Die Schlafwandler - Christopher Clark - E-Book
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Christopher Clark

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Beschreibung

Das Standardwerk zum Ersten Weltkrieg

Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug. In seinem bahnbrechenden Werk kommt der renommierte Historiker und Bestsellerautor ( Preußen) zu einer anderen Einschätzung.

Christopher Clark beschreibt minutiös die Interessen und Motivationen der wichtigsten politischen Akteure in den europäischen Metropolen. Diese ›Schlafwandler‹ waren ›wachsam, aber blind, von Alpträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Greuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten‹. Mit seinem eindrucksvollen ›Monumentalgemälde‹ (NZZ) zeichnet der Autor das Bild einer komplexen Welt. Gegenseitiges Misstrauen, Fehleinschätzungen, Überheblichkeit, Expansionspläne und nationalistische Bestrebungen führten zu einer Situation, in der ein Funke genügte, den Krieg auszulösen. Dessen verheerende Folgen vermochte kaum jemand abzuschätzen.

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Christopher Clark

DIE SCHLAFWANDLER

Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog

Aus dem Englischen vonNorbert Juraschitz

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914bei Allen Lane, London.

1. Auflage

Copyright © 2012 Christopher Clark

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Heike Specht und Jan Schleusener

Karten: Peter Palm, Berlin

Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Minion

ISBN 978-3-641-11877-8www.dva.de

Für Josef und Alexander

Inhalt

EINLEITUNG

TEIL I WEGE NACH SARAJEVO

KAPITEL 1 Serbische Schreckgespenster

KAPITEL 2 Das Reich ohne Eigenschaften

TEIL II EIN GETEILTER KONTINENT

KAPITEL 3 Die Polarisierung Europas 1887–1907

KAPITEL 4 Die vielen Stimmen der europäischen Außenpolitik

KAPITEL 5 Verwicklungen auf dem Balkan

KAPITEL 6 Die letzten Chancen: Entspannung und Gefahr 1912–1914

TEIL III KRISE

KAPITEL 7 Mord in Sarajevo

KAPITEL 8 Die Krise zieht immer größere Kreise

KAPITEL 9 Die Franzosen in St. Petersburg

KAPITEL 10 Das Ultimatum

KAPITEL 11 Warnschüsse

KAPITEL 12 Die letzten Tage

SCHLUSS

DANK

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

PERSONEN- UND SACHREGISTER

EINLEITUNG

Auf dem europäischen Kontinent herrschte Frieden an jenem Morgen des 28. Juni 1914, einem Sonntag, als Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek auf dem Bahnhof von Sarajevo ankamen. Nur 37 Tage später befand sich Europa im Krieg. Der Konflikt, der in jenem Sommer begann, mobilisierte 65 Millionen Soldaten, brachte drei Reiche zu Fall und forderte 20 Millionen militärische und zivile Todesopfer sowie 21 Millionen Verwundete. Die Gräuel des 20. Jahrhunderts in Europa gingen aus dieser Katastrophe hervor; es war, wie der amerikanische Historiker Fritz Stern es nannte, »die erste Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der Große Krieg, aus der sich alle folgenden Katastrophen ergaben«.1 Die Diskussion, warum es dazu kam, begann, noch ehe die ersten Schüsse fielen, und sie ist bis heute nicht beendet. Sie hat historische Literatur von einzigartiger Fülle, Differenziertheit und moralischer Intensität hervorgebracht. Für Theoretiker der internationalen Beziehungen sind die Ereignisse von 1914 immer noch die politische Krise par excellence, so verworren, dass sie unzähligen Hypothesen Raum geben.

Ein Historiker, der den Ursprung des Ersten Weltkriegs untersucht, stößt auf mehrere Probleme. Das naheliegendste Problem ist das Überangebot an Quellen. Jeder kriegführende Staat hat mehrbändige, offizielle Editionen der diplomatischen Akten herausgegeben, das umfassende Werk mühsamer, kollektiver Archivarbeit. Staatsmänner, Befehlshaber, Minister, hohe Regierungsvertreter, Adjutanten und Höflinge haben Tagebücher und Memoiren geschrieben, alles in allem Zehntausende von Seiten. In diesem Meer von Quellen gibt es tückische Strömungen. Die meisten offiziellen Quelleneditionen, die in der Zwischenkriegszeit erschienen sind, haben eine apologetische Tendenz. Die 57-bändige deutsche Publikation Die Große Politik, die 15889 Dokumente, geordnet nach 300 Themenfeldern, umfasst, wurde keineswegs aus rein wissenschaftlichem Interesse herausgegeben; man hoffte, die Offenlegung der Quellen vor dem Krieg werde ausreichen, um die in den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags enthaltene These der »Kriegsschuld« zu widerlegen.2 Auch für die französische Regierung war die Veröffentlichung der Dokumente ein Projekt von »im Grunde politischem Charakter«, wie Außenminister Jean Louis Barthou es im Mai 1934 ausdrückte. Es hatte zum Ziel, »ein Gegengewicht zu der Kampagne zu bilden, die Deutschland nach dem Vertrag von Versailles lancierte«.3 In Wien setzte man sich, wie Ludwig Bittner, der Mitherausgeber der achtbändigen Sammlung Österreich-Ungarns Außenpolitik, im Jahr 1926 darlegte, zum Ziel, eine maßgebliche Quellenedition zusammenzustellen, ehe ein internationales Gremium (womöglich der Völkerbund?) die österreichische Regierung zur Veröffentlichung unter weniger günstigen Vorzeichen zwang.4 Die frühen sowjetischen Quelleneditionen litten zum Teil unter dem Bestreben, den Nachweis zu erbringen, dass der Krieg vom autokratischen Zaren und seinem Bündnispartner, dem bürgerlichen Raymond Poincaré, initiiert worden sei. Die Sowjetregierung hoffte, auf diese Weise französischen Forderungen nach Rückzahlung der Vorkriegsdarlehen die rechtliche Grundlage zu entziehen.5 Selbst in Großbritannien, wo die Edition British Documents on the Origins of the War unter hehren Appellen an die unparteiische akademische Lehre veröffentlicht wurde, war die erschienene Quellenedition nicht ganz frei von tendenziösen Auslassungen, die ein leicht unausgewogenes Bild von dem Platz Großbritanniens bei den Ereignissen unmittelbar vor Kriegsausbruch im Jahr 1914 ergeben.6 Mit einem Wort, die großen europäischen Quelleneditionen waren, bei all ihrem unleugbaren Wert für die Forscher, Munition in einem »Weltkrieg der Dokumente«, wie der deutsche Militärhistoriker Bernhard Schwertfeger in einer kritischen Studie aus dem Jahr 1929 anmerkte.7

