Geliebter Unbekannter - Marcia Rose - E-Book

Geliebter Unbekannter E-Book

Marcia Rose

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Beschreibung

"Marcia Rose versteht es meisterhaft, ihren Figuren Leben einzuhauchen und sie zu starken Charakteren zu formen. Große Emotionen vor einem stimmungsvollen, farbenprächtigen Hintergrund." (Publishers Weekly) Alle Frauen lieben ihn – doch keine kennt ihn wirklich: Der Millionär Jack führt seit Jahrzehnten ein Doppelleben. Als er mit siebzig in den Ruhestand gehen und sein Unternehmen verkaufen will, kann er seine Geliebte und deren Sohn nicht mehr länger verheimlichen. Jacks Familie, die sein ganzer Stolz ist, zerbricht beinahe daran. Seine Frau will ihn verlassen, seine Töchter verachten ihn, er steht vor dem Ruin. Auch finanziell – denn in der Chefetage seiner Firma gibt es einen Verräter. Jetzt muss Jack Farbe bekennen und endlich handeln... "Ein Schmöker im allerbesten Sinne des Wortes!" (Library Journal)

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Marcia Rose

Geliebter Unbekannter

Roman

Ins Deutsche übertragen von Jutta Hein

Edel eBooks

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "All for the Love of Daddy" Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2014 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 1987 by Marica Kamien and Rose Novak

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1991 by Wilhelm Heyne Verlag, München

Eine frühere Ausgabe ist unter dem Titel "Geliebter fremder Vater" erschienen.

Ins Deutsche übertragen von Jutta Hein Trotz intensiver Recherche war es dem Verlag nicht möglich, den Rechteinhaber der Übersetzung zu identifizieren bzw. einen Kontakt herzustellen. Wir bitten den Übersetzer bzw. seinen Nachfolger, sich ggf. beim Verlag zu melden.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-635-9

facebook.com/edel.ebooks

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

KAPITEL 1

Erntedanktag, 28. November 1985

Die Küche der Mutter kam Deena Berman vor wie das Bühnenbild für ein Theaterstück, in dem es um eine wohlhabende jüdische Familie ging, die sich am Erntedanktag in einer der großzügigen alten Luxuswohnungen an der Westseite des Central Parks zum Abendessen versammelt hatte.

Jedes Teil war an seinem Platz: die dampfenden Töpfe auf dem Herd, Porzellanschüsseln und silberne Servierteller griffbereit. In der Speisekammer warteten Tabletts mit Bergen von frischem Obst, das zur Versorgung eines kleinen Landes ausgereicht hätte. Und der Teewagen war auf jedem Zentimeter mit köstlichen Desserts bedeckt. Es gab Körbe mit Brot, Brötchen und Zwieback, und durch das Fenster der Backröhre war der obligatorische Truthahn dunkel zu erkennen.

Die Bühne war bereit, der Vorhang konnte sich öffnen, alle waren da: Die mitwirkenden Frauen waren geschäftig beim Kochen – fröhlich, vertraut, lustig, liebevoll –, Papas vier Strauss-Mädchen. In Gedanken ging Deena die Besetzungsliste in der Reihenfolge der Auftritte durch: Mutter Sylvia Weinreb Strauss, neunundsechzig Jahre alt, die älteste Schwester Elaine Strauss Barranger, fünfundvierzig, und die jüngste Schwester Marylin Strauss, Ärztin, sechsunddreißig Jahre alt und – oh Himmel! – noch nicht verheiratet. Und dann natürlich sie selbst, Deena Strauss Berman, Ehefrau und Mutter und – verdammt – dreiundvierzig Jahre alt.

Doch das hier war kein Theaterstück und auch keine Bühnendekoration. Es handelte sich vielmehr um das Zuhause ihrer Kindheit und um ihre Familie. Aus der Küche drangen die Gerüche, die sie seit jeher vom Erntedanktag kannte: eine Mischung aus Butter, Honig, Orangen, Salbei, Nelken, Truthahn, Zwiebeln, Apfelkuchen ... einfach köstlich! Und so vertraut! Deena blieb in der Küche stehen und schnupperte tief und zufrieden.

»Aufpassen!« Elaine schob sich lachend mit einem großen Teller voller rohem Gemüse hinter ihr vorbei. »Ich habe den Auftrag, die crudités hineinzutragen.« Sie sprach das Wort französisch aus.

»Crudités?«, wiederholte Deena. »Kannst du dich vielleicht noch daran erinnern, dass es sich dabei früher schlicht um rohes Gemüse handelte?«

»Das war, kurz bevor aus der Hühnersuppe ein consommé wurde«, schaltete sich Marilyn ein.

»Und aus Schokoladenspeise Mousse ...«, ergänzte Elaine.

Deena musste lachen. »Erinnert ihr euch noch daran, als Sylvia zum ersten Mal verkündete, dass es Mousse geben würde? Und Marilyns Gesichtsausdruck – pure Panik!«

»Die Geschichte haben wir doch alle schon tausendmal gehört, Deena«, sagte Marilyn.

Jetzt lachte auch Elaine. »Das war aber auch komisch! Wir haben dir alles Mögliche erzählt, und du konntest dir nichts darunter vorstellen. Weil bei dir nur zählte, was mit nüchternem Verstand zu erfassen war, warst du so leicht durcheinander zu bringen, Moo.«

»Ach ja, beim Rest dieser Familie von Stehaufmännchen und Komikern ist das ganz anders. Schmerz meiner Kindheit! Es war mir immer peinlich, meine Freunde mit nach Hause zu bringen, weil ich mich wegen euch allen geschämt habe.«

»Und jetzt schämst du dich immer noch?«, zog Deena sie auf. Doch als Marilyn ihr einen bösen Blick zuwarf, fügte sie schnell hinzu: »Ich mach doch nur Spaß. Es ist doch nur ... na ja, es hat ja lange genug gedauert, bis du diesen Knaben mitgebracht hast.«

»Klugscheißer sind nicht gefragt«, kam Marilyns beleidigte Antwort.

»Mädchen!«, ermahnte die Mutter. »Hört doch auf damit. Dafür hat Marilyn ihren Doktortitel ...«

»Ach, Sylvia! Meine Tochter mit dem Doktortitel – willst du darauf hinaus?«

»Ist doch egal. Aber hackt doch nicht immer auf eurer kleinen Schwester herum!« Deena glaubte, ein verstecktes Lächeln um die Mundwinkel ihrer Mutter bemerkt zu haben. Sylvia Strauss gehörte zur alten Schule. Es war leicht vorstellbar, dass sie auf die Idee käme, alle drei Mädchen auf ihre Zimmer zu schicken – die sie bereits seit über zwanzig Jahren nicht mehr bewohnten.

Noch immer kichernd nahm Deena das Tablett mit den Gläsern hoch und stieß mit der Hüfte die Schwingtür zum Esszimmer auf. Auf dem Tisch lag die weiße Damastdecke von Großmutter Strauss, das Silber von Großmutter Weinreb war aufgedeckt, und das Zimmer roch nach Sauberkeit und Möbelpolitur. Earline, Sylvias Haushaltshilfe, die einmal in der Woche kam, hatte am Tag zuvor eine Sonderschicht eingelegt. Als Deena nach sechs Uhr mit dem Kürbiskuchen, ihrem Beitrag zum Fest, ankam, war die große, schwarze Earline noch damit beschäftigt, die Messingtürklinken zu putzen. »Earline«, hatte Deena protestiert, »gibt es bei dir zu Hause nichts für das Erntedankfest vorzubereiten? Der Himmel stürzt nicht gleich ein, wenn hier nicht alles blitzt und blinkt!« Earline hatte voller Stolz geantwortet: »Ich geh ja schon, hab keine Eile. Dieses Jahr kochen meine Enkel für die ganze Familie.« Vier von Earlines sieben Enkeln arbeiteten als Küchenchefs. »Wir sind eine Familie von lauter Kochverrückten.«

Und die Strauss-Familie, dachte Deena, ist eine Familie von Essverrückten. Es gab immer zu viel zu essen und zu trinken. Sylvia hatte eine Neigung zum Übermaß.

Das war schon immer so gewesen und würde sich wohl auch nicht mehr ändern. Alle anderen Dinge in dieser Welt änderten sich – manchmal auf eine Weise, die Deena nicht sonderlich gefiel und über die sie nicht einmal nachdenken mochte, schon gar nicht am Erntedanktag. Nur der Haushalt ihrer Mutter änderte sich nicht. Sie sah sich den wunderbar gedeckten Tisch an und brauchte nun nur noch die Weingläser hinzustellen.

