Die Schrift in Flammen - Miklós Bánffy - E-Book

Die Schrift in Flammen E-Book

Miklós Bánffy

4,9

Beschreibung

Luxuriöse Bälle und große Jagden auf prächtigen Landschlössern, Affären in Budapester Palais, Duelle im Morgengrauen, Intrigen im Parlament: sie bilden den Hintergrund dieses Romans, der die untergehende Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der beiden jungen Grafen Bálint Abády und László Gyeroffy schildert. Das Buch erzählt vom Versagen der herrschenden Schichten und entwirft ein Gesellschaftsbild vom Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie. Dieser erste Band der "Siebenbürger Geschichte“ wurde vor dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn publiziert, kürzlich wiederentdeckt und erscheint jetzt erstmals auf Deutsch.

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Zsolnay eBook

Miklós Bánffy

Die Schrift in Flammen

Roman

Aus dem Ungarischen und

mit einem Nachwort von

Andreas Oplatka

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 1934

unter dem Titel »Megszámláltattál«.

»Die Schrift in Flammen« ist der

erste Teil der Siebenbürger Geschichte.

ISBN 978-3-552-05568-1

Original text © Miklós Bánffy 1934

First published in Great Britain 1999

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

… Im Königsschloss schmausten sie üppig,

tanzten und tranken viel Wein. Und

ein jeder pries seine aus Gold, Silber,

Kupfer, Stein, Holz oder Lehm

geschaffenen Götter, und sie verspotteten

einander oder stritten ihretwegen.

In gleicher Stunde erschienen an der

Palastmauer die Finger einer feurigen

Menschenhand und begannen an die

Steine zu schreiben. Sie malten die

Zeichen der Schrift langsam, bis endlich

dort die Worte glänzten: Du wurdest

gewogen …

Die Schrift aber erblickte keiner, da sie

berauscht waren vom Wein und vom Zorn

und da sie stritten wegen ihrer aus Gold,

Silber, Kupfer, Stein, Holz oder Lehm

geschaffenen Götter …

Erster Teil

I.

Ein schöner, sonniger Nachmittag Anfang September. Das Licht ist so strahlend, dass die eine oder andere Lerche, vom Glanz trunken, immer wieder auffliegt, hinauf in den gleißenden Himmel, dort für einige Augenblicke mit ihren kleinen Schwingen schlägt, um dann aus der Höhe Kopf voran hinunterzutauchen, über dem Boden vorbeizustreichen und abermals aufzusteigen – stets von neuem. Sie glaubt wohl, es sei immer noch Sommer.

Doch ist tatsächlich alles noch grün. Die gelben Streifen der Stoppelfelder werden von der wuchernden Vogelhirse mit grünlicher Glasur überzogen, von kleinen, zitternden, resedafarbenen Ähren bestreut, unter denen hier und dort ein verspäteter Klatschmohn sich karmesinrot emporstreckt.

Auf den sanften Hügeln den Maros entlang, die sich auf der einen Seite bis zur breiten Landstraße hin senken und rechts, auf der anderen, jenseits der Wiese, sich bauchig blähen – auch dort sind die vielen Obstbäume und der zuoberst den Grat krönende Wald grün. Noch meldet nichts den nahenden Herbst, nur die überreif weichen Früchte der Spindelbäume heften orange Tropfen in das leicht welkende Laub, und einzig die Blutbuchensträucher spielen ins Rötliche.

Die Landstraße zwischen der morastigen Wiese und den Hügelflanken ist schneeweiß vom Staub, der am Rande des Straßengrabens auch den Hasenlattich und die Melde überstreut, die Kelchblätter der Dorngewächse gefüllt und die sich flach entfaltenden Schaufeln der Disteln bedeckt hat.

Heute ist Sonntag, der Verkehr auf der Straße war zur Mittagszeit dennoch groß. Viele Wagen strebten eilig Vásárhely zu, unter ihnen auch viele ratternde Einspänner-Bauernfuhrwerke. Denn es gab heute einen großen Tag in der Stadt, ein bedeutendes Ereignis: Es fand ein Pferderennen statt. Dorthin waren alle unterwegs gewesen und ließen große Staubwolken hinter sich aufsteigen.

Nun herrscht Stille. Jetzt, am Nachmittag, fährt ein einziger Wagen, eine von drei Pferden gezogene Mietkutsche, auf dieser Straße, die von Marosvásárhely ostwärts über den Vácmán nach Balavásár führt und nach der Abzweigung links gegen Nyárádszereda.

In der alten Droschke des Fiakers von Vásárhely sitzt, ruhig zurückgelehnt, ein junger Herr: Bálint Abády, ein schlanker Mann von mittlerem Wuchs. Er trägt einen langen, rohseidenen, bis zum Kinn zugeknöpften Staubmantel. Den Hut hat er abgelegt, einen jener breitrandigen Filzhüte, die damals nach dem Burenkrieg in Mode gekommen waren. In sein gelocktes, dunkelblondes Haar steckt der Sonnenschein rötliche Lichter. Mag er auch ein Blondkopf sein mit hellen Augen, so ist er doch ein charakteristisch östlicher Menschentyp: eine leicht zurückweichende, stark gewölbte Stirn, breite Backenknochen, sich nach oben ziehende Augenwinkel.

Er kommt nicht vom Pferderennen, sondern von der Eisenbahnstation und ist unterwegs zu Jenő Laczók in Vársiklód, wo es nach dem Wettrennen eine große Zusammenkunft und am Abend einen Ball geben wird.

Er war mit dem Drei-Uhr-Zug von Dénestornya angekommen. Er reiste mit dem Zug, obwohl seine Mutter ihm eines ihrer Gespanne angeboten hatte. Der junge Mann hörte aber aus ihrer Stimme heraus, dass sie ihr Angebot zwar guten Herzens machte, sich aber trotzdem gefreut hätte, sollte er die Reise nicht mit den ihr so teuren Pferden machen, die sie in ihrem alten, berühmten Gestüt alle selber gezüchtet hatte und so liebte, als wären auch sie alle ihre Kinder. Er wusste wohl, wie sehr sie um sie besorgt war, sie vor Strapazen und Erkältung, vor fremden Ställen und der Bösartigkeit anderer Pferde behütete. Da er also das Gemüt der Mutter kannte, sagte er ihr, er nehme lieber den Personenzug, es wäre von hier, von Dénestornya, zu viel für eine Kutschenfahrt über Vásárhely hinaus – wo ein Pferderennen im Gange ist – bis zum Feld von Szent-György, das sei wohl um die fünfzig Kilometer, von dort dann wieder zurück in die Stadt und hinaus zu den Laczóks, auch das komme auf zehn bis fünfzehn Kilometer – man müsste ausspannen, in einem Wirtshaus füttern lassen – nein, das lohne sich nicht, er nehme eher den Personenzug am Nachmittag. So werde er schon früh zur Stelle sein, und bestimmt würden sich auch Politiker dort versammeln, die er kennenlernen und mit denen er manches besprechen wolle.

»Gut, mein Sohn, wenn dir das lieber ist, obwohl du weißt, nicht wahr, dass ich dir die Pferde gern gegeben hätte«, erwiderte die Mutter, doch sichtlich erfreut, dass er das Angebot ausgeschlagen hatte.