Die Memoiren der Staatsmänner, Befehlshaber und anderer Entscheidungsträger sind nicht weniger problematisch, so unverzichtbar sie auch für jeden sind, der die Ereignisse zu verstehen versucht, die sich im Vorfeld des Krieges abspielten. Einige sind ausgerechnet bei den brennenden Fragen enttäuschend zugeknöpft. Nehmen wir nur drei Beispiele: Die Betrachtungen zum Weltkriege, die der deutsche Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg 1919 veröffentlichte, sagen so gut wie nichts über seine eigenen Handlungen oder die seiner Kollegen während der Julikrise 1914 aus; die politischen Memoiren des russischen Außenministers Sergej Sasonow sind oberflächlich, aufgebläht, hier und da verlogen und absolut nichtssagend im Hinblick auf seinen Anteil an den maßgeblichen Ereignissen; die zehnbändigen Memoiren des französischen Präsidenten Poincaré über seine Jahre an der Macht sind eher propagandistisch als erhellend – es bestehen eklatante Diskrepanzen zwischen seinen »Erinnerungen« an die Ereignisse während der Krise und den zeitgenössischen Notizen in seinem unveröffentlichten Tagebuch.8 Die liebenswürdigen Memoiren des britischen Außenministers Sir Edward Grey sind lückenhaft in der heiklen Frage nach den Zusagen, die er den Ententemächten vor August 1914 gemacht hatte, und nach der Rolle, die diese beim Krisenmanagement gespielt hatten.9

Als der amerikanische Historiker Bernadotte Everly Schmitt von der University of Chicago Ende der 1920er Jahre mit Empfehlungsschreiben nach Europa reiste, um ehemalige Politiker zu interviewen, die an den Ereignissen beteiligt gewesen waren, war er schockiert über die augenscheinliche, völlige Immunität seiner Gesprächspartner gegen jeden Selbstzweifel. (Die einzige Ausnahme war Grey, der »spontan anmerkte«, dass er einen taktischen Fehler begangen hatte, als er versuchte, in der Julikrise mittels der Berliner Regierung mit Wien zu verhandeln, dabei war die erwähnte Fehleinschätzung von untergeordneter Bedeutung und der Kommentar entsprach eher einer typisch englischen Selbstkasteiung als einem echten Eingeständnis einer Mitverantwortung.)10 Einige hatten auch Probleme mit dem Gedächtnis. Schmitt spürte Peter Bark auf, den ehemaligen russischen Finanzminister, der inzwischen als Banker in London tätig war. Im Jahr 1914 hatte Bark an Sitzungen teilgenommen, bei denen Entscheidungen von enormer Tragweite getroffen wurden. Aber als Schmitt sich mit ihm traf, blieb Bark hartnäckig dabei, dass er »kaum eine Erinnerung an Ereignisse aus jener Ära habe«.11 Zum Glück sind die eigenen Notizen des Ministers aus jener Zeit aufschlussreicher. Als der Forscher Luciano Magrini im Herbst 1937 nach Belgrad fuhr, um jeden Überlebenden zu interviewen, der nach dem damaligen Wissensstand in irgendeiner Form mit der Verschwörung von Sarajevo in Verbindung stand, stellte er fest, dass manche Zeugen zu Angelegenheiten Aussagen machten, von denen sie eigentlich nichts wissen konnten, andere hingegen »stumm blieben oder eine falsche Darstellung von dem, was sie wissen, lieferten« und wieder andere »ihre eigenen Aussagen noch ausschmückten oder in erster Linie an Selbstrechtfertigung interessiert waren«.12