Beim Zurückgehen sah sie in dem gläsernen Flügel der Schwingtür ihr Spiegelbild. Es überraschte sie. Gut sah sie aus, bei Gott! Ihr neuer, kürzerer Haarschnitt umspielte locker das Gesicht und gab den Blick auf die Brillantstecker frei, die Papa ihr zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Sie war zufrieden, dass sie die hohen Wangenknochen der Weinrebs geerbt hatte, nur hätte sie auch noch gern deren große runde, blaue Augen gehabt. Ihre waren haselnussbraun. Aber das reichte doch trotzdem, um sexy zu wirken, oder? Sie lachte über sich selbst. Sexy! Niemand würde sie so bezeichnen. Na ja, eigentlich war sie es ja auch nicht. Sie war dreiundvierzig, Mutter von vier Kindern, Hausfrau, in Teilzeitarbeit Beraterin an der Clayton Schule und seit kurzem zeitweise Studentin an der Hochschule.

Doch eigentlich wirkte sie doch jünger als Marilyn, obwohl sie sieben Jahre älter war. Sie fand, dass Marilyn schrecklich aussah – völlig ungeschminkt und verwittert wie die Frauen aus den Bergen. Vielleicht war das aber auch unfair! Marilyn war von Natur aus blond; sie benutzte keinerlei Schminke und legte keinen Wert darauf, modisch auszusehen. Heute beispielsweise trug sie Hosen und einen Herrenpullover. Und das zum Erntedankfest! Ihr helles, lockiges Haar war schlicht aufgetürmt und wurde von zwei Holzstäbchen zusammengehalten. Warum war ihr das eigentlich so egal?

Schade um Marilyn! Zwar war sie Ärztin, aber sehr glücklich und zufrieden sah sie nicht aus – kleiner, dünner und blasser als der Rest der Familie. Als kleines Mädchen war sie goldig – eine Blondine unter diesen dunkelhaarigen, etwas grobknochigen Frauen. Damals sagte jeder, dass Marilyn eine Schönheit werden würde. Gemeint war aber, dass sie wie eine Schickse, eine Nichtjüdin, eine angelsächsische Protestantin aussehen würde. So kam es auch, schön wurde sie nicht.

Schließlich musste Deena über ihre Übertreibungen selbst schmunzeln. So schlecht sah Marilyn doch gar nicht aus! Und wenn schon Übertreibungen, so würden sie doch eher auf Elaine zutreffen. Sie war die größte – fast eins fünfundsiebzig – und die schönste der drei Schwestern: mit ihren großen blauen Augen, dem dicken, schwarzen, glänzenden Haar, den hohen Wangenknochen und ihrer Adlernase. Sie war aber auch die dickste – knapp zwanzig Kilo zu stattlich, wie sie es selbst gern ausdrückte. Die Männer liefen ihr jedoch noch immer nach.

Und was strahle ich aus?, überlegte Deena. Eigentlich gar nichts. Sie war in jeder Beziehung typisch für das mittlere Kind: mittelschlank, mittelintelligent, mittelzufrieden, nicht so umwerfend wie Elaine, aber auch nicht so langweilig wie Marilyn ...

Doch Tag und Nacht herumzugrübeln wurde langsam zu einer ärgerlichen Angelegenheit. Neulich war sie morgens um drei aufgewacht und hatte sich dabei ertappt, dass sie an ihre Kinder dachte, als die noch Babys waren, und hatte eine unbändige Wut auf Michael empfunden, der während der schwierigsten Jahre meist abwesend war. Sie war zu Tode erschöpft gewesen, weil sie sich um vier Kinder zu kümmern hatte, die jetzt alt genug waren, um sich selbst zu beschäftigen ... Und dazu hatte sie einen Ehemann, der mit seiner Anwaltskanzlei und zahlreichen Versammlungen, die dem Jagen von Nazis galten, so ausgefüllt war, dass sie ihn kaum noch zu sehen bekam.

Doch was sollte das ganze Wühlen in Erinnerungen! Sie schüttelte sich und ging eilig in die Küche zurück. Genau in dem Moment, als Sylvia rief: »Deena! Es ist drei Uhr und neun Minuten!«

»Ich bin ja hier, Syl, du brauchst nicht zu schreien.«

»Es ist höchste Zeit ...« Deena wusste, was das bedeutete. Es gab einen säuberlich notierten Arbeitsplan, der über dem Herd an der Wand hing. Deenas grüne Bohnen mit Mandeln waren für drei Uhr vorgesehen. Sie musste lachen. Diese Sylvia! Die beste Planerin des gesamten Stadtteils! Als sie begann, die Bohnen zu bündeln, sahen ihre Schwestern auf die Uhr und zählten laut die Sekunden.

»Drei Uhr zehn, Sylvia«, sagte Elaine. »Zehn Minuten zu spät. Sollen wir Deena ohne Abendessen ins Bett schicken?« Alle lachten.

Deena blickte auf den geraden Rücken ihrer Mutter, der in rosa Kaschmir gehüllt war, und auf ihre geschickten Hände. Die Gute, sie erledigte ihre Arbeit immer rechtzeitig. Das machte es schwierig, wenn sie andere dazu drängte, sich nach ihrem Plan zu richten. Auch für Papa, der so viele lustige Geschichten zu erzählen hatte und stets für großes Gelächter sorgte, wenn er die Kinder in die Wangen kniff und Silberdollars verteilte. Papa war zwar der Star in der Show, aber er würde diese Rolle nie spielen können, wenn Sylvia nicht alle Zuschauer auf ihre Plätze scheuchte. Ihre Geschicklichkeit in solchen Dingen war erstaunlich! Woher, zum Teufel, nahm sie die Energie? Plötzlich kam Deena zu Bewusstsein, dass ihre Mutter all diese Arbeit und das Organisieren und die Betriebsamkeit tatsächlich genoss ...

Halb vier sollten die Bohnen fertig sein. Das hieß, Deena blieben noch genau elf Minuten und dreißig Sekunden Zeit für die Zubereitung. Wie nett, irgendjemand hatte schon eine Schüssel bereitgestellt. Aber als Deena danach griff, war sie schon gefüllt. Sie enthielt etwas völlig Neues, Unbekanntes, etwas, das verdächtig nach Tofu und schwarzen chinesischen Pilzen aussah.

»Von wem kommt denn das Gericht da?«

»Welches?«

»Das da, das so nach Tofu und Pilzen aussieht.«

»Es ist Tofu mit Pilzen«, meldete sich Marilyn, »und es kommt von mir.«

In ihr Lachen hinein ging die Tür mit Schwung auf, und schlagartig wirkte die große, geräumige Küche überfüllt. Jack Strauss war eingetroffen, stürmte herein wie ein Wirbelwind und legte sofort los. Deena liebte die Stimme ihres Vaters, die tief und ein bisschen rau klang nach all den Jahren, in denen er dicke, schwarze Zigarren geraucht hatte. Und sie liebte sein dröhnendes Gelächter, seine ausholenden Gesten. War er je in ein Zimmer geschlichen oder auch nur gegangen? Vermutlich nicht. Zu Jack Strauss gehörte der dramatische Auftritt.

»Da sind sie ja! Genau, wo ich sie vermutet habe – in der Küche! Acht der schönsten Beine von New York!«

»Acht der müdesten Beine«, konterte Marilyn. »Und überhaupt, Papa, es geht nicht um unsere Beine!«

»Ach, meine kleine Feministin!«, dröhnte Jack. »Ich bin nun mal ein Beine-Mann, deswegen habe ich mir ja eure Mutter ausgesucht ...«

»Das haben wir schon mal gehört«, sagte Sylvia. »Die Fähre nach Staten Island, der Wind, mein Rock, meine Beine ... Es reicht, Jack!« Doch dabei lachte sie, und ihre Wangen waren gerötet vor Freude. Wie schön, dachte Deena, wenn der eigene Ehemann nach so vielen Jahren noch solche Gefühle auslöst.

»Und überhaupt, Marilyn«, fuhr Jack fort, »rede du nicht von müden Beinen. Ausgerechnet du, die Skiläuferin, die Wanderin, die Bergsteigerin. Wie viele alpine Gipfel hast du denn im letzten Sommer bestiegen? Zwölf?«

»Zwei. Und das ist überhaupt kein Spaß, Papa.«

»Spaß? Wer macht hier Spaß? Seht ihr mich lachen? Betrachtet mich als einen Richter, einen Rabbiner, einen Professor – ernsthaft ...«

Alle drehten sich gehorsam um und schauten ihn an. Deena lächelte. Mit siebzig sah er um Jahre jünger aus. Er pflegte sich sehr, achtete auf sein Gewicht, trainierte zweimal in der Woche in der Sporthalle, legte sich auf die Sonnenbank und ging zu Fuß zur Arbeit. Das Ergebnis: kein Bauch, keine Schwammigkeit, breiter Brustkasten und kräftige, muskulöse Beine, und das viele weiße Haar auf seinem großen Kopf ging erst seit kurzem an der Stirn leicht zurück. Noch immer besuchte er alle zwei Wochen zum Haare Schneiden einen der feinsten Salons der Stadt.

Beim Betrachten ihres Vaters dachte Deena nicht zum ersten Mal, dass ihre Mutter sehr glücklich sein müsste. Beide hatten noch so viel Schwung, reisten noch, machten ihre Späße, und vermutlich schliefen sie auch noch miteinander. Die meisten von Jacks Freunden waren schon alte Männer, gebeugt und nörgelig und bereit aufzugeben. Wie gut waren sie, die vier Strauss-Mädchen, doch dran!

