Die Schatten des Morgenlandes - Carsten Stormer - E-Book

Die Schatten des Morgenlandes E-Book

Carsten Stormer

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Beschreibung

Anschläge, Flüchtlingskrise, Zerwürfnisse mit Bündnispartnern: Der Syrienkrieg wirft seine Schatten auf Europa. Kriegsreporter Carsten Stormer kennt die Hintergründe des endlos scheinenden Konflikts aus erster Hand. Er lässt sich von Helfern über die Grenze schmuggeln, begleitet Rebellen an die Front und diskutiert mit Islamisten. Im Kriegsgebiet begegnet er nicht nur Elend. Er begegnet Menschen, die sich einmischen, die Not lindern, sich zur Wehr setzen und scheinbar Unabwendbares abwenden, während der Rest der Welt nur zusieht.

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Seitenzahl: 392

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungKarteTimelineProlog: Ein Blick in die ZukunftKapitel 1: Brücken und KreuzungenKapitel 2: Der ArztKapitel 3: Zaungäste des KriegesKapitel 4: Ahmed und HanadiKapitel 5: Der Kommandeur von AzazKapitel 6: JimKapitel 7: Die sterbende StadtKapitel 8: Der Scheich von AleppoKapitel 9: Unter IslamistenKapitel 10: ZabadaniKapitel 11: Flucht aus ZabadaniKapitel 12: TraumaKapitel 13: Rückkehr nach AleppoKapitel 14: Die WeißhelmeKapitel 15: Verlust und TrauerKapitel 16: LeonKapitel 17: Der TerroristKapitel 18: Die Löwen von SindscharKapitel 19: AgirKapitel 20: Wo geht’s hier zur Front?Kapitel 21: Die Schatten des MorgenlandesKapitel 22: Neue HoffnungKapitel 23: Der RevolutionärKapitel 24: BestandsaufnahmeDanksagungBildteil

Über das Buch

Ob es die Flüchtlingsströme sind oder der Anschlag im Pariser Bataclan, die Auswirkungen der Syrienkrise sind längst in Europa angekommen. Einer, der die Hintergründe von Beginn an kennt, ist Carsten Stormer. Er war mit Rebellen an der Front, erlitt an der Seite von Zivilisten Anschläge und diskutierte mit Islamisten. Er befand sich selbst in Lebensgefahr und verlor Freunde, wie den vom IS ermordeten Journalisten James Foley. Die Krise im Nahen Osten beobachtet Stormer, indem er seinen Blick auf das Leben der Menschen wirft. Seine Perspektive hilft zu verstehen und ermöglicht Prognosen.

Über den Autor

Carsten Stormer, Jahrgang 1973, studierte Journalistik in Bremen und am Indian Institute of Technology (IIT) in Chennai, Indien. Seit 2008 lebt er mit seiner Familie auf den Philippinen und schreibt aus Asien und dem Nahen Osten für SPIEGEL, CICERO, STERN, FAS und filmt Reportagen für WELTSPIEGEL, AUSLANDSJOURNAL, SPIEGELTV und Arte. 2011 erschien sein erstes Buch DAS LEBEN IST EIN WILDES TIER.

CARSTEN STORMER

DIE SCHATTEN DES

MORGENLANDES

Die Gewalt im Nahen Osten und warum wir uns einmischen müssen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Jan W. Haas, Berlin

Fotos: Carsten Stormer

Karte: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3650-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Leon, Hanadi und Ahmed. Die Hoffnung

Prolog: Ein Blick in die Zukunft

Im Januar 2011 reise ich in die christliche Enklave Alqosh im Nordirak. Ich habe den Auftrag, einen Menschen zu finden, der sich für den Frieden zwischen den Religionsgruppen im Irak einsetzt. Jemand, der die Frage beantworten kann, ob es Hoffnung für den Irak gibt. Dass dies nicht einfach werden würde, war mir von Anfang an klar. Schnell stellte ich fest, dass unser Plan nicht funktionierte. Zuerst wollte ich einen Mann treffen, der in Mossul mit Angehörigen aller Volksgruppen Wasserrohre verlegt. Rohre verlegen für den Frieden; großartig! Aber der Protagonist brach sich die Hüfte – und sagte ab. Dann sollte ich einen Iraker besuchen, der ein Radio in Kirkuk betreibt, das ein interkulturelles Versöhnungsprogramm sendet. Noch besser! Aber nicht mal ein Interview wollte er geben. Einen Grund nannte er nicht. Ich vermute, weil die Sicherheitslage in Kirkuk zu prekär war. Am Ende hieß es: Mach irgendwas, Hauptsache, Irak.

So bin ich schließlich im Kloster von Alqosh und bei Vater Gabriel gelandet. In der New York Times hatte ich gelesen, dass Tausende Christen, Jesiden, überhaupt Andersgläubige ihr Land verließen, weil sie ihres Lebens nicht mehr sicher seien. Ein Terroristennetzwerk, das sich »Islamischer Staat im Irak« nannte, legte Sprengsätze, ermordete Gegner, erpresste Schutzgelder, drohte. Nach einem Anschlag auf eine Kirche flohen Hunderte Christen in das Kloster von Vater Gabriel in Alqosh. Das sollte meine Geschichte werden: die verfolgten Christen und ein mutiger Priester, der ausharrt, ihnen Schutz gewährt und sich gegen die Gewalt stemmt. Ein Bollwerk christlicher Nächstenliebe gegen die dumpfe Gewalt islamistischer Terroristen. So weit die Theorie.

Was ich nicht weiß: Die letzten Flüchtlinge hatten das Kloster kurz vor Neujahr verlassen. Ich bin zwei Wochen zu spät. Das Kloster ist menschenleer, als wir dort eintreffen, nur acht Priester und ein 97-jähriger Mönch erwarten mich. Dabei hatte ich erst wenige Tage vor meiner Abreise mit einem Mittelsmann im Kloster gesprochen. Ja, natürlich könne ich vorbeikommen. Dass die Flüchtlinge da schon längst weitergezogen waren, ließ er unerwähnt. Das hätte gegen die irakische Auffassung von Gastfreundschaft verstoßen. Ohne vertriebene Christen fällt der wichtigste Aspekt der Geschichte weg, und ich ahne, dass es schwierig wird, meinen Auftrag zu erfüllen.

Alqosh liegt im kurdisch verwalteten Teil des Iraks. Hier ist es im Winter 2011 für irakische Verhältnisse noch relativ sicher. Und deshalb ist dieses Gebiet zum Rückzugsgebiet für all die Vertriebenen im Zweistromland geworden. Im kurdischen Teil des Iraks leben Kopten, Christen, Jesiden, Kurden, Moslems und Anhänger Johannes des Täufers friedlich nebeneinander – auch wenn sie sich nicht unbedingt mögen.

Die Christen haben sich in Enklaven der biblischen Provinz Ninive abgeschottet. In Sharifa, Telesqof, Telqef, Batnaia und vielen anderen Siedlungen. Dort finden weiterhin Gottesdienste statt, die Menschen fühlen sich sicher. Die Zugangsstraßen der Dörfer werden von kurdischen Peshmerga und irakischen Soldaten bewacht.

Vater Gabriel K. Tooma ist ein schmaler Mann mit Brille, das akkurat frisierte Haar mit grauen Strähnen durchzogen. Ein Karrierepriester; mit 41 Jahren bereits vom Papst zum Abt aller katholischen Klöster im Irak erkoren. Er geht ein bisschen gebückt, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt; das große Kreuz um seinen Hals wirkt wie eine Last, an der er schwer zu tragen hat. Er predigt und lebt im Kloster der Jungfrau Maria in Alqosh, knapp zwei Autostunden von der Fanatikerhochburg Mossul entfernt.

