Die Mildtätige - Marcia Rose - E-Book

Die Mildtätige E-Book

Marcia Rose

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Beschreibung

Eine Frau im Kampf gegen die Geister ihrer Vergangenheit. Ein Drama, das unter die Haut geht. Kate McKenna soll in ihrem Heimatort, den sie vor vielen Jahren verlassen hat, die Leitung einer Klinik übernehmen. Doch offensichtlich will jemand sie unter allen Umständen loswerden: Sie erhält Drohanrufe, wird immer wieder von einem Obdachlosen belästigt, und auch in der Klinik gehen seltsame Dinge vor sich. Aber Kate lässt sich nicht beirren, sie stellt sich den Schatten ihrer Vergangenheit. Erst als sie die dramatischen Ereignisse ihrer Kindheit verarbeitet hat, die zum Tod von Vater und Mutter und zum Verschwinden des Bruders führten, ist sie bereit für ein neues Leben - und für die Liebe ... "Marcia Rose versteht es meisterhaft, ihren Figuren Leben einzuhauchen, sie zu starken Charakteren zu formen. Große Emotionen vor einem stimmungsvollen, farbenprächtigen historischen Hintergrund." Publishers Weekly

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Marcia Rose

Die MildtätigeRoman

Ins Deutsche übertragen von Andrea Brandl

1

»Dr. McKenna! Wachen Sie auf! Dr. McKenna!« Die eindringliche Stimme riss Kate McKenna unsanft aus dem Schlaf. Sie blinzelte in die Dunkelheit, noch immer desorientiert, gefangen in den letzten Fetzen ihres Traums. Das hier war nicht ihr Schlafzimmer in der West 86th Street. Wo war sie? Oh, Moment. In ihrem neuen Büro. Bei ihrer neuen Arbeitsstelle. Nicht mehr in New York, sondern, so unglaublich es auch erscheinen mochte, in ihrer alten Heimatstadt. In Waterfield – einem Ort, von dem sie geschworen hätte, niemals dorthin zurückzukehren. Wie viel Uhr war es? Mit einem leisen Stöhnen schwang sie die Beine über die Sofalehne.

Langsam kehrte sie ins Hier und Jetzt zurück: Sie hatte sich auf ihrem Ledersofa in die Richtlinien für die Behandlung von Psychiatriepatienten vertieft – nicht gerade der Inbegriff spannender Lektüre – und musste darüber eingeschlafen sein. Aber woher kam dieses leise Gefühl der Angst? Ihr Traum schien ziemlich unerfreulich gewesen zu sein.

»Tut mir leid, wenn ich Sie wecke, Kate, aber –« Die von der Nachtbeleuchtung erhellte Silhouette im Türrahmen gehörte Marian Morgenstern, ihrer Oberschwester. Wie Kate blieb Marian meistens lange, um sich um den endlosen Papierkram zu kümmern. »Nelson hämmert schon seit zehn Minuten an die Eingangstür und schreit nach der Chefin. Was soll ich tun?«

Kate stand auf und blinzelte gegen den Schlaf an. »Nelson. Was will er denn um diese Uhrzeit?« Sie bückte sich, um die Unterlagen aufzuheben, die ihr im Schlaf entglitten waren.

»Da er als eine Art Orakel gilt, bringt er vielleicht Neuigkeiten über unseren neuen Boss. Vielleicht weiß er etwas, das wir nicht wissen.«

»Und wir wissen weiß Gott überhaupt nichts«, bestätigte Kate. Beim Gedanken an das Memo, das an diesem Morgen auf ihren Schreibtisch geflattert war, tauschten sie einen viel sagenden Blick und lächelten gequält. In dem Schreiben, das mit einem nicht entzifferbaren Namen unterschrieben war (wahrscheinlich dem des neuen Leiters), wurden sie aufgefordert, sämtliche Unterlagen für eine Inspektion Ende der Woche bereitzuhalten.

»Wie hat der Vorstand es nur geschafft, unseren reizenden Dr. Carlyle einfach so ... verschwinden zu lassen? Vorletzten Donnerstag war er noch der Leiter der Anstalt, am selben Abend findet eine Vorstandssitzung statt und zack ... am Freitagmorgen ist er weg, ohne sich von uns zu verabschieden.«

»Stimmt.« Kate unterdrückte ein Gähnen. »Und innerhalb kürzester Zeit gibt es einen Ersatz.«

Wieder lächelte Marian sarkastisch. »Das behaupten sie zumindest. Wieso kommt er nicht einfach vorbei, um sich persönlich vorzustellen? Wer ist er überhaupt? Ich habe nie vorher von ihm gehört. Keiner hat das. Austin Davey!« Sie spie die Worte aus wie ein Schimpfwort.

»Wie ich diese geheimen Machenschaften hasse«, erklärte Kate. »Damit sollen alle eingeschüchtert werden. Und es funktioniert auch noch!«

»Sie haben ja so Recht.« Marian lachte. Sie konnte wohl allem eine lustige Seite abgewinnen. Das war aber nur eine der Eigenschaften, die sie zu einem echten Schatz machten. Sie schien stets da zu sein, wenn man sie brauchte, so wie jetzt ... »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Kate gähnend. »Entschuldigen Sie.«

»Halb elf.«

»Meine Güte, was kann er nur wollen?« Nelson mochte psychotisch sein – verdammt, das war er allerdings. Aber er wusste genau, dass das Continuing Care Center um 18.30 Uhr schloss. Danach konnten sich die Patienten an die Crisis Intervention Clinic wenden, die rund um die Uhr geöffnet hatte. Was um alles in seiner chaotischen, abgedrehten Welt konnte so wichtig sein?

»Ich nehme an, Sie haben ihn hereingebeten?« Kate stand auf.

»Natürlich. Aber Sie wissen ja, dass es ein Heidenakt ist, Nelson zum Hereinkommen zu bewegen. Ich hätte ja lieber zu ihm gesagt, er soll nach Hause gehen und morgen wiederkommen, aber er ist ziemlich aufgebracht und könnte womöglich einen Grund für sein Erscheinen haben. Nelson bekommt mehr mit, als ihm die meisten zutrauen. Er ist zwar geistesgestört, aber auf seine Weise trotzdem völlig klar im Kopf.« Als sie den Korridor entlang in Richtung Eingangshalle gingen, hörten sie lautes Hämmern an der Tür, begleitet von unartikuliertem Heulen. Marian presste sich die Hände auf die Ohren. »Au. Sie sollten lieber nachsehen, was er will, bevor wir den Ausschuss am Hals haben.«

Sie tauschten einen grimmigen Blick. Seit der Eröffnung vor gerade einmal sechs Monaten wurde das Continuing Care Center vom Großteil der Bevölkerung Waterfield gehasst und gefürchtet. Trotz seiner freundlich gestrichenen Wände und der renovierten Fassade, trotz der Blumenbeete vor dem Haus und der positiven Meldungen, mit denen sie die örtliche Presse versorgt hatten ... niemand in dieser Stadt wollte ein neues Ambulanzzentrum für psychisch Kranke haben. Die Stadt hatte auch für Hillside, das eigentliche psychiatrische Krankenhaus, wenig übrig, aber da dort viele Einheimische Arbeit gefunden hatten und sich das Hospital diskret all jener Familienmitglieder annahm, für die man sich sonst vielleicht geschämt hätte, wurde es stillschweigend geduldet.

Die Anstalt war schon seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts Teil von Waterfield, sodass die Leute ihr gegenüber eine Art Blindheit entwickelt hatten. Die Einheimischen schienen sie auf dem Hügel, wo sie die Stadt überragte, nicht mehr zu bemerken, und alle taten so, als hätten sie keine Angst vor den Patienten, die darin untergebracht waren, auch wenn das nicht wirklich stimmte. Die wichtigsten Mitglieder der Gemeinde saßen im Kuratorium und sorgten dafür, dass jede Unannehmlichkeit im Zusammenhang mit Hillside eilig unter den Teppich gekehrt wurde und in Vergessenheit geriet. Bei der neuen Einrichtung jedoch war es ein wenig anders. Das neue Zentrum befand sich mitten in der Stadt, und hier kümmerte man sich lediglich um ambulante Patienten, die sich somit nicht in sicherer Verwahrung befanden, sondern für alle Welt sichtbar waren. Die anständigen Bürger von Waterfield waren außer sich vor Wut, weil sie sich als »Deponie für jeden Geisteskranken des Landes« vorkamen, wie es vergangene Woche in einem der vielen Leserbriefe im Waterfield Chronicle geheißen hatte.

Kate machte sich inzwischen nicht einmal mehr die Mühe, sie zu lesen. Sonya Dubroff, die Verwaltungsmanagerin-Bindestrich-Rezeptionistin-Bindestrich-Hausmutter der Klinik sammelte sämtliche Artikel und legte sie ihr jeden Tag auf den Schreibtisch. Auch ohne sie gelesen zu haben, wusste Kate, dass das Continuing Care Center unerwünscht war und dass der Bürgerausschuss, gegründet und geleitet von Gail Fortunato, der Bürgermeisterin der Stadt, wild entschlossen war, sie zu vertreiben.

