Die Schattenkämpferin - Der Fluch der Assassinen - Licia Troisi - E-Book

Die Schattenkämpferin - Der Fluch der Assassinen E-Book

Licia Troisi

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Beschreibung

Der furiose Höhepunkt der Bestseller-Saga

Die Gilde der Assassinen droht die Herrschaft in der Aufgetauchten Welt an sich zu reißen. Einzig Dubhe, die mutige junge Schattenkämpferin, kann ihr Einhalt gebieten. Gemeinsam mit der Magierin Theana macht sie sich auf die gefahrvolle Reise ins Feindesland. Doch schon bald werden sie von Soldaten überwältigt und geraten in die Fänge der blutrünstigen Gilde. Ein Kampf um Leben und Tod beginnt.

Die Zeit rinnt dahin: Wenn es Dubhe nicht gelingt, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen und sich vom Siegel des Todes zu befreien, wird sie die Gilde der Assassinen auf ihrem Siegeszug nicht mehr aufhalten können. Begleitet von Theana, der jungen Magierin, macht sich Dubhe auf den Weg ins Land der Sonne, wo sie ein geheimnisvolles Dokument zu finden hofft. Mittels eines Zaubertrankes nehmen sie die Gestalt von Bäuerinnen an, und es gelingt ihnen, sich unerkannt durch die Kriegsgebiete zu schlagen. Doch sie geraten in einen Hinterhalt und werden auf einen Sklavenmarkt verschleppt. Ein junger Prinz kauft sie frei. Es ist Learco, der Sohn des grausamen Königs Dohor. Dubhe überzeugt ihn, sie und Theana an Dohors Hof zu schmuggeln. Ein gefährliches Unterfangen, doch Dubhe weiß, dass es ihre einzige Chance ist, die Gilde aufzuhalten. Wird Dubhe ihre Mission beenden können? Wird sie ihre Welt vor der düsteren Macht des Bösen bewahren?

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Seitenzahl: 755

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Inhaltsverzeichnis
 
Meinen Eltern
AUS DEM TAGEBUCH DER ZAUBERIN THEANA
 
ERSTER TEIL
Kapitel 1 – Dubhe und Theana
Kapitel 2 – Dohors Truppen
Kapitel 3 – In die Tiefe hinab
Kapitel 4 – Der Menschenhändler
Kapitel 5 – Zu dritt auf Reisen
Kapitel 6 – Ein endgültiger Abschied
Kapitel 7 – Zwei Mörder
 
ZWEITER TEIL
Kapitel 8 – Lebendige Vergangenheit
Kapitel 9 – Schwarze Bücher
Kapitel 10 – Sulanas Gemach
Kapitel 11 – Das Geheimnis der Bücher
Kapitel 12 – Das schwarze Schwert
Kapitel 13 – Fortschritte
Kapitel 14 – Die Entscheidung
Kapitel 15 – Die Wahrheit
Kapitel 16 – Sans Entscheidung
Kapitel 17 – Die Verschwörung
Kapitel 18 – Vergebung und Rache
Kapitel 19 – Ein Schritt vor dem Ziel
Kapitel 20 – Verliese
Kapitel 21 – Flucht
Kapitel 22 – Entschlossenheit
Kapitel 23 – Im toten Wald
Kapitel 24 – Racheakte
 
DRITTER TEIL
Kapitel 25 – Die Waffe des Feindes
Kapitel 26 – Dem Ende aller Dinge entgegen
Kapitel 27 – Der Bau
Kapitel 28 – Zwischen beiden Welten
Kapitel 29 – Feuer und Stahl
Kapitel 30 – Rückkehr
Kapitel 31 – Vergebung und Schuldgefühle
 
Epilog
Register
Danksagung
Copyright
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Le guerre del mondo emerso – Un nuovo regnobei Arnoldo Mondadori Editore SpA, Mailand
You could be my unintended Choice to live my life extended.
 
MUSE, Unintended
Meinen Eltern
AUS DEM TAGEBUCH DER ZAUBERIN THEANA
Ich habe Angst. Gerade habe ich meine Sachen gepackt. Die Tasche liegt auf dem Bett, darin alle Bücher, die ich wahrscheinlich brauchen werde. Daneben Ampullen, Fläschchen und alles Notwendige für die Zauber. Die Stille dröhnt so laut, dass es mir in den Ohren wehtut.
Ich habe einen sonderbaren Entschluss gefasst, einen Entschluss, der nicht zu mir passt. Vielleicht ist es ein Fehler. Ich bin doch eine Schülerin des angesehenen Meisters Folwar, ich bin Theana, eine Hofmagierin. Wie komme ich dazu, mit einer Mörderin durch die Aufgetauchte Welt zu ziehen, und das mit dem Ziel, den König des Landes der Sonne zu töten?
 
Diese Schattenkämpferin ist klein und hat kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar und dunkle Augen. Außergewöhnlich schön finde ich sie nicht. Ihr Name ist Dubhe.
Sie gehörte zu jener Sekte, die im Namen meines Gottes, im Namen Thenaars, den Mord verherrlicht und die Lehre verbreitet, dass Töten ein gottgefälliger Akt sei. Soweit ich weiß, hat die Gilde sie durch eine heimtückische List an sich gebunden und mit einem Fluch belegt. Dabei handelt es sich um ein Siegel, das die schlimmsten Seiten ihrer selbst zutage treten lässt und sie zu einer blutrünstigen Bestie macht. Man hatte ihr erklärt, nur in der Gilde könne sie davon geheilt werden, eine Lüge, mit der man sie zu einer gefügigen Mitstreiterin machte. In Wirklichkeit nämlich kann das Siegel nur von jenem Magier gebrochen werden, der es ihr auferlegt hat. Doch obgleich Dubhes Schicksal so entsetzlich ist, nehme ich keinerlei Anteil daran.
Auch wenn ich mich bemühe, ihre Lage und ihren Schmerz zu verstehen, will es mir nicht gelingen, auch nur einen Hauch von Mitleid mit ihr zu empfinden. Und ich habe noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen deswegen. Vielleicht bin ich ein niederträchtiger Mensch. Vielleicht bin ich im Grunde böse.
Aber die Wahrheit ist, dass ein Mann zwischen uns steht: Lonerin, der mit mir zusammen bei Meister Folwar die Magie erlernt hat und mir immer ein wenig voraus war. Kennengelernt hat er sie, als sie noch in den Katakomben der Gilde lebte und er vom Rat der Wasser dort als Späher eingeschleust wurde. Uns war nämlich zugetragen worden, dass Dohor, der König des Landes der Sonne, einen geheimen Pakt mit der Mördersekte geschlossen hatte. Ganz auf sich allein gestellt wäre es Dohor sicher unmöglich gewesen, fast alle Länder der Aufgetauchten Welt zu erobern.
Lonerin hatte sich freiwillig dafür gemeldet, die Gilde auszukundschaften. Weil er aus dem Land der Nacht stammt, wo der Bau der Sekte liegt, und er sich daher in der Gegend gut auskennt, war man im Rat schließlich bereit, ihn mit dieser Aufgabe zu betrauen. Um ins Herz der Gilde zu gelangen, gab er sich als Postulant aus, als einer jener bedauernswerten Menschen also, die sich zum Tempel der Assassinensekte aufmachen und dort ihr eigenes Leben Thenaar opfern, um damit das Leben eines anderen zu retten. Ich kenne Lonerin, meinen Lonerin, so gut, dass mir das Herz wehtut, wenn ich an den wahren Grund für seine Entscheidung denke. Neben ihm bin ich die Einzige im Rat, die die Wahrheit kennt. Er tat es wegen seiner Mutter. Als er noch ein kleiner Junge war, opferte sie sich für ihn im Tempel und erflehte von dem Schwarzen Gott, dass er Lonerin vom Roten Fieber heilen möge. Seit damals hat der Gedanke, einmal Rache zu nehmen, niemals sein Herz verlassen. Ich brauche ihm nur in die Augen zu schauen, um das zu erkennen.
Dort, im unterirdischen Bau der Gilde, sind sich Lonerin und Dubhe dann begegnet. Und sie schlossen einen Pakt: Sie würde für ihn ermitteln und er im Gegenzug nach einem Weg suchen, sie von dem Siegel zu befreien. Zusammen flohen sie, nachdem sie herausgefunden hatten, dass die Ketzer planen, Aster wiederauferstehen zu lassen, jenen Tyrannen, der vierzig Jahre zuvor fast die gesamte Aufgetauchte Welt unterjocht hatte. Für die Gilde ist er ein Messias, der Einzige, dem es gelingen könnte, jene von Blut und Gewalt beherrschte Welt zu errichten, die sich die Sekte erträumt. Zurzeit schwebt Asters Geist bereits in einer Art Vorhölle zwischen unserer Welt und dem Jenseits, in einer Kugel an einem geheimen Ort tief im Herzen der Gilde, während die Sekte emsig bemüht ist, einen geeigneten Körper zu finden, in den sich sein Geist verpflanzen lässt: einen Körper, in dem Halbelfenblut fließt, so wie in seinem. Und dafür kam nur einer auf der ganzen Welt infrage: Nihals und Sennars Sohn.
Es wühlt mich immer noch auf, wenn ich an die gemeinsame Flucht von Dubhe und Lonerin aus dem Tempel bis zu uns nach Laodamea denke, wie sie zusammen unterwegs waren, sich gegenseitig unterstützten und halfen in Todesgefahr. Damals hat alles begonnen. Als ich ihn hier dann wiedersah, hatte sich etwas verändert in seinem Blick. Bevor er aufgebrochen war, hatte er mich noch geküsst, doch plötzlich gab es für ihn nur noch Dubhe.
 