Überdies bestehen immer noch beträchtliche Wissenslücken. Ein Teil der wichtigen Kommunikation zwischen Hauptakteuren spielte sich verbal ab und ist nicht dokumentiert – der Meinungsaustausch kann in diesen Fällen lediglich über indirekte Hinweise oder spätere Aussagen rekonstruiert werden. Die serbischen Organisationen, die mit dem Attentat zu tun hatten, waren extrem verschwiegen und hinterließen so gut wie keine schriftlichen Spuren. Dragutin Dimitrijević, der Chef des serbischen Militärgeheimdienstes, ein zentraler Akteur bei der Verschwörung gegen Franz Ferdinand in Sarajevo, verbrannte in regelmäßigen Abständen alle seine Unterlagen. Von dem genauen Inhalt der ersten Gespräche zwischen Wien und Berlin darüber, was als Reaktion auf die Schüsse in Sarajevo unternommen werden sollte, ist vieles unbekannt. Die Protokolle der Gipfeltreffen zwischen der französischen und russischen politischen Führung, die vom 20. bis 23. Juni in St. Petersburg stattfanden, Dokumente von potenziell enormer Bedeutung für das Verständnis der letzten Phase der Krise, sind nie gefunden worden (die russischen Protokolle sind vermutlich schlichtweg verschollen; das französische Team, das die Documents Diplomatiques Français herausgab, konnte die französische Fassung nicht finden). Die Bolschewiken veröffentlichten viele zentrale diplomatische Dokumente in dem Versuch, die imperialistischen Machenschaften der Großmächte zu diskreditieren, aber sie erschienen in unregelmäßigen Abständen, ohne bestimmte Ordnung und konzentrierten sich generell auf bestimmte Themen wie die russischen Pläne am Bosporus. Einige Dokumente (die genaue Zahl ist nicht bekannt) gingen im Chaos des Bürgerkriegs beim Transport verloren, und die Sowjetunion gab nie eine systematisch zusammengestellte Quellensammlung heraus, die sich mit den britischen, französischen, deutschen und österreichischen Editionen messen konnte.13 Die veröffentlichten Quellen auf russischer Seite sind bis heute alles andere als vollständig.

Die außerordentlich enge Verflechtung der Krise ist ein weiteres Kennzeichen. Die Kubakrise war schon komplex genug, dabei waren nur zwei Hauptakteure daran beteiligt (die USA und die Sowjetunion), sowie eine Reihe von Stellvertretern und untergeordneten Akteuren. Eine Darstellung, wie der Erste Weltkrieg zustande kam, muss hingegen die multilateralen Interaktionen von fünf autonomen, gleichwertigen Akteuren (Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland und Großbritannien) – sechs, wenn man Italien mitzählt – berücksichtigen. Hinzu kommen mehrere strategisch wichtige und ebenso autonome, souveräne Akteure wie das Osmanische Reich und die Staaten auf der Balkanhalbinsel, einer Region, die in den Jahren vor Kriegsausbruch von starken, politischen Spannungen und einer extremen Instabilität geprägt war.

Verkompliziert wird das Ganze durch die Tatsache, dass die politischen Entscheidungsprozesse in den von der Krise betroffenen Staaten häufig alles andere als transparent sind. Man kann in den Ereignissen des Juli 1914 eine »internationale« Krise sehen, ein Begriff, der eine Gruppe von Nationalstaaten impliziert, die man sich als kompakte, autonome, eigenständige Einheiten vorstellen muss, wie Billardkugeln auf einem Tisch. Aber die souveränen Strukturen, die in der Krise die Politik gestalteten, waren ausgesprochen uneinheitlich. Damals herrschte eine Unsicherheit (und unter Historikern besteht sie noch heute), wer innerhalb der verschiedenen Regierungsbehörden denn genau die Macht hatte, den politischen Kurs zu bestimmen; überdies gingen »politische Maßnahmen« (oder zumindest eine Politik fördernde Initiativen der verschiedensten Art) nicht unbedingt vom Zentrum des Systems aus; sie konnten von recht peripheren Orten im diplomatischen Apparat, von militärischen Befehlshabern, von Ministerialbeamten und sogar von Botschaftern ausgehen, die häufig auf eigene Faust Entscheidungsträger waren.

Die erhaltenen Quellen präsentieren uns somit ein Wirrwarr aus Versprechungen, Drohungen, Plänen und Prognosen – genau dies ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass der Kriegsausbruch auf so irritierend vielfältige Weise interpretiert wurde und wird. So gut wie jede Sichtweise der Ursprünge lässt sich anhand einer Auswahl der verfügbaren Quellen belegen. Und das erklärt wiederum zum Teil, weshalb die Literatur zu den »Anfängen des Ersten Weltkriegs« so gigantische Ausmaße erreicht hat, dass kein einziger Historiker (nicht einmal eine Fantasiegestalt, welche alle erforderlichen Sprachen fließend beherrscht) jemals hoffen kann, alle diese Werke zu Lebzeiten zu lesen – schon vor zwanzig Jahren umfasste eine Bibliographie der damaligen Literatur 25000 Bücher und Artikel.14 Manche Darstellungen haben sich ganz auf die Frage der Verantwortung eines schwarzen Schafes unter den europäischen Staaten kapriziert (mit Deutschland als häufigstem Kandidaten, aber keine einzige Großmacht blieb von der Zuweisung der Hauptverantwortung völlig verschont); andere haben die Schuld aufgeteilt oder nach Fehlern im »System« gesucht. Die Frage war stets so aktuell und vielschichtig, dass die Diskussion unablässig weiterging. Und im Kontext der historischen Diskussionen, die sich tendenziell mit den Fragen der Schuld oder der Beziehung zwischen individueller Urheberschaft und strukturellen Zwängen befassten, erstreckt sich ein weites Feld an Kommentaren zu den internationalen Beziehungen, in denen Kategorien wie Abschreckung, Entspannung und Unabsichtlichkeit oder verallgemeinerbare Mechanismen wie Ausbalancieren, Verhandeln und Einreihen in den Vordergrund rücken. Obwohl die Erörterung dieser Frage inzwischen fast hundert Jahre alt ist, besteht kein Grund zu der Annahme, dass sie obsolet ist.15

