi anschauten – Annie liebte Elefanten und die Tänzerinnen und vor allem die Musik, die so klang wie die alten Juden bei ihren Gebeten. Seltsames Mädchen.

Sie drängten sich auf ihre Plätze gegenüber dem Gebäude, warteten, hielten den Atem an und schnappten dann nach Luft, als die Flammen aus den Fenstern schlugen, erst eine, dann noch eine und noch eine und noch eine. Dann – oh, Schreck! – erschienen Menschen an den lodernden Fenstern, schreiend und brüllend. Schließlich traf der Trupp der heldenhaften Feuerwehrleute mit Schläuchen, Äxten, glänzenden Jacken und Sprungtüchern ein. Mittlerweile schrie das gesamte Publikum zusammen mit den »Opfern«. Leah war aufgesprungen, ohne es zu merken, und rief: »Los doch! Spring! Schnell! Sie fangen dich auf!« Und sie sprangen, landeten unbeschadet in den Sprungtüchern. Die ganze Zeit über umklammerte Annie Leahs Hand so fest, dass sie fast das Blut herauspresste.

Als es vorbei war und sie beide vom vielen Schreien und Kreischen heiser waren, stellte Leah erleichtert fest, dass Annie rosig vor Aufregung war, nicht käsig bleich wie nach einem ihrer bösen Träume.

»Na, Annie, das war doch nicht so schlimm, oder?« Leah lächelte und rieb sich die Hand, die Annie gequetscht hatte.

»Nein, Leah.« Annie brachte sogar ein schwaches Lächeln zu Stande. »Es tut mir Leid, dass ich so albern bin.«

»Du bist nicht albern, liebe Annie. Du hast Schweres durchgemacht. Aber deswegen sind wir ja hier, du und ich, im Goldenen Land..., um uns ein neues Leben aufzubauen und das alte hinter uns zu lassen! Ja, wir wollen das alte wegwerfen wie ein abgetragenes Kleid, Annie. Es auf den Müll schmeißen und vergessen! Denk dran, ich bin ein Glückskind, und mein Glück färbt auf dich ab!« Sie strich mit ihrem Arm über Annies. »Fühlst du es schon?«

Annie kicherte und packte Leahs Arm, als die Menge hinter ihnen, begierig auf die nächste Attraktion, vorwärts drängte.

»Wo sind Nathan und sein Freund?«, fragte sie.

Leah schaute sich um, wenn auch nicht sehr aufmerksam. Ihr war es recht, wenn sie sie in der Menge verloren. Nette junge Männer, aber die Welt war voller netter junger Männer. »Kümmre dich nicht um sie«, sagte sie zu Annie. »Wenn sie wollen, finden sie uns schon wieder. Und es gibt noch so viel zu sehen!«

Überall waren die faszinierendsten Dinge: Frühgeburten, die in einer neuen Erfindung namens Brutkasten am Leben gehalten wurden; Hottentotten, echte Hottentotten, die in ihrem eigenen kleinen Dorf lebten; Kamele, Bären, Elefanten, »King«, das tauchende Pferd. Man konnte dem Untergang von Pompeji beiwohnen oder der großen Überschwemmung von Johnstown. Man konnte für den Rest seines Lebens jeden Samstagabend herkommen und würde doch nie alles sehen!

Plötzlich blieb Annie stehen. »Leah, Leah, sieh nur! Unsere Fotos! Er hat sie ausgestellt, damit jeder sie sehen kann!« Ihre Stimme bebte vor Erregung.

»Was? Ach so.« Leah verbarg ihr Lächeln. Geschickt hatte Annie sie zu Joe Lazarus’ Stand zurückgeführt. Und dort, viel größer als die in ihren Medaillons, waren ihre Bilder, ihres und Annies. Der Fotograf selbst war jedoch nirgends zu sehen. Sie hatte gehofft... egal. Er sah gut aus, hatte aber etwas von einem Klugschwätzer, war zu sehr von sich überzeugt. Joe Lazarus und sie waren sich zu ähnlich, um miteinander auszukommen.