Wäre es dabei geblieben, hätte es mir sicher nicht so viel ausgemacht. Wäre diese Mörderin nach dieser Reise verschwunden, wäre sie in das Schattenreich zurückgekehrt, das sie ausgespuckt hatte, hätte ich vielleicht damit leben können. Doch leider kam alles anders.
Nachdem Lonerin dem Rat der Wasser alles berichtet hatte, was er herausfinden konnte, beschloss man, Sennar um Hilfe zu bitten, jenen Magier also, der zusammen mit Nihal bereits einmal den Tyrannen besiegt hatte. Nur dieser, so die Überzeugung des Rats, könne einen Weg finden, Aster in das Totenreich zurückzuschicken.
Auch für diese Mission meldete sich Lonerin sogleich wieder freiwillig. Es schmerzte mich fürchterlich, dass er erneut sein Leben aufs Spiel zu setzen plante. Die Sicherheit, mit der er seine Entscheidung vertrat, machte mir klar, dass sich zwischen uns eine tiefe Kluft aufgetan hatte. Für mich bedeutet Lonerin alles, während ich für ihn wohl die ganze Zeit nicht viel mehr als eine Mitschülerin war. Ein unbedarftes Mädchen, das sich nur in den Sälen des königlichen Palastes sicher zu bewegen weiß.
Schlimmer noch war dann aber zu erfahren, dass Dubhe ihn begleiten würde, um Sennar nach einem Mittel zu fragen, mit dem sich der Fluch von ihr nehmen ließ. Wie entsetzlich machtlos ich mich doch in diesem Moment fühlte! Ich war dabei, Lonerin für immer zu verlieren. Und das alles nur wegen dieser Dubhe.
Und während sich Ido aufmachte, Nihals und Sennars Sohn Tarik zu suchen, sah ich Lonerin erneut das große Tor durchschreiten, um vielleicht niemals wiederzukommen.
Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nicht, was sie mir voraushat, warum es ihn zu ihr zieht und es mir nicht gelungen ist, ihn hier bei mir zu halten. Aber vielleicht sind diese Fragen völlig sinnlos. Um mich hier nicht zu quälen, habe ich mich ebenfalls entschlossen, in die Welt zu ziehen.
 
Was zwischen den beiden auf ihrer Reise vorgefallen ist, weiß ich nicht genau. Sie haben die Unerforschten Lande durchquert, viele geheimnisvolle Orte gesehen und sich der Assassinen erwehren müssen, die ihnen die Gilde nachgesandt hatte. Vielleicht waren es auch nur diese Dinge, die sie teilten, oder vielleicht mache ich mir auch etwas vor, und in Wirklichkeit geschah noch sehr viel mehr zwischen ihnen. Doch egal wie, schon die Art, wie sie sich ansehen, wie sie sich berühren, die Vertrautheit zwischen ihnen, bringt mich aus der Fassung. Ich bin blauäugig, bin es immer gewesen. Innerhalb von zwei Monaten ist Dubhe das gelungen, was ich im Lauf von zwei Jahren nicht geschafft habe.
Der Rat der Wasser trat erneut zusammen. Ido brachte San, Nihals und Sennars Enkel, von seiner abenteuerlichen Reise mit. Auf ihn hatte es die Gilde nämlich eigentlich abgesehen. Ein außergewöhnlicher Junge, der über erstaunliche Kräfte verfügt. Dies spürte ich bereits, als ich ihn zum ersten Mal berührte, damals am Rand der Wüste, als ich den beiden zu Hilfe geeilt war und sie tatsächlich retten konnte. Der Gnom war durch das Schwert Learcos, Dohors Sohn, vergiftet worden, nachdem er San zuvor aus der Gewalt Shervas, eines Assassinen der Gilde, hatte befreien können. Der hatte die Eltern des Jungen getötet, ihn dann aus seiner Welt herausgerissen und entführt. Als ich den vergifteten Ido dort behandelte, wandte ich zum ersten Mal mein Können als Priesterin an. Es war eigenartig, endlich einmal das Gefühl zu haben, wirklich gebraucht zu werden. Gewiss, ich hatte Angst, und meine Hände zitterten, aber es war auch eine Genugtuung. Wer weiß, vielleicht hat damit alles begonnen …
Jedenfalls hat Ido nun die Aufgabe übernommen, San an einen sicheren Ort zu bringen, während sich Lonerin mit Sennar auf den Weg machen wird, um den Talisman der Macht zu finden, das einzige magische Artefakt, dem nach den Worten des erfahrenen Magiers ausreichend starke Kräfte innewohnen, um Asters Geist ins Totenreich zurückzuzwingen. Es ist eben jener Talisman, mit dessen Macht Nihal einst den Tyrannen vernichten konnte.
Dieses Mal jedoch werde ich nicht untätig bleiben. Das ist meine Entscheidung, eine Entscheidung, die mich dermaßen mit Angst erfüllt, dass meine Hände und mein Herz zittern. Aber ich würde es nicht schaffen, noch einmal auf Lonerin zu warten. Ich muss selbst etwas tun.
So habe ich also beschlossen, Dubhe zu begleiten. Sennar hat ihr erklärt, was sie tun muss, um sich von dem Siegel zu befreien. Der Fluch war eigentlich nicht gegen sie gerichtet, sondern gegen Dohor, und war an gewisse Dokumente gebunden, die sie im Auftrag des Königs entwenden sollte. Dubhe muss nun zumindest eines dieser Dokumente wiederfinden, damit ein komplizierter magischer Ritus ausgeführt werden kann, den ich jedoch beherrsche. Und sie muss Dohor umbringen – nur dann kann sie frei sein.
Auch jeder andere Magier hätte sich dazu bereit erklären können, Lonerin etwa, aber nun tue ich es.
Warum, weiß ich selbst nicht so genau. Plötzlich kann ich mich nicht mehr an die genauen Gedankengänge erinnern, die mich dazu bewogen haben, Dubhe meine Hilfe zuzusagen.
Ich habe eigentlich kein Interesse daran, dass sie von dem Fluch befreit wird. Ihr Schicksal ist mir gleich. Im tiefsten Innern hasse ich sie vielleicht sogar.
Aber ich habe dieses Leben auch satt. Viele Jahre habe ich nun schon in diesem Palast zugebracht und meine magischen Künste niemals wirklich angewandt. Immer habe ich gewartet, habe zugeschaut, wie Lonerin sein Leben aufs Spiel setzte. Ich habe ihn geliebt und bewundert. Aber er hat mich abgewiesen. Nun ist es genug. Es ist Zeit, etwas zu verändern, etwas zu tun, was eigentlich nicht meinem Wesen entspricht, von dem ich aber spüre, dass ich es versuchen muss.
Ich werde mich Dubhe anschließen, werde ihr helfen, einen Menschen zu töten, werde meine Magie für etwas Unfassbares benutzen, für etwas, das mir zutiefst widerstrebt.
Hätte ich doch die Kraft, die Tränen zurückzuhalten. Ich möchte nicht mehr an Lonerin denken, an unsere Begegnung vorhin, wie er sich von mir verabschiedet hat, an die Worte, mit denen er mich bat, nicht loszuziehen, an den Kuss, den ich immer noch schmerzhaft auf der Stirn spüre. Er muss aus meinem Leben verschwinden, er darf für mich nicht mehr existieren. Es ist seine Schuld, dass ich in den vergangenen Jahren nichts zuwege gebracht habe, seine Schuld, dass ich mich nicht weiterentwickelt, keinen eigenen Weg gefunden habe. Ich werde ihn vergessen auf meiner Reise. Die volle Konzentration auf meine Aufgabe wird alles auslöschen, was ich einmal für ihn empfunden habe. Und dann werde auch ich endlich frei sein.
Morgen muss ich sehr früh aufstehen. Viele Meilen liegt er entfernt, der Königspalast in Makrat im Land der Sonne.
ERSTER TEIL
Learco ist dem Volk gezeigt worden. Als sein Vater ihn in die Höhe hob, jubelten alle wie aus einer Kehle. Die Königin hat sich ein Kissen auf die Ohren gepresst, um die Begeisterung nicht mit anhören zu müssen.
Anfangs glaubte ich, dieses Kind könnte ihr nach dem, was vorgefallen ist, wieder neue Freude am Dasein schenken. Gewiss, er wurde mit Gewalt gezeugt, ist aber dennoch Fleisch von ihrem Fleische. Doch ich irrte. Sulana lehnt ihr Kind ab. Sie will es nicht sehen und auch nicht stillen.
Ich verstehe, dass die Wunde, die der Tod des ersten Learco gerissen hat, unheilbar ist. Er war ein wunderbares Kind … Doch die Götter hatten ihm ein grausames Schicksal zugedacht, den Tod durch das Rote Fieber … Kann es etwas Schlimmeres geben, als den Tod des eigenen Kindes miterleben zu müssen?
Heute Abend jedoch geht mir dieses jüngste Kind nicht aus dem Kopf. Die Frucht einander hassender Eltern, von seiner Mutter zurückgewiesen – wie soll seine Zukunft aussehen?
Neue, immer düsterere Wolken ziehen sich über diesem Königreich zusammen. Verflucht seiest du, Dohor. Tod und Verderben bringst du mit allem, was du tust.
 