Um fünf Uhr morgens, wenn das unsichtbare Böse in seinem Land noch schläft, steht er auf, schlüpft in seine Soutane, legt die Kette mit dem silbernen Kreuz um seinen Hals und betet; für Frieden im Irak, seiner Heimat, dafür, dass auch heute wieder ein Tag ohne schlechte Nachrichten vorübergeht, dass keine Kirche brennt in Bagdad oder Mossul, dass keine Haftbomben unter Autos explodieren und Christen, Jesiden oder Kurden in den Tod reißen; dass niemand mit schallgedämpften Pistolen erschossen wird. Es stirbt sich leicht im Irak, und deswegen gibt es viel zu beten. Die Gewalt, dies weiß der Priester, kommt und geht, ist wie Ebbe und Flut, bestimmt das Leben der Iraker wie der Mond die Gezeiten der Meere.

Und trotzdem will Vater Gabriel seine Enklave Alqosh nicht verlassen. Hier ist seine Gemeinde, hier fühlt er sich sicher. Außerhalb der Klostermauern lauern Gefahren, töten Terroristen. Drinnen bedränge ich ihn. Er soll mir zeigen, wie er zwischen den Volksgruppen vermittelt, versöhnt. Aber wir reden aneinander vorbei. »Es gibt keine Probleme zwischen Christen und Moslems«, sagt er mir nach einer Messe. »Es ist kein religiöser Konflikt, sondern ein politischer. Dagegen kann man nichts tun.«

Die meiste Zeit betet Vater Gabriel. Oder er empfängt Besucher, schreibt Briefe, bereitet Messen vor – was Priester eben so tun. Moslems begegnet er nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Jahrhunderte der Koexistenz, und noch immer jede Menge Vorurteile.

Dann bewegt er sich doch. »Willst du mit mir nach Mossul fahren?«, fragt er eines Morgens. In Mossul, sagt er, sei es gefährlich. Hier tummeln sich ehemalige Angehörige von Saddams Baath-Partei, religiöse Hetzer und Terroristen der al-Qaida. Bis vor ein paar Jahren lebten hier mehr als 100 000 Christen, jetzt seien es weniger als fünftausend, heißt es. Die Flucht ist eine Kapitulation vor religiösem Fanatismus und die Folge einer korrupten Politik, die macht- und willenlos ist gegen die Gewalt und die Betroffene nicht schützen kann. Mehr als die Hälfte der im Irak lebenden Christen soll das Land schon verlassen haben: 400 000 bis 700 000 Menschen. Christen und andere Minderheiten sind zur Zielscheibe der Terroristen geworden, die darauf hinarbeiten, dass der Irak völlig auseinanderfällt und ein islamistisches Kalifat entsteht. Nur drei Prozent der Bevölkerung gehören zu einer der religiösen nichtislamischen Gruppen, aber sie stellen zwanzig Prozent der Flüchtlinge. Wenn sich die Lage wieder beruhigt hat, kehren einige wieder zurück. So pendelt sich das Leben ein im Rhythmus der Gewalt.

Es ist kalt in Ninive, der Wiege des christlichen Glaubens im Mittleren Osten. Ein eisiger Wind pfeift über das Hochplateau, und die Temperatur fällt auf gefühlte null Grad. Vater Gabriel steigt in seinen Toyota Corolla, und man spürt seine Anspannung. Für die Fahrt hat Vater Gabriel die Soutane abgelegt, zu gefährlich. Genau wie das silberne Kreuz, das jetzt im Handschuhfach liegt, besser so. Nur der Priesterkragen, der unter seiner schwarzen Winterjacke hervorlugt, verrät seinen Glauben. Die kurdischen Peshmerga, die sein Kloster bewachen, schieben das eiserne Rolltor beiseite, salutieren, und Vater Gabriel schickt ein Vaterunser zum Himmel.

Während der Fahrt raucht er eine Zigarette der Marke Prestige nach der anderen, als wolle er sich an den Kippen festhalten, und erzählt, dass alle Kirchen in Mossul geschlossen seien, alle Priester, bis auf einen, die Stadt verlassen hätten und Weihnachten im vergangenen Jahr abgesagt werden musste. Er bleibe nie länger als zwei Stunden in der Stadt. Aus Sicherheitsgründen. Je näher Mossul rückt, desto mehr Straßensperren behindern den Verkehr; kurdische und irakische Soldaten mit entsicherten Gewehren fordern Ausweise und schauen in Kofferräume. Als ein junger Mann im Tarnfleck das Kreuz im Handschuhfach entdeckt, flüstert er Vater Gabriel zu, dass er bitte aufpassen und nicht zu lange in Mossul bleiben solle. Man wisse ja nie in diesen Zeiten … Vater Gabriel schickt zum Dank ein »Gott sei mit Dir« durchs offene Fenster und bekreuzigt sich.

»In dieser Straße lebten einst nur Christen, heute sind nur drei Familien übrig geblieben«, sagt der Priester, als wir in Mossul ankommen, und blickt dabei ständig in den Rückspiegel. Seine Stirn wirft Falten, er ist nervös, zieht den Mantel enger, um den verräterischen Priesterkragen zu verstecken. Wir besuchen die Maqdasays, eine der wenigen christlichen Familien, die noch immer in Mossul leben.

Wie durch einen Schleier verhüllt dringen die Geräusche der Stadt in das Haus der Maqdasays. Bei Miller-Bier und gebrannten Nüssen sitzen Vater Gabriel und die Familie Maqdasay in deren eiskaltem Wohnzimmer und halten sich an den Händen. Atemwolken wabern durch die kalte Luft. Vater Gabriel verteilt Stofftiere an die Kinder: Pu, der Bär, und einen grünen Drachen. Der Strom ist mal wieder ausgefallen. »Ah, die Früchte von Freiheit und Demokratie«, bemerkt Vater Gabriel sarkastisch, und alle lachen.

Obwohl sie nie persönlich bedroht wurden und die Beziehungen zu ihren muslimischen Nachbarn gut sind, flohen die Maqdasays in den vergangenen zwei Jahren drei Mal aus Mossul. Nachdem Christen starben, weil eine Autobombe explodierte oder weil jemand »Christen verschwindet aus Mossul oder wir töten euch« an eine Hauswand geschmiert hatte. Wenn sie das Haus verlassen, informieren sie sich über SMS: »Bin nur noch schnell Zigaretten holen, bin okay!«

Es klingelt an der Haustüre, und Vater Gabriel zuckt zusammen, als hätte ihn eine Biene gestochen. Doch es sind nur moslemische Freunde der Familie, die vorbeischauen, weil sie gehört haben, dass Vater Gabriel zu Besuch ist. Das Bier verschwindet, stattdessen wird gezuckerter Tee serviert. »Wenn wir fliehen, dann lassen wir den Schlüssel bei den Nachbarn, die auf unser Haus aufpassen«, sagt Amer Maqdasay, 62, das Familienoberhaupt, der neun Jahre als Kriegsgefangener im Iran verbrachte. Seine Frau sitzt am Fenster und beobachtet, was auf der Straße vor ihrem Haus geschieht. »Wenn wir auf die Straße gehen, trauen wir uns nicht, das Kreuz zu tragen. Ich habe Angst, zur Arbeit zu gehen. Und die Frauen verlassen das Haus gar nicht mehr«, sagt Amer Maqdasay. Vater Gabriel ist nervös, schaut auf seine Uhr. Es ist spät. Noch ein Bierchen? Nein, lieber nicht. Er muss los, besser so. Dann steht er auf, Umarmungen, Küsse. Auf Wiedersehen, Friede sei mit Euch. Bevor er in seinen Wagen steigt, schaut er sich schnell in alle Richtungen um. Dann braust er davon, bis die Familie Maqdasay nur noch ein kleiner Punkt im Rückspiegel ist, der irgendwann ganz verschwindet.