»Was willst du eigentlich, Jack? Wir haben zu arbeiten.«

»Was ich will? Etwas zu essen. Es riecht so fantastisch hier ...« Er schlich herum und guckte in die Töpfe, öffnete die Backofentür, steckte den Finger in die Schüssel mit der Kronsbeerensoße und leckte ihn genüsslich ab. »Himmel, was soll das denn sein?« Deena brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, dass ihr Vater gerade Marilyns Beitrag zum Festessen entdeckt hatte.

»Was ist was, Papa?« Jetzt wirkte Marilyn alles andere als gelassen.

»Na, dieses schwarzweiße Zeug hier ... Was es auch sein mag, ich hoffe, dass du nicht die Absicht hast, das Zeug zusammen mit dem Essen auf den Tisch zu bringen!«

Alle außer Marilyn lachten. Die wurde puterrot und sagte: »Für Leute, die keinen total provinziellen Geschmack haben, ist es eine ziemliche Delikatesse.«

»Ach, Marilyn«, sagte Deena, als ihr Vater die Augenbrauen zusammenzog, »komm doch. Hast du da oben in Vermont deinen Sinn für Humor verloren?«

Marilyn murmelte irgendwas, das Jack vermutlich ausreichte, denn er nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und ging zur Tür. »Sylvia, das vierte Viertel läuft.«

»Dann guck zu.«

Er zuckte die Schultern. »Also, Abendessen in ungefähr zwanzig Minuten?«

»Wann immer du willst, Jack.«

»Warum denn, wann er will?«, protestierte Marilyn, als er sich entfernt hatte.

»Er ist das Familienoberhaupt«, antwortete Sylvia verwundert, »das weißt du doch.«

»Na ja, es wäre aber viel vernünftiger, wenn die bestimmten, wann das Essen aufgetragen wird, die die ganze Arbeit gemacht haben.«

»Ach Marilyn, Liebling, das ist deiner nicht würdig. Seit dreißig Jahren mache ich das Essen zum Erntedankfest, und seit dreißig Jahren kommt er im vierten Viertel rein, um zu verkünden, dass er Hunger hat, und beschwert sich, dass Football eigentlich kein richtiger Sport ist. Und seit dreißig Jahren sage ich: ›Wann immer du willst.‹ Und seit dreißig Jahren serviere ich das Essen, wenn ich fertig bin. Und das, meine liebe Tochter, ist das, was ihr jungen Leute eine funktionierende Ehe – entschuldige, Beziehung – nennt.«

Für Marilyn war das nicht immer leicht zu verstehen. Sie war sieben Jahre jünger als Deena, und als sie ein Teenager war, waren ihre Schwestern beide schon verheiratet und aus dem Haus. Daher hatte Papa ihr seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt, nach der Deena sich manchmal so gesehnt hatte, als sie in diesem Alter war. Marilyn ist wie ein Einzelkind aufgewachsen. Man sollte meinen, dass sie dem Vater am nächsten stünde. Stattdessen kritisierte sie aber ständig an ihm herum. Obwohl er immer neue Ideen hatte und andere ganz schön zum Narren halten konnte, gab es wohl kaum einen Mann auf der Welt, der so gutmütig und großzügig wie Jack Strauss war.

Und Marilyns Männer-Geschmack war auch nicht gerade der beste. Die drei, die Deena kennen gelernt hatte, waren kaum Siegertypen. Dazu gehörte auch Marilyns gegenwärtiger Liebhaber: John LaSalle, groß, bärtig, mit Pferdeschwanzfrisur und wortkarg. Er sah gut aus. Deena und Elaine hatten einen Blick des totalen Verstehens ausgetauscht, als sie ihn zum ersten Mal sahen. Was in aller Welt fanden die beiden aneinander? Dieser dunkle, ziemlich sexy wirkende Naturbursche und ihre kluge, blasse Schwester, die eher ein Neutrum war? »Kannst du dir die beiden im Bett vorstellen?«, hatte Elaine kichernd gefragt. Deena sprach es natürlich nicht aus, aber dieselbe Überlegung hatte sie auch oft über Elaine und ihren Mann Howard angestellt. Howard, ein kleiner, schmal gebauter Mann, und Elaine, die bestimmt zehn Kilo schwerer war als er! Das ging Deena aber wirklich nichts an, zumal sie – um ehrlich zu sein – zurzeit auf diesem Gebiet nicht sonderlich erfolgreich war.

»Das war doch klar«, sagte Sylvia, »dass dein Vater nichts Neues wie Tofu mit Pilzen ausprobieren würde, schon gar nicht am Erntedanktag.«

»Er muss es ja nicht essen«, erwiderte Marilyn mit zusammengepressten Lippen, »aber er könnte wenigstens seinen Mund halten.«

»Marilyn!«

»Doch, Sylvia, was er gesagt hat, war äußerst unhöflich.«

»Aber lustig«, konnte Deena nicht widerstehen hinzuzufügen.

»Das ist es ja eben«, schimpfte Marilyn, »wenn ihr irgendwas lustig findet, dann ist es für euch auch in Ordnung.«

»Vater liebt seine Familientradition«, erklärte Sylvia geduldig. »Glaubst du, ich würde bei diesem Essen nicht auch gern mal was Neues ausprobieren, vielleicht eine andere Füllung?«

»Untersteh dich!«, lachte Elaine. »Das ist das Rezept von Großmutter Strauss!«

Sylvia rollte mit den Augen. »Meinst du, ich weiß das nicht? Jahre musste ich warten, bis sie mir die geheimen Zutaten verriet. Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen ... Diese Frau war mehr als schwierig. Bei der bekam man Schmerzen im Arsch!«

»Sylvia!« In den entsetzten Gesichtern ihrer Schwestern erkannte Deena ihren eigenen Schrecken wieder. Ihre Mutter, von der man niemals einen Kraftausdruck gehört hatte, für die ›Du Blödmann!‹ schon ein Schimpfwort war!

»So ein Wort haben wir ja noch nie von dir gehört!«

Sylvia antwortete ganz sanft: »Ja, ich habe noch nie ein Wort wie Arsch benutzt. Aber seit ich in der Gruppe bin ...«

»In der was?«

»Jetzt nicht, jetzt nicht ...« Ein schneller Blick auf die Armbanduhr. »Die kandierten Süßigkeiten sind dran.«

»Sylvia, du kannst uns doch nicht so im Dunkeln lassen.«

»Seit ich in der Gruppe bin, kann ich das. Es ist nur ein Spaß. Aber jetzt sind wirklich die Süßigkeiten an der Reihe. Deena, guck mich doch nicht an wie ein waidwundes Reh.«

Deena war empört. Aber sie holte tief Luft und tat so, als suchte sie etwas im Esszimmer.

Was sie suchte, war Alleinsein. Sie stand am Tisch, starrte ins Leere und blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Verdammt, sie würde nicht weinen. Sie hatte in den vergangenen Wochen schon zu oft geheult. Was war nur mit ihr los?

Deena trat an eins der großen Fenster, die auf den Central Park gingen. Sie glitt hinter den schweren Vorhang, wickelte sich in ihn ein wie in eine große warme Decke und lehnte sich gegen das kühle Glas. Das war schon in der Kindheit der Ort ihrer Zuflucht gewesen, zu dem sie ging, wenn sie Trost und Einsamkeit brauchte. Damals hatte sie geglaubt, dass der Central Park ihr Garten war, so wie der Vater es ihr erzählt hatte: »Schau mal, den hab ich für dich und deine Schwestern anlegen lassen, damit meine kleinen Mädchen viel Platz zum Herumlaufen und Spielen haben.«

Plötzlich konnte sie sich bis in die kleinste Kleinigkeit erinnern: Die perlgraue Morgendämmerung – sie war wohl kaum älter als drei gewesen – vor vierzig Jahren, als Papa auf Zehenspitzen in ihr Zimmer gekommen war, das sie sich mit Elaine teilte, und den Finger auf die Lippen gelegt hatte und seine Augen vor Freude glänzten.

An jenem Morgen des Erntedankfestes hatte er mit ihr aus dem Fenster gesehen, und da hatte sie etwas erblickt, auf das sie nicht gefasst war: Micky Mouse! Riesig und bunt sprang sie in dem trüben Licht des frühen Morgens herum. Sie war direkt vor dem Fenster und sah sie an. Sie erinnerte sich an Papas kratzende Bartstoppeln.

»Schau, Liebling, Papa hat sie nur für dich bestellt.«

»Deena? Bist du hier und versteckst dich?« Michael stand in der Tür.

Sie wickelte sich aus dem Vorhang, damit er sie sehen konnte, bewegte sich aber nicht. »Als Kind habe ich von hier aus gern in den Park geschaut«, sagte sie. »Sieh mal, Michael, da drüben auf der East Side wird es schon dunkel, aber hier scheint noch die Sonne.«

Seine Stimme klang trocken. »Das liegt daran, dass es sich bewölkt.«

Sie schaute ihn an. »Ich weiß, dass ... ach, ist egal. Es sieht so verlassen aus da draußen ohne die Ballons, nicht? Meine Schwestern und ich haben die dumme Parade geliebt. Um nichts in der Welt hätten wir sie missen mögen ... Ich glaube, weil Papa uns davon überzeugen konnte, dass er sie extra für uns bestellt hatte.«

Michael lachte auf.