AUS DEM TAGEBUCH VON SIBILLA, HOFDAME DER KÖNIGIN SULANA
1
Dubhe und Theana
Das Dorf war menschenleer. Der beißende Rauch schnürte den beiden Mädchen die Kehle zu und hüllte alles in eine gespenstische Wolke. Die Kadaver verbrannter Tiere lagen am Wegesrand.
Mit der Hand vor dem Mund und Tränen in den Augen stand Theana wie erstarrt da. Dubhe betrachtete sie mit einer Mischung aus Mitleid und Spott. Dabei hatte sie selbst ganz ähnlich reagiert, damals vor vielen Jahren, als sie zum ersten Mal die Schrecken des Krieges erblickt hatte. An jenem Tag hatte sie auch ihren Meister kennengelernt. Jetzt sah sie ihn wieder vor sich, wie er sich durch den Rauch entfernte, seinen Mantel, der sich nur wenig blähte, als er durch die fast windstille Luft von ihr fortging.
»Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen«, sagte sie leise zu Theana, während sie instinktiv die Hand zur Seite führte, an der sie gewöhnlich ihren Dolch trug.
Verflucht.
Die Waffe war nicht mehr an ihrem Platz, befand sich jetzt, unerreichbar für ihre Finger, in einer Geheimtasche ihres Rockes.
Theana antwortete nicht, schien wie betäubt durch die Bilder des Grauens, und unsanft fasste Dubhe sie am Arm und zog sie fort.
Es war keine gute Idee gewesen, in dieses Städtchen an der Grenze zwischen dem Land des Meeres und dem Land der Sonne zu reiten, denn die Front des Krieges, den der Rat der Wasser gegen Dohor führte, war nahe, und Dubhe wusste nur zu gut, was ihnen hier blühen konnte. Auch abgelegene Orte wie dieser blieben von den Kämpfen nicht verschont und konnten gefährlich werden, gerade für zwei Frauen, die wie sie beide gekleidet waren.
Aber ihre Vorräte waren zur Neige gegangen, und sie hatte nicht die Kraft gefunden, sich Theanas Wunsch zu widersetzen. Ihr Kopf war benebelt und ihre Sinne wie betäubt.
So suchten sie nun, zwischen den Leichen umherirrend, den schnellsten Weg hinaus aus dieser Hölle. Theana begann zu schluchzen, und Dubhe reagierte unwirsch, indem sie die Gefährtin noch fester am Arm packte. Mit ihrer mädchenhaften ängstlichen Art stellte Theana ihre Geduld auf eine harte Probe.
Sie hatten schon fast die Stadtmauer erreicht, als schwere metallische Schritte sie aufschreckten. Jetzt schnell von der Straße fort, sich ein Versteck suchen und den Dolch hervorholen. Alles Dinge, die sie im Nu hätte erledigen können, wären ihre Reflexe nicht so verlangsamt gewesen, ihre Beine kraftlos, ihre Muskeln erstarrt. So presste sie sich nur in die Nische einer Hauswand, zog Theana an sich und bedeutete ihr, keinen Laut zu machen.
Langsam kamen Stimmen näher, wurde das Scheppern der Schwerter, die gegen Rüstungen schlugen, immer deutlicher. Soldaten. Dubhe hielt den Atem an und zog sich noch weiter zurück.
»Wer ist hier durch?«, fragte jemand. »Malga und seine Leute, glaube ich«, antwortete ein anderer.
»Sieht so aus, als würden wir auch in diesem Dorf leer ausgehen.«
»Ja, sie haben alles in Brand gesteckt, und wenn es hier was zu holen gab, haben sie es sicher weggeschleppt.«
Dubhe hörte sie dicht an der Mauer entlanggehen, hinter der sie sich versteckten, und spürte, wie Theanas Arm unter ihrer Hand zitterte. Und wieder einmal fragte sie sich, warum dieses Mädchen mitgekommen war, warum es darauf bestanden hatte, sie zu begleiten bei dieser so heiklen, gefährlichen Mission. Sich in das Schloss des mächtigsten Herrschers ihrer Zeit einzuschleichen und ihn zu töten, damit eine Mörderin sich von dem Fluch, der auf ihr lastete, befreien konnte – das war mit Sicherheit keine passende Aufgabe für die Schülerin eines Magiers aus dem Rat der Wasser.
Die Soldaten begannen die Türen einzutreten und die wenigen Häuser, die nicht niedergebrannt waren, zu durchsuchen. Dubhe wusste nicht, wie viele es waren, aber gewiss zu viele, als dass sie sich ihnen allein hätte entgegenstellen können.
Warte, bis sie fort sind. Es gibt keine andere Möglichkeit. Warte …
Als sie glaubte, dass sich die Männer weit genug entfernt hatten, trat sie aus der Nische hervor, gab Theana ein Zeichen, es ihr nachzutun, und schlich langsam und vorsichtig an der Wand entlang.
»Schau mal einer an, wen haben wir denn da?«
Vor ihnen tauchte das Gesicht eines rüstigen Mannes in voller Kampfmontur auf.
Den Dolch ziehen und kämpfen. Den ersten am Hals treffen, sich ducken, um dem Hieb des zweiten, hinter ihm, auszuweichen. Die Wurfmesser ziehen und sich dann ganz auf den Instinkt verlassen, wie sie es schon so häufig im Kampf getan hatte, auf die Erinnerung des Körpers, der für sie handelte, während ihr Geist völlig leer wurde. Das war es, was sie tun musste, und wie von allein fuhr ihre Hand zum Dolch, doch nur langsam, zu langsam. Zwei starke Arme packten sie von hinten. Sie sah einen zweiten Soldaten, der Theana, die verzweifelt schrie, um die Taille fasste und hochhob, sah, wie sie sich wand und strampelte, während der Mann nur höhnisch lachte.
Nein! Nein!
Sie langte nach dem Schwert des Feindes, erreichte das Heft, und fast gelang es ihr, die Waffe zu ziehen.
»Willst du wohl stillhalten, du Giftnatter!«, rief der Mann, der sie festhielt, während sein nach Bier stinkender Atem warm über ihr Gesicht strich.
Sosehr Dubhe auch versuchte, sich zu befreien, ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Fast schon erwartet traf sie der Schlag in den Nacken, der alles um sie herum auslöschte.
 