So setzte er nun die Reise unter Schellengebimmel in der Fuhrmannskutsche langsam in Richtung von Siklód fort.

In Tat und Wahrheit ist es angenehm, so gemächlich trottend auf dieser verlassenen, langen Straße dahinzufahren, zuzuschauen, wie sich der Staub hinter dem Wagen erhebt und ihn wie ein Schleiervorhang begleitet. Zu beobachten, wie er zögernd den Heuwiesen zuschwebt, wo im neu sprießenden Gras wiederkäuende Kühe liegen und mit Augen, als wären sie Rehe, verträumt zum bimmelnden Gefährt auf der Straße herüberblicken.

Es ist schön, so still die Strecke zurückzulegen und sich dem eigenen Gefühl zu überlassen, dass er nach so vielen Jahren wieder zu Hause, in Siebenbürgen ist; schön, sich langsam dem Treffen zu nähern, bei dem sich so viele alte Bekannte versammeln werden.

Nach der Maturitätsprüfung, die er 1895 im Theresianum abgelegt hatte, studierte er einige Jahre an der Universität von Klausenburg und erwarb hier den Doktortitel. Hernach allerdings hielt er sich wieder in der Ferne auf, bereitete sich zuerst in Wien auf das Diplomatenexamen vor und diente anschließend – nach seinem Freiwilligenjahr – zwei Jahre lang im Ausland als Attaché.

Dann wurde der Wahlkreis von Lélbánya vakant. Man bot ihm das zwischenzeitliche Mandat an. Das traf sich gut. Es war besser, den Auslandsdienst zu quittieren, in dem es auf eine Entlohnung während Jahren keine Aussicht gab und kaum eine Möglichkeit, für die vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen aufzukommen aus der kargen Unterstützung, welche die Mutter ihm zukommen ließ.

Er wusste, dass ihr das schwer fiel. Es fiel ihr schwer, obwohl sie beträchtliche Güter besaß – etwa sechzehntausend Joch Tannenforst unter dem Vlegyásza, dreitausend Joch »Kanaan-Äcker« in Dénestornya, im Winkel der Flüsse Maros und Aranyos, einige Zwerggüter hier und dort, darunter auch in Lélbánya, drei Viertel des Sees – sie hatte trotzdem niemals Geld, sosehr die Ärmste sich auch um Sparsamkeit bemühte. Es war besser, nach Hause zu kommen, wo sich auch mit kleineren Ausgaben sorglos leben ließ und wo er dank seinen Studien und Erfahrungen im Ausland vielleicht nützlich werden konnte.

So kam es, dass er dieses Jahr, als er im Frühling 1904 bei der Mutter in Urlaub weilte und der Obergespan von Marostorda ihn in Dénestornya besuchte mit der Anfrage, ob er das herrenlos gewordene Mandat von Lélbánya annehmen würde, dass er da – nach kurzem Zögern – das Angebot annahm. Er machte einzig zur Bedingung, dass er mit einem parteilosen Programm auftreten wolle. Den unheilvollen Parteienkampf, der damals im ungarischen Parlament schon seit 1902 im Gange war und bereits zwei Regierungen weggefegt hatte, kannte er zwar nur entfernt aus der Zeitungslektüre, er fand aber selbst aus der Ferne den Gedanken ganz abstoßend, sich einer Parteidisziplin und Parteileidenschaften unterordnen zu müssen.

Dem Obergespan war das gleichgültig. Er billigte die Parteilosigkeit bereitwillig, sofern der andere auf der 67-er Grundlage stand. Ihm lag einzig daran – doch das verriet er mit keinem Wort –, dass kein Kandidat der Opposition den Sitz erhalten sollte. Und auch nicht irgendein Fremder wie das letzte Mal, als der Wahlkreis in Budapest von den lokalen politischen Werbern und Agenten feilgeboten wurde, als befände man sich auf einer Auktion. Denn Lélbánya galt als ein kleiner, verrotteter Zwergkreis. Die einst freie königliche Stadt hatte ihr Recht behalten, einen Abgeordneten zu entsenden. Heute war sie nur noch eine Feldstadt mit kaum dreihundert Wählern, die, in zwei bis drei Gruppierungen vereint, es immer verstanden, aus der Hauptstadt den einen oder anderen ehrgeizigen Geldsack als Kandidaten für sich zu gewinnen; den molken und erpressten sie bis zum letzten Tag, jagten ihm Angst ein, indem sie aufeinander zeigten sowie auf einen großmäuligen 48-er, den sie ohne jede Überzeugung nur zu diesem Zweck gegen ihn auftreten ließen. Einmal kam es sogar vor, dass sie in letzter Minute, nachdem der Geldsack die Zahlerei satthatte, aus Rache und zur Schande des Komitats den unechten Kandidaten wählten.

Bei der Kandidatur Abádys konnte allerdings nichts schiefgehen. Das Bergwerk des Städtchens hatte man längst geschlossen, der Boden rundherum war lauter schlechte, saure Erde, und die Bevölkerung lebte vor allem vom Schilf am See, der den Abádys gehörte. Gegen dessen Eigentümer konnte nicht einmal der geldgierigste Hauptwahlwerber etwas ins Werk setzen, denn sollte das Schilf irgendeinem Unternehmer verkauft werden, dann dürften die »Bürger« womöglich betteln gehen.

Über das alles verlor der Obergespan dem jungen Mann gegenüber freilich kein Wort. Er sprach mit ihm über allgemeine Dinge, machte schöne Sprüche über die Pflicht, den Patriotismus und eine hohe Berufung. Vor der verwitweten Frau Abády ließ er gespielt gutmütig und mit berechnender Schlauheit aufblitzen, um wie viel besser es sei, wenn ihr Sohn zu Hause, im Land und bei ihr bleibe, dass es auch einen Abgeordnetenlohn gebe, zwar nicht viel, aber immerhin etwas, und dass die Wahl gewiss einstimmig erfolgen werde und nichts koste. Erst nachdem die Überredung Erfolg gezeitigt hatte, machte er einen Abstecher zu Kristóf Ázbej, dem Gutsverwalter der Gräfin. In dessen Haus sagte er auch nur so viel, dass es sich empfehlen werde, jemanden nach Lélbánya zu schicken, durch ihn ziemlich öffentlich die in diesem Herbst erwartete Schilfernte schätzen zu lassen und die Nachricht in Umlauf zu setzen, man plane irgendeine Änderung in der bisherigen Verkaufsordnung. Sollen doch die widerborstigen Kleinstädter Angst bekommen.

So geschah es denn auch, und Bálint Abády hatte damals keine Ahnung, warum seine Wähler ihn mit so großem Jubel hochleben ließen.

Er ahnte allgemein wenig von den unreinen Beziehungen des Lebens. Vielleicht lag das an seiner Natur, vielleicht hatte auch seine Erziehung dazu beigetragen. Acht lange Jahre seiner Kindheit verbrachte er in der geschlossenen und vornehmen Anstalt des Theresianums und die Ferienzeit jeweils auf dem Lande, im Schloss von Dénestornya. Die paar Universitätsjahre, der Diplomatenkurs und die wechselnden Stationen des Auslandsdienstes führten später auch nichts anderes vor als die Oberfläche des Lebens. Irgendwie hatte er bisher in Treibhausluft gelebt, in einer leicht künstlichen, etwas isolierten Atmosphäre, wo die menschliche Gemeinheit, die Selbstsucht und die Habgier Masken trugen und es schärferer, geübterer Augen bedurfte, um sie zu erkennen.