Mal ehrlich, dachte Kate, kann ich irgendjemandem einen Vorwurf daraus machen, dass er Hillside und seine beiden Ableger hasst? Sie hatte beinahe ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie wusste besser als die meisten anderen, wie gewaltig der Schatten des Hillside Mental Hospital war, den er über alles und jeden warf. Die Anstalt saß auf dem Quarry Hill wie eine riesige Festung aus dunklem Sandstein – mit ihren obligatorischen Wachtürmen, den mit Zinnen versehenen Mauern und zahlreichen kleineren Nebengebäuden. Ein Burggraben und eine Zugbrücke waren das Einzige, was dem Komplex fehlte, um ein perfektes Feudalschloss abzugeben. Mit seiner Lage auf dem Hügel und dem Fluss, der sich darum schlängelte, war Hillside ein steter Beweis für die Existenz der Irren, wie sie in der Stadt bezeichnet wurden. Aber auch die psychisch Kranken hatten Rechte. Leider! Die Tage, in denen man sie vor den Augen der Gesellschaft versteckt hatte, waren vorbei. Sie verdienten, dass man sich um sie kümmerte – sogar mitten in der Stadt, wo jeder sie sehen konnte.

Doch ein Nelson, der mitten in der Nacht vor der Haustür stand und jaulte, war in dieser Situation alles andere als hilfreich. »Ich komme ja schon!«, rief sie und fuhr sich mit den Fingern durch ihr dichtes, lockiges Haar, während sie auf die große Doppeltür zuging, aufschloss und nach draußen trat.

Nelson lebte auf der Straße – im Eingang des alten Bankgebäudes neben dem Zentrum. Schätzungsweise litt er unter paranoider Schizophrenie, benahm sich aber sehr anständig. Er sprach ... nun ja, zumindest benutzte er mehrsilbige Wörter, die manchmal sogar einen Sinn ergaben. Er konnte Gedichte rezitieren und verbreitete, er schreibe an einem Buch, das alles enthüllen würde. Und, wie sie in ihrer ersten Arbeitswoche erfahren hatte, er wurde von vielen Leuten hier als eine Art Guru betrachtet. Oder sogar als Prophet!

Sie arbeitete seit über zehn Jahren als Ärztin für Psychiatrie und fand es reichlich merkwürdig, dass die Angst der Menschen vor psychischen Erkrankungen selbst im 21. Jahrhundert noch immer so groß war, dass sie sie entweder ablehnten, leugneten oder als magisches Phänomen vergötterten. Nelsons Ruf als eine Art Seher war wahrscheinlich der Grund, weshalb seine Gegenwart hingenommen wurde – wenn auch nicht unbedingt mit Begeisterung –, zumindest verlangte niemand seine sofortige Verbannung in eine andere Stadt oder, besser noch, in einen anderen Bundesstaat. Nelson war es vermutlich nicht bewusst, aber damit hatte er all den anderen psychisch Kranken in der Gegend unglaublich viel voraus.

Kate sog die laue Mailuft ein. Das war einer der Vorzüge ihrer Heimatstadt: Der Frühling roch nach Frühling, und nachts konnte man sogar die Sterne am Himmel sehen. Aber wo steckte Nelson? Sie ging die Treppe hinunter und schaute sich auf der Straße nach ihm um. Nichts. Das machte er oft – erst aus heiterem Himmel auftauchen und dann verschwinden. Sie ging ein Stück den Block entlang und genoss die friedliche Stille. Es war gut, wieder hier zu sein. Oder? Doch, es musste einfach gut sein, schließlich hatte sie einen Zweijahresvertrag abgeschlossen.

»Ich weiß genau, wer Sie sind, Kate McKenna!« Erschrocken fuhr sie zusammen. Ihr Herz hämmerte.

»Nelson, schäm dich, eine Dame so zu erschrecken!«

Beim Klang der Stimme fuhr Kate herum. »Wer sind Sie?«, fragte sie mit scharfer Stimme, in der Verärgerung und, ja, wahrscheinlich auch ein Anflug von Angst mitschwangen.

Mit beschwichtigend erhobenen Händen kam der Mann vorsichtig auf sie zu. »Tut mir leid. Ich bin genauso schlimm wie Nelson. Aber hey, ich gehöre zu den Guten, ganz ehrlich. Ich heiße ... heiliger Strohsack, Katie Spector, bist du das?«

»Entschuldigung, aber kennen wir uns? Oh.« Der Mann war noch ein Stück nach vorn getreten und stand nun im Licht der Straßenlaterne. Natürlich kannte sie ihn. Sie hätte ihn an der Stimme wiedererkennen müssen. Sie klappte den Mund auf, hatte aber keine Ahnung, was sie zu ihm sagen sollte. Also schwieg sie. Barry Manheim. Er hatte seit dem College zugelegt. Inzwischen erinnerte nichts mehr an den mageren Teenager von damals, und sein lockiges Haar sah aus, als hätte er sich in die Hände eines guten Friseurs begeben. Er trug keinen Ehering – sie sollte sich schämen, überhaupt darauf geachtet zu haben. Außerdem hatte es ohnehin nichts zu bedeuten. Ihr Exmann hatte sich stets geweigert, einen Ehering zu tragen. Nach einer Weile hatte auch sie ihren Ring abgelegt.

Barrys Haar war immer noch dunkel, und in seinen Augen erkannte sie das vertraute Blitzen. Selbst im trügerischen Licht der Straßenlaterne in einigen Metern Entfernung bemerkte sie, dass er sie musterte. Frechheit! Doch war Barry nicht immer forsch gewesen? Früher hatte sie diese Eigenschaft sehr anziehend gefunden.

»Ich darf doch annehmen, dass es immer noch Katie Spector ist«, fügte er hinzu, während sich seine dunklen Augen auf ihre Hand richteten. Instinktiv wollte sie sie hinter ihrem Rücken verbergen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Er hatte schon immer die Fähigkeit besessen, ihre Gedanken zu lesen. Lachend sagte er: »Ich sehe keinen Ehering.«

»Ich bin geschieden.«

»Tut mir leid.«

»Das muss es nicht. Ich heiße Kate McKenna. Dr. Kate McKenna.«

»Die leitende Psychiaterin von ...« Er nickte in Richtung Klinik. »Ja. Ich habe gerade eine Story über dich redigiert. Dr. Kate McKenna, Leiterin des Ambulanzzentrums, das unsere gesamte Innenstadt verschandelt, die noch immer mit den Folgen der wirtschaftlichen Krisen kämpft et cetera et cetera. Aber es stand nirgendwo etwas von der ›geborenen Caterina Spector‹, der einzigen Tochter unseres geliebten Doc Spector, der bedauerlicherweise –«

»Story? Was für eine Story?«

»Feature. Zeitung. Ich bin Chefredakteur des Chronicle, Katie.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Ich bin dein Erzfeind, fürchte ich.«

»Genau das wolltest du doch immer.«

»Dein Erzfeind sein? Ganz im Gegenteil, wenn du dich erinnern willst.«

Sie würde sich nicht von seinem Charme einwickeln lassen. »Nein, eine Kleinstadt-Tageszeitung herausgeben.«

»Ah. Entschuldige. Freust du dich, wieder hier zu sein?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Alles hat sich so verändert. Einschließlich meinem Boss, scheint es«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. Chefredakteur des Lokalblatts ... vielleicht wusste er ja etwas, was sie nicht wusste.

»Ah. Euer neuer Boss ... der geheimnisvolle Austin Davey. Der Vorstand hat ihn unter Verschluss gehalten, und selbst jetzt ist aus niemandem etwas herauszukriegen. Ich soll morgen im Laufe des Tages eine Pressemitteilung bekommen. Alles, was ich weiß, ist, dass man ihn angeheuert hat, um Kosten einzusparen.«

»Das heißt, um die Patientenleistungen herunterzufahren.«

»Ja, wahrscheinlich. Ich schätze, dich als Ärztin wird das nicht freuen, aber du wirst hier auf wenig Sympathie stoßen, fürchte ich. Man hat uns versprochen, dass das Hillside irgendwann leer sein wird. Aber der gute Gouverneur hat nie erwähnt, dass die Patienten stattdessen hierher, mitten ins Zentrum verfrachtet werden, das wir gerade mühsam wieder in Schwung zu bringen versuchen. Aber wie auch immer. Du bist neu hier und kannst nicht wissen, was sich hier abgespielt hat. Du bist in einen Wirbelsturm geraten, der sich nicht mehr aufhalten lässt ...« Er lachte – so wie früher immer. »Und ich habe dir noch gar nicht gratuliert – zu deiner Stellung als Oberboss hier und dazu, dass du Ärztin geworden bist. Es ist dir wirklich gut gelungen abzutauchen, Katie. Nach dem College schien keiner zu wissen, was aus dir geworden ist.« Seine Stimme wurde eine Spur weicher. »Ich freue mich wirklich, dass du Ärztin geworden bist«, sagte er. »Und hier bin ich. Ich bin dir zu Hilfe geeilt, weil ich dachte, dass Nelson dir Angst einjagt«, fügte er in etwas unbeschwerterem Tonfall hinzu.

Wie geschickt er das Thema gewechselt hatte! »Er hat mir tatsächlich Angst eingejagt«, sagte sie. »Für einen kurzen Augenblick. Und es war sehr nett von dir, einem Mädchen in Not zu Hilfe zu eilen.«

Er grinste sie an. Er war attraktiv. Natürlich war er das! Schließlich war er schon ein attraktiver Jugendlicher gewesen. »Hey, Nelson«, rief er. »Wolltest du nicht mit der Frau Doktor reden? Wieso kommst du nicht raus, damit wir dich sehen können?«

»Meine Botschaften sind nur für sie bestimmt«, drang die Stimme aus der Dunkelheit zu ihnen herüber.