»Oh, ja, sehr hübsch«, sagte Leah und begann weiterzugehen. Sie wusste, dass auch Annie gern ein, zwei Minuten geblieben wäre, um abzuwarten, ob Joe Lazarus aus seinem Kabäuschen treten würde. Doch sie hatten Besseres zu tun, sie und Annie. Entschlossen kehrte sie ihren Fotos den Rücken zu und ging in Richtung Loop-the-Loop, wobei sie redete wie ein Wasserfall.

»Guck dich um, Annie! In der alten Heimat, hast du dir da auch nur einen Augenblick träumen lassen, dass du eines Tages an einem Ort bist wie diesem, an Palästen und Lagunen vorbeispazierst und eine Million elektrische Lichter siehst?« Sie lachte. »Aber hier sind wir, Annie, du und ich! Hier sind wir, in diesem wundervollen Land, wo es ganz gleich ist, was du bist. Hier kannst du ein Jude sein, ein Goj, sogar ein... ein Hottentotte! Wen kümmert’s? Man arbeitet hart, man spart sein Geld, man macht eine Ausbildung und es gibt niemanden, der vorschreibt, wie weit man es bringen darf! Wir werden aufs Seminar gehen! Wir sind jung. Wir sehen gut aus. Wir sind beide intelligent. He, Annie, die Welt gehört uns! Irgendwann, bald, werden wir Lehrerinnen sein, Annie, ganze machers, Damen von Rang!«

Von ihren eigenen Worten mitgerissen, warf Leah den Kopf in den Nacken und lachte vor lauter Freude, und nach einer Minute fiel Annie ein. Sie packten sich an den Händen und fingen ohne ein Wort an, herumzuwirbeln wie kleine Mädchen, bis ihnen schwindlig war und sie aufhören mussten.

»Weißt du was, Annie?«, sagte Leah japsend. »Lass uns jedes Jahr an unserem Geburtstag wieder hierher kommen, nach Coney Island...«

»Zum Luna Park...«

»Zum Luna Park. Und mit dem Loop-the-Loop fahren und mit dem Karussell...«

»Und Fotos von uns machen lassen!«

»Ja, ja, und Fotos von uns machen lassen, jedes Jahr, auch noch, wenn wir verhutzelte alte Damen sind und an Krücken schlurfen!«

Das war ein Bild, das sie zum Lachen brachte. Und so standen sie da, an ihrem sechzehnten Geburtstag, hielten sich an den Händen und lachten wie verrückt, weil das Leben so voller Verheißung war!

2

Oktober 1910

Morris Levinsky händigte die Lohntüten aus und schlurfte dann langsam, ganz langsam, zum Aufzug. Insgeheim beobachtete ihn jedes Auge auf der Etage. Insgeheim verfluchten ihn alle, den schäbigen kleinen Mistkerl, der es immer möglichst lange hinauszögerte, bis er die Feierabendglocke läutete. Wenn man manchen Leuten ein bisschen Macht gab, stieg sie ihnen zu Kopf. Levinsky war allgemein verhasst.

Endlich gab die Glocke ihren heiseren Ton von sich. Alle Maschinen standen sofort still, und das laute Rasseln, das den ganzen Tag in ihren Ohren gedröhnt hatte, hörte auf, das Echo aber hallte noch minutenlang in den Köpfen wider.

Halb sechs zeigte die Uhr, doch Leah bezweifelte, dass das stimmte. Die Bosse stellten die Uhren so, dass sie den armen, überarbeiteten Näherinnen das Maximum abpressten. Ach was, egal. Heute war Freitag. Schabbes-Nacht, und ihr Abendessen würde besser sein als sonst.

Leah, noch auf ihrem Holzstuhl sitzend, streckte sich, und schaute lächelnd zu Annie hinüber. Sie saßen nebeneinander an ihrem Arbeitsplatz, dem fünfzehn Meter langen Holztisch mit der Doppelreihe Nähmaschinen, fünfzehn auf jeder Seite. Ihnen gegenüber saßen Angela Gullo, die bei ihren Eltern in ihrem Haus in der Hester Street wohnte, und Celia Kaplan. Angie mochten sie, Celia dagegen tat stets vornehm. Sie glaubte, ein, zwei Stufen über den restlichen Arbeiterinnen zu stehen, nur weil ihrer Familie eine Neunundneunzigjahrepacht auf ein Tabakanwesen bei Jekaterinoslaw gehört hatte, und sie dachte, das erhebe sie in den Adelsstand. Pah! Wer wollte schon adlig sein? Celia war auch nur ein armes Mädchen, eine Fabrikarbeiterin, die für ihren Lohn schuftete wie sie alle.