Zurückgelehnt im alten Landauer des Droschkenkutschers dachte Bálint jetzt einzig daran, dass er wieder zu Hause war, dass er endgültig zu Hause bleiben werde, und er begann unsicher Pläne zu entwerfen, wie er hierzulande seine im Ausland gesammelten Kenntnisse nützlich anwenden könnte. In Deutschland war er Formen des Genossenschaftswesens begegnet sowie Institutionen des Heimstättengesetzes, dem Fideikommiss-Schutz des bäuerlichen Guts. Darüber hatte er vor seinen Wählern bereits gesprochen. Diesen Gedanken hing er jetzt nach, tat dies aber nicht gerade entschlossen – die Landschaft war hierfür doch allzu lieblich, das sonnige Wetter viel zu schön und auch das Himmelsgewölbe zu blau.

Er wurde von einer geschlossenen Kutsche, die ihn allmählich eingeholt hatte, in seinen Gedanken gestört. Es war ein altmodischer Reisewagen, dessen hochgezogene Glasfenster ununterbrochen rhythmisch klirrten. Zwei alte, grobknochige Braune hatte man eingespannt, Pferde mit großen Bäuchen, vielleicht waren beide trächtig, oder sie mochten außer Stroh nichts vorgesetzt bekommen. Ein alter Kutscher saß auf dem Bock dieser vorsintflutlichen Kutsche; gekleidet war er in einen sehr verbleichten, doch mit Tressen geschnürten, bis zur Sohle reichenden kirschfarbenen Mantel – der ungarischen Kutscherkleidung der sechziger Jahre –, und auf dem Kopf trug er einen ausgedienten, runden Hut, dessen Straußenfeder nur noch aus einigen Flaumbüscheln bestand. Wie eine Sichel, so krumm saß der Alte da und nickte ohne Unterlass mit dem Kopf, als wollte er den Pferden ständig ein Ja andeuten.

Nun schloss die Kutsche zum Fiaker auf. Auf dem Vordersitz hinter den hermetisch geschlossenen Fenstern saß ein junges Kindermädchen mit einem großen Korb auf dem Schoß, und auf den hinteren Kissen hatte eine winzige, zusammengeschrumpfte Greisin Platz genommen.

Bálint erkannte sie gleich und grüßte. Die alte Frau blickte aber nicht zu ihm herüber, sondern sah blinzelnd, mit faltigen Augendeckeln vor sich hin, über den Kopf der Dienerin hinweg, weit ins Nichts, während sie den Mund gespitzt hielt, als pfiffe sie fortwährend. Die alte Frau Sarmasághy. Tante Lizinka, wie jedermann sie nannte, war sie doch über ihre vielen Brüder tatsächlich die Tante von beinahe allen, von zwei ganzen Generationen. Bei ihrem Anblick wurden plötzlich Erinnerungen lebendig. Mutter hatte ihn, den kleinen Jungen, zum ersten Mal in Klausenburg zu ihr mitgebracht. Selbst jetzt, da er daran zurückdachte, spürte er den muffigen, schwülen Geruch, der ihn beim Eintreten in ihr Zimmer gleich überfallen hatte. Tante Lizinka saß in einem oben weit ausladenden Ohrensessel, kehrte ihren Rücken dem stets geschlossenen Fenster zu, von dem sie auch noch zwei gläserne Paravents trennten. Obwohl immer kerngesund, fürchtete sie sich sehr, sie könnte sich eine Erkältung holen. Zahllose Shawls, Decken und Tücher bedeckten sie, auf dem Kopf trug sie eine schwarze Spitzenhaube, unter der ein kleines, gesticktes Kissen auf ihre Stirn gebunden war, und auch unter ihrem Kinn steckte ein dicker Strauß von Bändern. Man sah so von ihrem schmalen Gesicht kaum etwas, außer den blitzenden schwarzen Augen, der scharfen Adlernase und dem dünnen, farblosen Mund, auf dem die Falten in der Mitte sternförmig zusammenliefen. Der kleine Junge erschrak ein wenig vor diesem zusammengeschrumpften Hexenwesen, das unter den vielen Tüchern gar keinen Leib, nur das schmale Gesicht und die gebogene Nase zu haben schien. So hatte er sich Dorka Tóti im Kindermärchen vorgestellt. Doch Mutter schob ihn nach vorne, er solle Tante Lizinka schön die Hand küssen, sagte sie, und er küsste mit etwas Ekel die winzige, verdorrte und nach Kampfer riechende Hand. Doch es kam schlimmer. Die kleine Hand mit den krummen Fingern ergriff ihn jäh. Mit einer Kraft, die ihr niemand zugetraut hätte, zog ihn die Alte zu sich heran, hinein unter die vielen Tücher, und sie drückte einen großen, nassen Kuss auf die Stirn des Buben. Auch hernach, nachdem sie ihn entlassen hatte, spürte er in der Mitte der Stirn das kalte Trocknen jenes Schmatzes, doch als wohlerzogener kleiner Junge wagte er nicht, ihn abzuwischen.

All dies meldete sich beim Anblick der alten Frau blitzschnell in seiner Erinnerung. Auch manches andere fiel ihm ein, was Tante Lizinka selber erzählt oder er von Péter Abády, seinem Großvater, vernommen hatte, der Lizinkas Vetter war. Eine der besonders lustigen Geschichten, deren er sich entsann, entlockte Bálint selbst jetzt noch ein Lächeln.

Zur Zeit des Freiheitskriegs – wer würde das heute glauben? – war Frau Sarmasághy, Lizinka Kendy, eine junge Frauensperson. Und da sie in ihren Mann, Mihály Sarmasághy, sehr verliebt war, folgte sie mit der Kutsche überall den Armeen. Denn ihr Gatte diente natürlich in den Reihen der Honvéd und war natürlich Major in der Armee Görgeys (alle standen damals im Range eines Majors). Auf diese Weise fehlte sie auch in Világos nicht. Als sie, die begeisterte Patriotin, die Kunde vernahm, dass Görgey kapituliert hatte, lief sie zum Schloss Bohus, rannte die Tür zum Großen Saal ein, wo sich die ungarischen und russischen Offiziere tummelten, eilte geradewegs auf Görgey zu und schleuderte ihm in ihrem scharfen, schrillen Ton ins Gesicht: »Herr Gouverneur, Sie sind ein Verräter!«

Eine so wagemutige kleine Frauensperson war sie schon immer gewesen. Und hatte dazu eine böse Zunge. Da sie Kossuth nicht mochte, erzählte sie jedes Mal, wenn sein Name erwähnt wurde, von ihrer Erfahrung mit ihm. Es geschah in Debrecen. Die Nachricht verbreitete sich, dass die Russen im Anmarsch seien. Alle waren höchst verzagt. In dieser Lage hielt Kossuth eine Rede vor der Nationalversammlung, um die Mutlosen aufzurütteln. Laut Tante Lizinka sagte er: »Wir brauchen uns nicht zu fürchten, wo doch Mihály Sarmasághy mit dreißigtausend dreinschlagenden Dragonern demnächst hier anlangen wird!« Vielleicht drückte er sich wegen des Stabreims so aus. Jubelrufe erschallten, und doch saß Sarmasághy ganz allein oben auf der Galerie und hatte niemanden bei sich als seine klitzekleine Frau. Deren Energie, das allerdings traf zu, kam womöglich dreißigtausend Dragonern gleich.