Auch wenn die Diskussion alt ist, so ist das Thema immer noch aktuell, eigentlich ist es heute sogar aktueller und bedeutsamer als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Die Umbrüche in unserer eigenen Welt haben unsere Sichtweise der Ereignisse von 1914 verändert. Es war einfach, sich die Katastrophe von Europas »letztem Sommer« als ein Kostümspektakel der Ära Eduards VII. vorzustellen. Die verweichlichten Rituale und pompösen Uniformen, der »Ornamentalismus« einer Welt, die immer noch zum großen Teil in erblichen Monarchien organisiert war, hatten eine distanzierende Wirkung auf die heutige Erinnerung. Sie schienen zu signalisieren, dass die Protagonisten Menschen aus einer anderen, untergegangenen Welt waren. Die Vermutung hielt sich hartnäckig, dass die Akteure, wenn sie schon buschige, grüne Straußenfedern auf ihren Hüten trugen, auch entsprechende Gedanken und Motive gehabt haben mussten.16

Dabei muss jedem Leser aus dem 21. Jahrhundert, der den Verlauf der Krise von 1914 aufmerksam verfolgt, deren Aktualität ins Auge springen. Alles fing mit einem Kommando von Selbstmordattentätern und einem Autokorso an. Hinter der Gräueltat von Sarajevo stand eine erklärte Terrororganisation, die einen Opfer-, Todes- und Rachekult pflegte; überdies war diese Organisation extraterritorial und kannte keinen eindeutigen geographischen oder politischen Ort. Sie war in Zellen über politische Grenzen hinweg verstreut, man konnte sie nicht zur Rechenschaft ziehen, zu einer souveränen Regierung unterhielt sie lediglich indirekt und heimlich Kontakte, die für Außenstehende kaum auszumachen waren. Tatsächlich könnte man sogar behaupten, dass die Julikrise 1914 uns heute weniger fremd – weniger unerklärlich – ist als noch in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist an die Stelle des Systems globaler, bipolarer Stabilität ein weit komplexeres und unberechenbareres Gefüge von Kräften getreten, einschließlich einiger Reiche im Niedergang und aufsteigender Mächte – ein Zustand, der zum Vergleich mit der Situation in Europa anno 1914 geradezu einlädt. Dieser Perspektivwechsel veranlasst uns, die Geschichte der Entwicklung zum Krieg neu zu betrachten. Wenn man sich dieser Herausforderung stellt, so heißt das keineswegs, mit aller Gewalt einen banalen Gegenwartsbezug herzustellen, der sich die Vergangenheit so zurechtbastelt, dass sie den Bedürfnissen der Gegenwart entspricht, sondern es geht darum, jene Merkmale der Vergangenheit zu erkennen, auf die wir durch unseren veränderten Standpunkt einen klareren Blick erhalten haben.

Dazu zählt etwa der Balkankontext des Kriegsbeginns. Serbien ist einer der blinden Flecke der Historiographie zur Julikrise. Das Attentat in Sarajevo wird in vielen Darstellungen als reiner Vorwand behandelt, als ein Ereignis ohne großen Einfluss auf die eigentlichen Kräfte, deren Zusammenspiel den Konflikt herbeiführte. In einer ausgezeichneten Studie zum Ausbruch des Krieges 1914 erklären die Autoren: »Die Morde [in Sarajevo] allein lösten nichts aus. Erst die Art und Weise, wie dieses Ereignis ausgenutzt wurde, führte die Nationen in den Krieg.«17 Die Marginalisierung der serbischen und damit der breiteren Balkandimension der Geschichte setzte schon während der Julikrise ein, die als eine Antwort auf die Morde in Sarajevo begann, aber später eine andere Richtung erhielt und in eine geopolitische Phase eintrat, in der Serbien und seine Aktionen eine untergeordnete Rolle spielten.

Auch unser moralischer Kompass hat sich verändert. Die Tatsache, dass ein serbisch dominiertes Jugoslawien als einer der Siegerstaaten aus diesem Krieg hervorging, schien implizit die Tat des Mannes zu rechtfertigen, der am 28. Juni die Schüsse abgab – so sahen es mit Sicherheit die jugoslawischen Behörden, die den Ort des Attentats mit Fußabdrücken aus Bronze und einer Tafel markierten, welche die »ersten Schritte in die Freiheit der Jugoslawen« feierten. In einer Zeit, in der die nationale Idee noch jung und voller Versprechungen war, herrschte intuitiv Sympathie mit dem Nationalismus der Südslawen und wenig Sympathie für die schwerfällige Völkergemeinschaft des Habsburger Reichs. Die Kriege im Ex-Jugoslawien der neunziger Jahre haben uns an die Tödlichkeit des Nationalismus auf dem Balkan erinnert. Seit Srebrenica und der Belagerung Sarajevos fällt es schwerer, Serbien als reines Objekt oder Opfer der Großmachtpolitik zu sehen, stattdessen kann man sich leichter den serbischen Nationalismus als eigene historische Kraft vorstellen. Aus der Sicht der heutigen Europäischen Union betrachten wir den zerfallenen Flickenteppich des habsburgischen Österreich-Ungarn tendenziell mit mehr Sympathie – oder zumindest weniger Verachtung.

Schließlich dürfte heute kaum jemand auf die Idee kommen, die beiden Morde in Sarajevo als ein bloßes Unglück abzutun, das unmöglich gewichtigere Folgen zeitigen konnte. Die Anschläge auf das World Trade Center im September 2001 haben uns exemplarisch vor Augen geführt, inwiefern ein einziges, symbolträchtiges Ereignis – so tief es auch in einem größeren historischen Prozess verwurzelt sein mag – die Politik unwiderruflich verändern kann, indem es bisherige Optionen zunichtemacht und neuen Optionen eine unvorhersehbare Dringlichkeit verleiht. Wenn man Sarajevo und den Balkan wieder in den Mittelpunkt der Geschichte rückt, so heißt das keineswegs, dass die Serben oder ihre Politiker dämonisiert werden, noch entlässt es uns aus der Verpflichtung, die Kräfte zu verstehen, die auf und in den serbischen Politikern, Offizieren und Aktivisten wirkten, deren Verhalten und Entscheidungen nicht zuletzt bestimmten, welche Konsequenzen die Schüsse von Sarajevo haben würden.