Auf dem Rückweg halten wir in Batnaia, einem Achttausend-Seelen-Nest auf halber Strecke zwischen Alqosh und Mossul. Dort sitzt der 56-jährige Samir Azoo Dawood in seinem Krämerladen zwischen Rosenkränzen und Tomatenketchup und träumt sich in seine Vergangenheit. Vor drei Jahren floh er aus Bagdad, nachdem Killerkommandos der al-Qaida zwei seiner Kollegen aus der Stadtverwaltung ermordeten und seinen Vater bedrohten, und nachdem sein Bruder an einer Blinddarmentzündung starb, weil die schiitischen Milizen sie nicht ins Krankenhaus ließen. Ein paar Schritte weiter, in einem Haus, das sich an die Friedhofsmauer von Batnaia quetscht, erlebt der 43-jährige Hani Sami Mansoor jeden Tag das Leiden seines Sohnes Fadi, der an einer Hormonschwäche erkrankt ist. Seitdem sie aus Mossul fliehen mussten, kann sich die Familie die teuren Medikamente zur Behandlung nicht mehr leisten.

Überall findet man sie, die vergessenen Opfer des Hasses. Zurück in Alqosh besuchen wir Josef Nahum. Der 62-Jährige sitzt in seinem winzigen Wohnzimmer, nicht weit entfernt vom Grabmal des Propheten, vor ihm eine Tasse türkischer Kaffee. Zu seinen Füßen wuselt sein Hund Kete, eine fransige Töle, die mit den Resten des Mittagessens spielt. Ein Streifen Sonne fällt durch das Fenster zum Hof, aus dem man freie Sicht auf St. Michael hat. Das 1400 Jahre alte verlassene Kloster klebt wie ein Schwalbennest an einer Felswand. Josef Nahum floh mit seiner Familie aus Mossul, nachdem ihn Al-Qaida-Terroristen entführten und erst gegen 20 000 Dollar Lösegeld wieder freiließen. Warum sie ihn nicht töteten, weiß er nicht. Es interessiert ihn auch nicht. Zwei Tage nach seiner Freilassung ließen sie ihr Haus und ihren Besitz in Mossul zurück und retteten sich nach Alqosh. »Alles, was ich in dreißig Jahren aufgebaut habe, wurde innerhalb von Tagen zerstört.« Aus dem Nachbarhaus weht der Wind die Klagelieder der 81-jährigen Dichterin Ister Izik Zara herüber, die in ihrem bunt bemalten Hexenhaus sitzt und die Toten der letzten Anschläge besingt.

Pater Gabriel schleppt mich von einem Opfer zum nächsten, als würde ich ihm nicht glauben. Als ob er weitere Kronzeugen des islamistischen Terrors aus dem Hut zaubern müsste. Am Abend sind wir beim Bürgermeister von Alqosh, einem Christen, zum Tee eingeladen, reden über Politik, die Gewalt im Irak und die Situation seiner Glaubensbrüder. Der Diktator Hussein habe den Deckel auf den multiethnischen Schmelztiegel des Iraks gepresst, wenn nötig mit Gewalt. Jetzt sei der Tyrann weg und der Kessel drohe zu explodieren. Das Machtvakuum nutzten nun Terroristen, um das Land zu destabilisieren. »Jahrzehntelang angestaute Vorurteile machen sich Luft«, sagt Vater Gabriel, und der Bürgermeister nickt. »Wir haben keine Probleme mit Moslems. Wir leben seit Jahrhunderten als Nachbarn im Irak.« Aber noch nie sei die Situation der Christen so schlimm gewesen wie heute. Vor hundert Jahren sei jeder vierte Iraker ein Christ gewesen, heute stellten sie nur noch etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung. Die Jesiden nur ein Prozent. Wer es sich leisten könne, fliehe ins Ausland; nach Amerika, Skandinavien, Deutschland. Immer mehr Länder öffneten ihre Grenzen für Verfolgte aus dem Irak. Vater Gabriel gefällt diese Entwicklung nicht. Denn so verliere der Irak langsam, aber sicher seine Identität, seine Kultur. »Seit zweitausend Jahren sind wir ein Teil des Landes. Je mehr Christen ins Ausland fliehen, desto mehr Bestätigung erhalten die Terroristen«, glaubt er. Mit der zunehmenden Aufmerksamkeit, die das Leiden der Christen im Ausland erfahre, nähmen auch die Terroranschläge zu. »Die Terroristen wähnen sich ihrem Ziel nahe, alle Andersgläubigen aus dem Irak zu vertreiben. Wir sollten lieber leise leiden, als laut zu sterben.«

Der Irak steht vor einer Zerreißprobe, und diese Zerrissenheit spiegelt sich in Gestalt von Vater Gabriel wider. »Die Gewalt muss endlich ein Ende haben, damit jeder seinen Weg gehen kann. Nicht unbedingt gemeinsam, aber nebeneinander«, sagt er. Ich dränge ihn, mir zu erklären, wie er sich seinen moslemischen Mitmenschen nähert, wie seiner Meinung nach Frieden im Irak entstehen kann. Doch Vater Gabriel weicht aus. Ich bohre weiter, und plötzlich bricht aus dem Priester der angestaute Frust heraus. Mit Moslems friedlich zusammenzuleben sei unmöglich, schnaubt er. »Das sind alles Terroristen. Der Islam predigt Gewalt. Denen geht es nur darum, uns Christen zu töten oder zu vertreiben!« Schweigen, dann fällt der Strom aus, Vater Gabriel zündet sich eine Zigarette an, die Glut glimmt in der Dunkelheit. Nach einer Weile fragt er: »Warum lasst ihr Deutschen die Moslems in euer Land?« Das könne er nicht verstehen. Es sind Thesen, wie sie in Deutschland der umstrittene Autor Thilo Sarrazin vertritt, die Vater Gabriel bei einer Tasse Tee verbreitet. Die feindliche Übernahme Europas durch aggressives Gebären, um das Abendland zu islamisieren. »Europa wird bald muslimisch sein und die Christen unterdrücken«, davon ist der Priester überzeugt.

Ich wünschte, ich hätte diesen Ausbruch nicht gehört. Eigentlich könnte ich jetzt einpacken und nach Hause fahren. Vor mir sitzt ein Mensch, der sich Frieden und Sicherheit für sein Land und seine Gemeinde wünscht – aber in seinem Frust und seinen Vorurteilen gefangen ist. Wahrscheinlich ist das ein natürlicher Reflex, wenn man als Angehöriger einer religiösen Minderheit in einem moslemisch dominierten Land lebt und ständig von Extremisten bedroht wird. Vater Gabriel sorgt sich nur um das Wohl seiner Gemeinde. Sich abschotten, statt aufeinander zuzugehen. Wie sollte es auch anders sein. Mit Terroristen lässt sich nun mal nicht verhandeln oder diskutieren.

Trotzdem will ich noch nicht aufgeben. Also überlege ich, wie man die Reportage doch noch in die gewünschte Richtung drehen könnte. Vielleicht gibt es noch einen Zugang. Ich versuche zu retten, was zu retten ist – und will meinen Auftrag erfüllen, mit einer Geschichte zurückkehren. Meine Auftraggeber zahlen viel Geld für diese Recherche. Langsam rennt mir die Zeit davon, und deshalb frage ich Vater Gabriel, ob wir nicht gemeinsam einen muslimischen Imam besuchen könnten.