Sie war es, die nach der Revolution in den vielen verwickelten Angelegenheiten des Bergwerks, die ihren Schwiegervater beinahe zu Fall gebracht hätten, irgendwie Ordnung schuf. Prozesse führte sie selber. Sie brachte die Fronablöse durch, rettete ihren Mann vor der Gefangenschaft in Kufstein und lernte alle Gesetze, die Approbata und die Compilata so gut wie das kaiserliche Patent, die Bergwerkregelung und die Verordnung, und trat als Anwältin von Vásárhely bis Wien auf.

Jetzt, da die Kutsche der alten Frau an ihm vorbeizog, überfielen ihn alle diese Erinnerungen.

Die Beschwörung der Vergangenheit endete aber nicht hier. Sie verband Tante Lizinka mit seinem Großvater, den sie Jahr für Jahr mehrmals besucht hatte.

Als sähe er die beiden noch jetzt vor sich. Sie sitzen beisammen auf der Veranda, die griechische Säulen schmücken. Lizinka ertrinkt wie immer unter Tüchern und Shawls in der Tiefe eines gepolsterten Fauteuils, sie zieht, mit rund gebogenem Leib zusammengekauert, die Knie hoch, wie ein stattlicher Hund. Péter Abády wiederum sitzt seiner Base gegenüber auf einem steifen Rohrstuhl mit hohem Rücken, in bequemer Ruhe, doch in stets gerader Haltung. Natürlich raucht er still, wie er das tagein, tagaus tut, und dabei benutzt er immer die gleiche, in ungarischer Manier geschnitzte Meerschaumpfeife. Die alte Frau erzählt irgendeine Klatschgeschichte, denn sie klatscht ständig. Der kleine Junge versteht zwar nichts von ihrem Gerede, so viel aber begreift er, dass der Großvater sie von Zeit zu Zeit in scherzhaftem Ton ermahnt: »Nun, Lizinka, so viel böses Zeug kann ich doch nicht glauben, selbst die Hälfte wäre schon zu viel!« Und dabei lacht er ein wenig spöttisch, während die alte Frau Sarmasághy sich weiterhin entsetzt gibt und fortfährt zu schwören, jawohl, so sei es, wie sie sage, sie wisse Bescheid. Doch der alte Herr schüttelt bloß lächelnd den Kopf, denn Lizinka berichtet zwar gewiss von schlimmen Dingen, sie weiß sie freilich höchst amüsant zu schildern.

Dies geschah in Dénestornya. Der alte Péter Abády lebte auch dort; doch er wohnte nicht oben im befestigten Schloss, sondern weiter unten am Hang im großväterlichen Herrenhaus, das Bálints Urgroßvater väterlicherseits am Ende des 18. Jahrhunderts gebaut hatte. Das große Schloss sowie drei Viertel des Gutsbesitzes gehörten der Mutter. Die Heirat von Bálints Eltern galt deshalb als ein gewichtiges Familienereignis, weil auch die Mutter eine Abády war, sodass die uralten Güter, die unter mehreren Generationen anfänglich in vier und später immer noch in zwei Teile zerfallen waren, jetzt erneut vereinigt wurden. Diese Heirat brachte das Gut von Dénestornya und den alten Waldbesitz im Hochgebirge am Oberlauf des Szamos wieder zusammen.

Der alte Péter übergab das ihm gehörende Gut seinem Sohn. Er behielt nur das Herrenhaus und dessen Garten für sich, und dann, als sein einziges Kind, Tamás, jäh verstarb, da dachte er gar nicht daran, sein Eigentum zurückzunehmen und sich damit im Alter von neuem herumzuschlagen. Er beließ es vielmehr unter der Aufsicht seiner verwitweten Schwiegertochter.

Er zog auch hernach nicht um, hinauf ins Schloss, obwohl die Frau des verstorbenen Tamás Abády ihn, damals wie später, immer wieder darum bat und ihm ein wenig sogar zürnte, weil der Schwiegervater auf sie nicht hören wollte.

Der alte Herr war weise. Bálint begriff erst jetzt mit erwachsenem Verstand, wie weise er auch hierin gehandelt hatte. Bei der warmherzigen, aber stets unruhigen Natur der Mutter wäre ihr gutes Verhältnis unter dem gleichen Dach kaum erhalten geblieben.

Die zu Lebzeiten des verstorbenen Sohns entstandene Ordnung blieb dann bestehen. Der alte Herr aß jeden Mittwoch oben im Schloss bei ihnen zu Mittag, während sie jeden Sonntag zum Mittagessen im Herrenhaus des Großvaters geladen waren.

Der Junge indessen, kaum war er ein wenig größer geworden, besuchte den Großvater auch zu anderen Zeiten. Manchmal tat er das sogar, indem er vor den Erziehern ausriss. Die Flucht fiel ihm leicht. Der ausgedehnte Schlosspark war am Fuße des Hügels vom Garten des Herrenhauses nur durch den Hof der reformierten Kirche getrennt. Da standen zwei weder besonders hohe noch allzu wohlerhaltene Mauern. Und selbst sie bereiteten Vergnügen, denn sie dienten dem Indianerspiel. Er konnte leise wegschleichen, mit lautlosen Fußtritten wie »Lederstrumpf«, und die schwindelerregend hohe Bastei erklettern, welche die stellenweise kaum anderthalb Meter hohe Mauer des Kirchhofs in seiner von Cooper-Erzählungen erfüllten Phantasie darstellte.

Der alte Herr nahm sehr wohl wahr, wie schmutzig und von Mörtel bedeckt er hin und wieder ankam, fragte aber nie, auf welchem Weg er herübergekommen war. Er mischte sich nur ein, wenn der Bub sich an seiner Kleidung einen Riss geholt hatte. Diesen – damit nichts Schlimmeres geschehen sollte – ließ er, bevor er ihn wieder zurückschickte, schnell durch seine Köchin flicken. Und er befahl dem Diener, die beiden stets verschlossenen Tore zu öffnen, die den Weg vom Garten des Herrenhauses zum Kirchhof und von dort zum Schlosspark freigaben.

In frühen Jahren war es nicht die Aussicht, den Großvater zu treffen, die ihn dorthin lockte, sondern die guten Bissen, die er jedes Mal bekam, wenn er sich einstellte: frisches, ganz schwarzes Roggenbrot mit dickem Sauerrahm, kalte Büffelmilch oder irgendein süßes Gebäck, einen Rest der Mehlspeise tags zuvor. Ach, wie fein war das! Denn er war damals immer hungrig, und die Mutter oben im Schloss hatte verboten, ihm zwischen den Mahlzeiten Essbares zuzustecken. Wie er aber heranwuchs, begann ihn auch die Gesellschaft des alten Mannes anzuziehen. Er verstand es gut, freundlich und verständnisvoll mit dem Kind zu reden; den Geschichten von seinen kleinen Streichen hörte er mit einem milden Lächeln zu, während er seine Pfeife schmauchte, und nie verriet er jemandem das Vernommene.