»Hab schon verstanden. Ich sollte mich sowieso auf den Nachhauseweg machen. Es war nett, mit dir zu plaudern, Katie.« Er grinste sie an und wandte sich zum Gehen. »Lies die Story über die Klinik in der Zeitung. Vielleicht gibst du mir ja irgendwann ein Interview? Damit die Leute deine Seite der Geschichte erfahren.«

Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht, dachte sie und sah ihm nach. Sie und Barry hatten einander einmal sehr nahegestanden. Es wäre so einfach, zu verzeihen und zu vergessen. Aber es gab Dinge, die konnte man nicht verzeihen. Barry Manheim hatte sie im Stich gelassen, als sie ihn sehr, sehr gebraucht hatte. Also ... keine Versöhnung und keine neue dicke Freundschaft.

»Nelson?« Es dauerte einen Moment, bis sie ihn im Schatten ausmachen konnte. Er stand da, stocksteif, höchstens zehn Meter von ihr entfernt, den Rücken gegen die Hauswand gepresst. Nur die Augen bewegten sich hektisch hin und her. Sein Alter war schwer zu schätzen. Haare und Bart waren ergraut, doch seine Haltung war noch immer kerzengerade, und selbst unter den zahlreichen Kleiderschichten war seine stämmige, vielleicht sogar muskulöse Statur zu erkennen. Ihm fehlten etliche Zähne und die linke Hand, dennoch wirkte er kräftig.

»Wichtige Angelegenheit, Doktor.« Langsam kam er auf sie zu, ohne die verwaiste Straße aus den Augen zu lassen. »Sie haben mir Dinge erzählt, die Sie wissen sollten.«

»Wer hat Ihnen etwas erzählt?«

Er lachte. »Sie verraten natürlich nicht, wer sie wirklich sind! Aber sie machen neue, hervorragende Sender ... etwa so groß wie ein Salzkorn. Nachts können sie hören, wie ich mich bewege, und spielen mir ihre Aufnahmen vor.«

»Und was sagen Ihnen diese Aufnahmen, Nelson?«

Seine Stimme wurde eine Spur schärfer. »Wenn Sie mir nicht glauben, untersuchen Sie doch meine Ohren. Dort geben sie sie hinein.«

»Ich glaube Ihnen, Nelson. Ich muss nur wissen, was die Stimmen sagen.«

Nelson trat in die Mitte des Bürgersteigs und baute sich vor ihr auf. Er stemmte die Hände in die Hüften und musterte sie verächtlich. »Keine Stimmen, Doktor. Das sage ich euch Typen doch die ganze Zeit. Ich höre keine Stimmen. Es sind Regierungsaufnahmen.« Er wandte sich ab. Sie wollte die Verbindung zu ihm nicht verlieren, solange er in Redelaune war. So etwas kam bei Psychotikern nicht allzu häufig vor. Und vielleicht konnte sie ihn dazu bewegen, ins Haus zu kommen und zu duschen. Oder sie einen Blick auf die »Sender« in seinen Ohren werfen zu lassen. Vielleicht konnte sie ihn sogar davon überzeugen, seine Medikamente zu nehmen, die er zwar ständig mit sich herumtrug, aber, soweit sie es beurteilen konnte, nie in den Mund steckte.

»Und was sagen diese Aufnahmen?«

Nelson kam etwas näher, senkte die Stimme und sah sich argwöhnisch um. »Einer Ihrer Mitarbeiter hat nichts Gutes im Sinn«, flüsterte er.

»Wissen Sie, wer es ist?«

»Das haben sie mir nicht verraten. Jemand, der in einen anderen Körper schlüpft. Vielleicht aber auch in eine andere Seele. Das weiß ich nicht genau.«

»Wir kümmern uns darum.« Kate unterdrückte ein Gähnen. Sie war durchaus bereit zu glauben, dass Nelson manchmal Dinge sah und hörte, die andere Leute nicht wahrnehmen konnten. Aber in einen anderen Körper oder eine andere Seele schlüpfen – also bitte!

Er musste die Ablehnung in ihrer Stimme bemerkt haben. »Jemand ist hinter Ihnen her, Dr. McKenna. Jemand, der Sie bestrafen will. Die Sünden der Väter, wissen Sie. Aber auch der Doc kann Sie nicht retten, fürchte ich.«

Kate starrte ihn an. Man hatte ihr erzählt, dass Nelson schon seit Jahren in dieser Nische im Hauseingang lebte. Aber sie war seit dem College-Abschluss nicht mehr hier, und das war lange vor seinem Auftauchen gewesen. Woher wusste er, dass der Doc ihr Vater war? Er wusste viel zu viel über sie. Welcher Mann verbarg sich unter dem dichten Bart und der unleugbaren Schizophrenie?

»Soll ich die Polizei einschalten? Verfolgt mich diese Person?«

»Oh, Herrgott, Doktor, benutzen Sie Ihren Verstand. Ich rede nicht von einem Stalker. Hier geht es um einen VIP – very important poison...« Er kicherte über sein Wortspiel. »Sehen Sie sich vor. Seien Sie vorsichtig.«

»Wollen Sie mir sagen, wer es ist?«

»Ich bitte Sie, Dr. McKenna, glauben Sie im Ernst, ich kaufe Ihnen ab, dass Sie nicht wissen, wer es ist? Ich bin sicher, eine der anderen Frauen da drin ...« Er nickte in Richtung Klinik. »Eine Ihrer Gefährtinnen, von denen ich viele, ja, sogar hunderte, gezählt habe, hat Sie bereits gewarnt. In ihrer eigenen Sprache, die sie den Männern nicht beibringen wollen! Damit sie hinter unserem Rücken die Welt regieren können!« Seine Stimme war lauter geworden, und sein Gesicht hatte eine tiefe Röte angenommen. Kate trat einen Schritt auf ihn zu – ein großer Fehler, stellte sie fest, als er abrupt zurückwich, sich umwandte und den Block hinunterlief, ehe er mit der Dunkelheit verschmolz. Er war überraschend schnell.

Nachdem Kate ein oder zwei Minuten auf der Straße gewartet hatte, ob er es sich doch noch anders überlegte, gab sie auf und ging wieder hinein. Sie sehnte sich nach Schlaf, war aber zugleich von einer seltsamen Ruhelosigkeit erfüllt. Wie viel von dem, was Nelson gesagt hatte, konnte sie glauben? Seine Gedankengänge waren vollkommen wirr. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass er nicht bestimmte Dinge hören und sehen konnte. Aber wäre er denn ein glaubwürdiger Zeuge?

Marian kam ihr mit ihrer Handtasche und einer Aktenmappe über der Schulter entgegen. »Für heute reicht es«, erklärte sie. »Ich gehe jetzt ins Bett. Was wollte Nelson?«

Kate erzählte ihr von Nelsons Warnung. »Wer könnte es auf mich abgesehen haben?«, fragte sie. »Dass sie das Zentrum geschlossen sehen wollen, kann ich verstehen. Aber dass jemand etwas gegen mich persönlich hat? Ich bin doch gerade erst zurückgekommen! Er muss sich das einbilden«, schloss sie.

Marian hob eine Braue. »Tja ... wir haben das Personal tatsächlich vernachlässigt. Donna war gestern in Tränen aufgelöst, weil die Abrechnung nicht gestimmt hat und sie den Fehler nicht finden kann.« Donna Silvestri war die Buchhalterin, ein reizendes, schüchternes Mädchen mit einem Hasengesicht, auf dem stets ein Ausdruck des Erstaunens lag. Es war nicht weiter überraschend zu hören, dass sie wegen eines Rechenfehlers in Tränen ausgebrochen war. Donna hatte ziemlich nahe am Wasser gebaut. Eigentlich schien sie viel zu empfindsam zu sein, um in einer psychiatrischen Klinik zu arbeiten, aber wie alle anderen Mitarbeiter war auch sie schon hier gewesen, bevor Kate ihre Stelle angetreten hatte. Fast alle, die von der Anstalt in die Innenstadt versetzt worden waren, gingen ähnlichen Tätigkeiten nach wie zuvor. Die Verkleinerung der Einrichtung war weniger schmerzhaft, weil man den Mitarbeitern einen Job in der neuen Klinik zumindest anbieten konnte. Dr. Carlyle war es gelungen, das Personal zu halten. Warum also hatte man ihn gehen lassen? Und wo war er?

»Okay, vielleicht klaut ja jemand. Medikamente und Drogen gibt es hier weiß Gott genug. Ich kümmere mich gleich morgen früh darum. Und ich rede auch mit Donna und beruhige sie. Aber bestimmt schwebe ich nicht in akuter Gefahr. Es sei denn, dieser Neue ist ein Killer.«

»Vielleicht nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Aber ich habe gehört, dass er einen Abschluss in Betriebswirtschaft hat und ein Erbsenzähler ist«, erwiderte Marian. »Zuletzt war er am Cadman Memorial Hospital in New York, wo man ganz begeistert von ihm war, weil er die Kosten für die Ambulanten deutlich gesenkt hat ...« Sie verdrehte die Augen. Jeder, der in einem Krankenhaus arbeitete, wusste, dass mit »Ambulanten« all die armen Patienten ohne Krankenversicherung gemeint waren. Also würde Dr. Davey wohl dafür sorgen, dass die Ärzte nach dem Prinzip »Notversorgung und dann raus mit ihnen« vorgingen. Kate hatte in ihrem letzten Job mit diesem Menschenschlag zu tun gehabt. Heutzutage traf man sie überall an. Carlyle dagegen war ein solcher Goldschatz gewesen ... Sie hatte gedacht, dass sie hier endlich die Chance bekäme, Menschen helfen zu können, ohne dass ständig jemand nur den Profit im Auge hatte.