Drei Wochen zuvor waren sie zu Pferd aufgebrochen, Dubhe voran und Theana hinter ihr her. In den ersten Tagen wechselten sie kein Wort miteinander. Sie machten Rast, wenn Dubhe es für richtig hielt, und aßen dann schweigend, wobei jede versuchte, dem Blick der anderen auszuweichen. Früh am Morgen, wenn Dubhe im Dickicht des Waldes verschwand, um ihre Übungen zu machen, stand auch Theana auf, holte ihre Bücher hervor und lernte. Sennar hatte ihr die Werke gegeben, in denen alle Zauberformeln standen, die sie für den Ritus beherrschen musste, jenen Ritus, der Dubhe vom Joch des Fluches befreien sollte. Auch wenn sie ihr Lager aufschlugen, saß Theana immer über ihre Bücher gebeugt da, las hochkonzentriert und unterstrich gewissenhaft die wichtigsten Stellen auf den Pergamentseiten.
Je länger Dubhe ihre Reisegefährtin beobachtete und zu verstehen versuchte, desto klarer wurde ihr, dass Theana ein völliges Rätsel für sie war, so als gehöre sie einer anderen Rasse an. Es war nicht die gewohnte Distanz, die sie von allen anderen Menschen trennte. Es war mehr. Etwas anderes.
Während der letzten Sitzung des Rats der Wasser war sie überzeugt gewesen, sie einschätzen zu können. Theana war einfach nur eine junge, sehr behütet aufgewachsene Magierin, hatte sie gedacht, an ein Leben voller Müßiggang gewöhnt und mit allen typisch weiblichen Eigenschaften ausgestattet, mit anderen Worten, die perfekte Frau an Lonerins Seite.
Dann jedoch hatte es sich Theana in den Kopf gesetzt, sie bei ihrer Mission zu begleiten, und nun saß sie da, mit Blasen an den Füßen vom langen Laufen, klagte aber nicht. Was mochte eine Frau wie sie dazu bringen, eine Mörderin zu begleiten, einen Menschen, dem gegenüber sie zudem noch einen tiefen Groll empfand?
Wenn sie Theana so versunken am Feuer sitzen sah und ihre Formeln sprechen hörte, musste sie manchmal an Lonerin denken. Auch die gemeinsame Reise mit ihm hatte im Zeichen des Schweigens begonnen. Dennoch hatte sie auch etwas verbunden, etwas, das dafür sorgte, dass sie sich mit der Zeit näher gekommen waren, zu nahe sogar. Was aber hatte sie mit diesem Mädchen hier gemeinsam?
Seit sie den Abschiedsbrief ihres Meisters im Dorf der Huyé zurückgelassen hatte, kam sich Dubhe innerlich betäubt und verlassen vor. Aber zu lange hatte die Erinnerung an ihn ihre Sehnsucht nach Zuneigung erfüllt und war ihre einzige tiefere Verbindung mit anderen Menschen gewesen. In der Leere, die danach entstanden war, flammte nun auch immer wieder die Erinnerung an Lonerin auf, an seine Küsse, seine Worte. Eine Erinnerung, die in mancher Hinsicht peinlich war, aber auch unendlich süß. Mit den Jahren würde sich die Trauer vielleicht legen, und auch die Schuldgefühle, und zurückbleiben würde ein ferner Traum, der ihr in Augenblicken größter Einsamkeit Gesellschaft leisten könnte. Aber wenn sie etwas gelernt hatte aus dieser Geschichte, dann die Erkenntnis, dass ihr ein einsames Leben vorherbestimmt war. Niemand auf der ganzen Welt würde die Last ihrer Sünden mit ihr teilen können, und Lonerin war da keine Ausnahme. Vielleicht hätte der Meister es vermocht, doch der hatte einen anderen Weg gewählt.
Sie war überzeugt, dass ihre Zukunft, falls sie überhaupt eine hatte und den Fluch überlebte, nur aus einer endlosen Aneinanderreihung trüber Tage, abgeschottet von der Welt, bestehen konnte. Denn auf die große Frage, die sie mit sich herumschleppte, seit sie damals als achtjähriges Mädchen Gornar unabsichtlich im Spiel getötet hatte, hatte sie noch immer keine Antwort gefunden.
Schon vom ersten Abend an spürte Dubhe, dass mit Theana irgendetwas nicht stimmte. Die Magierin hatte seltsame Angewohnheiten, die sie vor ihr zu verbergen versuchte. Stets vor ihr selbst legte sie sich zum Schlafen nieder, wickelte sich dazu fest in ihren Umhang ein und tat bald so, als sei sie eingeschlafen. Aber Dubhe wusste sehr genau, dass sie nur so tat, kümmerte sich aber anfangs nicht darum. Irgendwann aber wurde die Neugier zu groß, und sie blieb wach, um Theana zu beobachten. Sie traute dieser Frau nicht, vielleicht weil sie ebenfalls Lonerin geliebt hatte. Es war schon lange stockdunkel, als sie sah, wie sich Theana leise und verstohlen wie eine Katze erhob. Ihre Bewegungen besaßen eine natürliche Eleganz, um die Dubhe sie fast beneidete. Für Männer strahlte sie gewiss eine große Sinnlichkeit aus.
Sie hängte sich eine Schnur um den Hals, mit einem Anhänger daran, den sie jetzt zur Hand nahm. Dabei stimmte sie leise eine Litanei an und begann, sich in regelmäßigen Abständen zur Erde hinabzubeugen. Bald schon verbanden sich ihre Worte wie ein hypnotisierender Tanz mit dem Rhythmus ihrer Bewegungen.
Dubhe spürte, wie ein mächtiger Zorn sie erfasste. Sie ballte die Fäuste unter dem Umhang, während sich ein anderes Bild vor den Anblick Theanas schob, nämlich das der versammelten Assassinen, die sich während der Zeremonien im unterirdischen Bau der Gilde im Gleichklang zu ihren Gebeten bewegten. Sie konnte fast wieder das süßliche Blut riechen, mit dem die beiden Becken zu Füßen der mächtigen Thenaar-Statue gefüllt waren, und sie dachte an Rekla, die Wächterin der Gifte, und ihre vor Hass glühenden Augen.
Ja, Theana betete, so wie Dubhe es viele Male bei den Priestern Thenaars gesehen hatte. Sie war empört und dachte daran, Theana zu unterbrechen und ihr eine Wahrheit ins Gesicht zu brüllen, die sie in den Jahren ihrer Einsamkeit erkannt und die der Meister sie um den Preis seines Lebens gelehrt hatte: Religiöser Glaube konnte einen in den Wahnsinn treiben und war in den meisten Fällen nur nutzloser Tand, an den die Menschen sich klammerten, um dem Tod zu entfliehen. Da sie selbst aber den Tod bereits in sich trug, konnte sie der ungeschminkten Wahrheit direkt ins Auge sehen. Doch sie hielt sich zurück. Es wäre ein Fehler gewesen, sich den einzigen Menschen zum Feind zu machen, der ihr vielleicht helfen konnte, sich von dem Fluch zu befreien. Auch wenn sie noch so verschieden waren, war es klüger, sich weiterhin nicht groß zu beachten, so wie sie es bis dahin getan hatten.
 