Kam er gegen Mittag herüber, dann fand er ihn bei gutem Wetter auf der Terrasse, bei kühler Witterung in der Bibliothek. Zu solchen Stunden pflegte er zu lesen. Dass er ihn dabei störte, nahm er nicht übel. Er las größtenteils wissenschaftliche Werke. Zahllose Zeitschriften wurden ihm zugestellt, und es war in der Tat bewundernswert, wie er mit der geistigen Entwicklung jener Zeit Schritt hielt, mit den Forschungen in dieser klassischen Epoche der modernen Entdeckungen. Er erzählte darüber gern seinem Enkel, fasste das Neueste, mit dem er sich gerade beschäftigte, klar und verständlich zusammen. Er war über die verschiedensten Themen gleichermaßen unterrichtet. Die Erkundungsreisen nach Afrika und nach Mittelasien spielten in seinen Berichten eine große Rolle, die größte Bedeutung maß er aber wohl dem technischen Fortschritt der letzten Jahre bei. In diesem Zusammenhang erwähnte er manchmal auch mathematische Lehrsätze und erklärte sie mit so klarer Einfachheit, dass der heranwachsende Enkel sie leicht begriff; die Algebra, als er ihr später im Theresianum begegnete, kam ihm beinahe bekannt vor. Aus dieser fernen Kinderzeit stammte vielleicht das Interesse, das Bálint auch später dafür bewahrte.

Besuchte er den Großvater am Morgen, dann fand er ihn gewöhnlich im Garten. Er pflegte seine Rosen selber. Ebenso mit großer Hingabe setzte er beim Okulieren Edelknospen ein. Die Blumen gediehen denn auch wunderbar, viel größer und dichter als jene, die der Gärtner im Schloss behandelte. Jetzt, da er sich erinnerte, sah er ihn beinahe lebendig vor sich, wie er zwischen seinen Blumen stand. Er trug eine lange Rohleinenschürze und auf seiner immer noch gewellten weißen Haarkrone einen großen bäuerlichen Strohhut. Wie jugendlich sein Gesicht darunter noch wirkte, beleuchtet von den gelben Reflexen des Sonnenscheins! Schöne Züge: eine schmale, dünne Nase, grüngraue Augen, die umso heller schienen, als seine Augenbrauen trotz des hohen Alters schwarz geblieben waren. Über dem feinen Bogen des Munds ein spitz gezwirbelter, kleiner Schnurrbart, beinahe schwarz auch der, vielleicht vom Wichsen, welchen Geruch er selbst jetzt, beim Zurückdenken, beinahe zu spüren meinte, so wie er ihn immer gespürt hatte, wenn sich der alte Herr gemäß seiner Gewohnheit zu ihm hinabbeugte, um sich die Wange küssen zu lassen.

Seine Wangen waren immer glatt. Er achtete peinlich darauf, jederzeit gepflegt und sauber zu sein. Er hatte die Gewohnheit, scherzhaft zu sagen: »Ein junger Mann kann auch schmutzig sein, aber ein alter Mann ist eklig, sogar gewaschen!« Er rasierte sich täglich selber, benutzte feine englische Rasiermesser, jeden Tag ein anderes, ein jedes nummeriert, er hielt sie in einem langen, grünen Etui aus Saffianleder.

Kam der Junge an Sonntagen vor Mittagessenszeit, dann fand er auf der Veranda manchmal zwei bis drei Bauersleute vor; sie standen, den Hut in der Hand, vor dem alten Herrn und trugen ihm ihre strittigen Angelegenheiten vor. War er zu solchen Stunden zur Stelle, dann gab ihm der Großvater einen Wink, er dürfe bleiben, solle sich aber seitwärts aufs Sofa setzen. Nicht nur die Leute von Dénestornya kamen, sondern auch solche aus anderen, benachbarten Dörfern. Rumänen und Ungarn gleichermaßen, manchmal selbst Menschen von den Schneebergen her. Er stand von jeher im Ruf eines sehr gerechten Mannes. So suchten ihn die Leute oft auf, er möchte ihren Streit schlichten, bevor sie sich an einen Anwalt wandten. Der alte Péter Abády stand immer zur Verfügung. Regungslos saß er auf dem harten Rohrstuhl, die Beine übereinandergeschlagen, seine Hose war über dem weichen Schaft der altmodischen Stiefel ein wenig hinaufgerutscht. Die unerlässliche kleine Meerschaumpfeife im Mund, hörte er sich die langfädigen Berichte wortlos an. Er stellte nur selten eine Frage oder ermahnte kurz jemanden, der sich gegenüber einem anderen zu Heftigkeit hatte hinreißen lassen. Aber dergleichen war kaum nötig, die Leute benahmen sich immer sehr geziemend. Nachdem dann jedermann das Seine vorgetragen hatte, erteilte der alte Herr seinen Rat.

Er sprach, je nach Bedarf, Ungarisch wie Rumänisch fließend. Die Streitparteien fügten sich zumeist in sein Urteil. Zuletzt, wie auch die Sache für sie ausgegangen war, küssten sie ihm die Hand und entfernten sich in schöner Ordnung. Sie küssten auch ihm, Bálint, die Hand, wogegen er sich zu wehren suchte. Doch der alte Herr beschied ihn auf Französisch, es zuzulassen, da die Leute sonst glaubten, er ekle sich, und sie würden ob seiner Weigerung beleidigt sein.

Auch andere Gäste empfing man oft im Herrenhaus Abády. Die Jüngeren kamen, um ihre Aufwartung zu machen, sich vorzustellen oder eine Gunst zu erbitten, denn Péter Abádys Einfluss, obwohl er sich von zu Hause immer seltener wegrührte, war gewaltig geblieben, er reichte weit und in viele Richtungen. Dies nicht nur darum, weil er schon seit zwei Jahrzehnten Superintendant der reformierten Kirche, Mitglied des Oberhauses und Bannerherr war, sondern weil alle wussten, dass er nur für gerechte Sachen einstand; ebenso wusste man, dass sein Wort auch bei Hofe, bei Franz Joseph ins Gewicht fiel.

Die Älteren erwiesen ihm die Ehre, da sie von jeher an ihm hingen. Sie waren noch ziemlich zahlreich: einstige Komitatsherren aus der Zeit, da er in Alsó-Fehér als Obergespan geamtet hatte, oder frühere Honvéd-Soldaten, die in der Bach-Periode von ihm vor dem Gefängnis gerettet worden waren.

Regelmäßige Besucher gab es zwei: Tante Lizinka, die jedes Jahr zwei Wochen dort verbrachte, und Mihály Gál, alias Minya Gál, den alten Schauspieler, der stets nur drei Tage blieb, weder mehr noch weniger.