Ja, er kenne da einen, mit dem er sich ganz gut verstehe. Der lebe in dem Städtchen Shekhan, vierzig Minuten mit dem Auto von Alqosh entfernt. Aber gemeinsam? Heute? Darauf habe er eigentlich keine Lust. Zudem erwarte er Besuch. »Fahrt doch ohne mich zum Imam«, schlägt er vor. Zum x-ten Mal erkläre ich ihm den Sinn meiner Recherche. Ich brauche diese Szene für die Reportage; unbedingt. Widerwillig stimmt er zu. Wir fahren nach Shekhan, die ganze Zeit redet Vater Gabriel kein Wort mit mir. Schließlich landen wir in einem Raum, der vollgestellt ist mit alten Computern, Stühlen und Tischen, die in einer Ecke verstauben, Abstellkammer und Konferenzzimmer des Vereins »Eyan«.

Vier Männer sitzen vor mir und sehen mich fragend an wie Schauspieler einen Regisseur, der ihnen erklären soll, was in der nächsten Szene passiert. Vater Gabriel, der Christ; Younis Ali Musa, der 50-jährige Imam von Shekhan; Peer Hassan Ali, der Jeside, 62; und Mohammed Yousif Khamo, ein Kurde, 49 Jahre alt. Sie erzählen mir, was ich hören will: dass sie Verbündete seien, sich gegen den Sog des schwarzen Lochs stemmen, das den Irak unaufhaltsam ansaugt. Und um diesem zu entkommen, haben sie den Verein »Eyan« gegründet, was so viel wie »Haus der Weisheit« bedeutet – »weil vor der Freiheit das Wissen steht«. Drei, vier Mal im Jahr veranstalten sie religionsübergreifende Näh-Workshops für die Frauen der Umgebung. »Es geht nicht darum, die Sachen anschließend zu verkaufen. Unser Ziel ist, dass die Frauen Freundschaften schließen, merken, dass die Christin nicht anders ist als die Muslima!«, sagt Imam Younis Ali Musa. Oder sie beten gemeinsam in Kirchen, Moscheen oder den Tempeln der Jesiden. »Wenn Menschen merken, dass wir uns wie vier Brüder verhalten, bauen sie vielleicht ihre Vorurteile und ihren Hass ab«, sagt Vater Gabriel Tooma und schmeckt seine Worte noch einmal nach, als sei er selbst ein bisschen überrascht darüber, was er gerade gesagt hat. Aber häufig gehe es nur darum, Streit zu schlichten. Neulich gab es Ärger zwischen den Clans der Jesiden und der Moslems, weil muslimische Jungs mit jesidischen Mädchen herumgemacht hätten. »Das haben wir geklärt!« Wie, das erfahre ich nicht.

Übermütige Teenager zu bändigen ist machbar. Wesentlich komplizierter war der Unfall eines kurdischen Lastwagenfahrers. Dem Trucker war ein Reifen abgesprungen und in die Windschutzscheibe eines Autos gekracht, in dem eine christliche Familie saß. Ein 13-jähriges Mädchen verunglückte schwer, und eine aufgebrachte Meute forderte den Kopf des Truckers. »Auch das haben wir auf unsere Art geregelt«, sagt der Imam, ein Hüne mit weißem Bart und warmen Augen, und wenn er lacht, wackelt der Turban auf seinem Kopf. »Der Lastwagenfahrer hat sich entschuldigt und den Christen ein neues Auto und zehntausend Dollar Entschädigung gezahlt, da das Mädchen ihr Leben lang gelähmt sein wird.« Danach war eine Zeit lang wieder Ruhe in Ninive.

Es sind kleine Schritte von Menschen, die sich in ihrem Glauben nicht nahestehen, sich meistens sogar ablehnen in ihrem monotheistischen Exklusivanspruch, aber gleichzeitig auch die Nase voll haben von Krieg, Chaos und Gewalt – und die an einen friedlichen Irak glauben. Sie haben die Jahrzehnte unter Saddam Hussein erlebt, in denen man den Mund halten musste, um ein friedliches Leben zu führen. Eine Zeit, in der besonders die Kurden unter Vertreibung und Giftgasangriffen litten. Später folgte die Invasion der Amerikaner mit ihrem Versprechen für einen Neuanfang in Frieden und Demokratie. Nichts davon wurde gehalten. Im Gegenteil: Die Gewalt gegen religiöse Minderheiten begann mit dem Sturz des Diktators Hussein. Der latente Hass zwischen den Ethnien, der Jahrzehnte unter einer diktatorischen Torfschicht schlummerte, brach aus – und niemand verhinderte diese Entwicklung. Die Enttäuschung über die Lippenbekenntnisse irakischer und ausländischer Politiker ist groß; die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird, klein, sehr klein.

Sie alle wurden bedroht, haben Gewalt erlebt und wissen, was es heißt, Angst zu haben. Aber es gibt nicht viel, was man dem Terror der Islamisten und der eigenen Furcht entgegensetzen kann. Davonlaufen? Auch keine gute Alternative. Mit Gewalt antworten, zurückschießen? Die schlechteste Lösung. Was dann? In Gottvertrauen ausharren, jeder in seinem eigenen Glauben? »Wir leben seit Hunderten von Jahren friedlich nebeneinander«, sagt der Imam, der vor zwei Jahren aus Mossul flüchten musste, weil islamistische Extremisten ihn für zu tolerant und für einen Spion der Christen hielten und weil er in seinen Freitagspredigten Freundschaft zwischen den Religionen propagierte. »Jesus ist mein Bruder. Er war ein Prophet, ich bin ein Prophet. Christen und Moslems sind Brüder«, sagt er und schlägt dabei mit der flachen Hand auf den Oberschenkel von Vater Gabriel, den er seinen großen Bruder nennt, obwohl dieser viel jünger ist. Es ist eine Geste des Respekts und der Zuneigung. Der Priester zuckt zusammen und schaut verwundert, bevor er sich ein Lächeln abringt.

»Nie war es für die Christen im Irak so schwierig wie heute«, sagt Vater Gabriel Tooma, und sein jesidischer Kollege Peer Hassan Ali, ein großer Mann mit Schnauzer, schlohweißem Haar und Händen, die wie Zangen zufassen, nickt zustimmend und sagt: »Uns geht es genauso, aber ihr Christen bekommt die ganze Aufmerksamkeit.« Und Imam Younis Ali Musa meldet sich zu Wort, dass man bitte schön nicht die 2700 moslemischen Binnenflüchtlinge vergessen solle, die vor dem Chaos in Bagdad und Mossul fliehen mussten und sich nun am Stadtrand von Shekhan eine neue Existenz aufbauten. Mohammed Yousif Khamo, der Kurde, ist der Stille der Gruppe. Er wippt nur mit den Füßen, hört zu und spitzt manchmal seine Lippen, als wolle er etwas sagen, behält seine Gedanken dann aber doch für sich.

Ich frage, ob die Herren demnächst irgendwo gemeinsam beten, vielleicht in einer Moschee. Ich fange an zu puzzeln, etwas zu konstruieren. Das wäre die Szene, die meine Geschichte retten würde. Ich habe kurz Hoffnung. Nein, da sei vorerst nichts geplant. Auch ein Workshop finde in absehbarer Zeit nicht statt. Und so fahre ich schlecht gelaunt zurück ins Kloster von Alqosh. Ich habe einen Friedensvermittler gesucht und stattdessen furchtsame und zerrissene Menschen gefunden, so wie das Land selbst.