Die ersten Worte, die sie an Theana richtete, waren barsch und knapp.
»Mit dem Lernen musst du dich beeilen. Wir müssen bald unser Gepäck loswerden.«
Es war Abend, und sie saßen zusammen vor dem Feuer. Theana hatte sich schon zum Schlafen fertig gemacht und schaute Dubhe jetzt verwundert an. »Wieso?«, fragte sie etwas langsam, in einem Tonfall, der Dubhe auf die Nerven ging.
»Weil wir uns irgendwie in Dohors Palast schleichen müssen«, erklärte sie ruhig. »Eine andere Möglichkeit, ihn zu töten und die Dokumente mitzunehmen, die wir brauchen, um den Fluch zu brechen, haben wir nicht.«
Theana erschauderte leicht. »Ja, sicher … aber ich verstehe nicht, wieso wir deshalb unsere Sachen zurücklassen müssen.«
Dubhe lehnte sich zu ihr vor und blickte ihr in die Augen. »Glaubst du denn, wir kämen so, wie wir jetzt aussehen, in den Palast hinein? Wir können uns doch wohl schlecht am Tor als eine Magierin des Rats der Wasser und eine Assassinin der Gilde vorstellen.«
Theana errötete und senkte den Blick. »Du hast ja Recht, aber ich muss noch so viel lernen … Der Ritus ist kompliziert und …«
»Du hast noch zwei Tage. Dann müssten wir Shilve erreicht haben. Dort kaufe ich alles, was wir brauchen, um uns zu verkleiden. In Shilve lassen wir unsere Namen und unsere Sachen zurück. Wir werden zwei vollkommen andere Menschen und vergessen, wer wir einmal gewesen sind.«
Als Antwort holte Theana nur die Bücher aus ihrer Tasche hervor, entzündete ein kleines magisches Feuer und machte sich wieder daran, ihre Rituale und Formeln zu lernen.
Was mochte sie denken? War sie verärgert oder erschöpft? Bereute sie es bereits, sich mit ihr auf den Weg gemacht zu haben?
Kopfschüttelnd registrierte Dubhe Theanas nachgiebiges Verhalten, fügte aber nichts mehr hinzu, hüllte sich nur in ihren Umhang ein und legte sich schlafen. In dieser Nacht hörte sie keine Gebete von ihrer Reisegefährtin.
 
Die Kleider mussten so unauffällig wie möglich sein. Danach galt es, eine Salbe zu finden, mit der sie ihre Gesichtsfarbe verändern konnten, und schließlich eine Art Gift, das die Hände altern ließ.
Verstohlen und geschmeidig, wie es ihre Art war, bewegte sich Dubhe durch die Gassen und betrat zielstrebig die Läden, die für sie infrage kamen, während Theana ihr einfach nur folgte.
Auch dieses Mal hatte sie die Zauberin nicht in ihre Pläne eingeweiht. Dubhe war wortkarg und abweisend, und immer häufiger fragte sich Theana, wie Lonerin nur so lange mit ihr hatte unterwegs sein können. War sie ihm gegenüber auch so schroff gewesen? Aber wieso hatte er sich dann in sie verliebt? Oder verhielt sie sich jetzt nur so abweisend, weil sie doch eine Art Rivalin in ihr sah?
Stumm stand sie dabei, als Dubhe einem Kaufmann erklärte, was sie an Kleidern brauchten, und in einem anderen Laden nach bestimmten Kräutern und Salben verlangte.
Ihre verständige Sachlichkeit hatte etwas Beängstigendes und gleichzeitig Faszinierendes. Wie viele Menschen mochte sie wohl mittels dieser Kenntnisse schon ins Jenseits befördert haben?
Vor dem Laden hatte Dubhe sie kurz zur Seite genommen. »Du musst mir einen Zaubertrank brauen, der meine Haare wachsen lässt.« Ihr langes Haar hatte sie bei einem Ritual der Gilde opfern müssen. »Was brauchst du dazu?«
Theana schluckte. Mit solcherlei Zaubern kannte sie sich nicht aus. »Keine Ahnung, so was habe ich noch nie gemacht …«
Dubhe blickte sie streng an. »Los, überleg schon, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
 
Es war schon dunkel, als sie sich außerhalb des Ortes zu verkleiden begannen. Es war nicht mehr so weit bis zu ihrem Ziel, und jetzt mussten sie vorsichtig sein. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie, um Patrouillen oder Söldnertrupps aus dem Weg zu gehen, nur durch Wälder und über einsame Pfade geritten. Nun jedoch mussten sie ihre Deckung verlassen und das, ohne erkannt zu werden.
Sie zogen die gerade erstandenen Kleider über, und Dubhe warf ihre alten Sachen ins Feuer, ohne lange nachzudenken, ihrer Sache gewiss. Theana aber zögerte. Das Kleid, das sie getragen hatte, besaß einen besonderen Wert für sie. Es war ein Gewand, wie es kein anderer Magier in der Aufgetauchten Welt trug, denn Theana war keine beliebige Magierin. Es war das Gewand der früheren Priester des Gottes Thenaar, ein Kleid, das sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte.
»Jetzt mach schon!«, rief Dubhe, während sie Theana anblickte.
Die Zauberin nahm das Gewand noch fester in die Hand. »Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit?«
Dubhes Blick war eiskalt. »Nein, unsere Tarnung muss perfekt sein. Wenn wir die Kleider im Wald verstecken, hinterlassen wir Spuren.«
»Dieses Gewand bedeutet mir aber sehr viel …«, entgegnete Theana leise.
»Tut mir leid für dich«, antwortete Dubhe nur. Ihr von den Flammen erhelltes Gesicht verriet keinerlei Gemütsregung.
Langsam, fast trotzig, zog Theana sich aus und musste die Tränen zurückhalten bei dem Gedanken, dass dieses Stück nun in Flammen aufgehen würde.
Wie die Feuer der Gilde den wahren Kult Thenaars vernichtet haben, dachte sie, im Geist ein Wort ihres Vaters zitierend, während sie die letzte Berührung des Stoffes auf ihrer Haut voll und ganz auskostete. Da nahm ihr Dubhe das Kleid aus der Hand und warf es ins Feuer, während sich Theana mit dem Gedanken an das ähnliche Gewand, das sie noch in ihrem Zimmer bei Meister Folwar hängen hatte, über den Verlust hinwegzutrösten versuchte.
Dem Blick der Schattenkämpferin ausweichend, zog sie ihre neuen Sachen über und trocknete sich die einzige Träne, die sie nicht hatte zurückhalten können. Dann war sie fertig.
Sie trat zu Dubhe, die am Boden hockte und mit den gekauften Kräutern herumhantierte. Mit sicheren Bewegungen verteilte sie einige Salben auf ihrem Gesicht, andere auf ihren Händen. Ihre Haare hingegen hatte sie mit einer Art Umschlag bedeckt, der einen leichten Moosduft verströmte. Sie reichte Theana einige Schälchen. »Hier, nimm. Mach es so wie ich.«
Immer wieder diese trockenen Anweisungen, so als sei sie ihre Untergebene. Theana setzte sich nicht und nahm auch keins der Schälchen zur Hand. »Wozu soll das gut sein?«
»Deine Hände sind zu glatt. So nimmt dir niemand die Bäuerin ab. Und auch dein Gesicht ist nicht wettergegerbt. Das Zeug lässt dich älter wirken. Und das andere ist zum Färben der Haare.«
Es war nicht das erste Mal, dass Theana ihr Aussehen veränderte. Sie kannte Zauber, mit denen das möglich war. Allerdings hielt deren Wirkung nur kurz, und sie hatte sie auch nur zur Übung angewendet. Es waren gewöhnliche Zauber, die sie bei Meister Folwar lernte, und keine Praktiken, wie der Vater sie ihr beigebracht hatte. Nun jedoch ging es darum, für lange Zeit ein Aussehen anzunehmen, das eigentlich nicht das ihre war. Und das erschreckte sie.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Dubhe, die immer noch Salben auf ihrer Haut verteilte. Entsetzlich allein fühlte sie sich, als sie die Hand nach den Tiegeln ausstreckte.
»Das Zeug für die Hände musst du nur kurze Zeit drauf lassen, das fürs Gesicht die ganze Nacht. Damit bekommst du ein paar Runzeln. Die Wirkung hält einen Monat lang an. Danach müssen wir uns etwas Neues besorgen. Auch der Umschlag für die Haare sollte am besten eine ganze Nacht lang einwirken.«
Theana betrachtete die Substanzen, die sie sich gleich auf die Haut streichen würde. Es handelte sich um Kräuterprodukte, die sie sehr gut kannte, Kräuter, die nur ein Pflanzenkundler richtig anzuwenden und zu dosieren wusste.
»In meiner Tasche findest du die Zutaten, die du mir genannt hast. Bereite mir den Trank zu, den ich brauche«, fügte Dubhe hinzu.
Theana warf einen flüchtigen Blick auf die Tasche. Sie nahm alles an sich und entfernte sich ein wenig. Obwohl in diesem Wald weit und breit niemand außer ihnen beiden zu erblicken war, wollte sie für sich sein. Was sie sich jetzt zu tun anschickte, würde den endgültigen Bruch bedeuten mit der Theana, die sie einmal gewesen war, jener Theana, die Lonerin geliebt hatte, die sich nach ihm verzehrt und die Zauberei beim Rat der Wasser erlernt hatte. Sie würde zur neuen Theana, einer Frau, die ihr Geschick in die eigenen Hände nahm, auf der Suche nach sich selbst, einer Frau, die ihrer Feindin half, einen Menschen zu töten.
Unter einem dunklen Himmel, an dem die Sterne ihr kaltes Licht abgaben, seufzte sie tief und tauchte dann entschlossen zwei Finger in den ersten Tiegel.
 