»Verdammt.«

»Ja, ich habe kein besonders gutes Gefühl, was diesen Kerl betrifft.«

»Vielleicht ist er doch nicht so schlimm«, meinte Kate, obwohl sie ihren eigenen Worten nicht glaubte. Dr. Carlyle war keiner dieser Manager-Typen gewesen, und sie hatten sich so gut verstanden. Wer wusste, was ihnen jetzt ins Haus stand?

Marian rückte die beiden Taschen auf ihrer Schulter zurecht. »Wie Scarlett schon sagte: ›Darüber denke ich morgen nach‹.« Sie wandte sich zum Gehen. »Gehen Sie nach Hause, Doktor. Es ist schon spät. Sehen Sie zu, dass Sie etwas Schlaf bekommen.«

Gehorsam sammelte Kate ihre Sachen ein und schloss die Tür zu ihrem Büro ab. Doch sie fragte sich, ob sie wohl Schlaf finden konnte. Sie war völlig aufgedreht. Erstens war da der geheimnisvolle neue Boss, dann Barry Manheim – nach all den Jahren – und schließlich Nelson mit seinen düsteren Prophezeiungen, dass sie bald in großen Schwierigkeiten stecken würde.

Zügig ging sie die Straße entlang – nicht aus Furcht, verfolgt zu werden, sondern weil die verlassene Innenstadt nichts Sehenswertes bot. Nach zwei Häuserblocks änderte sich das Straßenbild wie durch Zauberhand. Statt der halb leer stehenden Bürogebäude und der kleinen Geschäfte, die ums Überleben kämpften, säumten nun große viktorianische Wohnhäuser beide Straßenseiten. Dies war der Anfang des Universitätsviertels, eine Oase aus Bäumen und Sträuchern und mit der altmodischen Eleganz an der Schwelle zu urbanem Niedergang. Kate war hier aufgewachsen und zur Schule gegangen, hatte auf der Straße Himmel und Hölle gespielt, das College besucht, sich das erste Mal verliebt. Aber hier war sie auch unglücklich und verängstigt gewesen, eine Mitwisserin des Geheimnisses ihrer Familie.

Vor ihrem Haus blieb sie stehen. Es war dasselbe, in dem sie alle gelebt hatten, ihre Eltern, ihr Bruder und sie – ihr Vater hatte es ihr per Testament vererbt. Es war ein großes viktorianisches Gebäude mit einem runden Turm auf der einen und einem großen Panoramafenster auf der anderen Seite, umgeben von weitläufigen Veranden. Die Eingangstür hatte Bleiglasfüllung. Das Turmzimmer mit den Buntglasfenstern war ihr Refugium gewesen. Viele Stunden hatte sie darin verbracht, zusammengerollt auf einer der mit abgenutzten Samtkissen gepolsterten Sitzbänke am Fenster gekauert, tief in irgendein Buch versunken. Als sie hier gelebt hatte, war das Haus weiß gestrichen und mit grünen Fenstereinfassungen versehen gewesen, aber irgendwann, nachdem alle fort waren, hatte der Doc einen Restaurator engagiert, der ihm seinen Jahrhundertwendeglanz wieder zurückgeben sollte. Damals hatte das Haus seine Fassade aus verschiedenen Blautönen mit ziegelroten Akzenten erhalten. Sie wusste, dass sie es eigentlich mögen sollte, doch sie tat es nicht.

Eine lange Ziegelauffahrt im Fischgrätmuster führte an den riesigen alten Ahornbäumen vorbei zur Veranda mit der breiten Holztreppe, zu deren beiden Seiten gerade die Iris blühten. Selbst in der Dunkelheit – sie hatte vergessen, die Zeitschaltuhr für die Veranda zu stellen – fand sie den Weg mühelos. Neben der Eingangstür hing die alte Metallschaukel, die selbst bei der leisesten Brise quietschte, und von der Decke baumelten Blumenampeln. Was für ein reizendes Haus, mochte man als Betrachter denken.

Doch ihre Gefühle waren gemischt, was die Rückkehr in dieses Haus betraf. Ihr war klar, dass sie es jederzeit verkaufen könnte – unmittelbar nach ihrem Einzug hatte sie einen Anruf von einem Immobilienmakler namens Ben Vandenburg erhalten. Aber noch war sie nicht bereit, einen Verkauf in Erwägung zu ziehen.

»Ich bin gerade erst eingezogen.«

»Ja, das weiß ich«, hatte er sie mit seiner vollen, tiefen Stimme beschwichtigt. »Und es tut mir leid, wenn ich ein wenig voreilig bin, aber mein ... jemand hat mir erzählt, Sie wollen verkaufen. Tut mir leid. Ich schicke Ihnen trotzdem meine Visitenkarte. Nur für alle Fälle.« Jemand hatte es ihm erzählt. Jemand, der sich an all die pikanten Details aus dem Leben der Spectors und an ihre Skandale erinnerte. Das könnte jeder hier sein. So war das nun mal in einer Kleinstadt. Warum also hatte sie sich entschlossen, wieder zurückzukommen? Warum hatte sie das Haus nicht zum Verkauf angeboten, wie sie es hätte tun sollen, und einen Job weit, weit weg von hier angenommen? Ach, was sollte das! Sie war hier, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Sie war eine erwachsene Frau. Aber was auch immer auf sie zukam, sie würde sich ihm stellen.

Sie hatte den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt, als ihr ein Gedanke kam. In Waterfield wusste doch jeder über alles Bescheid. Was für ein Dummkopf sie doch war! Barry wollte sie nicht erkannt haben? Er wollte nicht gewusst haben, dass Katie Spector inzwischen Dr. Kate McKenna war? Blödsinn! Er war der verdammte Chefredakteur der verdammten Tageszeitung hier. Er wusste alles! Weshalb dann dieses Spielchen zwischen ihnen? Eine Mischung aus Verärgerung und Verlegenheit erfasste sie. Warum konnte er nicht ehrlich zu ihr sein? Nun, sie würde sich jedenfalls kein zweites Mal zum Narren halten lassen.

Sie öffnete die Haustür und wurde vom einladenden Geruch von Limonenöl begrüßt. Die Streifentapete, die weißen Simse, die Holzbank an der langen Wand, die alten Haken für Hüte und Mäntel ... alles vertraut und dennoch ... Dieses Haus war voller Geister, und nicht alle waren ihr wohlgesinnt.

Sie ging in die Küche, die auf den Garten hinter dem Haus hinausging. Sie brauchte etwas zu trinken. Das rote Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte hektisch. Wer um alles in der Welt könnte sie angerufen haben? Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und drückte die Abspieltaste.

Die Stimme war leise, schwach, wie die eines kranken kleinen Mädchens. »Hier ist Mommy, Liebling. Ich rufe an, um dich zu warnen. Sei vorsichtig, dieses Haus ist verflucht.« Es ertönte ein Klicken, dann herrschte Stille. Sie hatte das Gefühl, es wäre keinerlei Luft mehr in ihren Lungen. Es ist nur ein Streich. Nur ein dummer Streich. Doch sie wusste, dass es mehr war. Natürlich war das nicht ihre Mutter gewesen. Ihre Mutter war tot. Und es war auch kein Geist. Sie hatte ihre Mutter nie »Mommy« genannt. Niemals. Angela hätte das nie zugelassen. Es musste eine reale Person sein, jemand, der ihr Angst machen wollte. Aber wer? Und warum? Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Wein und versuchte, sich zu beruhigen.

Es wäre schön, wenn sie mit Luke Montour darüber reden könnte. Luke war der medizinische Assistent in der Klinik und der ruhigste, geistig klarste Mensch, den sie kannte. Dass er zufällig groß und schlank war und das gebräunte, zerfurchte sympathische Gesicht eines Naturburschen besaß, schadete auch nicht gerade. Doch dieser seltsame Telefonanruf war ein wenig zu persönlich, um mit einem Kollegen darüber zu reden, und eigentlich kannte sie ihn auch nicht besonders gut. War es nicht eher seltsam, dass sie ausgerechnet jetzt an ihn dachte? Sie vermisste Conor nicht, nein, ihr Exmann fehlte ihr weiß Gott nicht. Stattdessen brauchte sie eher einen Mann zum Reden, vielleicht auch eine Schulter zum Anlehnen, wenn sie abends allein nach Hause kam und seltsame Botschaften vorfand. Als hätte Conor ihr jemals Trost spenden können.

Sie war zu unruhig, um sich ins Bett zu kuscheln oder sich vor den Fernseher zu setzen, also ging sie im Haus umher, wild entschlossen, sämtliche negativen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie würde ihren Wein genießen und nicht an ihre Feinde denken, weder an die realen noch an die imaginären. Sie würde nicht an die Klinik und den neuen Boss denken. Kate setzte sich an den großen, auf Hochglanz polierten Mahagoni-Esstisch, sprang aber gleich wieder auf und wanderte weiter durchs Haus. Sie sollte es wirklich verkaufen. Es war viel zu groß für eine alleinstehende Frau. Ihr Rundgang endete im Wohnzimmer, wo sie die Bilder an den Wänden gerade rückte, die Kissen aufschüttelte und die Lampen an- und ausschaltete, ohne etwas zu sehen.