Das vorliegende Buch setzt sich zum Ziel, die Julikrise von 1914 als ein modernes Ereignis zu verstehen, als das komplexeste Ereignis der heutigen Zeit, womöglich bislang aller Zeiten. Es befasst sich weniger mit der Frage, warum der Krieg ausbrach, als damit, wie es dazu kam. Die Fragen nach dem Warum und Wie sind logisch untrennbar miteinander verbunden, aber sie führen uns in verschiedene Richtungen. Die Frage nach dem Wie fordert uns auf, die Abfolge der Interaktionen näher zu untersuchen, die bestimmte Ergebnisse bewirkten. Hingegen lädt uns die Frage nach dem Warum ein, nach fernen und nach Kategorien geordneten Ursachen zu suchen: Imperialismus, Nationalismus, Rüstung, Bündnisse, Hochfinanz, Vorstellungen der nationalen Ehre, Mechanismen der Mobilisierung. Der »Warum-Ansatz« bringt zwar eine gewisse analytische Klarheit, aber er hat auch einen verzerrenden Effekt, weil er die Illusion eines ständig wachsenden Kausaldrucks erzeugt. Die Faktoren türmen sich auf und drücken auf die Ereignisse; politische Akteure werden zu reinen ausführenden Organen der Kräfte, die sich längst etabliert haben und ihrer Kontrolle entziehen.

In der Geschichte, die dieses Buch erzählt, bestimmen handlungsfähige und -bereite Entscheidungsträger das Bild. Diese Entscheidungsträger (Könige, Kaiser, Außenminister, Botschafter, Militärs und eine Fülle kleinerer Beamter) bewegten sich mit behutsamen, wohlberechneten Schritten auf die Gefahr zu. Der Ausbruch des Krieges war der Höhepunkt in einer Kette von Entscheidungen, die von politischen Akteuren mit bewussten Zielen getroffen wurden. Diese Akteure waren bis zu einem gewissen Grad der Selbstreflexion fähig, sie erkannten eine Auswahl von Optionen und bildeten sich auf der Basis der besten Informationen, die ihnen vorlagen, ein Urteil. Nationalismus, Rüstung, Bündnisse und Hochfinanz waren allesamt Teil der Geschichte, aber man kann ihnen lediglich dann eine echte erklärende Bedeutung beimessen, wenn man aufzeigen kann, dass sie Entscheidungen beeinflussten, die – zusammengenommen – den Krieg ausbrechen ließen.

Ein bulgarischer Historiker der Balkankriege stellte unlängst treffend fest: »Sobald wir die Frage ›warum‹ stellen, wird Schuld zum Brennpunkt.«18 Fragen nach der Schuld und Verantwortung für den Kriegsausbruch flossen schon vor Beginn des Krieges in diese Geschichte ein. Der gesamte Quellenbestand steckt voller Schuldzuschreibungen (denn es ist eine Eigenart dieser Krise, dass alle Handelnden dem Gegner aggressive Absichten unterstellten und sich selbst defensive Intentionen bescheinigten), und das Urteil, das Artikel 231 des Friedensvertrags von Versailles enthält, hat dafür gesorgt, dass die »Kriegsschuldfrage« weiterhin aktuell ist. Auch hier legt der Fokus auf dem Wie eine alternative Vorgehensweise nahe: eine Reise durch die Ereignisse, die nicht von der Notwendigkeit getrieben wird, eine Anklageschrift gegen diesen oder jenen Staat oder diese oder jene Person zu schreiben, sondern sich zum Ziel setzt, die Entscheidungen zu erkennen, die den Krieg herbeiführten, und die Gründe und Emotionen zu verstehen, die dahintersteckten. Das heißt nicht, dass die Frage nach der Verantwortung ganz aus der Diskussion ausgeklammert wird – nach Möglichkeit sollen die Antworten auf die Warum-Frage jedoch aus den Antworten auf Fragen nach dem Wie erwachsen, statt umgekehrt.

Dieses Buch erzählt, wie der Krieg nach Europa kam. Es zeichnet die Pfade zum Krieg in einem mehrschichtigen Narrativ nach, das die wichtigsten Entscheidungszentren in Wien, Berlin, St. Petersburg, Paris, London und Belgrad umfasst, mit kurzen Exkursionen nach Rom, Konstantinopel und Sofia. Es ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil konzentriert sich auf die beiden Antagonisten Serbien und Österreich-Ungarn, deren Streit den Konflikt auslöste. Er zeichnet ihre Interaktionen bis zum Vorabend der Morde in Sarajevo nach. Teil II unterbricht den erzählerischen Ansatz und geht in vier Kapiteln vier Fragen auf den Grund: Wie kam die Polarisierung Europas in entgegengesetzte Bündnisblöcke eigentlich zustande? Wie gestalteten die Regierungen der europäischen Staaten die Außenpolitik? Wie kam es, dass der Balkan – eine Randzone fernab von den europäischen Zentren der Macht und des Geldes – zum Schauplatz einer so gigantischen Krise wurde? Wie brachte ein internationales System, das allem Anschein nach in eine Phase der Entspannung eintrat, einen allgemeinen Krieg hervor? Teil III beginnt mit dem Attentat in Sarajevo und schildert die Julikrise selbst, wobei die Wechselbeziehungen zwischen den wichtigen Entscheidungszentren untersucht und die Kalkulationen, Missverständnisse und Entscheidungen ans Licht gebracht werden, welche die Krise in die nächste Phase eintreten ließen.