Die Männer in ihrem religiösen Mikrokosmos treiben auf etwas zu und wissen nicht genau, was es ist. »Der Irak ist wie eine schwangere Frau mit Wehen. Sie keucht, stöhnt, schreit – aber irgendwann erblickt das Kind die Welt«, sagt Vater Gabriel. »Wir brauchen zuerst Sicherheit!« Aber mit diesen Terroristen könne man keine Verhandlungen führen, nicht diskutieren. Sie wollen nur eines, sagt der Priester: Chaos stiften und Andersgläubige umbringen. Und das gelinge ihnen mit einfachen Mitteln. Ein Selbstmordattentäter in Baquba. Eine Haftbombe in Bagdad. Die Belagerung einer Kirche. Hauptsache, viele Tote. Die Religionsgruppen dümpeln in diesem Chaos vor sich hin wie ein Schiff ohne Anker. Sie verabscheuen Gewalt, aber gehen sich aus dem Weg. Vor dem Frieden kommt die Versöhnung – aber dazu sind die Wunden zu tief. Sie müssen erst noch vernarben. Am Tag meiner Abreise reißt ein Selbstmordattentäter in Tikrit fünfzig Menschen mit in den Tod, und in Mossul tötet eine Frau einen katholischen Arzt.

Ich habe einen Versöhner gesucht. Das hat nicht funktioniert. Aber dafür habe ich etwas anderes gefunden. Einen Menschen, der für die tatsächliche Lage im Irak steht, für die inneren und äußeren Konflikte. Versöhnung hat darin keinen Platz. Gibt es Hoffnung für den Irak? Diese Frage kann ich Anfang des Jahres 2011 nicht beantworten.

Fünf Jahre später kenne ich die Antwort. Die Geschichte, die ich 2011 recherchierte, war nur der erste Akt eines langen und blutigen Dramas, dessen Schluss noch nicht geschrieben wurde. Die letzten Christen sind aus Mossul verschwunden. Das Volk der Jesiden hat den Christen im Wettlauf, wer am meisten leidet, den Rang abgelaufen. Ebenso wie Schiiten und Kurden. Sie sind geflohen oder wurden getötet, versklavt, vergewaltigt. Zu Tausenden. Mossul, die zweitgrößte Stadt des Iraks, ist vom IS besetzt. Sie wurde im Handstreich eingenommen. Die irakische Armee lief davon und ließ ein Arsenal aus modernen Waffen zurück. Der Irak droht auseinanderzufallen. Es gibt so gut wie keine Hoffnung für das Zweistromland. Selbst wenn der IS besiegt werden sollte, bleibt die Frage: Was kommt danach?

Der Nahe Osten befindet sich in einer Abwärtsspirale. Dabei hätte man diese Entwicklung voraussehen können. Die Ideologie des Islamischen Staates besteht nicht erst seitdem Abu Bakr al-Bagdadi, der schwarze Kalif, sein Kalifat im Jahre 2014 ausrief, das sich heute von Aleppo in Syrien bis hin nach Mossul im Irak erstreckt. Die Terrorgruppe hatte sich erstmals zur Zeit der amerikanischen Invasion im Irak unter dem Terrorfürsten Abu Musa al-Zarkawi geformt. Damals hieß sie nur »Islamischer Staat im Irak«. Nachdem die US-Armee Zarkawi mit zwei 500-Pfund-Bomben getötet hatte, wiegte man sich im Pentagon in dem Irrglauben, die Terrorgruppe besiegt zu haben. Doch Zarkawi war nur der Kopf einer islamistischen Medusa. Die Schlange verkroch sich für einige Jahre in ihre Hochburgen in der irakischen Provinz Anbar und der Stadt Mossul, wo sie aus dem Untergrund heraus Terroranschläge verübte, während sie sich planvoll und kalkulierend auf ihren Siegeszug vorbereitete.

Am Abend vor meiner Abreise aus Alqosh gehen in Ägypten die ersten Menschen auf die Straße, um gegen das Regime von Husni Mubarak, dem ägyptischen Autokraten, zu demonstrieren. Auch in Tunesien, in Marokko und bald darauf in Libyen blüht das, was die Medien den Arabischen Frühling taufen. Das Volk schüttelt seine Peiniger ab. Der Nahe Osten beginnt sich neu zu sortieren. Und im Februar 2011 gehen die ersten Menschen in Syrien auf die Straße. Damals konnte ich nicht ahnen, dass dieser Konflikt nicht nur die Welt, sondern auch mein eigenes Leben verändern würde.

Kapitel 1: Brücken und Kreuzungen

Ich bin aus drei Gründen Journalist geworden: Mir fehlte die Lust, in meinem erlernten Beruf als Speditionskaufmann zu arbeiten, ich wollte Abenteuer erleben, und ich suchte eine Möglichkeit, durch die Welt zu reisen und dafür auch noch bezahlt zu werden. Doch es gab zwei Schlüsselerlebnisse, die mich veränderten und meinem Leben eine Richtung gaben.

1997, ich bin 24 Jahre alt, befinde ich mich auf einer zehnmonatigen Rucksackreise durch Asien. In Kambodscha rauche ich Joints mit alternden Journalisten, die in Asien hängen geblieben sind und ihren ruhmreichen Tagen während des Vietnamkrieges nachtrauern. Ich schlafe in den Lotustürmen von Angkor Wat, verlaufe mich in einem von den Roten Khmer verminten Wald. Und eines Morgens lese ich in der Phnom Penh Post, dass eine Organisation, die für ein Verbot von Landminen kämpft, den Friedensnobelpreis gewonnen hat. In Kambodschas Feldern und Dschungeln liegen noch immer Millionen von Landminen und Streubomben aus dem Vietnamkrieg vergraben und zerfetzen bis heute Arme, Beine und Körper von Kambodschanern.

Also klopfe ich an die Tür einer Hilfsorganisation in Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Das Büro liegt in einer Seitenstraße, im Hof humpeln einige Männer auf Prothesen herum; ein absurdes Bild, das von Bougainvillen eingerahmt wird, deren Farben in der Sonne explodieren. Ich gebe mich als Journalist aus, lüge, dass ich für eine große deutsche Tageszeitung arbeite und über die Gefahr von Landminen berichten möchte. Vor mir sitzt ein Schotte, lang wie ein Baum, rote Haare und Hände wie Bratpfannen. Sprengmeister sei er, erzählt er mir und fügt hinzu, dass er nicht glaube, dass ich Journalist sei. »Ich nehme dich trotzdem mit auf die Minenfelder, weil es mich freut, dass du dich für mehr als Tempel und Strand interessierst«, sagt er. Bald darauf fahren wir in den Dschungel Zentralkambodschas nahe der vietnamesischen Grenze, dorthin, wo einst der Ho-Chi-Minh-Pfad verlief, auf dem die vietnamesischen Untergrundkämpfer Waffen und Nachschub für den Krieg gegen die Amerikaner schmuggelten. Auf der Fahrt erzählt mir der Schotte, dass er früher als Söldner in Rhodesien kämpfte und auf den Falklandinseln für die britische Armee Minen vergrub. Die Ironie gefällt ihm: zweimal Geld verdienen mit der gleichen Sache, erst eingraben, dann ausgraben. »Ausgraben ist sinnvoller«, sagt der Mann.