Am anderen Morgen waren sie beide nicht mehr wiederzuerkennen. Dubhe hatte nun fließendes blondes Haar, das zu einem langen, weichen Zopf geflochten war. Ihr jetzt sanfter Blick, der die Strenge ihrer dunklen Augen abmilderte, die zu einem züchtigen Lächeln verzogenen Lippen und die im Schoß gefalteten Hände – all das ließ sie wie einen neuen Menschen aussehen.
Auch Theana war fassungslos, als sie sich im Wasser eines kleinen Tümpels betrachtete. Ihre Hände waren nun schwielig und ihre Stirn durchzogen von kleinen Runzeln, wie sie sie häufig bei Bäuerinnen gesehen hatte, die die Feldarbeit entkräftet oder das lange Warten auf ihre im Krieg dienenden Männer entmutigt hatte. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie sehr sie ihrem Vater glich. Er hatte das immer betont, doch sie hatte ihm nicht glauben wollen. Anfangs, weil sie es nicht wahrhaben wollte, denn sie hielt ihn für einen Versager, der einem vergessenen Glauben anhing und von allen verachtet wurde, sogar von seiner eigenen Tochter, später, kurz vor seinem Tod, als sie ihn zu bewundern begonnen hatte, weil sie sich seiner nicht würdig fühlte. Nun aber, da das Kraut sie hatte altern lassen, zeigte ihr Gesicht in vielen Nuancen die Züge ihres Vaters.
Ich folge seinem Weg, sagte sie sich mit einem Anflug von Furcht. Doch sie kam nicht mehr dazu, länger darüber nachzudenken. Denn mit dem Dolch in der Hand war Dubhe hinter sie getreten und packte ihre Haare.
»Was tust du da?«, rief Theana, wobei sie sich ihr entzog.
»Die müssen ab.«
»Wieso denn? Die Haare haben doch jetzt eine andere Farbe.«
»Das reicht aber nicht. Sie sehen zu glänzend und gepflegt aus … Das passt doch nicht zu einer Bäuerin …«
Theana spürte Zorn in sich aufflammen. Diese Erniedrigung wollte sie nicht auch noch hinnehmen.
»Nein, das will ich nicht«, erklärte sie fest und wandte Dubhe das Gesicht zu. Sie nahm ihre Locken in die Hand, so als wolle sie sie beschützen, und verspürte dabei einen Stich, weil sie sich so weich anfühlten.
Dubhe schien nicht verärgert, nur entnervt, was für Theana vielleicht sogar noch verletzender war. »Jetzt hör mal zu«, sagte sie, »wir gehen nicht zum Spielen in den Palast. Wenn wir auffliegen, erwartet uns der Tod, verstehst du das? Auf nichts anderes als unsere Tarnung können wir uns verlassen, und deshalb muss die einfach perfekt sein. Du bist eine Magierin aus dem Rat, man könnte dich wiedererkennen.«
»Wieso? Ich bin nur die Schülerin eines Rats. Wer sollte mein Gesicht schon kennen? Die meisten haben mit Sicherheit noch nie von mir gehört.« Theana drückte ihre Haare noch fester.
Dubhe seufzte und ließ den Dolch sinken. Ihr Blick wirkte betrübt, als sie fragte: »Warum bist du eigentlich mit mir gekommen? Du wusstest doch, dass dir Opfer abverlangt würden. Meine Rettung interessiert dich nicht – was ich verstehen kann. Und möglicherweise hasst du mich, und auch das könnte ich verstehen. Warum also?«
Theana biss sich auf die Lippen. Langsam lösten sich die Finger von den Locken und die verkrampften Schultern entspannten sich. Sie wich Dubhes Blick aus, deren Augen wie ein Strudel waren, ein Abgrund, der sie hinabzog. Auch Lonerin hatte sich von diesen Augen hinreißen lassen.
»Ist das wirklich nötig?«
»Ja.«
Theana drehte sich ab und wandte Dubhe den Nacken zu.
»Dann tu es eben!«
 
Kaum lagen die Haare am Boden, baute sich Dubhe vor Theana auf und legte all ihre Waffen zu einem Häufchen zusammen. Aus irgendeinem seltsamen Grund hatte sie das Gefühl, ihr etwas beweisen zu müssen. Da lagen die Wurfmesser, die Pfeile, der Bogen und natürlich auch der Umhang, den sie damals von dem ersten Geld, das ihr der Meister für ihre Dienste gab, gekauft hatte. Kurzum, alles Dinge, die ihr ganzes Leben ausmachten.
»Die lasse ich auch hier«, erklärte sie und blickte Theana in die Augen. Dabei hatte sie das Gefühl, ganz kurz so etwas wie Verständnis darin aufblitzen zu sehen.
Nur den Dolch konnte sie unmöglich zurücklassen. Zumindest eine Waffe würde sie ja brauchen, und außerdem würde sie ihn in der kleinen Tasche unter ihrem Rock gut verstecken können, sagte sie sich. In Wahrheit wollte sie sich aber nicht von ihm trennen. Von ihrem Meister hatte sie ihn erhalten, und lange Zeit war die Erinnerung an ihn das Einzige gewesen, was sie am Leben erhielt.
»Und den nimmst du mit?«
Es lag keine Feindseligkeit in dieser Frage. Es war einfach nur Neugier, doch Dubhe fühlte sich ertappt.
»Ja, es ist einfach besser, wenn wir auch eine Waffe dabei haben, mit der wir uns notfalls verteidigen können«, antwortete sie.
Und das stimmte. Sie mussten für mögliche Zwischenfälle gerüstet sein. Ihre Sinne waren immer noch benebelt von dem Ritual, den die Magierin einige Abende zuvor bei ihr vollzogen hatte, und mit Sicherheit war Theana nicht in der Lage zu kämpfen.
Dann machten sie sich schweigend wieder auf den Weg.
 