Der kleine Junge liebte diesen sehr. Wusste er, dass Gál dort weilte, dann überwand er den Zaun mehrmals am Tag heimlich, und er hörte dem Gespräch und den Scherzen der beiden alten Männer zu, er lauschte den vorzeitlichen Schauspieleranekdoten Gáls, die von Frau Déry und von Celestin handelten, obwohl er von den meisten Namensträgern nicht wusste, was für Leute sie gewesen waren.

Der alte Minya kam immer zu Fuß und ging zu Fuß weg. Das Angebot, die Kutsche zu benutzen, nahm er nie an. Die Haltung war ihm aus seiner Zeit als wandernder Schauspieler geblieben, und es gab dabei auch eine Art von merkwürdigem, hoffärtigem Puritanismus, etwas vom »Just-nicht!«-Starrsinn, oder vielleicht lag es nur daran, dass er, wie er allein auf der Landstraße dahinwandelte, sich in Gedanken wieder in die Wanderjahre seiner Jugend versetzt fühlte. Er war einst ein Klassenkamerad Péter Abádys gewesen, sie saßen in den zwanziger Jahren zusammen in Vásárhely im Gymnasium.

Sie hatten damals im Kollegium Freundschaft geschlossen, die sie hernach mehr als siebzig Jahre miteinander verband. Die beiden duzten sich, doch wenn andere – so auch der kleine Junge – mit dabei waren, vermied Minya die Anrede.

Bálint fiel nun ein, dass Gál aus dieser Gegend stammte. Zum letzten Mal hatte er ihn 1892, vor zwölf Jahren, auf der Beerdigung des Großvaters gesehen. Er war auch damals von Vásárhely gekommen, wo er, wie er sagte, ein kleines Haus besaß. Ei, man sollte in Erfahrung bringen, ob er noch am Leben ist. Und wenn er lebt, müsste man den Freund des Großvaters besuchen. Zwar wird er kaum mehr am Leben sein, denn er wäre heute fast schon hundertjährig, fünf bis sechs Jahre dürften dazu fehlen. Bálint beschloss trotzdem, dass er nach der Rückkehr von Siklód dem Geschick des alten Schauspielers, der zu den lebendigsten Erinnerungen seiner Kindheit gehörte, nachspüren werde.

Über dergleichen dachte der junge Abády nach. Das eintönige Bimmeln der an den Fiakerpferden befestigten Glöckchen begleitete seine Erinnerungen, als tönten sie aus der fernen Vergangenheit zurück.

Rasches Pferdegetrappel ließ ihn zu sich kommen.

Zwei Juckergespanne zogen hintereinander rasch an ihm vorbei.

Das erste wurde von István Kendy gelenkt, den man kurz und allgemein Pityu nannte, und auf dem hinteren Sitz saß einer der Alvinczy-Jungen. Neben ihm zwei der Comtessen Laczók, Anna und Ida. Er erkannte die beiden Frauen zu spät, erst als sie bereits vorüber waren. Natürlich, die sind ja schon große Mädel! Als er sie zuletzt in Klausenburg gesehen hatte, waren sie erst Backfische mit Zöpfen. Wie die Zeit vergeht. Gewiss eilen sie vom Rennen heimwärts, sie sind ja in Vársiklód die Gastgeberfräulein, da gehört es sich, zu Hause zu sein, bevor die Gästeschar eintrifft.

Von den Leuten drüben blickte niemand zu ihm herüber; wer kümmert sich schon um einen, der in einer Mietkutsche reist?

Auf dem Bock des zweiten Wagens saß Farkas, der ältere Alvinczy-Junge, und neben ihm das dritte Laczók-Mädchen, Liszka. Und wie das Gefährt vorbeihuschte, erkannte Bálint auf dem Hintersitz neben dem livrierten Kutscher László Gyerőffy, seinen Cousin.

Er rief ihn an, und jener rief etwas zurück, er winkte ihm auch, doch auch dieser Wagen raste hastig weiter. Die beiden Gespanne trugen offenkundig einen Wettkampf aus, und sie verfolgten einander umso wilder, als es doch galt, vor den Mädchen die Tüchtigkeit des Mannes – die Virtus – zu zeigen: Fahr ihm vor! Bleib vor ihm! Lass ihn nicht passieren! Die Herrenkutscher legten sich bei der Hetze ins Zeug, als ginge es um Leben und Tod.

Bálint freute sich sehr, dass auch László in Siklód mit dabei sein würde. Wie gut, ihn wiederzutreffen! László war sein einziger Freund aus Kinderzeiten. Auch das Theresianum hatten sie gemeinsam besucht. In den ersten zwei Jahren an der Klausenburger Universität waren sie auch immer zusammen, bevor Gyerőffy nach Budapest zog. Seither sahen sie einander seltener, manchmal in Ungarn bei einer der Tanten László Gyerőffys, bei Rebhuhn- oder Fasanenjagden und einige Male zufällig auch in Siebenbürgen.

Doch ihre Freundschaft litt darunter nicht, denn die auf Zeiten der frühen Jugend zurückgehende Zuneigung schafft das stärkste Band.

Dieses Gefühl einte die beiden, viel enger als ihre – im Übrigen auch ziemlich nahe – Verwandtschaft, war doch die Großmutter László Gyerőffys eine Schwester des alten Péter Abády. Und es gab noch manch anderes, tief liegendes, unbewusstes, doch umso festeres Band. Dazu gehörte neben vielen Gemeinsamkeiten die Ähnlichkeit ihres Kinderschicksals. Auch László war Waise, noch viel mehr als er. Ihm, Bálint, war die Mutter erhalten geblieben, und er hatte ein echtes Zuhause, in dessen warme Atmosphäre er jeweils im Sommer zurückkehrte. László dagegen hatte seine Eltern, beide auf einmal, als Kleinkind verloren. Das war eine tragische Geschichte, über die man in der Familie ungern sprach. Seine Mutter, so hieß es, war nicht nur eine sehr schöne, sondern auch eine sehr begabte, künstlerisch beseelte Frau gewesen. Sie schuf ansprechende Bildhauerarbeiten und malte. László zählte kaum drei Jahre, als seine Mutter mit jemandem ausriss. Kurz darauf fand man den Vater tot im Wald. Sein eigenes Gewehr hatte ihn getötet. Die Verwandtschaft bestand auf der Behauptung, dass sich ein Unfall ereignet habe. Diese trübe, ungewisse Geschichte verlieh den Kinderjahren des kleinen, verlassenen László einen düsteren Hintergrund. Und er hatte fortan auch kein Zuhause mehr. Anfänglich nahm ihn die Großmutter auf, doch nach deren Tod einige Jahre später lebte er fortwährend in Instituten. Von dort nahmen ihn im Sommer jeweils seine Tanten zu sich, und bis zu seiner Volljährigkeit war er stets nur irgendwo Gast – manchmal in Siebenbürgen, zumeist aber jenseits der Donau, in Westungarn; abwechselnd weilte er bei der einen und der anderen Schwester seines Vaters, die in Budapest verheiratet waren, die ältere mit dem Fürsten Kollonich, die jüngere mit Graf Antal Szent-Györgyi.

Bálint lehnte sich hinaus und blickte dem sich entfernenden Gespann nach. Hinter der aufsteigenden Staubwolke sah er nur noch nebelhaft, wie László, der ihm bis zur Straßenbiegung unablässig winkte, zuletzt verschwand. Wie er sich da hinauslehnte und selber winkte, da schloss bereits ein neues Gespann knatternd zu ihm auf.