Es war zwecklos. Sie schaffte es nicht, ihre düsteren Gedanken abzuschütteln. Dieser neue Boss hatte angeordnet, dass ihm ihre Krankenblätter zur Überprüfung vorgelegt werden sollten! Waren die Aufseher nicht mit der Abschaffung der Sklaverei ausgestorben? Sie würde Hillside wissen lassen müssen, wie sie darüber dachte. Ihr war klar, dass sie starrköpfig ... vielleicht auch ein klein wenig streitlustig sein konnte. Aber als Leiterin des Continuing Care Center, wofür sie ihr Gehalt bezog, brauchte sie ganz bestimmt keinen Verwaltungsheini, der weder genug von Psychiatrie noch von Medizin verstand, um ihre Entscheidungen unter die Lupe zu nehmen und in Frage zu stellen!

Sie nahm noch einen großen Schluck aus ihrem Weinglas und beschloss, sich nicht verrückt machen zu lassen. Sie kannte diesen Kerl noch nicht einmal. Vielleicht war Austin Davey ja nett, vernünftig und intelligent. Sie trat vor das Panoramafenster und ließ sich auf die gepolsterte Bank sinken, die einen Blick auf die verlassene Straße bot. Um diese Zeit herrschte kein Verkehr mehr. Wahrscheinlich lag die gesamte Stadt bereits im Tiefschlaf.

Bestimmt war es nicht ratsam, die Klappe allzu weit aufzureißen. Das hatte sie schon mehrmals in Schwierigkeiten gebracht. Schätzungsweise hatte sie auch ihrem losen Mundwerk das Ende ihrer sechsjährigen Ehe mit Conor McKenna zu verdanken. Hätten sie sich nicht getrennt, wäre sie jetzt nicht hier, an diesem Ort, an den sie niemals mehr zurückkehren wollte. Sie wäre nicht hier und stieße nicht an jeder Ecke auf Überreste ihres alten Lebens – alte Freunde, alte Geschichten und, ja, alte Liebschaften.

Sie bereute ihre Scheidung nicht. Allein war sie besser dran. Conor war Kontrollfanatiker und stets zutiefst erschüttert gewesen, wenn sie sich ihm widersetzt hatte. Das war das Wort, das er immer benutzt hatte: sich widersetzen. Als wäre sie ein aufsässiges Kind. Sie war Medizinstudentin, als sie sich kennen gelernt hatten. Und natürlich ließ sich eine Frau, die ehrgeizig und mutig genug war, ein Medizinstudium zu absolvieren, nicht widerstandslos versklaven. Das hätte ihm klar sein müssen. Sie hätte aber auch wissen müssen, dass ein engagierter Arzt, der fast 20 Jahre älter war als sie und daran gewöhnt, Anweisungen zu erteilen, nicht gut auf Widerworte reagieren würde. Sie wünschte nur, er hätte die Scheidung nicht zu einer so hässlichen Angelegenheit gemacht.

Ach, es war sinnlos, wieder und wieder die Dinge durchzukauen, die sie so unglücklich gemacht hatten! Wichtig war doch nur, dass sie endgültig über ihren Exmann hinweg war. Und nun tauchte Barry Manheim auf der Bildfläche auf, schmeichlerisch und freundlich, als hätte er sie damals nicht wie ein Stück Dreck auf die Straße befördert. Doch auch über ihn wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie würde über nichts und niemanden nachdenken – schon gar nicht über unheimliche Telefonanrufe. Sie goss ihr Glas noch einmal voll und hob es an die Lippen. Auf die Zukunft! Was sie auch bringen mochte, möge sie erfreulicher sein als die Vergangenheit!

2

Über Nacht schlug das Wetter um. Als Kate aufwachte, hingen dunkle Wolken am Himmel, und schwere Regentropfen perlten an den Fenstern hinab. Kein einziger Vogel war an den Futterkugeln in den Bäumen zu sehen. Es sah aus, als hätte die ganze Welt ihre Farbe verloren. Sie hasste den verhangenen Himmel und die erbarmungslos gedrückte Stimmung von Regentagen. Bei schlechtem Wetter hatte sie stets den Eindruck gehabt, als würde sich auch der Zustand ihrer Mutter verschlechtern. Aber ihre Mutter war nicht mehr Teil ihres Lebens, warum also dachte sie ständig an sie?

Es musste am Haus liegen. Dies war immer Angela Spectors Haus gewesen, ein Spiegelbild ihres quirligen, lebendigen Wesens. Und auch ihrer Krankheit. Angela war Halbitalienerin und Halbjüdin, halb eine wunderbare Frau und mehr als nur halb verrückt. Nach all den Jahren war ihre Anwesenheit immer noch zu spüren. Kate schüttelte den Kopf, um die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben, und richtete ihre Gedanken auf das, was sie anziehen wollte. Schwarz, beschloss sie, ein geschäftsmäßiges Kostüm mit einer roten Bluse ... perfekt. Als sie im Badezimmer stand und sich das Gesicht eincremte, erreichte sie der köstliche Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Ihre neue Kaffeemaschine schaltete sich von allein an. Die reinste Zauberei!

Sie sah in den Spiegel. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter war auffallend. Die hohen Wangenknochen, der breite Mund, die leicht schräg stehenden Augen, die dichten Locken. Nur hatte sie denselben hellen, sommersprossigen Teint wie der Doc. Wenn sie nicht Acht gab, konnte sie leicht fahl wirken. Ein Hauch Rouge auf die Wangen, ein wenig Wimperntusche und – voilà – eine ganz neue Frau schaute ihr aus dem Spiegel entgegen, die sehr professionell und beinahe wach aussah.

Ihr Frühstück bestand aus Toast, Orangensaft und – was am allerwichtigsten war – Kaffee. Nach wenigen Schlucken spürte sie bereits, wie die Energie durch ihren Körper strömte.

Sie stellte das schmutzige Geschirr in die Spüle, stopfte ihre Unterlagen in die Aktentasche, griff nach ihrem knallroten Regenmantel und einem Schirm und war bereit, dem feuchten, düsteren Tag entgegenzutreten und sich auf ihre Arbeit und die Mitarbeiter einzulassen, die sie noch nicht besonders gut kannte und bei denen sie sich nach wie vor nicht sicher war, wo sie standen. Sie wünschte, sie hätte ihre Ärzte selbst einstellen können, doch bei ihrem ersten Vorstellungsgespräch war das gesamte Personal bereits engagiert gewesen.

»Ist es nicht üblich, zuerst den Direktor einzustellen?«, hatte sie Dr. Carlyle gefragt.

»Ja, natürlich, Dr. McKenna, aber unter diesen Umständen ... Es tut mir wirklich leid. Ich hoffe, es hält Sie nicht davon ab, die Stelle anzunehmen. Sie scheinen mir die perfekte Kandidatin zu sein.« Sein Lächeln war so hoffnungsvoll gewesen, und sie hatte sich so danach gesehnt, New York und ihrer gescheiterten Ehe den Rücken zu kehren. Also hatte sie sein Lächeln erwidert. »Nein, ich bin sehr interessiert an der Stelle.«

Marian Morgenstern hatte sie herumgeführt und ihr alles über die Ambulanzklinik erzählt. Kate bemühte sich, ihr aufmerksam zuzuhören, während sie auf den richtigen Augenblick wartete, um ein oder zwei Fragen zu stellen. Doch es ergab sich keine Gesprächspause, und Kate wollte schon aufgeben, als Marian meinte: »Ich muss Ihnen etwas sagen ... bevor Sie Ihre Entscheidung treffen. Nein, nein, es ist nichts Schlimmes, bitte sehen Sie mich nicht so an. Tut mir leid, das war ungeschickt von mir.«

Und dann berichtete sie Kate, dass man bereits einen Leiter engagiert hatte, einen Mann in den Vierzigern mit einem Doktortitel in Medizin und einer Privatpraxis in einem Bostoner Vorort. Er hatte schon früher unter Dr. Carlyle gearbeitet, und die beiden hatten gemeinsam einige Artikel veröffentlicht. »Das ist der Grund, weshalb Dr. Carlyle Dr. Armstrong ... sehr zugetan war. Er war begeistert von der Idee, dass sein Protegé hier anfangen würde.« Sie hielt inne und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber Dr. Armstrong hatte einen Autounfall. Ein Frontalzusammenstoß mit einem Betrunkenen.«

»Oh Gott, wie entsetzlich.«

»Ja, grauenhaft. Und die Art, wie es passiert ist! Dieser Idiot fuhr in der falschen Richtung auf den Highway. Es war ein Albtraum! Dr. Armstrong, seine Frau und die beiden Kinder – alle tot!«

»Und der betrunkene Fahrer?«, fragte Kate voller Zorn.

»Er kam auch ums Leben. Was gut für ihn ist, weil jeder, der von dieser Geschichte gehört hat, ihn am liebsten umgebracht hätte. Dr. Carlyle spricht nicht gern darüber, was Sie bestimmt verstehen. Aber es wäre nicht fair, es Ihnen zu verschweigen.«

»Also wieder mal zweite Wahl«, bemerkte Kate und lachte.