Leah warf den Kopf in den Nacken und sagte: »Los, Annie, lass uns gehen.«

Sie drängten sich vor bis zum Ende des Tisches, scherzten mit den anderen Mädchen, schüttelten ihre Röcke aus, strichen sich übers Haar. Der ganze Raum war erfüllt von Stimmengewirr, den fröhlichen Geräuschen eines Arbeitstags, der endlich vorüber war. Stühle schrammten über den Fußboden, schrammten dann erneut, als sie unter die Tische geschoben wurden. Kratz, kratz, kratz. Gelächter, Witzeleien, Gesangsfetzen.

»He, ihr da vorn, bewegt euch mal!«, rief Leah. »Ein paar von uns haben heute noch was vor!«

»Ja, ja«, kam die gutmütige Antwort. »Warum schlagen Sie dann nicht mit Ihren Flügeln und fliegen, Miss Vogel?«

Leah lachte. In Wahrheit konnte man diesen Raum gar nicht schnell verlassen. Nicht nur, dass er mit Stühlen voll gestellt war, die sich fast berührten, sondern überall auf dem Fußboden standen auch noch Körbe mit Arbeitsmaterial. Das achte Stockwerk der Triangle Shirtwaist Factory hatte nur einen Ausgang, da ging es langsam. Egal. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass der heutige Abend dem Schabbes vorbehalten war, der morgige Tanz und Vergnügen und der Sonntag dem Schlafen. Und dem Lesen der englischsprachigen Zeitung. Leah übte sich ständig darin. Die Zeitung war leichter zu lesen als manche der Bücher, die ihnen von den Lehrern empfohlen wurden. In der Tribune gab es wenigstens Bilder, und man erkannte Namen wieder und konnte viele Wörter erraten.

Am Ende der Schlange angelangt, rannten sie und Annie in den Umkleideraum zu ihren Mänteln. Die anderen riefen ihnen hinterher, sie sollten aufpassen, wo sie hintraten – warum sie es denn so eilig hätten, wo denn das Feuer sei –, aber es war alles scherzhaft gemeint. Während sie ihre Mäntel anzogen und sich darauf vorbereiteten, ihre Taschen zu öffnen, damit Levinsky sie durchsuchen und überprüfen konnte, ob sie auch, Gott bewahre, keinen Faden oder Stofffetzen gestohlen hatten, begann Leah ein Lied anzustimmen, das sie gerade gelernt hatte. Es war eine eingängige kleine Nummer, und sie hatte viel Spaß daran gehabt, wie der Reklamesänger auf der Fourteenth Street beim Singen den Text schauspielerisch darstellte. Drei oder viermal hatte sie »Down by the Old Millstream« gehört, bis sie es auswendig konnte. Die Stelle, die ihr am besten gefiel, war »...you were sixteen, my village queen...« Man zählte an den Fingern bis sechzehn ab und formte dann bei der nächsten Zeile mit den Händen eine Krone.

»Sing das ganze Lied!«, rief Angela Gullo, und Beifall brach aus. Also blieben sie alle eine Minute stehen, während Leah es sang, und schon bald sangen sie alle mit. Es war ein beliebter Schlager, sodass jeder den Text kannte. Als sie an Levinsky vorbeidefilierten, sangen sie immer noch, und sogar er musste lächeln.

Leah spürte, dass der Vorarbeiter sie leicht in den Po kniff, aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun, ihn zu beachten. Sollte er doch denken, er könne sich so etwas erlauben! Was machte das schon?

Die Tür zum Ausgang Greene Street stand offen; sie packte Annie bei der Hand und sagte: »Lass uns zu Fuß gehen. Auf den Aufzug warten wir ewig.« Hand in Hand, mit hochgeschürzten Röcken, hüpften sie die Treppe hinab.