Eine Halbdachkutsche.

Zwei Männer saßen darin.

Rechts der alte Sándor Kendy.

In Siebenbürgen pflegte man diesen Kendy gleich mit zwei Kennworten zu bezeichnen. Ihn selber sprach man mit dem Titel »Woiwode« an, dies als Anspielung auf einen seiner berühmten Urahnen, zumal er, ebenso wie sein Vorfahre, ein höchst eigenwilliger, gewaltsamer großer Herr war. Sein Ahne, der für den Namen stand, war seinerzeit deswegen sogar enthauptet worden. Hinter seinem Rücken aber hieß er – ohne jede Bösartigkeit – »Kajsza«, der Krumme, dies einzig darum, weil sein Mund sich beim Sprechen oder beim Anflug eines Lächelns (das selten vorkam) halbseitig verzog. Das stammte von einem alten Säbelhieb her, dessen Spur der dichte Schnurrbart nur mangelhaft verdeckte; die Narbe unterstrich vielmehr den harten, entschlossenen, stark männlichen Charakter.

Die meisten unter den Kendys hatten einen ähnlichen, oft spöttisch gemeinten Spitznamen. Deren bedurfte es zur Unterscheidung, denn es gab ihrer viele. Außer »Kajsza« lebten noch zwei Sándor; der eine von ihnen hieß wegen seiner rastlosen Natur »Mozogós«, der Rührige, und den anderen hatten die Zeitgenossen »Zindi« getauft, da sie auf die Idee kamen, er gleiche sehr einem gewissen Albano Zindi, einem historischen Räuberhauptmann.

In der vorbeiziehenden Halbdachkutsche saß noch Ambrus Kendy neben dem Woiwoden.

Er, mehr als zehn Jahre jünger als Kajsza, war ein entfernter Verwandter, beinahe nur noch ein Namensvetter, glich ihm aber trotzdem auffallend. So verhielt es sich bei allen Kendys. Die Vererbungskraft dieses fruchtbaren Geschlechts war so gewaltig, dass man sie alle auf den ersten Blick erkannte, obwohl sich die einzelnen Zweige der Familie schon vor etlichen Generationen getrennt hatten. Alle hatten braune Haare, helle Augen, fast buschige Augenbrauen, und sie waren von sehr starkem Wuchs. Eine angriffig kämpferische, dem Vogelschnabel gleichende Nase bildete ebenso eine Gemeinsamkeit; da gab es die Adlernase des alten Kajsza, während die Form bei Ambrus an den Falken erinnerte, und so ging es bei sämtlichen in allen Varianten die Raubvögel entlang, vom Geier bis zum Graukopf und dem Dorndreher. Von der starken Erbkraft des Geschlechts zeugte auch das Faktum, dass manche unter den Kendys – da es ihrer so viele gab und das Familienvermögen sich auf solche Weise immer mehr teilte – bereits in der vorangegangenen Generation eine sogenannte »gute Partie« machten, sprich, eine Heirat schlossen, bei der die Mitgift schöner war als die Braut. Und trotzdem! Mochten sie sich eine noch so gebrechliche oder hässliche Frau nehmen, eine hinkende oder krumme, eine fette oder spindeldürre, ein Stumpfnäschen oder eine Knollennase, sie brachten stets die eigene lebenskräftige Art hervor, das scharfe Profil, die braunen Haare und die hellen Augen – lauter wohlgestaltete Burschen und hübsche Mädel.

Es schien, als habe diesem kräftigen Stamm das häufige Zurückschneiden vor vielen Jahrhunderten, als zahlreiche Kendys auf dem Schafott endeten, eher gutgetan. Er spross umso mehr. Doch der alte Sándor und der jüngere Ambrus glichen sich nicht nur in ihren Gesichtszügen, sondern auch in ihren Manieren. Beiden war der Schnabel sehr bäuerlich gewachsen. Widerspruch, Ärger, ja mitunter selbst eine abweichende Meinung pflegten sie kurz mit einem unflätigen Wort zu erledigen. Kajsza hatte dies in Siebenbürgen eingeführt, er, dessen Generation und all die vorangegangenen selbst in der schlimmsten Wut niemals eine Unanständigkeit ausgesprochen hatten. Die Umgangsformen der beiden Kendys waren die gleichen, doch ihre Methoden verschieden. Der Woiwode sagte solche Dinge in finster befehlendem Ton, mit strengem, furchterregendem Gesichtsausdruck, und ihm, der das eine oder andere kurze und grobe Hauptwort stets so barsch hinwarf, schien es natürlich, dass niemand sich fand, der ihn nachahmte. Einer aber fand sich doch, und zwar gerade Ambrus Kendy. Freilich ahmte er nur das Was nach, das Wie dagegen wandelte er höchst begabt zu eigenen Gunsten ab. Er schleuderte mit herzlicher Gutmütigkeit die schrecklichsten Wörter aus sich hinaus, doch nicht in Kajszas angriffigem Ton, sondern in einer Art natürlicher, gutgelaunter Bäuerlichkeit, als könnte er gar nicht anders, als zwänge ihn sein ungehobeltes, aufrichtiges Wesen dazu. Als sagte seine ganze Gemütsart: »Es ist wohl wahr, ich bin grob, es stimmt, ich habe ein ungewaschenes Maul, aber ich bin halt so geboren, ich bin ein aufrichtiger, ungeschliffener, dafür aber ungekünstelter, echter Mann.« Der gütige Blick seiner hellblauen Augen, sein zum Schmunzeln stets bereiter voller, breiter Mund, die brummende Stimme und sein gemächlicher Gang, die breiten Schritte, unter denen der Boden erdröhnte, all das schien diesen Eindruck zu bestätigen und machte den vierschrötigen Mann überaus einnehmend. Alle mochten ihn, viele Frauen schwärmten für ihn. So war es kein Wunder, dass Ende der neunziger Jahre, als Bálint in Klausenburg die Universität bezog, die Jugend in »Onkel Ambrus« ihren Anführer erblickte.

Alle strebten ihm nach. Als ein männlicher Mann galt nur, wer so sprach wie sein Vorbild, wer schön zu fluchen verstand und rohe Worte so saftig herausbrachte. Wer hingegen einen höflichen Ton gebrauchte, wurde als affektierter Geck und als Waschlappen taxiert.

Ambrus war auch in anderen Dingen führend. Er stand im Ruf eines großen Zechers. Obwohl schon längst verheiratet und Vater von drei Söhnen und vier Töchtern, liebte er die Kneiperei. Er trank viel und oft. Er vertrug aber den Alkohol gut, und wenn er nach Klausenburg kam – und er hielt sich in der Stadt häufig länger auf –, dann gehörten Nacht für Nacht die Zigeunerkapelle, ein großes »Trinkum« und ein Gelage dazu. Die jungen Leute hielten natürlich in allem mit.

Bálint erinnerte sich jetzt beim Anblick von Onkel Ambrus lebhaft, wie sehr ihn die damals beliebte, unablässige Zecherei überrascht hatte. Auch er war der Verlockung bald erlegen, obwohl sie ihm eigentlich nicht zusagte.