Eine zentrale These dieses Buches lautet, dass man die Ereignisse vom Juli 1914 nur dann verstehen kann, wenn man die Wege, welche die Hauptentscheidungsträger beschritten, beleuchtet und ihre Sicht der Ereignisse schildert. Dazu genügt es allerdings nicht, einfach die Abfolge der internationalen »Krisen« Revue passieren zu lassen, die dem Kriegsausbruch vorausgingen – wir müssen uns vor Augen führen, wie jene Ereignisse empfunden und in Narrative eingewoben wurden, welche die Wahrnehmungen prägten und Verhalten motivierten. Warum verhielten sich jene Männer, deren Entscheidungen Europa in den Krieg führten, ausgerechnet so und sahen die Dinge auf diese Weise? Wie lassen sich das Gefühl der Angst und die dunklen Vorahnungen, die einem in so vielen Quellen begegnen, in Einklang bringen mit der Arroganz und Prahlerei, auf die wir stoßen – häufig zum Ausdruck gebracht von ein und derselben Person? Warum spielten so exotische Besonderheiten der Vorkriegszeit wie die albanische Frage und das »bulgarische Darlehen« eine so große Rolle, und wie trafen sie in den Köpfen jener Personen, die die politische Macht innehatten, aufeinander? Als die Entscheidungsträger über die internationale Lage oder externe Bedrohungen diskutierten, sahen sie da die Realität oder projizierten sie ihre eigenen Ängste und Wünsche auf ihre Widersacher, oder beides? So anschaulich wie möglich sollen hier die überaus dynamischen »Entscheidungspositionen« rekonstruiert werden, die von den Hauptakteuren im Vorfeld und während des Sommers 1914 eingenommen wurden.

In einer der interessantesten jüngeren Publikationen über diesen Krieg wird die These aufgestellt, dass er nicht nur keineswegs unvermeidlich, sondern tatsächlich »unwahrscheinlich« gewesen sei – zumindest bis zu seinem Ausbruch.19 Daraus würde folgen, dass der Konflikt nicht die Konsequenz einer langfristigen Verschlechterung der Beziehungen war, sondern kurzfristiger Erschütterungen des internationalen Systems. Ob man diese Anschauung nun teilt oder nicht, sie hat den Vorteil, dass sie das Element des Zufalls in das Geschehen einbringt. Und es trifft mit Sicherheit zu, dass manche Entwicklungen, die ich hier untersuche, zwar unmissverständlich in die Richtung der tatsächlichen Ereignisse von 1914 weisen, dass andere Vektoren des Wandels vor dem Krieg aber auch auf Ergebnisse hindeuten, die schließlich nicht Realität wurden. Dies im Hinterkopf, möchte ich in diesem Buch zeigen, wie die einzelnen Puzzleteilchen der Kausalität zusammenkamen, die, sobald sie an Ort und Stelle lagen, den Kriegsausbruch ermöglichten. Allerdings möchte ich dabei den Ausgang nicht allzu sehr im Voraus festlegen. Ich habe versucht, mir stets vor Augen zu halten, dass die in diesem Buch beschriebenen Menschen, Ereignisse und Kräfte in sich den Keim für andere, vielleicht nicht ganz so schreckliche Zukünfte trugen.

1 Zitiert in David Fromkin, Europe’s Last Summer. Who Started the Great War in 1914?, New York 2004, S. 6 (deutsch: Europas letzer Sommer. Die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg, München 2005, S. 16 f.).

2 Das deutsche Auswärtige Amt förderte die Aktivitäten des Arbeitsauschusses Deutscher Verbände, der die Koordination der Kampagne gegen die Kriegsschuld übernommen hatte, und unterstützte inoffiziell eine mit Gelehrten besetzte Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen; siehe Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, insb. S. 95–117; Sacha Zala, Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlung im internationalen Vergleich, München 2001, insb. S. 57–77; Imanuel Geiss, »Die manipulierte Kriegsschuldfrage. Deutsche Reichspolitik in der Julikrise 1914 und deutsche Kriegsziele im Spiegel des Schuldreferats des Auswärtigen Amtes, 1919–1931«, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 34 (1983), S. 31–60.

3 Barthou an Martin, Brief vom 3. Mai 1934, zitiert in Keith Hamilton, »The Historical Diplomacy of the Third Republic«, in: Keith M. Wilson (Hg.), Forging the Collective Memory. Government and International Historians through Two World Wars, Providence, Oxford 1996, S. 29–62, hier S. 45; zur französischen Kritik an der deutschen Edition siehe beispielsweise E. Bourgeois, »Les archives d’État et l’enquête sur les origines de la guerre mondiale. À propos de la publication allemande: Die grosse Politik d. europ. Kabinette et de sa traduction française«, in: Revue historique, 155 (Mai–August 1927), S. 39–56. Bourgeois warf den deutschen Herausgebern vor, die Quellenedition in einer Weise zu gestalten, die taktisch bedingte Lücken im Quellenbestand verschleiere; eine Erwiderung des deutschen Herausgebers findet sich unter Friedrich Thimme, »Französische Kritiken zur deutschen Aktenpublikation«, in: Europäische Gespräche, 8/9 (1927), S. 461–479.