Sie traten in eine Welt, die von der untergehenden Sonne rotgolden erleuchtet war. Die Luft roch nach Wein und Rauch von all den Kaminen und Herden und nach Äpfeln. Auf der Straße wimmelte es von Menschen, die einkauften, Besuche machten und irgendwohin eilten. Die Gebäude sahen vor dem dunkler werdenden Himmel wie angezündete Kerzen aus. Ein Botenjunge hetzte vorbei und sang lauthals und mit hoher Stimme »Ah, Sweet Mystery of Life«. Trotz allem, das Leben war schön.

»Also Annie, was machen wir heute Abend?«

»Essen! Ich bin am Verhungern!«

Leah lachte. »Nun, Mrs. Katz hat bestimmt ein wunderbares Abendessen für uns, nanu? Heute ist Schabbes-Nacht und morgen der besondere Wochentag.« Sie lachte kurz auf. »Nur nicht bei Triangle.«

»Für Triangle ist nichts besonders«, stimmte Annie zu. »Bis auf das Geld.«

»Genau! Es ist falsch, dass sie mit der Uhr betrügen, damit wir fünf Minuten länger arbeiten, vielleicht auch zehn. Was sind wir, Tiere? Wir sind Menschen, genau wie sie. Denk mal drüber nach, Annie. Wie soll ein Boss ohne Arbeiter Geld verdienen? Wer schneidet denn zu und näht und hebt auf und legt hin? Der Boss?«

»Nein!« Triumphierend: »Wir!«

»Genau! Warum behandeln sie uns also nicht fair? Ich glaube, wenn sie netter zu uns wären, würden wir viel härter arbeiten.«

Annie kicherte. »Du klingst wie Celia Kaplan, weißt du das?«

»Ich? Wie die Vornehmtuerin?« Aber sie wusste, dass es stimmte. Celia war in der Gewerkschaft... als ob ihr das etwas nützen würde. Als ob das irgendjemandem nützen würde. Letztes Jahr hatte es einen großen Streik gegeben, der bei Triangle angefangen hatte. »Du bist nach dem Streik gekommen, oder, Annie?«

»Ja, den habe ich verpasst. Oh, Leah, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.«

»Da sei dir nicht so sicher.«

Als sie an den Streik dachte, daran, wie stark sich die Frauen alle gefühlt hatten, als sie über zwei Monate Streikposten liefen, schüttelte sie traurig den Kopf. Der Streik, der bei Triangle begonnen hatte, wurde auch bei Triangle niedergeschlagen. Und all die tapferen Frauen, die bei Veranstaltungen gesprochen hatten und das Risiko eingegangen waren, zu verhungern, hatten eine totale Niederlage erlebt, als hätten sie überhaupt nichts unternommen! Sich noch einmal schinden, damit nichts dabei herauskommt? Nein, danke! Nicht Leah Vogel!

»Denk dran, es gibt immer noch keine Gewerkschaft bei Triangle«, erinnerte sie Annie. »Sie waren sehr tapfer, aber... was hat es genützt? Wir werden immer noch nicht nach Tarif bezahlt, und die Gewerkschaft hat nichts von dem gekriegt, was sie gefordert hat.«

»Am Ende wird die Gewerkschaft triumphieren«, deklamierte Annie. »Das Recht ist auf unserer Seite.«

Leah lächelte ihr zu, schüttelte jedoch den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte da sicher sein. Guck doch, was mit den Mädchen passiert ist, die letztes Jahr gestreikt haben. Sie sind ausgesperrt worden. Du und ich, wir können es uns nicht leisten, ausgesperrt zu werden. Wir müssen jeden Penny sparen, damit wir aufs Lehrerseminar gehen können, und dann brauchen wir keine Gewerkschaft... Gottenu! Schnell! Hier hinein!«

In Windeseile hatte sie sich in den Eingang einer winzigen Schneiderwerkstatt geduckt. Der gebückt über seiner Näherei sitzende blasse kleine Mann schaute auf und hüstelte. »Entschuldigen Sie, ich muss mich eine Minute verstecken...« Leah musste über den verblüfften Gesichtsausdruck des Mannes lachen. Dann trat sie wieder auf die Straße, wo sie sich hinter Annie hielt.