»Oh, bitte, so dürfen Sie das nicht sehen. Wir hatten die Position gar nicht ausgeschrieben, weil Armstrong bereits zugesagt hatte. Sie sind unsere erste Wahl aus Dutzenden Bewerbern, glauben Sie mir.«

»Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich habe mich erst kürzlich scheiden lassen und neige gelegentlich dazu, mich selbst zu bemitleiden.«

»Das verstehe ich gut«, sagte Marian und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Ich habe auch meine ... Beziehungsprobleme gehabt. So etwas kann ziemlich übel für das Selbstwertgefühl sein.«

Kate sah zu, wie die Schwester zügig die Stufen hinunterlief, ohne dass ihre Schritte ein Geräusch verursachten. Es sah aus, als schwebe sie – kaum vorstellbar bei ihrem Körperbau. Sie war groß und grobknochig, mit rosigen Wangen und dickem, grauen Haar, das zu einem Bob frisiert war. Falls sie Make-up trug, war es sehr dezent. Sie sah gut aus und schien ruhig und beherrscht zu sein, was für eine Schwester ja noch wichtiger war.

Kate trottete die Stufen hinter Marian hinunter und trat in die Eingangshalle, wo sie stehen blieb. »Werde ich Probleme mit den Mitarbeitern bekommen? Falls ich die Stelle kriege, meine ich natürlich.«

»Ich glaube schon, dass Sie die Stelle bekommen werden. Bisher war noch niemand so weit wie Sie. Und es sollte keine Probleme geben. Es ist ja nicht so, dass Dr. Armstrong von allen geliebt worden wäre. Niemand hat ihn gekannt, deshalb werden Sie nicht gegen irgendwelche Geister ankämpfen müssen.« Sie lächelte. Kate erwiderte das Lächeln. In diesem Moment wusste sie, dass sie die Stelle annehmen würde, falls sie sie bekäme.

Und nun war sie hier und hatte alle Hände voll zu tun. Ihre Arbeit war ziemlich anstrengend, aber sie war entschlossen, so vielen Patienten wie möglich zu helfen, während sie sich daneben um die Führung ihrer Mitarbeiter kümmerte und versuchte, die Bewohner von Waterfield dazu zu bringen, ihre Meinung über die neue Klinik zu ändern.

An diesem Morgen kam es aber erst einmal darauf an, zur Arbeit zu gelangen, ohne völlig durchnässt zu werden. Sie hatte Mühe, den schmutzigen Wasserfontänen auszuweichen, die die vorbeifahrenden Fahrzeuge aufspritzen ließen, wenn sie durch die Pfützen preschten. Die Autos fuhren viel zu schnell durch ihre Straße, fand sie. Ihrer Meinung nach war es völlig unerheblich, dass dies die Hauptverbindung zum Fluss war. Es war ein Wohngebiet mit Geschwindigkeitsbegrenzung, worauf zahlreiche Schilder hinwiesen, doch niemand hielt sich daran. Die wenigen Fußgänger, die so früh am Morgen unterwegs waren, gingen mit gesenkten Köpfen, hochgezogenen Schultern und Regenschirmen vor den Gesichtern die Straße entlang. Genauso wie sie.

Gegenüber der Klinik blieb sie abrupt stehen. Die breite Doppeltür stand offen, und zwei stämmige Arbeiter in grünen Overalls trugen eines ihrer Krankenbetten heraus.

»Hey! Warten Sie! Was machen Sie da?«, schrie sie, so laut sie konnte, doch sie reagierten nicht auf sie. Sie wollte über die Straße laufen, doch das durchdringende Dröhnen einer Hupe ließ sie erschrocken zurückweichen. Ein riesiger Geländewagen schoss an ihr vorbei, sodass eine Fontäne Schmutzwasser aufspritzte. Verdammt! Wozu brauchten die Leute eigentlich diese Riesenkisten? Es war, als würde die Welt mit einem Mal von diesen Dingern überrollt werden. Man konnte nicht über sie hinwegblicken, sah nicht an ihnen vorbei, und nachts blendeten ihre gleißend hellen Scheinwerfer jeden im Rückspiegel, der das Pech hatte, vor ihnen zu fahren. Aber ... Jetzt erblickte sie zwei weitere Männer, die noch ein Bett nach draußen schleppten. Was taten die da eigentlich?

Sie sah auf die Straße. Verkehr in beiden Richtungen. Aber sie musste auf die andere Seite. Es würde wohl kaum jemand eine Frau überfahren. Entschlossen streckte sie den Arm aus und reckte ihren schwarzen Schirm wie einen Schild nach vorn, ohne weiter nach links oder rechts zu sehen.

Sofort ertönte ein wütendes Hupkonzert, dem sie jedoch keine Beachtung schenkte. Sie erreichte die andere Straßenseite unversehrt und stürzte auf die Männer zu. »Hey! Lassen Sie das! Das sind meine Betten!«

Endlich reagierte einer der Männer. »Halt, Dom!«, rief er. Sie ließen das Bett sinken, sodass eine Seite auf der Treppe hing, die andere auf den Gehsteig ragte.

»Wer ist hier zuständig?«, fragte sie. »Und was tun Sie hier überhaupt?«

»Ich schätze, ich bin das. Mike Malone. Wir bringen die Betten raus.«

»Das sehe ich«, blaffte Kate ihn an. »Sie können sie gleich wieder hineintragen. Wir haben Patienten, die sie vielleicht brauchen«, fügte sie in einem etwas versöhnlicheren Tonfall hinzu.

Der Mann zuckte die Schultern, griff in seinen Overall und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. »Hier ist mein Auftrag. Von ganz oben. Sehen Sie selbst.«

Sie überflog das Blatt. Es war die eindeutige Anweisung, drei Betten aus der Ambulanzklinik zu entfernen, und sie trug dieselbe nicht entzifferbare Unterschrift wie das Memo. Es musste sich um Austin Daveys Unterschrift handeln. Sie starrte auf das Blatt, ohne die Buchstaben zu erkennen, während sich ihre Gedanken überschlugen. Sie waren eine ambulante Einrichtung, in der es nicht erlaubt war, Patienten über Nacht aufzunehmen. Aber manchmal gab es in Hillside keine freien Betten, und mitunter war ein Patient so außer sich, dass er ruhiggestellt werden musste. Die Mehrzahl ihrer Patienten litt ohnehin unter Wahrnehmungsstörungen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie jemanden bekämen, der verwirrt war und unter Wahnvorstellungen litt. Man konnte die Leute doch nicht einfach wieder auf die Straße schicken und zusehen, wie sie über den Haufen gefahren wurden! Also hatte sie dafür gesorgt, dass drei »Tagesbetten« in den Gruppentherapieräumen aufgestellt wurden.

»Diese Betten sind wichtig für die Sicherheit unserer Patienten«, erklärte sie.

»Erzählen Sie das nicht mir, Lady. Ich mache nur, was der Boss sagt.«

»Frau Doktor, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin Dr. McKenna, die Direktorin dieser Klinik.«

»Tut mir leid, Doc.«

Sie sahen einander in die Augen, und ihr fiel auf, dass sein Blick keineswegs unfreundlich war. »Tragen Sie das Bett wieder hinein, ja?«

»Hören Sie, La... Entschuldigung, Doktor. Ich habe meine Anweisungen.«

»Tja, Ihre Anweisungen werden warten müssen, bis ich der Sache nachgegangen bin. Bitte tragen Sie das Bett wieder zurück. Es wird ja ganz nass. Ich übernehme die Verantwortung.«

Mike Malone gab auf. »Sie müssen hier unterschreiben ...« Sie kritzelte ihre Unterschrift auf das Papier. Erneutes Schulterzucken, gefolgt von einem Lächeln. »Wo sollen wir sie hinbringen?«

»Dorthin, wo Sie sie abgeholt haben. Und zwar alle. Bitte«, fügte sie hinzu. Es war schließlich nicht seine Schuld.

Was für ein Tagesanfang! Sie war so wütend auf Mr. Austin Davey, dass sie sich nicht einmal über die Patienten aufregte, die sich vor dem Gebäude herumdrückten und rauchten wie die Schlote, ohne auf den strömenden Regen zu achten. Vor jeder psychiatrischen Klinik, die sie kannte, standen die Leute und rauchten, denn aus irgendeinem Grund schienen psychisch Kranke rauchen zu müssen. Außerdem war ihr klar, dass kein Argument sie davon abhalten würde. Wenn es den armen geplagten Teufeln also einen Moment der Freude bereitete, warum sollte sie es ihnen verbieten?

Sie folgte den Männern mit den Betten in die Eingangshalle, wo sich bereits ein Zuschauergrüppchen eingefunden hatte, um das Hin und Her der Betten zu verfolgen – unter ihnen auch ihr Vertreter Dr. William Bannerman. Der blonde Mann überragte all die anderen um einige Zentimeter.

»Wer hat diesen Typen erlaubt, die Betten wegzuschleppen?« Sie starrte Bannerman an, der sie mit seinen großen blauen Augen flehend ansah. Er schien alles daran zu setzen, ja nicht anzuecken. »Weiß irgendjemand, was hier los ist?«

Unverständliches Stimmengewirr erhob sich.