»Warum hätte ich ihm das nicht glauben sollen. Er hat mich doch nie belogen!«

»Was soll das denn heißen?«

»Ach, nichts.«

Deena warf ihrem Mann einen kurzen, prüfenden Blick zu. Sie fühlte sich weit weg von ihm. Michael sah für einen Fünfzigjährigen immer noch gut aus mit seinen langen Beinen und kräftigen Schultern und den gleichmäßigen Zügen seines Gesichts mit dem kantigen Kinn ... Das dichte, lockige Haar – schon etwas grau meliert – war sorgfältig geschnitten; als sie ihn kennen gelernt hatte, war es vollkommen schwarz gewesen. Damals waren die tiefen Falten zu beiden Seiten des Mundes Grübchen, die plötzlich erschienen, wenn er lächelte.

Jetzt versuchte sie ein Lächeln, aber er erwiderte es nicht.

»Es wäre nett, Deena, wenn du zur Abwechslung mal keinen Streit mit mir anfangen würdest.«

Deena seufzte. »Lass uns wieder vertragen, Michael. Ja?«

»Ich weiß nicht, warum wir uns wieder vertragen sollten.«

»Ach, Michael!«

»Tu mir den Gefallen und hör auf, alles zu dramatisieren.«

»Tu mir den Gefallen, Michael, und hör auf, mir ständig zu sagen, dass ich nichts dramatisieren soll, wenn ich lediglich versuche, mit dir zu reden.« Er winkte bei ihren Worten ab, und sie spürte, wie es ihr eng um die Brust wurde und ihr Tränen in die Augen stiegen.

Michael sah sie kalt an. »Schon wieder Tränen? Ich weiß nicht, was die bei mir bewirken sollten. Ehrlich gesagt, möchte ich mir lieber das Footballspiel im Fernsehen angucken.«

»Deswegen haben wir ja gerade unsere Probleme.« Sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen.

»Es wäre wunderbar, Deena, wenn es an einem einzigen Tag mal ohne Szene abginge.«

»Michael, tu mir das nicht an ... tu es uns nicht an.«

»Wir reden später.«

»Das sagst du immer. Aber irgendwie kommen wir nie dazu. Du bist ja nie da.«

»Um Himmels willen, Deena, jetzt ist doch wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Wir haben Erntedanktag.«

»Du brauchst mir nicht zu sagen, wie ich mich verhalten soll«, brachte sie mit erstickter Stimme heraus. Aber sie redete buchstäblich gegen die Wand. Er war gegangen, und sie blieb zurück und fühlte sich wie eine Närrin.

Das kommt davon, wenn man mit neunzehn heiratet – und dann auch noch einen Mann von sechsundzwanzig. Man nimmt die Position der geliebten, aber etwas dummen Dienerin ein ... Und Deena meinte, es gäbe wohl keinen Mann auf der Welt, der es einer Frau erlauben würde, aus dieser untertänigen Haltung zu entkommen. Vierundzwanzig Jahre und vier Kinder später kämpfte sie immer noch und versuchte, ihn – und oft auch sich selbst – davon zu überzeugen, dass sie erwachsen war und dass sie vielleicht hin und wieder mal Recht haben könnte.

Während Deena die Schultern straffte und sich langsam beruhigte, hörte sie plötzlich lautes Lachen und Reden aus der Diele. Die Kinder waren gekommen, endlich! Dann ertönte Sylvias Stimme, die durch den Korridor rief: »Hallo, meine Lieben! Ihr kommt gerade rechtzeitig für ein bisschen was zu beißen. Nimm’s nicht wörtlich, Noel!«

Bei diesen Worten brach allgemeine Heiterkeit aus. Am Erntedankfest von ›ein bisschen was zu beißen‹ zu reden war einer von Sylvias ein wenig abgedroschenen kleinen Scherzen, den sie jedes Jahr wiederholte. Vor siebzehn Jahren, als Noel Barranger fünf wurde und seinen eigenen Sinn für Humor entdeckte, hatte sich der Junge das ›bisschen was zu beißen‹ direkt vom Ohr seiner Großmutter geholt. Diesen Augenblick würde Deena nie vergessen! Sylvia hatte den Jungen fallen lassen und ›Aua, du Teufel!‹ geschrien. Und Noel plumpste unvermittelt auf den Boden und fing an, wie verrückt zu lachen.

Jetzt lachte Sylvia und rief: »Wartet ab, eines Tages werde ich Noel das heimzahlen! Ihr werdet schon sehen.«

»Mach das, Oma«, gluckste Noel, »dann lass ich dich auf den Fußboden fallen.«

Michael Berman schaute durch die Video-Kamera und war zufrieden mit dem, was er sah. Da war, schön umrahmt, sein Schwiegervater, das Urbild eines Familienoberhaupts, der ein wenig vom Tisch abgerückt war, die Reste seiner Mahlzeit vor sich auf dem Teller. Er klopfte sich auf den muskulösen Bauch und grinste vor Vergnügen. Konnte man den Dank für die Ernte besser ausdrücken? Michael ließ die Kamera laufen.

»Oh«, stöhnte Jack, »wenn ihr wüsstet, wie gern ich jetzt rülpsen würde ...«

»Wehe, Jack!«, protestierte Sylvia. Aber sie wurde übertönt vom Geschrei der vier Enkelkinder, die den Opa anfeuerten: »Los! Ordentlich laut! Hör nicht auf Oma, du musst für den Nachtisch Platz schaffen!«

Jack amüsierte sich über die lautstarke Reaktion. Kinder und ihre Streiche hatten ihn nie gestört.

Doch jetzt verlangte er Ruhe und schüttelte den Kopf. »Nein, nein – nicht an der wunderbaren Festtafel eurer Großmutter! Meine Mädchen haben lange und hart gearbeitet, um uns dieses Festmahl zu bescheren. Wir werden diese kostbaren Augenblicke nicht zerstören.«

»Hört, hört!«, meldete sich Michael. Er legte die Kamera weg und hob das Weinglas. »Auf viele weitere dieser kostbaren Augenblicke!« Er sah zur Seite und versuchte, Deenas Blick einzufangen. Was war nur mit ihr los? Sie war doch immer so fröhlich gewesen, so übersprudelnd und gutmütig. Jetzt plötzlich war sie Stimmungen unterworfen und verdarb damit immer mehr der guten Augenblicke.

Er erinnerte sich an einen Höhepunkt seines Lebens. An den Tag, an dem er als Bester seines Jahrgangs die juristische Fakultät von Harvard verlassen hatte. Er wusste, dass er es endlich geschafft hatte, und als er seine Mutter und seinen Vater ansah, erkannte er, dass ihre Hoffnungen und Träume in Erfüllung gegangen waren. Beide Eltern waren die Letzten in der jeweiligen Linie ihrer Familien. Sie hatten alles und jeden durch Hitlers Wahnsinn verloren. Ihn hatten sie gezeugt als ein Denkmal für die siebenundsechzig Bermans und Feigenbaums, die in den Todeslagern umgekommen waren. Das war seine Familie, in der er in der Bronx heranwuchs – Vater, Mutter und siebenundsechzig Geister.

Kein Wunder, dass er sich in Deena verliebt hatte. An ihr klammerten sich keine Geister fest! In dem lebhaften, geräuschvollen Strauss-Haushalt voller Spaß, Musik und Gelächter könnte gar kein Geist überleben.

Ihre Hochzeit war der Inbegriff eines Strauss’schen Familientreffens. Die Erinnerung daran war es wert, festgehalten zu werden. Die überfüllte, von Kerzen beleuchtete Synagoge, Berge von gelben und weißen Blumen – und die ganze Synagoge bevölkert von nur einer Familie. Selbst wenn man Vettern zweiten Grades von der Gästeliste gestrichen hatte, blieben noch immer zweihundertfünfzig Personen, die lächelnd zusahen, wie er und seine schöne junge Braut sich die schweren goldenen Ringe überstreiften. Damals waren ihre Augen voller Liebe und Bewunderung, wenn sie zu ihm aufsah.

Und jetzt? Jetzt wusste er nie, was er von ihr zu erwarten hatte. An manchen Tagen war sie hingebungsvoll und lieb wie das Mädchen, das er sich ausgesucht hatte. Doch oft – so wie heute – blickte sie ihn an, als ob sie ihn nicht kannte.

Natürlich hielt die Romantik nicht ewig vor. Sie waren fast fünfundzwanzig Jahre verheiratet, und die meisten davon waren gute Jahre. Es gab also keinen Grund, traurig zu sein. Das Wichtigste an seiner Ehe waren ihm die Kinder: Nathan, Judith, Zoe und Saul. Sie waren Garanten seiner Unsterblichkeit, seiner Zukunft und sein Grund zu leben. Jedes einzelne war ein Wunder, mit dem er dem Nazi-Schrecken trotzte. Eine Familie zu gründen und sie zu erhalten, das war der Sinn des Menschen auf Erden. Daran glaubte er aus vollem Herzen und mit ganzer Seele.