»Was ist denn in dich gefahren?« Aber Annie lachte. Sie wusste Bescheid. »Es ist dieser Fink, stimmt’s?«

»Ich sehe ihn ständig.«

»Wieso auch nicht? Er wohnt in dieser Gegend. Er hat das Recht, auf der Straße zu sein, genau wie du.«

»Na ja, als wir das letzte Mal zusammenstießen, hatte ich das Gefühl, dass es kein Zufall war.«

»Er mag dich eben. Was ist daran so schrecklich?«

»Ich bin noch nicht bereit für so was, Annie. Das weißt du doch.«

»Ich glaube sowieso, diesmal war er es gar nicht.« Während sie weiter die Straße entlanggingen, fügte Annie schüchtern hinzu: »Ich wünschte nur, so ein netter junger Mann würde mal« – sie suchte nach einer bestimmten Wendung und sagte triumphierend – »absichtlich zufällig mit mir zusammenstoßen.« Sie grinste und seufzte dann.

»Ach Annie, das kommt schon, ich verspreche es dir. Es ist... Du zeigst dich nicht richtig, Annie, du versuchst, im Hintergrund zu verschwinden! Bei mir bist du doch nicht so! Ich wünschte nur, diese Kerle könnten dich sehen und hören, wenn wir zusammen sind...«

»Na ja, bei dir ist es anders...«

»Und überhaupt, Annie, was soll’s? Es macht Spaß zu flirten, es ist nett, wenn jemand einem Aufmerksamkeit schenkt. Aber Annie, was heißt das letztlich? Es heißt... es heißt...« Sie suchte nach einem guten Beispiel.

Sie gingen jetzt durch das italienische Viertel, vorbei an den exotischen Gerüchen aus der Salumeria, vorbei an dem kleinen Laden, in dem das Gebäck, mit Sahne gefüllte Hörnchen, im Fenster lag. Italienerinnen trugen Schwarz, als befänden sie sich ständig in Trauer. Was immer sie verdienten, lieferten sie ab, keine Frage. Und die Frauen zählten nichts, hatte Angela ihr erzählt. Sie existierten, um die Männer zu bedienen, um den Männern Kinder zu gebären, um den Männern den Haushalt zu führen.

»Guck dir die Frauen in Little Italy an, Annie. Kannst du dir vorstellen, dass Angela in ein paar Jahren ebenso aussieht?«

Sie rechnete mit einem Einwand und war überrascht, als Annie ruhig sagte: »Es ist überall so, Leah.«

Das stimmte; bei den Juden war es genauso. Mrs. Katz war bereits eine müde alte Frau, und sie war wie alt? Fünfunddreißig? Hatte Gott Leah dafür auf die Welt kommen lassen? Um irgendeinem Mann zu dienen, den sie jetzt noch nicht einmal kannte? Um Kinder zu kriegen, eins nach dem anderen, manche von ihnen sterben zu sehen und dann selbst zu sterben? Aber warum hatte er ihr dann Verstand und eine schnelle Zunge gegeben? Gott, der alles sah und wusste, war doch bestimmt nicht so verschwenderisch!

»Aber Annie... willst du denn Mrs. Katz werden?«

»Leah, sei nicht albern. Ich kann nicht Mrs. Katz werden!«

»Doch, verstehst du denn nicht? Mr. Katz hat Mrs. Katz also schöne Augen gemacht, und Mrs. Katz ist dahingeschmolzen, und sie haben geheiratet. Und guck sie dir jetzt an! Annie! Denk nach! Mrs. Katz, alt und verwelkt, fünf Kinder und wieder eins unterwegs, das Haar schon grau, und sie ist noch nicht mal vierzig. Annie! Begreifst du nicht, in welche Falle wir da tappen?«

An dem verwirrten Ausdruck auf Annies süßem, blassem Gesicht erkannte sie, dass diese es nicht begriff, ganz und gar nicht. Schließlich sagte Annie zaghaft, so, wie sie meistens sprach: »Aber Leah, wir sind dazu da, dass wir heiraten.«