Wir laufen durch das Unterholz des Urwaldes, und ich fotografiere, wie der Schotte und seine Mitarbeiter Kriegsmüll einsammeln. Unterwegs treffen wir einen Bauern, der eine alte russische Mine in seinem Beutel mit sich trägt. »Gib her«, sagt der Schotte. Der Bauer weigert sich. Die beiden fangen an zu streiten, weil der Bauer mit der Mine seine Bambushütte gegen potenzielle Diebe verteidigen will. Jeden Morgen, erzählt er, gräbt er sie aus und am Abend an einem anderen Platz wieder ein. Der Schotte zetert noch eine Weile, dann zieht der Bauer mit seiner Landmine weiter. Stundenlang laufen wir durch den Busch und sammeln kleine gelbe Streubomben ein, die aussehen wie Tennisbälle und halb vergraben im Gestrüpp versteckt liegen. Selbst am Rand eines Feldes schaut eine Landmine aus dem Boden. Am frühen Nachmittag kommt über Funk die Ansage, dass wir sofort in ein Dorf in der Nähe fahren sollen. Ein Mädchen sei auf eine Mine getreten.

Das Dorf ist mit dem Jeep nur ein paar Minuten entfernt; eine Ansammlung aus wackeligen Bambushütten, ein kleiner buddhistischer Tempel, im Schlamm kühlen sich Wasserbüffel. Vor einem Brunnen haben sich die Dorfbewohner versammelt, eine Wand aus dürren Körpern. Dahinter liegt das Kind. Das Mädchen schreit nicht. Sie ist elf Jahre alt, und ihre Zukunft wurde von einer alten Mine zerstört. Neben ihr kauert die ebenfalls verletzte neunjährige Schwester, das Gesicht in den Händen vergraben. Es macht mich wütend, dass niemand vom Schicksal dieser Mädchen erfahren wird, weil es in einem toten Winkel der Welt passiert ist. Zwei Kinder am Ende der Welt, das Leben für immer zerstört. Fassungslos fahre ich mit dem Schotten zurück nach Phnom Penh. Im Jeep liegen die zwei notdürftig verbundenen Mädchen, die wir in einem Krankenhaus abliefern.

Am Ende meiner Rucksacktour habe ich ein zweites einschneidendes Erlebnis. Ich fahre mit der Transsibirischen Eisenbahn von Asien zurück nach Europa, passiere China, die Mongolei, Russland und erreiche über die Ukraine Polen. Acht Tage im Zug. Mein Ziel: das Vernichtungslager Auschwitz. Meine beiden Großväter haben im Zweiten Weltkrieg gekämpft, der eine als Major in der Abwehr, der andere als Mitläufer an der Ostfront. In den letzten Tagen des Krieges, kurz vor dem Untergang, desertierte er, um seine Frau und seine kleine Tochter, meine Mutter, vor der Roten Armee zu retten. Ich bin ein Enkel der Tätergeneration.

Das ehemalige Lager Auschwitz I ist heute ein Museum. Schulklassen und Besucher aus aller Welt durchqueren Räume, in denen Josef Mengele seine Versuche am Menschen durchführte; sie sehen die Häftlingsbilder, Berge von Schuhen, Koffern und abgeschnittenen Haaren von Menschen, die hier den Tod fanden. Die Fotos an den Wänden kenne ich aus Büchern oder dem Geschichtsunterricht. Mädchen kichern, Jungs gähnen; zu jung, um das Unfassbare zu verstehen.

Später laufe ich in das Lager Auschwitz II, dort, wo die Züge mit den Todgeweihten ankamen und die Ruinen der Gaskammern stehen. Es nieselt. Ein kalter Junitag, der Himmel grau. Das Wetter passt zur Stimmung. Ein alter Herr mit einem langen grauen Bart sitzt in einem Büro am Eingang und bittet darum, dass ich mich in das Gästebuch eintrage. »Nationalität« steht dort, daneben ein leeres Feld. Ich zögere. »Deutsch« schreibe ich schließlich hinein. Plötzlich legt mir der Alte die Hände auf die Schulter, umarmt mich und bedankt sich. »Als junger Mann bin ich hier Häftling gewesen«, sagt er und rollt den Ärmel seines Hemdes hoch. Ich erkenne die eintätowierte Nummer auf seinem Arm. Halb auf Deutsch, halb auf Jiddisch sagt er: »Ich freue mich über jeden Besucher. Aber am meisten über junge Deutsche. Ich kann nicht vergessen, aber ich habe Deutschland verziehen!« Seine Worte machen mich sprachlos. Was soll man darauf antworten? Ich schäme mich. Obwohl ich nicht verantwortlich bin für diese Verbrechen, die hier Deutsche an anderen Menschen verübt haben. Der alte Mann lächelt, nimmt meine Hand und führt mich zu den Baracken. »Den Rest musst du alleine schaffen, mein Junge«, sagt er zum Abschied.

Ich stolpere durch die Baracken, betrachte lange die Wachtürme und den Stacheldraht, durch den heute kein tödlicher Strom mehr fließt. Ich bin der einzige Besucher, laufe durch den Nieselregen, spüre weder Feuchtigkeit noch Kälte. Irgendwann stehe ich vor vier Stelen aus schwarzem Marmor. »Zur Erinnerung an die Männer, Frauen und Kinder, die dem Völkermord der Nazis zum Opfer gefallen sind. Hier liegt ihre Asche. Mögen ihre Seelen in Frieden ruhen« ist dort eingraviert.

Hinter den Stelen liegt ein kleiner Teich, umgeben von grauer Erde. Daneben die zerstörten Gaskammern. Ich hocke mich in das Gras vor den Gedenktafeln und starre lange auf die Inschriften. Währenddessen lasse ich unbewusst den grauen, feuchten Sand durch die Finger rieseln. Nach einer Weile blicke ich auf meine Handflächen. Ich erkenne einen abgebrochenen Zahn und Knochensplitter. Die vermeintliche Erde ist in Wirklichkeit die Asche der vergasten Menschen, die man hier durch die Schornsteine geblasen hat. Mir schießen die Tränen in die Augen, ich zittere. Wie lange, weiß ich nicht mehr. Irgendwann setzt sich eine alte Dame neben mich und nimmt mich in den Arm, streichelt mein Haar. »Du bist Deutscher«, sagt sie, »vergiss das niemals, die Asche meiner Familie liegt in diesem Teich.« Dann geht sie. Ich habe nicht einmal nach ihrem Namen gefragt.

Nach meiner Rückkehr nach München stürze ich mich wieder ins Großstadtleben. Aber regelmäßig erinnere ich mich an den Besuch in Auschwitz, an den Mann im Pförtnerhäuschen, an die Dame am Teich. Ein Satz des Holocaust-Überlebenden und Schriftstellers Elie Wiesel wird in den folgenden Jahren zu meinem Leitmotiv: »Ich habe geschworen, nie leise zu sein, wann immer und gleichgültig wo Menschen Leid und Erniedrigung erdulden müssen.« Und auch diese Erkenntnisse des großen Gelehrten bewegen mich: »Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Frieden ist nicht Gottes Geschenk an seine Geschöpfe; Frieden ist unser Geschenk an einander. Keine menschliche Rasse steht über der anderen, kein religiöser Glaube ist minderwertig. Alle kollektiven Urteile sind falsch. Nur Rassisten treffen diese. Man muss immer Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.«

Zwischen 2004 und 2012 berichte ich hauptsächlich aus Krisengebieten: Darfur, Somalia, Kongo, Afghanistan, Irak, Uganda, Osttimor. Je mehr Leid ich sehe, desto mehr wird mir bewusst, wie wichtig es ist, darüber zu berichten. Über Armut, Konflikte, Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Folter – und den Zusammenhang zwischen diesen Auswüchsen. Wir im wohlstandsverwöhnten Westen können nicht sagen: Wir haben davon nichts gewusst. War Journalismus anfangs mein Ticket für Abenteuerreisen durch die Welt, so verstehe ich den Beruf immer mehr als Versuch, die Schattenseiten dieser Erde zu beleuchten. Nur wenn wir wissen, wo was warum geschieht, können wir so handeln, wie wir als Menschen handeln sollten.