4 Ulfried Burz, »Austria and the Great War. Official Publications in the 1920s and 1930s«, in: Wilson (Hg.), Forging the Collective Memory, S. 178–191, hier S. 186.

5 J.-B. Duroselle, La grande guerre des Français, 1914–1918: L’incompréhensible, Paris 1994, S. 23–33; J. F. V. Keiger, Raymond Poincaré, Cambridge 1997, S. 194 f.

6 Keith M. Wilson, »The Imbalance in British Documents on the Origins of the War, 1898–1914. Gooch, Temperley and the India Office«, in: ders. (Hg.), Forging the Collective Memory, S. 230–264, hier S. 231; siehe auch im selben Band Wilsons »Introduction. Governments, Historians and ›Historical Engineering‹«, S. 1–28, insb. S. 12 f.

7 Bernhard Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente. Zehn Jahre Kriegsschuldforschung und ihr Ergebnis, Berlin 1929. Allgemeiner zu diesem Problem siehe Zala, Geschichte unter der Schere, insb. S. 31–36, 47–91, 327–338.

8 Theobald von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, 2 Bde., Berlin 1919, insb. Bd. 1, S. 113–184; Sergei Dmitrievich Sazonov, Les Années fatales, Paris 1927 (deutsch: Sergej Sasonow, Sechs schwere Jahre, Berlin 1927); Raymond Poincaré, Au service de la France – neuf années de souvenirs, 10 Bde., Paris 1926–1933, insb. Bd. 4: L’Union sacrée, S. 163–431. Eine ausführlichere, aber nicht unbedingt erhellendere Erörterung der Krise durch den ehemaligen Präsidenten findet sich in den Äußerungen, die René Gerin dokumentierte: René Gerin, Les responsabilités de la guerre: quatorze questions, par René Gerin … quatorze réponses, par Raymond Poincaré, Paris 1930.

9 Edward Viscount Grey of Fallodon, Twenty-Five Years: 1892–1916, London 1925 (deutsch: Fünfundzwanzig Jahre Politik, 1892–1916. Memoiren in 2 Bänden, München 1926).

10 Bernadotte Everly Schmitt, Interviewing the Authors of the War, Chicago 1930.

11 Ebenda, S. 11.

12 Luigi Albertini, The Origins of the War of 1914, 3 Bde., Oxford 1953, Bd. 2, S. 40; Magrini arbeitete im Auftrag des italienischen Historikers Luigi Albertini.

13 Derek Spring, »The Unfinished Collection. Russian Documents on the Origins of the First World War«, in: Wilson (Hg.), Forging the Collective Memory, S. 63–86.

14 John W. Langdon, July 1914: The Long Debate, 1918–1990, Oxford 1991, S. 51.

15 Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen, an dieser Stelle eine Auswahl aus der Literatur zu nennen. Eine hilfreiche Diskussion der Debatte und ihrer Geschichte bieten John A. Moses, The Politics of Illusion. The Fischer Controversy in German Historiography, London 1975; Annika Mombauer, The Origins of the First World War: Controversies and Consensus, London 2002; W. Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914–1980, Göttingen 1984; Langdon, The Long Debate; ders., »Emerging from Fischer’s Shadow: Recent Examinations of the Crisis of July 1914«, in: The History Teacher, Bd. 20, Nr. 1 (Nov. 1986), S. 63–86; James Joll, »The 1914 Debate Continues: Fritz Fischer and His Critics«, in: Past & Present, 34/1 (1966), S. 100–113 und die Antwort darauf in S. H. S. Hatton, »Britain and Germany in 1914: The July Crisis and War Aims«, in: Past & Present, 36/1 (1967), S. 138–143; Konrad H. Jarausch, »Revising German History. Bethmann Hollweg Revisited«, in: Central European History, 21/3 (1988), S. 224–243; Samuel R. Williamson und Ernest R. May, »An Identity of Opinion. Historians and July 1914«, in: Journal of Modern History, 79/2 (Juni 2007), S. 335–387; Jay Winter und Antoine Prost, The Great War in History. Debates and Controversies, 1914 to the Present, Cambridge 2005.

16 Zum »Ornamentalismus« siehe David Cannadine, Ornamentalism. How the British Saw Their Empire, London 2002; ein ausgezeichnetes Beispiel für die distanzierende »Welt von früher«-Haltung gegenüber der Welt von 1914 bietet Barbara Tuchman, Proud Tower. A Portrait of the World before the War, 1890–1914, London 1966 und dies., August 1914, London 1962.

17 Richard F. Hamilton und Holger Herwig, Decisions for War 1914–1917, Cambridge 2004, S. 46.

18 Swetoslaw Budinow, Balkanskite Woini (1912–1913). Istoritscheski predstawi w sistemata na nautschno-obresowatelnata komunikatsia, Sofia 2005, S. 55.

19 Siehe insb. Holger Afflerbach, »The Topos of Improbable War in Europe before 1914«, in: ders. und David Stevenson (Hg.), An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914, Oxford 2007, S. 161–182, sowie die Einführung der Herausgeber zum selben Band, S. 1–17.