»Nein, sind wir nicht!«

Störrisch: »Es steht in der Bibel. Und alle tun es.«

»Aber Annie, wir müssen es nicht! Wir können anders sein.«

»Ich habe bloß Angst...«

»Ja? Wovor? Wovor hast du Angst?«

»Davor... ich weiß nicht..., alt zu werden und ganz allein zu sein.«

»Ganz allein! Was für ein Gedanke! Du hast doch immer mich, Annie! Ich kümmere mich um dich! Wer braucht schon einen Mann? Wer braucht eine Gewerkschaft? Wer braucht andere Menschen?«

Ich jedenfalls nicht, dachte sie grimmig, ich nicht. Sie brauchte niemanden, der für sie sorgte. Sie hatte seit dem Tag für sich selbst gesorgt, an dem ihre Mutter sie weggab.

Die Reise ab Rotterdam war in Leahs Gedächtnis häppchenweise gespeichert. Nun, sie war ja erst sechs gewesen. Ein Häppchen war der Lärm der Maschinen. Ein weiteres der Gestank: fauliger Fisch aus der Heringstonne, Schweiß, Blut und Exkremente. Und sie entsann sich der Zauberformel ihrer Mutter: Bald werden wir Papa sehen. Sie hatte damals keine rechte Erinnerung an ihren Vater – er war schon vor langer Zeit ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufgebrochen –, doch sie wusste, dass er sehr bedeutend war. Zu Hause, in Kiew, wurde er ständig heraufbeschworen. Ihre Tanten, die Freundinnen ihrer Mutter, ihre Großmutter, sie alle sagten immer, sie solle brav sein für ihren Papa, damit er stolz auf sie wäre, wenn er sie endlich sah.

Mama sprach dauernd von ihm. Wenn sie mit den anderen Frauen auf dem Schiffsdeck saßen, pflegte Bella stolz zu sagen: »Bei uns war es Liebe. Für uns, Jake und mich, gab es keinen Schiddach, keinen Heiratsvermittler. Für uns war es Schicksal. Eines Tages sah er mich in meinem blauen Kleid auf dem Markt, und da war’s um ihn geschehen. Er teilte meinem seligen Vater mit, er würde mich heiraten, und wenn Papa dazu nicht seinen Segen gäbe, würden wir zusammen durchbrennen.«

Bei dieser Kühnheit wurde immer nach Luft geschnappt, worauf Mama nickte und stolz den Kopf hob. »Ich hatte mich hinter dem Vorhang im Flur versteckt, und ich sage euch, mein Herz klopfte so stark, dass ich dachte, es würde mir aus der Brust springen.« An dieser Stelle legte sie stets die Hand auf ihr Herz und lächelte.

Aus den Erzählungen ihrer Mutter wusste Leah, dass Jake ein gut aussehender Teufel war, ein Mann wie sonst keiner, so schlank, so dunkles, dichtes, lockiges Haar! »Fünf Jahre sind es jetzt voller Qual und Pein, fünf Jahre der brennenden Sehnsucht ...« Die anderen Frauen lachten; sie meinten, Bella Vogel sei verhext. Manche von ihnen machten Zeichen mit der Hand oder spuckten dreimal über ihre Schulter, um das ajin hora, das Böse Auge, abzuwehren. Man heiratete einen Mann, weil die Eltern ihn für einen ausgesucht hatten. Man heiratete ihn, weil es eine mizva war, verheiratet zu sein. Man heiratete ihn, weil er ein Gelehrter war oder eine Kuh hatte oder ein bisschen Land... oder man heiratete ihn, »weil er da war und nicht Nein sagte«. In seinen Ehemann verliebt zu sein, das war unbekannt und wahrscheinlich gefährlich.

Doch wenn die anderen Frauen sie auslachten und neckten, warf Mama den Kopf in den Nacken und sagte: »Es ist mir gleich, was ihr denkt, es war baschért, es war Schicksal. Die Zigeunerin hat es in meiner Handfläche gelesen.«