»Jemand muss doch mitbekommen haben, dass die Betten davongetragen wurden! Dr. Bannerman?«

»Ich war hinten«, verteidigte er sich eilig. »Die Polizei hat diesen Obdachlosen gebracht ... Bruno ... und er war in einer ziemlich üblen Verfassung. Ich habe ihn mit nach hinten genommen. Als die Arbeiter wissen wollten, ob in diesen Betten jemand schläft, habe ich Nein gesagt. Ich dachte, sie schieben sie nur beiseite, und nicht, dass sie sie wegbringen ... außerdem war ich ziemlich beschäftigt. Bruno war in Kampflaune.«

»Und ich dachte, wenn sie an Sonya vorbeigekommen sind, müssen sie ja eine Erlaubnis haben«, erklärte Naomi Jackson, eine der Schwestern, und verdrehte die Augen, was allgemeines Gelächter auslöste. Sonya Dubroff misstraute jedem und war berüchtigt für ihre beharrlichen, argwöhnischen Fragen. Niemand kam so einfach an ihrem Schalter vorbei. Sonya hätte im Büro des Präsidenten oben in Hillside angerufen und Malone und seine Männer so lange warten lassen, bis sie sicher war, dass es in Ordnung ging. Wie waren sie also an ihr vorbeigekommen?

»Sonya war auf der Toilette«, sagte jemand und beantwortete damit Kates unausgesprochene Frage. Es war sinnlos, sich deshalb jetzt aufzuregen. Es war vorbei, und sie hatte wieder alles im Griff.

»Ab sofort«, erklärte sie, »halten wir jeden Fremden, den wir hier sehen, auf und fragen, was er will. Keine Vermutungen.« Sie warf Bannermann einen Blick zu und ertappte ihn, wie er ins Leere starrte. »Habe ich mich klar ausgedrückt?« Allgemeine Zustimmung. »Okay. Zurück an die Arbeit. Dr. Bannerman, einen Moment noch bitte.«

Für den Bruchteil einer Sekunde sah er ärgerlich aus. Doch dieser Ausdruck war so schnell verflogen, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn sich vielleicht nur eingebildet hatte. Sie machte keine Anstalten, zu ihm hinüberzugehen. Er hatte die Angewohnheit, stets zu dicht vor einen zu treten und einen mit seinen großen blauen Augen zu fixieren, ohne die Intimsphäre anderer zu achten. Allgemein galt er als gut aussehend, auch wenn sie es nicht so empfand. Für ihren Geschmack war er ein wenig zu gut gepolstert, und seine runden rosigen Wangen hatten etwas Mädchenhaftes. Er gehörte zu den Menschen, die keine Sexualität zu besitzen schienen. Pillsbury-Männchen, fiel ihr bei seinem Anblick ein. Aber die Schwestern liebten ihn. Er galt als umgänglich und behandelte sie nicht wie Handlanger. Und es hieß, er könne gut mit den Patienten umgehen, was das Wichtigste war.

Er beugte sich vor und hob die Hände in einer flehenden Geste. Große, weiche Hände. »Unschuldig, Kate. Es ist eben einfach passiert. Sonya hat mich gebeten, die Lobby im Auge zu behalten. Aber als Bruno kam ... na ja ... ich hoffe, Sie sind nicht sauer.« Er schenkte ihr ein schmeichelndes Lächeln. »Dr. McKenna, wenn Sie nichts dagegen haben«, hätte sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen. Doch dies hier war eine kleine, familiäre Klinik – Dr. Carlyles Worte –, und Bannerman war ihr Stellvertreter. Welche Rolle spielte es also, wie er sie nannte?

»Ich bin nicht sauer, und ich verstehe auch, dass Ihnen der Patient wichtiger war, aber halten Sie es wirklich für klug, die Eingangshalle zu verlassen, ohne dass ein anderer Mitarbeiter aufpasst?«

»Haben Sie Bruno jemals erlebt, wenn er schlechte Laune hat? In diesem Moment konnte ich nur über eines nachdenken – dass er mich nicht umbringt.« Er musterte sie bekümmert. »Wir haben einfach nicht genug Personal.«

»Dr. Bannerman –« Sie unterbrach sich, als ihr klar wurde, dass er ohnehin vom Thema ablenken würde. Niemals würde er einen Fehler zugeben. Das sprach nicht für ihn, vor allem nicht, wenn er weiterhin für sie arbeiten wollte.

»Und was ich Ihnen noch sagen wollte. Das Ativan ist fast aufgebraucht. Und mit Haldol und Demerol sind wir auch knapp. Außerdem ist mein Aspirinvorrat verschwunden, was ziemlich merkwürdig ist, weil wir nicht besonders viel davon brauchen.« Er holte tief Luft. »Ich habe eine Liste zusammengestellt, die ich Ihnen geben wollte. Ich glaube, jemand klaut Medikamente aus dem Schrank. Obwohl er immer verschlossen sein sollte.«

»Einer der Mitarbeiter?« Nelsons Worte kamen ihr wieder in den Sinn.

»Ich sage es nicht gern, aber wer sollte es sonst sein? Ich bringe Ihnen die Liste im Lauf des Vormittags vorbei. Und ich halte den Bestand weiter im Auge.«

»Danke, das könnte helfen. Aber könnten wir jetzt wieder zu den drei Betten zurückkommen, die weggetragen werden konnten, ohne dass jemand nach dem Grund gefragt hat?«

Bannerman holte tief Luft. »Okay. Als ich Bruno in einen der Sessel in der Lobby verfrachtet hatte und wieder zurückkam, läutete das Telefon ... Es war ein privater Anruf, den ich aber annehmen musste. Mein Vater. Der richtige Dr. Bannerman.« Er zuckte entschuldigend die Schultern.

»Ihr Vater ist auch Arzt?« Sie fragte sich, warum ihr das nicht aufgefallen war, als sie sich seine Personalakte angesehen hatte.

»Leiter der Herzchirurgie am Cadman Memorial in New York ... Brooklyn.«

»Und Sie wollten nicht in seine Fußstapfen als Chirurg treten?«

»Ich sehe nicht gern Blut. Und um fünf Uhr morgens zu arbeiten anfangen ... bitte!«

»Ja«, meinte sie unverbindlich. Hatte nicht kürzlich jemand das Cadman Memorial erwähnt? In diesem Moment fiel es ihr wieder ein. Marian. Gestern Abend. »Das Cadman Memorial. Unser neuer Präsident kommt von dort. Austin Davey. Kennen Sie ihn?«

»Mein Vater ist ein großer Bewunderer von ihm«, antwortete er trocken. »Und ich vermute, es beruht auf Gegenseitigkeit. Die beiden spielen zusammen Tennis.«

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie ging jede Wette ein, dass er Austin Davey nicht leiden konnte. Ebenso wenig wie seinen Vater. »Tja«, meinte sie mit einem Blick auf ihre Uhr, ohne zu sehen, was sie anzeigte. »Zeit anzufangen. Die Patienten warten.« Sie wandte sich um und trat in den Korridor.

»Das mit den Betten tut mir leid, Kate«, rief er ihr nach. »Aber ich konnte es ja nicht wissen.« Sie winkte ihm zu, ohne sich umzudrehen.

Als sie nach rechts in den Haupttrakt des Gebäudes einbog, dachte sie zum x-ten Mal darüber nach, wie jämmerlich man beim Versuch, dieses Gebäude in ein Krankenhaus zu verwandeln, versagt hatte. Das Haus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Sportstätte gebaut worden und besaß all die großartigen architektonischen Besonderheiten dieser Ära – hohe Decken, die es unmöglich machten, die Räume anständig zu heizen, Marmorböden, die an Regentagen wie diesem rutschig wurden, üppig verzierte Geländer und Mauervorsprünge, die den Staub wie ein Magnet anzogen. Beim Betreten bot sich ein höchst beeindruckender Anblick: Über eine breite Treppe gelangte man zu der riesigen, hölzernen Doppeltür, flankiert von hohen, verzierten Säulen, hinter denen sich die Eingangshalle öffnete. Der Eingangsbereich war ebenfalls mit symmetrisch angeordneten Säulen ausgestattet und so hoch, dass die Schritte im Raum hallten. Inmitten all der altmodischen Pracht waren moderne fluoreszierende Leuchten installiert und Gipsfaserwände eingezogen worden. Sehr schizoid, dachte sie. Und hässlich. Man hätte das Gebäude zweifellos sinnvoller gestalten können, auch wenn die Zeit gedrängt hatte.

Das Gebäude bestand aus zwei Flügeln. Der größere der beiden befand sich auf der rechten Seite des Eingangs und beherbergte die Büros der Ärzte und Schwestern, Waschräume und diverse Behandlungsräume und außerdem die Vorratsschränke für Medikamente und sonstige Utensilien. Die Therapie- und Konferenzräume befanden sich im ersten Stock. Das Direktionsbüro – ihr eigenes – war im linken Flügel untergebracht. Es bestand aus mehreren Räumen, die sie eigentlich nicht brauchte, sowie einem großen Konferenzzimmer und zwei oder drei Büros für die Buchhaltung und andere Verwaltungsmitarbeiter. Dies war Donna Silvestris Reich. Im ersten Stock gab es ein Labyrinth aus weiteren Räumen. Einer davon war als eine Art Aufenthaltsraum mit einer großen Kaffeemaschine, einer Kochplatte und mehreren, mit Vinyl bezogenen Stühlen eingerichtet worden. Die anderen dienten als Büros für die Case Manager. Kate hielt es für unnötig, das Direktionsbüro von den anderen zu trennen, während ihre Mitarbeiter alle zusammen im anderen Flügel untergebracht waren. Sie verabscheute es, die Leute ständig in ihren Flügel zu zitieren, mit dem Resultat, dass sie stattdessen ständig hin und her laufen musste, was ihr ebenso wenig gefiel. Außerdem erschwerte ihr dieses Arrangement, die Abläufe im Haus im Auge zu behalten.