Michael trank einen Schluck Wein und richtete seine Gedanken wieder auf die Gegenwart. Sylvia schob unter dem lauten Beifall ihrer Enkel den mit Desserts beladenen Teewagen herein. Für Michael wurde es Zeit, wieder zu filmen.

»Ach, du lieber Himmel!«, protestierte Marylin. »So viel Kuchen – Schwarzwälder Kirschtorte und Kirschkuchen und Mousse au Chocolat. Das führt doch zum direkten Herzstillstand!«

»Wenn das zum Herzstillstand führt, Marilyn«, entgegnete Jack und breitete die Arme aus, als wollte er den Teewagen umarmen, »dann ist das eine verdammt gute Art, sich davonzumachen.«

»So komisch ist das gar nicht, Papa.«

»Bestimmt nicht so komisch wie dein Spezialrezept!«

Marilyn wurde rot, und für einen Augenblick trat eine unbehagliche Stille ein. Dann sagte Noel, der ewige Charmeur: »He, Opa, Moo muss sich schon richtig ernähren. Ist sie doch die einzige Person an diesem Tisch, die mit einem Hüpfer über Berge springen kann.«

Marilyn entspannte sich sichtlich, dann räusperte sich zu aller Überraschung ihr Freund John und sagte: »Marilyn ist der lebendige Beweis für die Richtigkeit ihrer Überzeugungen. Sie betreut viele Stunden lang ihre Patienten, kommt nachts mit nur vier Stunden Schlaf aus und kann beim Skilaufen immer noch jeden Mann in die Tasche stecken.«

Deena lachte. »Marilyn hatte immer mehr Energie als eine ganze Kleinstadt.«

»Aber zum Kochen hätte ich doch lieber die Oma dabei, wenn ich zum Skilaufen fahre«, meldete sich Zoe, deren zarte Figur die Unmengen Essen Lügen strafte, die sie ständig in sich hineinstopfte.

»Himmel, ich seh das schon richtig vor mir: Sylvias Wintersportort, den Schmorbraten, das Tafelsilber, die Wischtücher ...«, rief Elaine aus.

»Oh ja, und an der Tür ein Kasten mit Mützen und Handschuhen«, ergänzte Deena. »Und eine liebevolle jüdische Mama, die aufpasst, dass alle warm genug angezogen sind.«

»Und oben am Lift noch eine jüdische Mama, die dir sagt, wenn es Zeit ist, nach Hause zu gehen, weil du verfroren aussiehst«, rief Zoe aufgeregt.

»Ach, Jack«, sagte Sylvia und schnitt ihre Obstkuchen in Stücke, »du hast eine wirklich lustige Familie ... ja, ich geb dir die Schuld daran ...« Dabei lächelte sie; sie mochte die gute Laune ihrer Lieben.

Das rettete diese Familie, dachte Michael. Alle sahen immer die lustigen Seiten. Selbst Marilyn konnte gelegentlich fröhlich sein. Er wünschte sich, dass auch Deena wieder vergnügter wurde – nicht nur heute und nicht nur für einen Tag, sondern dass sie wieder so wurde, wie sie einmal gewesen war.

Deena spürte den Blick ihres Mannes auf sich, aber sie würde ihn nicht ansehen. Sie träumte von ihrem Drehbücher schreibenden Lehrer, dazu hatte Michael keinen Zutritt.

Dienstagabend, gerade als sie den Obstkuchen zubereitete, klingelte das Telefon. Luke war dran. Die Klasse wollte sich am Tag nach dem Erntedankfest einen Film ansehen. Ihm war zwar klar, dass der Termin für viele ungünstig war, aber es war ein wichtiger Film, ein Freund hatte ihn gedreht ...

Sie sagte zu, ohne lang zu überlegen, ob der Termin günstig war. Der Kursus für Drehbuch-Autoren war ihre Unabhängigkeitserklärung. Und wenn man bedachte, dass der Lehrer eine attraktive, einfühlsame Person war und ein wenig mit ihr flirtete, gab es sicher Schlimmeres, als zwei Stunden in einem dunklen Kino neben ihm zu verbringen. In ihrem Traum saß er natürlich neben ihr, seine Hand griff nach ihrer und dann ...

Solange Michael sie so anstarrte, konnte sie sich nicht ihren Träumen hingeben. Ihr Mann hatte die Angewohnheit, sich über jeden Menschen ein Urteil zu bilden, und sie war die Nummer Eins auf seiner Liste. In Michaels Welt gab es keine Grauzonen, es gab nur richtig oder falsch, schwarz oder weiß, gut oder schlecht, Liebe oder Hass. Es war verdammt schwierig, damit zu leben.

Seit einiger Zeit fragte sie sich, ob er immer so steif, so humorlos gewesen war. Das konnte eigentlich nicht sein, das hätte sie doch gar nicht ausgehalten! Und wenn er ein grimmiger junger Mann gewesen wäre, hätte Papa es sicher bemerkt. Papa hatte immer eine Meinung zu den jungen Männern, die ins Haus kamen.

Aber über Michael hatte Papa kein ablehnendes Wort gesagt. Im Gegenteil: »Also, der ist der Beste, den du seit langem mitgebracht hast, liebe Deena. Er ist ein hochintelligenter Student.«

Sie hatte die Wärme von Papas Zustimmung genossen, die so anders war als seine Verachtung für die meisten jungen Männer, die ins Haus kamen, unter anderem auch für Howard. Und sie fühlte sich zu Michael ungeheuer hingezogen. Er sah gut aus, war so klug und reif und nahm das Leben ernst. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, dass dieser Mann ausgerechnet sie wollte, sie, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren. Mit neunzehn war sie bereits verheiratet und mit zwanzig Mutter. Und wie im Märchen waren sie glücklich bis an ihr Lebensende.

Bis vor kurzem. Und heute, am Erntedankfest, erschien es ihr besonders schlimm. Aber Papa hätte es ihr nicht verziehen, wenn sie mit ihren persönlichen Problemen seinen Lieblingsfamilientag gestört hätte.

Gerade als sie das dachte, räusperte sich Jack, stand auf und erhob sein Weinglas.

Papa grinste und sagte: »Ich danke euch. Jetzt, wo ich eure Aufmerksamkeit habe – auch von dir, Zoe, mein Liebling –, will ich meinen Mädchen eine sehr gute Neuigkeit mitteilen. Und wenn ich mich nicht täusche, wird es auch den Knaben, die das Glück hatten, bei ihnen zu landen, nicht ganz schlecht gehen.«

Michael nahm die Videokamera wieder auf, um zu filmen. So wie Jack lächelte, musste es eine wirklich gute Nachricht sein, dachte Deena. »Meine Lieben ... Es ist mir sehr ernst«, begann er, und Tränen stiegen ihm in die Augen. »Meine wundervolle, wundervolle Familie. Ich habe ... ich bin ...« Er atmete tief durch. »Ich habe ein Angebot bekommen. Wenn ich das ablehnen würde, wäre ich ein Idiot. Dreißig Millionen Dollar. Also ... ich werde annehmen. Ich verkaufe das Geschäft, ich geh in Pension. Ich mach alle meine Mädchen reich. Sehr reich!«

Als er zu sprechen begonnen hatte, hatten alle automatisch die Gläser zum Trinkspruch gehoben. Aber stattdessen brandete bei seinen letzten Worten Gemurmel auf. Elaine war fassungslos. Papa als Pensionär? Das konnte sie sich nicht vorstellen! Sie hatte ihr ganzes Leben lang an ihn nur in Verbindung mit seinem Unternehmen gedacht.

Es war unvorstellbar, dass er verkaufen würde. Er hatte das Geschäft aus der kleinen Tischlerei von Großvater Weinreb aufgebaut. Aus einem Raum an der unteren East Side wurde eine millionenschwere Baufirma, und das hatte er ganz allein geschafft. Er war einer der Ersten gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Chance erkannt hatten, preiswerte Reihenhäuser anzubieten ... einer der Ersten, der gesehen hatte, was man aus der oberen West Side machen konnte. Und sobald es vor zehn Jahren gesetzlich zugelassen war, hatte er begonnen, Industriegebäude in Manhattan zu Luxuswohnungen umzubauen. Und jedes Mal gab es Leute, die ihn für verrückt hielten. Aber Jack Strauss hatte es geschafft, immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und war von Erfolg zu Erfolg geeilt. Und jetzt wollte er das alles einfach so aufgeben? Das konnte er doch nicht machen! Und wenn es Millionen von Millionen gäbe, wie konnte er denn daran denken, einfach wegzugehen?