Kurz nach dem Beginn ihrer Reise hatte die Bestie erneut ihre Fratze gezeigt.
Zur Sicherheit hatte Theana eine ausreichende Menge des von Lonerin hergestellten Mittels eingepackt, wohl wissend, dass es unterwegs unweigerlich Rückfälle geben würde. Alle sieben Tage musste Dubhe ein wenig davon einnehmen, um die Bestie, die an ihrem Brustbein kratzte, ruhigzustellen, aber bald schon war ihr klar geworden, dass da irgendetwas nicht stimmte. Bereits in der zweiten Woche verlor der Trank an Wirkung. Dubhe fühlte sich schlecht, hätte dies aber um keinen Preis der Welt Theana gegenüber eingestanden. Lonerin wäre sofort auf ihren Zustand aufmerksam geworden. Er hätte ihren Arm ergriffen und sie untersucht, woraufhin sich dann wieder jenes unerträgliche Mitleid in seinen Blick geschlichen hätte. Das war letztendlich der Grund gewesen, warum sie sich von ihm getrennt hatte.
Theana hingegen lebte in ihrer eigenen Welt, war eine Fremde, mit der sie der Zufall zusammengeführt hatte. Deswegen beschloss Dubhe, die Zähne zusammenzubeißen und sich nichts anmerken zu lassen. Doch irgendwann ging es nicht mehr. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, die Wut der Bestie in ihr steigerte sich beständig, und immer häufiger träumte sie von Blut und Gewalt. Und so beschloss sie irgendwann, endlich den Mund aufzumachen.
»Es gibt da ein Problem«, begann sie, wobei ihr die eigene Stimme fremd und rau vorkam. Auch Theana, die am Feuer neben ihr saß, schien das aufzufallen, denn sie blickte verwundert zu ihr auf. Für einen kurzen Augenblick trauerte Dubhe der übertriebenen Fürsorge Lonerins nach.
In wenigen knappen Worten erklärte sie Theana die Situation. Sie schämte sich. Zum ersten Mal zeigte sie sich schwach vor der Magierin, und ihr war, als müsse sie einer Unbekannten ein entsetzliches Geheimnis anvertrauen.
Theana schaute sich verloren um, und Dubhe hatte das deutliche Gefühl, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte.
»Hätte ich nur meine Sachen dabei …«, murmelte die Zauberin nach einer Weile und stand dann auf. »Warte hier auf mich«, fügte sie hinzu und verschwand im Dickicht eines nahen Waldes.
Bald war sie zurück mit einer Handvoll Kräutern und einigen Zweigen, von denen sie geschwind die Blätter abstreifte. »Mach den Arm frei«, forderte sie die Gefährtin auf.
Dubhe gehorchte und fühlte sich dabei nackt und wehrlos wie immer, wenn sie von jemandem behandelt wurde.
Ausgiebig betrachtete Theana das Symbol, fuhr mit den Fingerspitzen darüber, während sie mit leiser Stimme einen Sprechgesang murmelte. Dann kaute sie die Kräuter, die sie gesammelt hatte, und verrieb das Mus auf dem Oberarm. Ihre Augen waren halb geschlossen, und während sie mit dem Zweig über das Siegel strich, wiegte sie langsam den Kopf hin und her.
»Dein Körper hat sich an das Mittel gewöhnt«, erklärte sie schließlich, während sie mit sanften Bewegungen den Arm von der grünlichen Masse reinigte.
Das war für Dubhe nichts Neues. Ähnlich war es im Bau der Gilde gewesen. Auch der Trank, den Rekla ihr verabreicht hatte, hatte mit der Zeit immer kürzer gewirkt, und nach ihrer Flucht hatte Lonerin ihr ein ganz neues Mittel gegeben.
»Ich dachte, Lonerins Trank hätte dieses Problem beseitigt …«
Theana schüttelte den Kopf. »Das ist schließlich ein Siegel, und bei einem Siegel wirkt jedes Gegenmittel nur für eine gewisse Zeit. Irgendwann hat sich dein Körper daran gewöhnt, und angesichts der Tatsache, dass kein Trank den Fluch auf Dauer beseitigen kann, wird das auch immer so sein.«
Dubhe schlug die Augen nieder. Sie hatte diese ganze Geschichte so gründlich satt. Dabei dachte sie an Dohor und wie sehr sie sich danach sehnte, ihn endlich in die Finger zu bekommen und zu töten.
»Aber ich kann dir helfen.«
Dubhe horchte auf.
»Ich kenne magische Künste, die man in der Aufgetauchten Welt eigentlich schon lange vergessen hat. Wenn mich nicht alles täuscht, müsste es mir gelingen, die Folgen des Siegels mit etwas anderem als einem Trank aufzuhalten.«
Dubhe staunte nicht schlecht. Seit ihrer Abreise hatte sie immer geglaubt, Theana könne ihr lediglich bei dem Ritus nützlich sein, der sie vielleicht endgültig von dem Fluch befreien würde. Wie eine Frau der Tat war sie ihr wirklich nicht vorgekommen, und wie eine mächtige Zauberin sah sie auch nicht aus.
»Mit meiner speziellen Magie kann ich einiges gegen fremde Zauber, gegen Gifte und sogar gegen nicht allzu schlimme Krankheiten ausrichten.«
»Und das könnte dir auch bei meinem Siegel gelingen?«
Theana nickte. Jetzt, da sie über ihre magischen Künste sprach, wirkte ihr Blick entschlossen. »Zudem können wir dadurch auch die Kräfte, die dein Siegel ausstrahlt, vor anderen Zauberern verbergen. Wegen der magischen Aura, die dich umgibt, könnte dich im Moment jeder Magier leicht aufspüren.«
»Und wieso hast du das nicht schon vorher gesagt?«
Dubhes Ton schien ein wenig spöttisch zu klingen, denn sofort verhärteten sich Theanas Züge. Aber sie ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort.
»Aber du hast dabei auch Nachteile in Kauf zu nehmen. Die ersten Male wird dieser Zauber deine Sinne betäuben.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nun, du wirst dich benommen fühlen, verwirrt, und deine Reaktionen werden verlangsamt sein. Es handelt sich nämlich um einen ziemlich starken Zauber, der deinen Körper angreift; du wirst dich matt fühlen, wie erschlagen, ja, ein paar Tage lang wird es dir schlecht gehen. Nach und nach aber gewöhnst du dich daran, und nach den ersten Malen wirst du die Wirkung weniger spüren.«
Dubhe seufzte. »Und wenn ich weiter nur den Trank zu mir nehme? Wie lange kann ich es damit noch schaffen?«
»Den müsstest du in immer kürzeren Abständen einnehmen; wie du selbst sagst, nimmst du ihn jetzt schon alle fünf Tage, und so wird sich das immer weiter verkürzen. Deine Lage wird sich rasch dramatisch verschlechtern.«
»Und mit deiner Magie?«
»Nun, dieses Ritual muss alle fünfzehn Tage wiederholt werden, aber vielleicht kann ich die Abstände auch noch ausdehnen.«
Dubhe überlegt einige Augenblicke. »Einverstanden«, erklärte sie schließlich, unter anderem auch, weil sie nicht erwartete, bei ihrer Mission auf Feinde zu stoßen, also kämpfen zu müssen. Alles hing nur davon ab, wie gut ihre Tarnung war. Und dazu passten körperliche Einschränkungen eigentlich ganz gut.
»Streck den Arm aus.«
Dubhe machte den Oberarm frei und legte das Symbol frei. Die Farben wirkten noch greller als gewöhnlich, die Wärme, die die Zeichnung abgab, war zu ertasten, und die Haut darum herum gerötet. Die Bestie, die langsam ihren Geist verzehrte, war allgegenwärtig: eine tägliche Qual, die Dubhe nicht länger zu ertragen gewillt war.
Theana hatte wieder den Zweig zur Hand genommen, mit dem sie auch den Arm untersucht hatte, tauchte ihn jetzt in die erlöschende Glut, um die Spitze einzuschwärzen, und prüfte dann die Temperatur mit einem Finger.
»Es wird ein wenig dauern und dir wehtun«, erklärte sie.
Dubhe erlaubte sich ein spöttisches Lächeln. Was wusste Theana schon von Schmerzen? Sie, die wohl noch nie im Leben verletzt worden war und erst recht keinen so entsetz lichen Fluch mit sich herumschleppte.
Theanas Miene war undurchschaubar, und Dubhe fragte sich, ob sie wohl so etwas wie Genugtuung spürte angesichts der Schmerzen, die sie ihr zufügen würde.
»Schließ die Augen und versuch, an gar nichts zu denken. Im ersten Moment wird der Fluch kurz zum Durchbruch kommen, aber du wirst gelähmt sein und dich nicht rühren können. Mach dich also auf etwas gefasst.«
Theanas Blick wirkte außerordentlich ernst, und fast wunderte sich Dubhe darüber. Dann schloss sie die Augen und bereitete sich tatsächlich auf das Schlimmste vor.
Theana stimmte eine getragene Litanei an, die ganz ähnlich klang wie die Gebete, die sie nachts summte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Unwillkürlich spannte Dubhe die Armmuskeln an.
Nach einer Weile berührte die Magierin mit der Zweigspitze die Haut und begann, mit dem Ruß eigenartige Zeichen, winzige, für Dubhe unverständliche Runen auf ihren Arm zu malen.
Zügig ging sie vor, mit geschlossenen Augen, wobei sie imaginären Lichtlinien folgte, die sich durch den Zauber vor ihren geschlossenen Lidern abzeichneten. So war es immer, wenn sie ihre Kunst ausübte. Dann sah sie die Körper, die sie behandelte, als ein Geflecht leuchtender Bahnen, die Energieflüsse und Körperflüssigkeiten transportierten. Es war, als hebe sie die Haut der Welt an und enthülle deren Geheimnis se. Dies hatte ihr Vater ihr beigebracht, dies war die Macht, die Thenaar seinen wahren Priestern verlieh.
Neugierig machte Dubhe ein Auge auf, während sie weiter diesen Singsang im Ohr hatte, der sie langsam betäubte. Ihr Arm war voller Symbole, denen Theana immer noch neue hinzufügte. Und bei jedem neuen Zeichen spürte Dubhe, wie ihr Körper noch schwächer wurde und sich die Bestie wie verärgert zurückzog. Sie spürte, wie ihre Muskeln langsam nachgaben, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich auf dem Boden auszustrecken. Theana folgte ihr mit dem ganzen Körper, um den Kontakt nicht zu verlieren, und ließ ihren Arm keinen Moment los.
Schließlich zog sie die Zweigspitze zurück und holte tief Luft. Dubhe lag am Boden, ihr Körper vollkommen schlaff. Sie war es nicht gewohnt, die Kontrolle über sich zu verlieren, und dieser unbekannte Zustand beunruhigte sie. Immer schneller hob und senkte sich ihr Brustkorb.
»Ich bin fast fertig«, murmelte Theana, deren Stimme entfernt klang.
Dubhe war benommen. Sie spürte, wie die Magierin erneut mit dem angespitzten Zweig die bereits gezeichneten Linien nachfuhr, und bei jeder einzelnen ein anderes Wort in einer für Dubhe unbekannten Sprache murmelte. Der Bestie allerdings schien sie nur allzu bekannt zu sein.
Denn bei jeder dieser Anrufungen spürte Dubhe, wie ihr das Ungeheuer die Krallen zeigte und sich zum Angriff bereit machte. Das Verlangen zu töten wurde übermächtig, und Dubhe versuchte, dagegen anzukämpfen, indem sie sich die Bilder der Massaker in Erinnerung rief, zu denen der Fluch sie genötigt hatte: die im Wald zerfleischten Soldaten, als sich zum ersten Mal die Auswirkungen des Siegels gezeigt hatten; und dann Rekla, das unheimliche Knacken, als sie ihr das Genick gebrochen hatte; schließlich Fillas brutales Ende. Aber es nützte nichts. Das Grauen dieser Erinnerungen verschwand, wurde verdrängt von dem Blutgeruch, der ihr bei all diesen Gräueltaten in die Nase gestiegen war: ein ein ladender Duft, der sie neu belebte.
Da explodierte ihr Geist, und durch ihren Kopf hallte das entsetzliche Brüllen der Bestie. Während ihr Körper bebte und von Zuckungen geschüttelt wurde, schienen sich einen Augenblick lang ihre Gliedmaßen zu verformen und in die eines Untieres zu verwandeln. Ein nacktes, urzeitliches Entsetzen packte sie. Denn sie wusste sehr genau, dass sie dieser Abgrund für immer verschlucken konnte, wusste, dass sie verloren wäre, dass nur ein Biss genügen würde, um ihr Bewusstsein auszulöschen. Obwohl sie nun schon so lange mit dem Fluch lebte, begriff sie erst in diesem Moment voll und ganz, wie ihr Ende aussehen konnte, das Ende, das ihr Dohor und Yeshol zugedacht hatten.
Mit konzentrierter Miene kniete Theana weiter neben ihr, ließ sich nicht erschrecken von diesem sich windenden, von einer wilden Gier erfassten Körper, ließ sich nicht beeindrucken von dem Ungeheuer.
War es das, was du liebtest, Lonerin? Diese Bestie, diesen unheimlichen Fluch? Doch sogleich schämte sie sich für diesen gemeinen Gedanken. Außerdem musste sie weiter konzentriert bleiben während dieses sehr mächtigen Zaubers, bei dem ihr die Kontrolle jeden Augenblick entgleiten konnte. So schloss sie die Augen und beendete das Ritual mit dem letzten Wort. Da verschwanden die Runen, die sie auf Dubhes Oberarm gezeichnet hatte, und das Symbol des Siegels wurde rasch wieder heller.
Dubhe spürte, wie die Bestie sich zurückzog, wie eingesaugt in die Tiefen ihres Geistes, während sie selbst langsam die Kontrolle über ihren schmerzenden Körper zurückgewann. Sie atmete tief durch und drehte sich hustend auf die Seite. Endlich war sie wieder sie selbst.
Ebenfalls mitgenommen, hockte Theana reglos neben ihr. Während sie beobachtete, wie Dubhe sich hinzusetzen versuchte, fragte sie sich wieder einmal, wieso sie sich entschlossen hatte, ihr zu helfen, und wohin diese Entschlossenheit nun entschwunden war. Dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und machte sich ein Nachtlager zurecht.
 