Im Jahr 2008 ziehe ich in die philippinische Hauptstadt Manila, heirate, kaufe ein Haus, nehme drei Straßenkater auf und werde Vater. 2012 reise ich erstmals nach Syrien. Danach ist alles anders.

Kein Konflikt, über den ich bis dahin berichtet habe, war so brutal wie der in Syrien. Die Brutalität übersteigt das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen. Die Erinnerungen an die Toten, die Verwundeten, die Angst, das Blut, das Leid rauben mir den Schlaf. Die traumatisierten Menschen, die leeren Augen verängstigter Kinder. Der Hunger, der Mangel an Elektrizität, Wasser und Hilfe. Die ständige Angst vor Luftangriffen und Scharfschützen. Der Schmerz, Freunde und Kollegen zu verlieren. Keine Antwort geben zu können, wenn die Menschen in Syrien immer wieder fragen, wo die Hilfskonvois bleiben.

Es ist kein gutes Gefühl, Vertreter einer Gesellschaft zu sein, die Hilferufe ignoriert. Unser Schweigen verlängert das Blutvergießen. Warum lernen wir nicht aus der Geschichte? Ruanda, Bosnien, Darfur – nach all diesen Massenmorden schwor der Westen: Nie wieder schauen wir dem Grauen zu! Vergessen. Wieder beschränkt sich die Weltgemeinschaft auf Absichtserklärungen und Mitleidsbekundungen.

Ich verbringe Wochen, manchmal mehr als einen Monat in Syrien. Ich sehe, wie Menschen grausam sterben, und komme selbst beinahe ums Leben. Auf einer Reise will mich eine Schmugglerbande entführen. Allmählich werde ich antriebslos, versinke zeitweise in Selbstmitleid.

Anfang 2014 sterben zwei Männer, die mir in der Nähe von Damaskus das Leben gerettet haben. Im Juni 2014 erlebe ich in Aleppo den Horror der Fassbomben. Vier Wochen nach meiner Rückkehr aus Aleppo stirbt mein Vater, zwei Monate bevor sein erster Enkel geboren wird. Eine Woche bevor er erfahren sollte, dass seine Tochter heiratet. Im August wird mein Freund James Foley von Henkern des Islamischen Staates vor laufender Kamera ermordet. Diese Nachrichten reißen mir den Boden unter den Füßen weg.

Mit jeder weiteren Reise nach Syrien oder den Irak gerate ich in einen Strudel, dessen Sog mich immer weiter nach unten zieht. Ich kapsele mich ab. Sechs Wochen nachdem mein Sohn geboren wurde, reise ich in den Nordirak, auf die Schlachtfelder des Islamischen Staates. Im Jahr 2015 habe ich mehr Zeit im Irak verbracht als zu Hause. Seit mein Sohn Leon geboren wurde, habe ich über die Hälfte seines Lebens woanders zugebracht, meistens an Fronten, in Flughäfen, Hotels, Ruinen. Ich habe verpasst, wie er seine ersten Schritte machte, das erste Wort sprach. Wenn ich unterwegs bin, denke ich an fast nichts anderes als meinen Sohn. Sobald ich zu Hause bin, verbringe ich die meiste Zeit in meinem Büro, schreibe meine Erlebnisse auf oder plane neue Reisen. Wie ein Besessener, der mit dem Kopf überall ist, nur nicht an dem Ort, an dem er sich gerade aufhält.

Die Arbeit erfüllt mein Leben mit Inhalt. Ich sehe mich als Brücke zwischen dem, was ich erlebe, und dem Leser oder dem Zuschauer, der den Willen aufbringt, die Welt verstehen zu wollen. Wenn ich nicht arbeite, werde ich grantig, unausstehlich. Mir fehlt dann etwas, das auch meine Familie nie ganz kompensieren kann. Urlaub ist für mich etwas, das mir die Zeit stiehlt. Ich könnte sie ja nutzen, um zu arbeiten. Ich habe verlernt, Freundschaften zu pflegen, mich zu entspannen und die kleinen Dinge des Lebens zu genießen. Ein Abendessen mit netten Leuten, ein Ausflug, mit der Familie zu entspannen und zur Abwechslung einmal an nichts zu denken. Ich fühle mich dann wie ein Besucher in einer fremden Welt, die mit meiner kollidiert. Ganz nett und interessant, aber ich bin auch froh, wenn ich mich wieder in meine Kapsel zurückziehen kann.

In den vergangenen vier Jahren bin ich durch Syrien, den Irak und den Libanon gereist. Ich habe mit Ärzten gesprochen, die sich im Kriegschaos um Verletzte kümmern, mit früheren Soldaten des Assad-Regimes und mit Rebellen. Mit Christen, Kurden, Jesiden, Islamisten. Ich habe verstümmelte Kinder gesehen und junge Männer, die zwischen Fassbombenangriffen von Mädchen träumen. Meinen Weg kreuzten Helden und Hasardeure. All diese Menschen erzählten mir ihre Geschichten, sie ließen mich teilhaben an ihren Ängsten, ihren Träumen, aber auch an ihrer Freude. Davon handelt dieses Buch.

Kapitel 2: Der Arzt

Im März des Jahres 2012 blicke ich aus dem Fenster eines Airbus der libanesischen Fluggesellschaft MEA auf das Straßengewirr von Beirut. Während das Flugzeug zur Landung ansetzt, frage ich mich, ob ich nicht gerade einen großen Fehler begehe. In meinem Gepäck habe ich eine schusssichere Weste, Kameras und einen Helm. Und in meinem Kopf die irre Idee, mich nach Syrien durchzuschlagen. Mein Ziel: die belagerte Stadt Homs, das Zentrum des Aufstands gegen das syrische Regime. Seit Wochen beherrscht die Stadt die internationalen Schlagzeilen. Stadtviertel, die von der syrischen Armee abgeriegelt sind; Bewohner, die ausgehungert werden; Demonstranten, die von Scharfschützen erschossen werden. Erst vor ein paar Wochen starben die berühmte amerikanische Journalistin Marie Colvin und der französische Fotograf Remi Ochlik, als die syrische Armee das Haus, in dem sich die Journalisten aufhielten, mit Granaten beschossen. Dies alles wabert in meinem Kopf wie eine zähe Masse. Ich bin aufgeregt, entschlossen. Aber vor allem: Ich habe Angst.

Der Plan ist einfach. Angeblich soll es noch immer möglich sein, offiziell über den Libanon nach Damaskus zu reisen. Ein Visum, so heißt es, kann man an der Grenze erhalten. Allerdings sind ausländische Journalisten nicht mehr willkommen. Daher denke ich mir eine Legende aus, mit der ich die Grenzer überzeugen will, mich ins Land zu lassen: Ich gebe mich als christlicher Pilger aus, der die Kirchen, Klöster und religiösen Stätten im Lande des Paulus und des Simon besuchen will. Die Ananias-Kapelle in Damaskus. Das Sankt-Thekla-Kloster in Maalula. Die Kathedrale von Homs. Die Zitadelle des Simon bei Aleppo. Einmal im Land, hoffe ich darauf, mich per Bus und Taxi in die umkämpften Viertel von Homs durchzuschlagen. In einem Souvenirladen in Beirut kaufe ich mir einen Rosenkranz aus Plastik. So weit die Theorie. Zwei Tage später sitze ich in einem Taxi, das mich an die libanesisch-syrische Grenze bringt, meine Kameras habe ich unter den Vordersitzen versteckt. Von da an geht alles schief.