»Und was gedenkst du mit dir selbst anzufangen?«, fragte Deena. »In teuren Modegeschäften rumstehen und Sylvias Mantel halten? Oder im Supermarkt hinter ihr herlaufen und den Wagen schieben? Du wirst es hassen!«

»Stimmt, Papa!«, rief Marilyn aus. »Was denkst du dir dabei? Du hast immer gesagt, man müsste dich mit den Füßen voran hinaustragen. Du hast dich doch nicht geändert! Rückzug aus dem Geschäft – das wird dich umbringen!«

Elaine hätte die ganze Geschichte vermutlich amüsant gefunden, wenn sie nicht so wütend gewesen wäre. Da stand er, so selbstzufrieden, so glücklich strahlend. Er sah sich erwartungsvoll um und wartete auf ihre Zustimmung und Dankbarkeit. Er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass er mit seiner Absicht jemanden verletzen könnte. Was er tat, hielt er automatisch für richtig. Verdammt!

»Verdammt!«, sagte sie laut. »Es tut mir leid, aber das ist nicht fair!« In diesem Moment legte Michael seine Kamera aus der Hand.

»Bubbele, Lainie, was ist los? Wo liegt das Problem? Hast du nicht zugehört, was ich gesagt habe? Dreißig Millionen Dollar, geteilt durch vier ... rechne selbst aus!«

»Ich hab genug Geld! Ich rede nicht von Geld, verdammt! Ich rede vom Unternehmen ... einem Familienunternehmen, wie ich dachte.« Sie spürte Howards Hand auf dem Rücken, der sie beruhigen wollte. Sie wollte sich aber nicht beruhigen.

Jack streckte die Hände nach ihr aus, sein Gesicht drückte liebenswerte Vernunft aus. »Was ist los? Willst du nicht, dass ich mich aus dem Geschäft zurückziehe? He, mach dir keine Sorgen, das bedeutet nicht, dass ich alt werde. Ich habe mich nur entschlossen, noch ein bisschen Spaß zu haben, bevor sie mich mit den Füßen voran in einer Kiste hinaustragen. Nimm’s dir nicht zu Herzen, Bubbele.«

Dieser Mann war unglaublich! Sie absichtlich so misszuverstehen! Es war zum Verrücktwerden! Nachdrücklich schüttelte sie den Kopf.

»Du weißt genau, dass ich nicht davon rede. Du sollst ja deinen Spaß haben. Ich freue mich, dass du dich zurückziehst, bevor du einen Herzanfall oder so was bekommst. Worüber ich rede – und das weißt du genau –, ist das Geschäft. Warum, zum Teufel, verkaufst du es an Fremde, wenn es der Familie gehört?«

»Elaine«, sagte Jack mit herablassendem Lächeln, »in der Familie ist niemand, der die Firma leiten könnte. Oder es auch nur möchte.«

Der Mistkerl! Sie stand so vehement auf, dass ihr Stuhl kippte und krachend zu Boden fiel. Ihr war heiß und schwindlig. Sie zitterte so heftig, dass sie sich am Esstisch festhalten musste, damit sie ruhig blieb.

»Ich kann es! Und ich möchte es! Und das weißt du verdammt gut!«

»Elaine, hör zu. Du bist eine großartige Geschäftsfrau, und ich bin der Erste, der das anerkennt. Aber – Baugeschäft? Grundstücke? In dieser Stadt? Das ist ein schmutziges Geschäft. Nichts für eine Frau ...« Er machte eine Pause, füllte sein Glas und zwinkerte ihr zu.

Mit zitternder Stimme, obwohl sie sich Mühe gab, ruhig zu wirken, sagte sie: »Ich kann nicht glauben, dass du immer noch diesen männlichen Chauvi-Quatsch daherredest. Du kannst uns das Geschäft nicht überlassen, weil wir nur Mädchen sind. Nur Mädchen.«

»Langsam, langsam, Lainie. Nun reicht es mit diesem Unsinn. Ich bin sehr geduldig gewesen, aber nun reicht’s! Du weißt, wie sehr ich meine Mädchen liebe. Sie sind mein Vermögen, und das weißt du.« Er lächelte sie an.

»Vergiss es! Red doch einfach mal mit mir wie mit einer Erwachsenen!« Einen Augenblick hatte sie fast den Eindruck, dass er nach ihr greifen und sie verärgert durchschütteln würde, wie er es immer getan hatte, als sie noch klein war und ihm auf die Nerven ging. »›Zarte Verführung‹ hat im letzten Jahr neun Millionen Dollar Umsatz gemacht, du kannst also aufhören, mich wie ein kleines Mädchen zu behandeln. Ich will das Unternehmen haben, und ich habe es verdient, dass ich die Leitung übertragen bekomme. Ich habe zumindest die Chance verdient zu beweisen, dass ich es kann!«

»Schluss!«, sagte er. Seine Stimme hatte sich verändert und klang jetzt hart. »Schluss! Du hast mich mit deiner Einstellung zutiefst verletzt, und ich beende das Gespräch.«

»So ist es richtig, du beendest das Gespräch. Alle anderen sind dir egal, und das sind sie auch immer gewesen.«

Selbst in ihrem Alter von fünfundvierzig Jahren hatte sie für einen Moment Angst, dass sie zu schroff gewesen sein könnte. War sie diesmal zu weit gegangen?

»Ich werde vergessen, was du gesagt hast, Elaine. Es ist nie passiert. Schluss. Also, ein Trinkspruch! Wer bringt ihn aus?« Sie musste fast lachen, als Deena und Howard und Michael zugleich aufsprangen. Die Angelegenheit war erledigt. Nur für sie nicht.

KAPITEL 2

Abend des Erntedanktages, 28. November 1985

»Jack«, sagte Sylvia, »wir haben unsere Töchter doch dazu erzogen, aggressiv und stark zu sein. Hab ich Recht?«

»Du hast nicht Recht. Vielleicht hast du sie so erzogen ... ich nicht.«

»Ach! Und wer hat Elaine fast jeden Sonntag mit ins Büro genommen, als sie fünf oder sechs war? Wer hat ihr alles gezeigt?«

»Himmel, Sylvia! Sie hat mit Kohlepapier gespielt und Bildchen gemalt ...«

Sylvia musste lachen.

»Was ist denn daran so komisch?«

»Hast du wirklich alles vergessen, Jack?« Sie seufzte und ging zum Frisiertisch, um die prachtvollen Brillantohrringe abzulegen, die er ihr zum fünfzigsten Hochzeitstag im letzten Jahr geschenkt hatte und die ihr eigentlich viel zu schwer waren. Aber das konnte sie ihm nicht sagen.

Sie sah ihn im Spiegel an. Er machte immer noch ein finsteres Gesicht. Wenn sie Jack richtig kannte – und sie kannte ihn –, dann musste sie ihn erst zum Lachen bringen, damit er zuhören würde.

»Weißt du wirklich nicht mehr, dass Elaine immer Briefköpfe gezeichnet hat?«

Er zuckte mit den Schultern und mied ihren Blick im Spiegel. Seine Art zu zeigen, dass er immer noch wütend war. »Ja, sie hat Bildchen gemalt: Elaines Handelsgesellschaft, Präsidentin: Elaine. Weißt du das wirklich nicht mehr?«

Er sah sie unter den Augenbrauen hervor an, und in seinen Mundwinkeln zuckte ein winziges Lächeln. »Schon gut. Ja, ich erinnere mich.«

»Und doch bist du jetzt plötzlich überrascht?«

»Ich fand das niedlich, Sylvia. Die Spielerei eines kleinen Mädchens.«

»Aber all die Jahre ist sie als gleichberechtigte Partnerin von Howard im Geschäft gewesen, das weißt du. Und du weißt auch, dass die Geschäfte sehr gut gegangen sind.«

»Ach, Sylvia. Das ist das Schmatte-Geschäft: Feine Damenunterwäsche, sexy Nachthemden, Pantöffelchen, trägerlose BHs. Das ist das Richtige für eine Frau! Das Baugewerbe ist was anderes. Du solltest das wissen! Und Elaine schließlich auch. Weißt du, mit wie viel Druck ich an jedem verdammten Tag fertig werden muss? Wie einem diese Kerle von der Gewerkschaft zusetzen können? Es ist ekelhaft. Glaub mir, das ist kein Platz für eine Frau. Allein die Sprache, die da herrscht!«

Sylvia unterbrach das Aufräumen ihrer Kleider und lachte. »Ach, glaubst du denn, bei der Damenunterwäsche ist jeder ein Herr? Auch Elaine musste sich mit viel Dreck herumschlagen. In der Textilbranche findet man nicht so viele noble Leute. Und man hat ihr auch schon einige Anträge gemacht ...«

»Schon gut, ich versteh schon. Aber sie hätte trotzdem warten sollen. Hätte mir nicht vor der ganzen Familie Vorwürfe machen dürfen – vor den Kindern ...«

»Wann hätte sie das denn sagen sollen? Nächste Woche, wenn alles zu spät ist?«

»Meinetwegen auch heute Abend, Syl. Aber wenigstens in einem anderen Raum. Weißt du, wenn sie nicht in aller Öffentlichkeit so auf mich losgegangen wäre, hätte ich ihr vielleicht auch eine andere Antwort gegeben. Dann hätte ich mich nicht so angegriffen gefühlt.«

»Du hast ja vollkommen Recht, Jack.« Sie sah ihn von der Seite an. Hatte sie es zu weit getrieben? Nein. Er war zunächst überrascht über seine Kehrtwendung, dann erfreut und zuletzt äußerst zufrieden mit sich selbst. War er nicht Jack Strauss, der sowieso immer Recht hatte?