Ein großer, halbmondförmiger Tisch aus poliertem Holz – wahrscheinlich eines der wenigen ursprünglichen Möbelstücke hier – diente als Empfangstisch. Er war umgeben von niedrigen Metallaktenschränken, neben denen sich die Telefonzentrale befand. Dahinter waren bonbonfarbene Vinylsofas und Sessel zu einem halben Dutzend Sitzgruppen zusammengestellt, von denen jede mit einem eigenen gestreiften Teppichboden ausgestattet war. Kate fand es eher traurig, den Wartebereich als eine Reihe von Wohnzimmern erscheinen zu lassen, aber man hatte ihr versichert, dies sei ein gänzlich neuer Ansatz, von dem die Patienten begeistert seien. Vielleicht stimmte das, vielleicht auch nicht. Die Mehrzahl der Patienten hier hatte vermutlich ohnehin keine Augen für ihre Umgebung.

Heute hing ein feuchter, dumpfer Geruch in der Halle, und trotz der großzügigen Deckenbeleuchtung wirkte alles grau und düster. Vielleicht lag es aber auch nur an ihrer getrübten Stimmung.

Es warteten bereits fünf oder sechs Patienten ... nein, keine Patienten, wie sie in einem der Memos aus der Anstalt letzte Woche gelesen hatte. Konsumenten. So sollten Patienten neuerdings bezeichnet werden. Als verfügte die Klinik über Regale, in denen sich Kisten mit den modernsten Therapien und Gläser mit Medikamenten türmten. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Patienten noch Kunden genannt worden. Ständig dieses Theater um die korrekte Bezeichnung! Menschen, um die Ärzte sich kümmerten, hießen nun einmal Patienten. Was war so verkehrt daran? Oh Mann, dachte sie. Ich habe wieder einmal bewiesen, dass ich kein Team-Mensch bin. Dafür war sie eine verdammt gute Psychiaterin. Was psychische Erkrankungen betraf, hatte sie weiß Gott genug Erfahrung. Es war sehr angenehm, der Leiter der Klinik zu sein, und sie hoffte, dass ihr genügend Zeit bliebe, um auch Patienten zu behandeln. Dr. Carlyle hatte sie gewarnt, die administrativen Arbeiten könnten ihre gesamte Zeit in Anspruch nehmen. »Aber dafür gibt es so manche Entschädigung, meine Liebe.«

Sie ließ den Blick durch den Wartebereich schweifen. Inzwischen kannte sie die meisten Patienten, die regelmäßig kamen, aber es gab auch immer Neulinge. Psychiatrie-Patienten machten sich entweder extrem rar, so wie Nelson, oder sie tauchten ständig auf. Darlene Ormond gehörte zu Letzteren. Sie kauerte vornübergebeugt auf einem der Stühle, rauchte – was verboten war, aber Darlene scherte sich nicht um Verbote –, wippte rhythmisch mit dem Fuß und murmelte leise vor sich hin oder stieß entnervte Seufzer aus. Im nächsten Moment sprang sie auf und ging ruhelos im Raum auf und ab. Oder sie tanzte zur Musik in ihrem Kopf. Darlene konnte höchst streitlustig und aufbrausend sein – wenn sie nicht gerade völlig apathisch war. Sie litt unter einer bipolaren Störung, was sie jedoch nicht wahrhaben wollte – mit dem Ergebnis, dass sie ihre Medikamente nur selten einnahm, weil sie der Meinung war, sie seien nicht richtig für sie.

Und dann war da noch Gilda, eine weitere Stammpatientin. Gilda war schätzungsweise in den Fünfzigern, vielleicht auch älter, und hatte langes, zerzaustes graues Haar. Sie war schizophren und hielt sich die meiste Zeit für Rita Hayworth, die die Rolle der Gilda im gleichnamigen Hollywood-Klassiker spielte. Gilda nahm ihre Medikamente nur dann, wenn jemand vor ihr stand und dafür sorgte, dass sie es tat. Ihr richtiger Name war entweder Rita Navarone oder Rita Hicks, vielleicht auch beides. Sie hatte eine Sozialversicherungskarte bei sich, die vor vielen Jahren auf eine gewisse Rita Hicks aus New York ausgestellt worden war, doch als sie das erste Mal als psychiatrische Patientin registriert worden war, hatte sie den Namen Rita Navarone angegeben. Vielleicht war die verwahrloste alte Frau einmal ein hübsches Mädchen gewesen. Vielleicht hatte sie einen Ehemann gehabt. Oder war im Showgeschäft tätig. Sie erzählte jedes Mal eine andere Geschichte, wenn sie mit ihr sprachen.

Im Augenblick stand sie mit dem Gesicht zur Wand im hinteren Teil des Raums, gestikulierte und redete mit leiser, monotoner Stimme vor sich hin. Seit kurzem hatten ihre Wahrnehmungsstörungen beträchtlich zugenommen. Letzte Woche hatte sie Vera, ihrer behandelnden Ärztin, erzählt, ihre Stimmen seien zurückgekehrt. Heute hatte sie sich von den anderen Abwesenden im Raum abgewandt, in der fälschlichen Annahme, dass niemand ihr seltsames Verhalten bemerkte.

Neben ihr saß ein Mädchen, das Kate noch nie vorher gesehen hatte. Sie war sehr jung, hochschwanger und starrte ins Leere. Ihr Haar sah aus, als wäre es seit Wochen nicht mehr gewaschen worden. Und allem Anschein nach hatte sie auch kaum etwas gegessen. Kate fragte sich, wie sie wohl hergekommen war. Hatte sie jemand hier abgeliefert? Aber es war niemand zu sehen, keine Begleitperson. Sie würde Vera Ilitch bitten, sich um sie zu kümmern. Kate setzte ihren Rundgang durch den Wartebereich fort, um zu sehen, wer Hilfe brauchte, und um nach vertrauten Gesichtern Ausschau zu halten. Insbesondere nach Nelson, obwohl sie wusste, dass er so gut wie nie vorbeikam.

Auf einem der Sofas hatte sich ein junger Mann zusammengekauert, den sie schon einmal gesehen hatte. Aber nicht hier. Wo sonst? Wahrscheinlich auf der Straße, wo er sich ein Bett aus einem Karton gebaut hatte. Er schlief. Der Regen hatte ihn wahrscheinlich hereingetrieben. Sie würden ihn sich ansehen und herausfinden, was sie für ihn tun könnten. Dr. Bannerman würde das übernehmen. Und Pete war auch gekommen. Pete war mittleren Alters ... vielleicht auch jünger. Es war schwer zu sagen bei psychisch Kranken, da die Krankheit sie auszuzehren und schrumpfen zu lassen schien. Pete war zaundürr und zappelig. Er saß auf der äußersten Kante eines Stuhls, während seine Augen ruhelos durch den Raum schossen und sein Fuß nervös wippte. Er weigerte sich, Kate in die Augen zu sehen. Das tat er niemals. Sie wünschte, er könnte ihr Patient sein. Vielleicht gelänge es ihr ja, zu ihm durchzudringen und ihn dazu zu bewegen, sich ein wenig mit ihr zu unterhalten. Aber ihr Terminkalender ließ es im Moment nicht zu, sich um mehr als die allerneuesten Zugänge zu kümmern. Noch nicht. Sie beendete ihre Runde. Ziemlich viele Patienten an einem so abscheulichen Tag! Aber kein Nelson.

Wie gewohnt erledigte Sonya mehrere Aufgaben auf einmal. Sie sprach leise in den Telefonhörer, drückte irgendwelche Knöpfe, um Gespräche zu verbinden, begrüßte Besucher, kümmerte sich um irgendwelche Unterlagen, gab Anweisungen und redete mit Patienten. Dennoch erblickte sie Kate sofort.

»Dr. McKenna!«, rief sie und klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr. »Einen Moment, bitte.« Ihre Stimme klang freundlich, trotzdem signalisierten ihre Augen, dass Kate sich beeilen solle. Sonya war eine ausgeschlafene und stets wachsame Person. Kate ging auf ihren Schreibtisch zu, doch Gilda schien den Namen ihrer Lieblingsärztin, Kate, gehört zu haben. »Doc! Hey, Doc«, rief sie und schlitterte in ihren zerschlissenen Hausschuhen, die sie sommers wie winters, bei Regen oder Sonnenschein trug, über den Fußboden. Die Verbände, mit denen sie erst wenige Tage zuvor die offenen Geschwüre an ihren Beinen versorgt hatten, waren völlig verschmutzt. Gilda schlief auf der Straße. Ihr Lieblingsplatz war das große, warme Lüftungsgitter vor dem Sears-Kaufhaus. Sie sieht irgendwie dicker aus, fand Kate. Und dann dämmerte es ihr. Gilda trug mindestens drei Schichten aus Röcken, Hosen und Pullovern und darüber eine vor Schmutz starrende, riesige alte Männerjacke aus Tweed.

»Guten Morgen, Gilda. Wie geht es Ihnen?«, fragte sie und gab Sonya mit einer kurzen Geste zu verstehen, sie sei gleich bei ihr. Als hätte Sonya diesen Hinweis gebraucht.

»Gott sei Dank sind Sie da, Doc. Ich habe solchen Hunger. Ich hab seit Dienstag nichts mehr gegessen.«

»Heute ist Dienstag, Gilda.«

»Dann eben ... seit Sonntag.« Abrupt riss sie den Kopf herum. »Still. Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt!«, zischte sie.

»Wir besorgen Ihnen etwas. Zu wem kommen Sie heute?«