TEIL I WEGE NACH SARAJEVO

KAPITEL 1 Serbische Schreckgespenster

Mord in Belgrad

Kurz nach zwei Uhr morgens am 11. Juni 1903 näherten sich 28 Offiziere der serbischen Armee dem Haupteingang des Königspalastes in Belgrad.20 Nach einem Schusswechsel wurden die Wachen vor dem Gebäude verhaftet und entwaffnet. Mit den Schlüsseln, die sie dem befehlshabenden Offizier abnahmen, drangen die Verschwörer in die Empfangshalle ein und begaben sich zu den königlichen Schlafgemächern. Eilig rannten sie die Stufen hoch und die Korridore entlang. Als die Verschwörer feststellten, dass die königlichen Gemächer von einer schweren Eichentür versperrt waren, sprengten sie die Tür mit einer Schachtel Dynamit auf. Die Sprengladung war so stark, dass die Flügel aus den Angeln gerissen und quer durch das Vorzimmer geschleudert wurden. Der Adjutant des Königs, der hinter der Tür gestanden hatte, wurde tödlich getroffen. Die Detonation ließ darüber hinaus im Palast den Strom ausfallen, sodass es im ganzen Gebäude stockfinster wurde. Die Eindringlinge ließen sich davon nicht abhalten, entdeckten in einem Nachbarzimmer ein paar Kerzen und stürmten weiter. Als sie das Schlafzimmer erreichten, waren König Alexander und Königin Draga nicht mehr dort. Aber der französische Roman, den die Königin gelesen hatte, lag aufgeschlagen mit den Seiten nach unten auf dem Nachttisch. Jemand berührte die Laken und spürte, dass das Bett noch warm war – offenbar hatte das Paar es erst vor kurzem verlassen. Nachdem die Eindringlinge vergeblich das Schlafzimmer durchsucht hatten, durchkämmten sie mit Kerzen und gezogenem Revolver in den Händen den ganzen Palast.

Während die Offiziere von Zimmer zu Zimmer zogen und auf Schränke, Wandteppiche und andere potenzielle Verstecke schossen, kauerten König Alexander und Königin Draga im ersten Stock in einem winzigen Anbau zur Schlafkammer, wo die Dienstmädchen der Königin in der Regel ihre Kleider bügelten und stopften. Fast zwei Stunden dauerte die Suche. Der König nutzte diese Pause, um sich so leise wie möglich eine Hose und ein rotes Seidenhemd anzuziehen; er wollte nicht, dass seine Feinde ihn nackt fanden. Der Königin gelang es derweil, sich mit einem Unterrock, einem Korsett aus weißer Seide und einem einzigen gelben Strumpf notdürftig zu bekleiden.

Unterdessen wurden in der Stadt weitere Opfer aufgetrieben und getötet: Die beiden Brüder der Königin, die allgemein verdächtigt wurden, Ränke gegen den serbischen Thron zu schmieden, wurden aus dem Haus ihrer Schwester in Belgrad gejagt und »zu einer Wache in der Nähe des Palastes gebracht, wo sie beschimpft und barbarisch niedergemacht wurden«.21 Auch in die Wohnungen des Regierungschefs Dimitrije Cincar-Marković und des Kriegsministers Milovan Pavlović drangen Attentäter ein. Beide wurden umgebracht; auf Pavlović, der sich in einer Holzkiste versteckt hatte, wurden 25 Schüsse abgegeben. Innenminister Belimir Theodorović wurde angeschossen und irrtümlich für tot gehalten, erholte sich später aber von seinen Wunden; andere Minister wurden unter Arrest gestellt.

Im Palast wurde der loyale erste Adjutant des Königs, Lazar Petrović, den man nach einem Schusswechsel entwaffnet und gefasst hatte, von den Verschwörern durch die dunklen Zimmer geführt und gezwungen, den König von jeder Tür aus zu rufen. Als sie zu einer zweiten Suche in die Schlafkammer zurückkehrten, entdeckten sie schließlich hinter dem Wandteppich einen versteckten Eingang. Ein Angreifer schlug vor, kurzerhand die Wand mit einer Axt einzuschlagen. Da erkannte Petrović, dass das Spiel aus war, und erklärte sich bereit, den König aufzufordern, sein Versteck zu verlassen. Hinter der Täfelung fragte der König nach, wer denn rufe, worauf der Adjutant antwortete: »Ich bi’s, Euer Laza, öffnet Euren Offizieren die Tür!« Der König erwiderte: »Kann ich mich auf den Eid meiner Offiziere verlassen?« Die Verschwörer antworteten zustimmend. Einer Version zufolge erschien der König, vor Angst zitternd, die Brille auf der Nase und notdürftig mit dem roten Hemd bekleidet, in seinen Armen die Königin. Das Paar wurde in einem Kugelhagel aus nächster Nähe niedergeschossen. Petrović, der einen versteckten Revolver in einem aussichtslosen Versuch zog, seinen Herrn zu schützen (zumindest wurde das später behauptet), wurde ebenfalls getötet. Es folgte eine Orgie sinnloser Gewalt. Die Leichen wurden, laut der späteren Aussage des traumatisierten, italienischen Barbiers des Königs, dem man den Befehl erteilte, die Körper abzuholen und sie für das Begräbnis einzukleiden, mit Säbeln zerstochen, mit einem Bajonett aufgerissen, teilweise ausgenommen und mit einer Axt zerhackt, bis sie zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren. Der Leichnam der Königin wurde zum Geländer des Schlafzimmerfensters geschleppt und, so gut wie nackt und völlig blutverschmiert, in den Garten geworfen. Als die Mörder versuchten, mit Alexander ebenso zu verfahren, schloss sich dem Vernehmen nach eine Hand des Königs für einen Moment um das Geländer. Ein Offizier hackte die Faust mit einem Säbel durch. Die einzelnen Finger und der Körper des Monarchen fielen zu Boden. Als sich die Attentäter im Garten versammelt hatten, um eine Zigarette zu rauchen und ihr Zerstörungswerk zu inspizieren, fing es an zu regnen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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