Manchmal hasste sie sich wegen dieser Spielchen. Aber es ging schließlich um ihre Tochter ...

»Und das meinst du wirklich, Sylvia?«

»Natürlich. Es war sehr gedankenlos von Elaine. Sie hätte es besser wissen müssen und sich einen günstigeren Moment aussuchen sollen. Es war zumindest unhöflich. Aber, Jack ...«

Jetzt, wo seine Überlegenheit wieder hergestellt war, konnte er auch lächeln. »›Aber, Jack‹ – was?«

»Stell dir doch mal vor, wie ihr zumute ist. Du weißt, wie sehr sie dich bewundert ... Wie sie immer gehofft hat, dass du sie ins Geschäft nehmen würdest ...«

»Hör mal, Sylvia. Als sie damals Betriebswirtschaft studieren wollte, hab ich ihr geraten, sie solle was Freundlicheres, Nettes wählen. Etwas, das eine Frau beruflich machen und sich trotzdem noch um die Familie kümmern kann. Lehrerin oder Sozialarbeiterin ... Na gut, wenn ihr Geschäfte so viel Spaß machen, kann sie ja immer noch vereidigte Wirtschaftsprüferin werden.«

»Jack, sie ist vereidigte Wirtschaftsprüferin.«

»Schon gut, schon gut.« Inzwischen hatte er seinen Pyjama angezogen, schlug nun die Bettdecke zurück und gähnte. Das Gespräch war beendet ... So dachte er jedenfalls. Aber sie war noch nicht ganz am Ende. Er stieg ins Bett, setzte die Brille auf und nahm sich ein Buch.

»Nein, es ist eben nicht gut. Das ist der Punkt. Nachdem sie bewiesen hat, was sie kann, nachdem sie so großen Erfolg hatte, muss sie all die Jahre gehofft haben, dass du dich als so vernünftig erweisen würdest, wie sie es von dir erwartet ... und dass du ihr eine Chance geben würdest. Jack, eine Chance. Kein Versprechen, keinen Vertrag. Eine kleine Chance, das ist alles.« Sie beobachtete ihn aufmerksam im Spiegel, während sie so tat, als würde sie sich ganz auf das Haarebürsten konzentrieren.

Jack legte sein Buch beiseite und nahm die Brille ab. Als sie ins Bett kam, sah er ihr freundlich in die Augen. »Du schaffst das, Sylvia! Du kriegst mich rum. Noch ein paar Komplimente, und du bist am Ziel!« Sie lächelten sich an.

Elaine ging in ihrem Schlafzimmer auf und ab, und das zarte Negligé bauschte sich um sie. »Elaine!«, versuchte Howard sie zu beruhigen.

»Verdammt!«, knirschte sie zwischen den Zähnen hervor. »All die Versprechungen! All die Jahre des Wartens! Ich hab doch immer wieder bewiesen, dass ich es kann. Und immer ist es noch nicht genug.«

»Bitte, Liebling, wein nicht. Komm her und lass dich trösten!«

»Howard, ich liebe dich. Aber jetzt, in diesem Augenblick, da will ich weinen. Ich komme mir so betrogen und verraten vor! Wie konnte er mir das antun, nachdem er immer gesagt hat, dass er sich bald darum kümmern würde, dass ich meinen Teil bekomme ...«

»Liebling, bitte ...« Howard fühlte sich ein bisschen hilflos. Was sollte er auch dazu sagen? Es stimmte ja. Jack hatte sie an der Nase herumgeführt. Geschäfte zu machen war Elaines Leben. Und sie war großartig! Wenn man sah, was sie aus seinem kleinen Wäschegeschäft an der unteren East Side gemacht hatte! Es war jetzt die »Zarte Verführung«, und gerade war in einem der führenden Wirtschaftsblätter ein Bericht darüber erschienen. Ja, sie hatten es geschafft! Und jetzt war Elaine begierig darauf, etwas Neues anzupacken ... Das hatte er schon im vergangenen Jahr gemerkt. Sie redete ständig davon, ein weiteres Unternehmen zu kaufen, zu expandieren, von der Unterwäsche vielleicht auf Abendkleider oder Accessoires oder Bademoden zu erweitern. Dieser Abend, das verstand Howard, war eine Katastrophe für Elaine, das Ende des Traums, ein bisschen am Tun und Handeln des Vaters beteiligt zu werden. Sie wollte endlich etwas Richtiges tun.

»Ich werde mit ihm reden. Du weißt, dass er ganz vernünftig ist ... jedenfalls meistens«, sagte Howard.

»Aber nicht, wenn es um mich geht. Er denkt immer noch, dass ich nur ein Mädchen bin.«

»Er ist ein Mann seiner Generation, Elaine. Die denken doch alle so. Mach dir keine Sorgen. Ich werde mit ihm reden. Wir werden in Peter Lugers Restaurant ein großes Steak essen, ein, zwei Gläser zusammen trinken, und dann wird er schon weich werden, wie Noel sagen würde. Irgendwie werde ich das schon schaffen.«

Elaine blieb endlich stehen und sah ihn an: »Na ja, wenn jemand Papa weich klopfen kann, dann vermutlich du. Doch eigentlich ist das meine Schlacht. Nein, du solltest dich nicht mit dem Riesensteak bei Luger quälen müssen ... Nein, ich kann es nicht zulassen, dass du dich opferst.« Jetzt lachten beide.

»Weißt du, was ich an dir liebe, Elaine?«

»Sicher, mein Tiger. Meine Intelligenz, meinen Geschäftssinn, meinen Sinn für Humor, meinen Witz, meinen Charme ...«

»Und deine Bescheidenheit«, vollendete er. Sie grinsten sich an.

»Marilyn! Ich muss zwar zurück, aber doch nicht innerhalb einer Stunde. Fahr langsamer!«

Marylin blickte auf den Tacho, überrascht, dass sich der Zeiger der 120 näherte. Sie nahm das Gas ein bisschen weg und war zufrieden, dass sie ihn nicht angeschnauzt hatte. Sie fuhr nicht nur zu schnell, sie hielt auch das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Finger sich verkrampften. »Tut mir leid«, sagte sie, »wahrscheinlich habe ich es eilig, von denen wegzukommen. Jedes Mal gibt es eine Szene, jedes Mal ein Drama!«

In der Dunkelheit konnte sie ihn nicht sehen – die Schnellstraße war nicht beleuchtet –, aber sie wusste, dass ihre Worte ihn treffen würden. Für John wurde Familie groß geschrieben. Seine eigene – Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel und unendlich viele Cousins und Cousinen – war wie ein Stamm, der sich traf, stritt und befehdete, sich aber auch liebte, alles mit derselben Leidenschaft. John war stets loyal. Aber ihm fiel das auch nicht schwer, weil er nie unter die Oberfläche blickte. Die Menschen waren für ihn so, wie sie waren, und die Ereignisse nahmen ihren Gang, das hatte man zu akzeptieren ... vor allem, wenn es um die eigene Familie ging.

»Du bewertest das viel zu hoch«, sagte er.

»Das ist ungerecht«, widersprach sie. »Ich wäre am liebsten unterm Tisch versunken. Der Höhepunkt war Papa mit seiner großen Überraschung. Ehrlich! Das sieht ihm ähnlich, eine so wichtige Angelegenheit beim Familienessen bekannt zu geben, wo keiner zu streiten wagt ...«

»Moment mal«, sagte John in diesem besonderen Tonfall, der sie mit den Zähnen knirschen ließ. »Warum schimpfst du eigentlich auf Papa? Mir kam es so vor, als hätte deine Schwester Elaine mit der ganzen Geschichte angefangen.«

»Hör auf«, antwortete Marilyn wütend, »wag es nicht, schlecht über Elaine zu reden. Für sie würde ich einen Menschen umbringen!«

Jetzt musste er lachen. Das war ungewöhnlich, und es klang überraschend. »Himmel, Marilyn, ich wusste ja gar nicht, dass du so heftige Gefühle haben kannst.«

Mit zusammengebissenen Zähnen sagte sie: »Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich Medizin studieren konnte.«

Er war erstaunt. »Na ja, aber du hast mir doch erzählt, dass ...«

»Ja, das stimmt schon. Er hat es bezahlt. Aber Elaine hat ihn dazu überredet.«

Eine Zeit lang schwiegen sie. Dann sagte John: »Also gut, sie hat dir den Rücken gestärkt, als du Medizin studieren wolltest. Trotzdem hat sie heute Nachmittag Streit angefangen.«

»Ach John, du begreifst überhaupt nichts!«

»Das kann schon sein. Du erzählst mir alles Mögliche über deinen schrecklichen Vater, mit dem du nie reden konntest, der sich nie um deine Wünsche gekümmert hat – dann lerne ich ihn kennen, und er ist ein feiner Herr in Spitzenform, sieht gut aus, ist temperamentvoll, eine echte Persönlichkeit! Du fährst im Übrigen schon wieder zu schnell. Hier kommt unsere Ausfahrt.«

»Ich weiß, wo wir sind, John. Trau mir doch um Himmels willen mal ein bisschen was zu!«

»Nimm’s nicht so ernst! Ich hab doch nur gesagt, dass ...«

»Du kennst ihn eben nicht.«

»Zum Teufel! Ich hab doch aber den ganzen Tag mit dem Mann verbracht!«

Sie wünschte, sie könnte ihm verständlich machen, worum es ihr ging. Was John erlebt hatte, war eine Familie von freundlichen, aufgeschlossenen Menschen. Marilyn entdeckte mit Entsetzen, dass er ihre Familie bewunderte. Er hielt sie alle für warmherzig und wundervoll. Er glaubte, alle wären so, wie seine Familie, das hatte er ihr an diesem Morgen gesagt. Was sie als aufdringlich und lästig und erdrückend empfand, hielt er für echt und liebevoll. »Du bekommst das, was du siehst«, hatte er ihr erklärt. So dachte er. Aber darüber wollte sie nicht reden.