An der Grenze herrscht Chaos. Tausende Menschen drängen sich am Schlagbaum, wedeln mit ihren Pässen in der Luft. Syrische Familien, oftmals mehrere Generationen, reden wild gestikulierend auf die libanesischen Grenzbeamten ein, flehen um Einlass. Eine Karawane aus Blech, so weit das Auge reicht. Autos und Minibusse, voll beladen mit Menschen und deren Habseligkeiten; Matratzen, Kühlschränke, Fernseher, Möbel. Accessoires für ein Leben auf der Flucht. Die Syrer verlassen ihr Land wie die Besatzung eines sinkenden Schiffes. Sie alle haben nur ein Ziel: so schnell wie möglich raus aus Syrien.

Ich hingegen will unbedingt rein.

Alle Schalter am Grenzübergang sind zwar mit uniformierten Syrern besetzt, doch niemand steht davor. Ich zeige meinen Pass, spule meine Legende ab – und merke schnell, dass meine Lüge nicht zieht. Statt mir meinen Reisepass zurückzugeben und mich zurück in den Libanon zu schicken, eskortieren mich die Grenzbeamten freundlich, aber bestimmt in das Arbeitszimmer eines syrischen Geheimdienstmannes. Dort sitzt schon der Spiegel-Reporter Christoph Reuter, der sich als Landwirtschaftsexperte ausgibt. Wir nicken uns zu, setzen uns und lächeln den Geheimdienstmann dümmlich an, der uns Tee bringen lässt. Ohne Umschweife gibt er uns zu verstehen, dass er uns nicht glaubt. Wir dürften, es tue ihm außerordentlich leid, nicht einreisen. In letzter Zeit seien zu viele ausländische Journalisten heimlich eingereist, um Lügen über Syrien und die Regierung zu verbreiten. Wir nicken, schlürfen einen Schluck Tee und bitten höflich darum, unsere Pässe zurückzubekommen. Gemach, gemach, man prüfe gerade unsere Personalien, und wenn sich unsere Geschichten bestätigten, dürften wir gehen.

Das ist der Moment, in dem ich anfange, mir Sorgen zu machen. Die Einreisestempel meines Passes bezeugen eindeutig, dass ich kein christlicher Pilger bin. In diesem Augenblick fällt der Strom aus. Wir warten, trinken Tee, warten, noch einen Tee. Immer noch kein Strom. Irgendwann bellt der Geheimdienstmann einen Befehl, ein Untergebener taucht auf, es wird etwas geflüstert, der Untergebene verschwindet, kommt kurz darauf mit unseren Pässen zurück, notiert sich die Passnummern und sagt, dass wir jetzt gehen könnten.

Plan A hat schon mal nicht funktioniert. Zurück in einem Hotel in Beirut überlege ich, was ich jetzt tun könnte. Der offizielle Weg ist versperrt. Illegal einreisen, so, wie es Dutzende Kollegen vor mir gewagt haben? Ich kontaktiere die Leute von Avaaz, einem Aktivistennetzwerk, das über gute Kontakte in Syrien verfügt und Journalisten einschleusen kann. Doch niemand will das Risiko eingehen, in der aktuellen Situation ausländische Medienleute nach Syrien einzuschleusen. Nicht jetzt, da gerade erst zwei Journalisten starben und mehrere Syrer bei dem Versuch, die bei dem Granatenangriff verletzten Ausländer aus dem Land zu schmuggeln, ums Leben kamen. Ich beschließe, in die nordlibanesische Stadt Tripoli zu reisen, um dort eine Reportage über Flüchtlinge zu recherchieren.

An einem kalten, regnerischen Märzmorgen erreiche ich Tripoli. Ein Kontaktmann führt mich umgehend in die Krankenhäuser, in denen die syrischen Kriegsopfer liegen. Und dort, in den Gängen und Zimmern, die nach Eiter, Wundbrand und Desinfektionsmitteln riechen, öffnet sich ein Fenster, und ich blicke zum ersten Mal in den syrischen Bürgerkrieg.

Als jede Schraube in den Fuß gedreht, die Schusswunde verbunden ist und der Mann mit dem Trümmerbruch im Unterschenkel zu schreien aufgehört hat, steht Doktor Ahmed erschöpft auf dem linoleumbewehrten Flur des Krankenhauses, der die Zimmer der Schwerverletzten trennt, und überlegt, welchen Patienten er als Nächstes behandeln soll. In Zimmer 532 liegt die 13-jährige Ghafran Koukaz. Ihr Vorname bedeutet Erbarmen. Der Scharfschütze, dessen Kugel ihr den Oberschenkel durchschlug und die Nerven durchtrennte, sodass ihr Bein nur noch ein gefühlloser Haufen Fleisch ist, zeigte kein Erbarmen, als er von seinem Versteck aus auf das Mädchen zielte und abdrückte. Nebenan, in Zimmer 533, liegt der 22-jährige Hassan, der auf der Flucht aus Syrien auf eine Landmine trat. Die Explosion riss ihm beide Hände ab, und in seinem verschorften Gesicht stecken noch immer Schrapnellsplitter. Doktor Ahmeds Blick bleibt links stehen. Das Mädchen zuerst.

Ein rosafarbener Teddybär steht umringt von Tablettenschachteln auf dem Nachttisch neben ihrem Bett. Ghafran schläft, neben ihrem Bett wacht ihre Mutter. Doktor Ahmed streicht ihr durchs Haar. Mehr kann er nicht tun.

Doktor Ahmed verwaltet die Leiden von 37 syrischen Verwundeten in einem Krankenhaus am Rande der nordlibanesischen Stadt Tripoli, umgeben von unfertigen Wohnblocks und schlaglochgesäumten Straßen. Ein großer, stämmiger Mann im Karopullover, dem das Neonlicht der Deckenbeleuchtung dunkle Ringe unter die müden Augen zeichnet und seine Haut fahl wirken lässt wie vertrockneter Käse. Seit Tagen hat der 40-Jährige kaum geschlafen. Ein paar Stunden auf dem Boden neben dem Bett eines Patienten. Mal bei Bekannten in einer überfüllten Wohnung, mit einem Dutzend anderer Flüchtlinge in einem Raum. Seinen Besitz, zwei Plastiktüten mit Kleidung zum Wechseln, trägt er immer bei sich.

Auch er ist Syrer, geflohen Anfang März aus der Stadt Homs. Er war einer von dreißig Rebellenärzten, die in Homs geblieben waren. In geheimen Wohnungen, die als Feldlazarette dienten, versuchten er und seine Kollegen die Kollateralschäden des syrischen Aufstandes notdürftig zu versorgen: Kinder mit Kopfschüssen, Frauen mit offenen Bauchwunden, Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA). Sechs mobile Teams, jeweils bestehend aus fünf Ärzten, die in verschiedenen Stadtteilen operierten und wie Maulwürfe durch in Hauswände geschlagene Löcher von Haus zu Haus huschten. Doktor Ahmed setzt sich auf eine abgesessene Besucherbank, in seinen zittrigen Händen hält er eine Tasse, in der goldbrauner Tee schwappt. Mit leiser Stimme erzählt er, was er in Syrien erlebte.