Dubhe hatte nicht erwartet, dass das Ritual sie dermaßen auslaugen würde. Nicht allein ihr Körper war furchtbar träge geworden, sondern auch ihr Geist. Hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt ihre Mission geleitet und entschieden, wann und wie sie vorzugehen hatten, so war sie nun wahrscheinlich zu schwach und verwirrt dazu und musste sich ganz auf Theana verlassen.
»Du hattest mir verschwiegen, dass das Ritual auch das Denkvermögen in Mitleidenschaft zieht«, sagte sie vorwurfsvoll an Theana angewandt.
Die blickte schuldbewusst. »Es tut mir wirklich leid, aber die Wirkung ist von Person zu Person verschieden, und es hängt auch von dem Siegel ab …«
Diese Entschuldigung nützte Dubhe nun auch nichts mehr. Ihr machte es große Sorgen, nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu sein.
Und so kam es, dass sie sich nicht durchsetzen konnte, als Theana unbedingt in diesem Ort an der Grenze haltmachen wollte. Bei anderer Gelegenheit wäre sie mit Sicherheit standhaft geblieben. Sie wusste nur zu gut, dass zwei Frauen niemals einen gerade überfallenen und geplünderten Ort durchziehen sollten. Auf so eine Gelegenheit warteten die Söldner nur. Doch sie war nun einmal nicht wach genug gewesen, um angemessen zu reagieren. Ebenso wie jetzt, als der Soldat sie von hinten überraschte und fortschleppte.
2
Dohors Truppen
Dubhe hörte das Klirren aneinanderstoßender Waffen, Stimmen, die lachten und krakeelten.
Ihr Kopf schmerzte, und das nicht nur von dem Schlag, den sie abbekommen hatte. Sie war noch verwirrt, und es dauerte eine Weile, bis sie wusste, wo sie sich befand und was geschehen war.
Ihre Wange lag in feuchtem Stroh, und vor sich sah sie ein Paar Füße, das mit einem Strick zusammengebunden war.
Den Kopf schüttelnd, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. An den Grund für ihre Benommenheit erinnerte sie sich gut. Gemächlich, fast ersterbend, pulsierte das Symbol auf ihrem Arm.
Verflucht …
»Alles in Ordnung?«
Nach dieser schrillen, aber besorgten Stimme tauchte fast augenblicklich ein Gesicht in Dubhes Blickfeld auf. Es dauerte etwas, bis sie es erkannte. Theana war es, in der Verkleidung, die sie einige Abende zuvor angelegt hatten. Diese Erinnerung zog unmittelbar weitere nach sich, langsam, wie Perlen an einer Schnur.
Dubhe nickte matt. »Hilf mir mal auf …«
Theana kroch zu ihr und ergriff mit beiden Händen ihren Arm. Jetzt erst fiel Dubhe auf, dass man ihnen beiden die Handgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden hatte.
Mühsam schaffte sie es, sich aufzusetzen. Blass und zerzaust hockte Theana neben ihr und blickte sie erwartungsvoll an. Dubhe sah sich um. Sie befanden sich auf einem mit Stroh ausgelegten, vergitterten Karren, einem Käfig mit einigen aufeinandergestapelten Fässern und Kisten in einer Ecke.
Als Dubhe den Kopf zu drehen versuchte, musste sie gegen die Übelkeit ankämpfen, die sich in ihrem Magen ausbreitete. Was sie sah, war nicht sehr ermutigend. Überall um sie herum waren Soldaten, aber das Bild in ihrem Kopf wurde nun klarer.
»Du warst lange bewusstlos, und ich habe mich nach Kräften gewehrt, aber viel konnte ich nicht ausrichten. Dann bin ich selbst in Ohnmacht gefallen, und als ich wieder zu mir kam, fand ich mich gefesselt hier in diesem Käfig wieder. Ich hab schon alles Mögliche versucht, um meine Hände freizubekommen, hab mich dabei sogar verletzt und …«

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