Während sie an der Ausfahrt 24 den Highway verließ, sagte sie mit ruhiger Stimme: »Weißt du, was du über meinen Vater unbedingt wissen musst, ist, dass er eigentlich Söhne haben wollte. Er bekam aber keinen. Also war er darüber verärgert.«

»Ich habe aber den Eindruck, dass er seine Töchter liebt.«

»Ach, John! Mir wurde immer sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ein Junge werden sollte und für ihn eine Enttäuschung war.«

Er legte seine große Hand auf ihre. »Für mich bist du keine Enttäuschung. Und ich glaube, für ihn auch nicht. Wenn du hören würdest, wie stolz er auf dich ist und wie er mit dir angibt. Beispielsweise, als er seinem Freund am Telefon sagte, dass er Schluss machen müsse, weil seine Tochter, die Ärztin, gerade aus Vermont angekommen sei. Komm, gib ihm eine Chance!«

Sie war froh darüber, dass sie sich gerade mit anderen Dingen beschäftigen musste: an die Seite fahren, das Fenster herunterkurbeln, die Straßengebühr bezahlen, das Fenster hochdrehen und sich wieder in den Verkehr in Richtung Norden einfädeln. Es war zum Verzweifeln, wie er jedes Problem beiseite schob. Dass es tiefer liegende Gründe für menschliches Verhalten geben konnte, war ihm völlig unbekannt.

Andererseits erklärte das aber vermutlich auch, warum sie von ihm abhängig war. Wenn sie fast täglich von morgens bis abends als Familienärztin gearbeitet hatte, sich mit den verschiedensten Motiven, Meinungen und Verhaltensweisen ihrer Patienten befasst und dabei versucht hatte, Psyche und Körper, Wirklichkeit und Einbildung, Gefährliches von Belanglosigkeiten zu unterscheiden, war es eine Erleichterung, zu John mit seiner einfachen, soliden Wirklichkeit nach Hause zu kommen.

Zu John nach Hause. Der Gedanke war ihr noch immer ungewohnt – nach fast einem Jahr noch. Sie war der Sache gegenüber zunächst sehr misstrauisch gewesen. Aber es hatte funktioniert. Wenn sie darüber nachdachte, war für sie die Beziehung zu John eine immer währende Überraschung. Wenn die Leute sich auch fragten – und sie wusste, dass sie das taten –, wie es möglich war, dass eine Ärztin mit einem schweigsamen, wenig gebildeten Betriebsleiter in einem Wintersportort glücklich sein konnte, so ging das doch keinen was an. Sie und John waren vom ersten Augenblick an gut miteinander ausgekommen, und sie verstanden sich noch immer gut. Seit er bei ihr eingezogen war, fügte er sich nahtlos ein – ja, er durfte sogar den großen alten Ohrensessel vor dem Kamin mit Beschlag belegen.

Dass er der richtige Mann für sie war, hatte sie an dem Tag entschieden, als er mit einem verrenkten Knöchel zu ihr gekommen war und nebenbei gleich noch einen Wasserrohrbruch in ihrer Küche repariert hatte. Trotz seiner Schmerzen, sehr fachkundig und in aller Ruhe wurde der Schaden behoben. Und dabei verbreitete er auch noch gute Laune. Vor Dankbarkeit und Bewunderung wurde sie schwach.

Wenn das auch bis heute so geblieben war, musste sie doch den Tatsachen ins Auge sehen: Menschliche Verhaltensweisen interessierten ihn nicht und machten ihn nicht neugierig. Es verursachte ihm Unbehagen, unter die Oberfläche zu sehen. Stattdessen löste er handfeste Probleme, die durch tatkräftiges, praktisches Handeln zu klären waren. Das bewunderte sie an ihm. Und es gefiel ihr. Er konnte alles richten, und das tat er mit großer Beherrschung und viel Selbstvertrauen. Aber niemals würde er in der Lage sein zu verstehen, welche Gefühle sie ihrem Vater entgegenbrachte.

»Vater eine Chance geben?«, knüpfte sie an das Gespräch an. »Warum, zum Teufel, sollte ich das tun?«

John atmete tief ein. »Schließlich lebst du doch Hunderte Kilometer von deiner Familie entfernt. Und sie sollte nicht die Macht haben, dich so aufzuregen. Du hast dir dein eigenes Leben mit deinen eigenen Regeln aufgebaut – und das hast du verdammt gut gemacht. Die Stadt hat eine hohe Meinung von ihrer Ärztin. Und du bist nicht nur im medizinischen Bereich gut, sondern auch bei allen anderen Anforderungen, wenn du beispielsweise die Leute beruhigst und sie dazu bringst, sich mit ihren tatsächlichen Problemen zu befassen, und ihnen ein bisschen Hoffnung gibst ...«

Sie wusste, was er meinte. Bei ihrer Arbeit war sie voller Selbstvertrauen, sie konnte helfen und hatte viel Kraft. Er hatte Recht: Es war dumm, dass der kurze Besuch zu Hause sie vollkommen verärgert und verbittert hatte und sie sich über Dinge aufregte, die vor langer, langer Zeit in einem anderen Leben geschehen waren.

»Und überhaupt«, schloss er seinen Gedanken ab, »ich finde dich großartig, Kleines.« Nach einer langen, schwerwiegenden Pause – die sie schon kannte – fügte er beiläufig hinzu: »Warum heiraten wir nicht?«

Er hatte sie wohl schon ein Dutzend Mal gefragt. Und sie würde auch diesmal wieder Nein sagen müssen. Sie hasste das! Weshalb konnte er nicht aufhören, dieses Thema zur Sprache zu bringen? Schließlich sagte sie: »Weil es mir mehr Spaß macht, in Sünde zu leben«, und er antwortete, dass er sich freue, sie wieder lachen zu hören.

KAPITEL 3

Samstag, 30. November 1985

Drei Minuten nach neun am Morgen stand Deena im Supermarkt an der Kasse Schlange, ohne dass sie sich darüber aufregte. In Gedanken war sie im Filmforum in Soho, wo sie neben Luke Moorehead saß und seine großen warmen Hände die ihren festhielten. Genau das war am Abend zuvor passiert. Es war wundervoll!

Als sie gerade begonnen hatte, ihren Einkaufswagen auszuräumen, piepste eine Stimme in Höhe ihrer Taille: »Entschuldigen Sie, darf ich bitte vor Ihnen durch?«

Sie blickte auf einen mageren kleinen Jungen mit schwarzen Haaren und ernstem Gesichtsausdruck hinab. Unterm Arm trug er ein Skateboard, und mit der anderen Hand drückte er eine große Tüte mit Hundefutter an die Brust.

»Mein Hund ist nämlich krank und braucht dringend was zu fressen. Es ist ein Golden Retriever.«

»Das ist einer meiner Lieblingshunde«, sagte Deena und ließ ihn vor.

»Ach, kennen Sie Ranger?« Sein Gesicht strahlte.

»Müsste ich ihn kennen? Ist er berühmt hier in Brooklyn Heights?«

»Na ja«, antwortete der Junge, »er ist einssiebzig groß, wenn er auf den Hinterbeinen steht.«

»Auf meinen Hinterbeinen bin ich auch einssiebzig.«

Der Junge schaute nach oben, um sicher zu sein, dass es komisch gemeint war, dann lachte er, bezahlte sein Hundefutter und rollte auf seinem Skateboard durch die Automatiktür hinaus.

Sie bezahlte die Lebensmittel und fühlte sich immer besser. Die soeben erlebte Geschichte würde genau in die Szene passen, die sie für den Kursus schrieb. Selbst Michael würde seine Freude an Ranger haben, dem berühmten Hund aus Brooklyn Heights, der auf den Hinterbeinen stehend einssiebzig groß war.