Wäre er später und nicht gar so jung, im Alter von kaum achtzehn Jahren, und nicht gleich nach dem Austritt aus dem geschlossenen Internat in diese ewig vergnügungssüchtige Umgebung hineingeraten, dann hätte er vielleicht gegen den Strom schwimmen können; so aber riss es ihn mit, ebenso wie László Gyerőffy.

So aber hatte er nicht anders zu handeln vermocht. Dies umso weniger, als sie beide von den anderen – obwohl sie mit den meisten verwandt waren – irgendwie doch als Fremde, als Zugereiste behandelt wurden. Jenen, die dort gemeinsam aufgewachsen waren, wurde es im Umgang mit ihnen nicht recht warm, sie standen mit den beiden nicht auf gleich vertraulich freundschaftlichem Fuß wie untereinander. Nichts, was man fassen und zur Sprache hätte bringen können, nichts zeigte diese Zurückhaltung und verborgene Abneigung, und doch waren sie ständig da, in tausend Kleinigkeiten beim täglichen Zusammentreffen. Selten nur kam es vor, dass jemand mit benebeltem Kopf irgendeine Anspielung machte, etwa von solcher Art: »Na ja, wenn man Wiener Verhältnisse gewohnt ist!« oder: »Für jemanden aus Ungarn ist das natürlich anders!« Das war aber alles.

László Gyerőffy gegenüber legte sich die Stimmung schon bald. Ihm gereichte in diesem Kreis zum großen Vorteil, dass er hervorragend Violine spielte und sich in seinen Gymnasiastenjahren auch an anderen Instrumenten versucht hatte. Schon nach einigen Wochen schaffte er es, abwechselnd mit dem Primas der Kapelle zigeunerisch aufzuspielen, und bei anderer Gelegenheit blies er die Schnabelflöte oder die Klarinette. Die Stimmung milderte sich, wich aber nie gänzlich.

Bálint gegenüber jedoch änderte sich die versteckte Abneigung in keiner Weise. Vielleicht lag das daran, dass er es nie schaffte, sich richtig, bis zur Selbstvergessenheit zu betrinken. So viel er auch trank, war er sich immer bewusst, was er sagte und tat und was andere taten. Er vermochte sich nicht zu befreien von dem richtenden Kritiker, den er in sich trug und der, zutiefst verborgen, ihn wach und höhnisch beobachtete. Als er hemdsärmelig vor den Zigeunern tanzte, Jauchzer ausstieß oder sang, da sagte dieser Richter: »Du bist ein Heuchler, mein Sohn, warum lässt du aus dir einen Narren machen?«

Und doch ging er noch lange diesen Weg. Er wollte sich einen Platz in der Nähe seiner Altersgenossen sichern, hoffte ständig, dass sie ihn unter sich aufnehmen und endlich seine Fremdheit vergessen würden. So versuchte er viel zu trinken, sich mit ihnen oft zu vergnügen. Auch er machte also vor dem Zertrümmern nicht halt und ging bis zu der äußersten Grenze, die für ihn jener nie schlummernde innere Überwacher bestimmte.

Er versuchte auf diese Weise, sich unter seine Altersgenossen einzureihen, die abschätzig jeden für einen Hasenfuß hielten, der nicht oder nur mit Maß trank, der nicht verrückt wurde vor Entzücken, wenn eine Zigeunerkapelle aufspielte, der die Texte der ungarischen Lieder nicht alle kannte, kein Leiblied hatte, bei dessen Erklingen man entweder den Kopf auf den Tisch legen oder wenn schon nicht Stuhlbeine und Spiegel, so doch zumindest Gläser zerschlagen musste. Onkel Ambrus machte es so, folglich taten es ihm alle nach, und wer sich gegen Morgen tieftraurig auf den Schoß des Zigeunerprimas setzte oder den Cellisten küsste, galt als ein besonders feiner Kamerad.

Bei all dem spielte natürlich das Wetteifern eine große Rolle.

Einander überbieten, der härtere Kerl sein! – eine natürliche Regung junger Leute. Und viel Posieren und Äfferei gehörten auch dazu.

Die meisten rühmten sich denn auch tags darauf: »Hei, war ich aber letzte Nacht betrunken!« Sie erzählten das auch den kleinen Comtessen, die so taten, als imponierte ihnen dies sehr. Kein Wunder. Denn bei der allgemeinen Gefallsucht und inmitten der Gattenjagd nahmen die Mädchen dergleichen nicht allzu ernst, die Hauptsache blieb, dass man sich mit ihnen befasste und sie lieb ins Vertrauen zog. Recht freundlich hörten sie sich aber das Erzählte außerdem darum an, weil unter dem Fenster des Fräuleins, das für derartiges ein Herz hatte und durchblicken ließ, dass auch sie für die ungarischen Lieder schwärmte, öfter ein Ständchen dargebracht wurde, so wie es sich während oder nach dem Vergnügen mit Zigeunermusik nun einmal ziemte.

Auch die Mütter stießen sich an solchen Dingen nicht allzu sehr. Ihre Gatten gehörten zur Generation, die nach 48 aufgewachsen war. Zahlreich waren unter ihnen jene, die in den Jahren des Absolutismus als junge Mitglieder des Adelsstands in den öffentlichen Dienst – in ihren früheren Hauptberuf – nicht hatten zurückkehren können, sodass sie sich infolge der erzwungenen Untätigkeit dem Trunk ergaben. Sie wurden trotzdem gute Ehemänner. Musste man ihren Frauen vorhalten, dass sie die Männer nicht an der Kandare gehalten hätten, wenn der eine oder andere unter ihnen an der Trunksucht zugrunde ging? Die Mütter hatten einen weiteren Grund zur Nachsicht. Solche mit Zigeunermusik gefeierten Feste verliefen in Siebenbürgen in den ersten Stunden auch im Beisein der Mädchen, und da kam es leichter vor, dass einer um ihre Hand anhielt. Und vergnügten sich die Männer für sich, und dies war die häufigste und meistbegossene Art der Gelage, dann waren sie unter sich, und es galt als ausgeschlossen, dass sie irgendwelche »schlechte Personen« zuließen. Die älteren Damen zogen es daher vor, wenn die jungen Herren die Nacht mit Zigeunermusikern verbrachten, statt dass sie »Gott weiß, meine Liebe, wo zu Besuch hingehen und sich am Ende noch irgendeine Krankheit holen«.

So in seinen Gedanken, aus der Distanz von fünf bis sechs Jahren, sah Bálint diese Zusammenhänge klarer, viel klarer als während seiner Universitätsjahre. Ja, die Mädchen – sozusagen alle – hegten oder heuchelten zumindest eine gewisse Bewunderung für die Männer, die im Rufe eines großen Zechbruders standen. Er hatte nur eine getroffen, die ihre stark gezeichneten, geraden Augenbrauen missbilligend zusammenzog und das Kinn hob, wenn jemand sich vor ihr mit derartigem brüsten wollte.

Es gab nur eine: Adrienne Milóth.

Ein seltsames, selbständig denkendes Mädchen. In den meisten Dingen anders als die Masse. Sie tanzte keinen Csárdás, ihr Leiblied war ein Walzer, Champagner trank sie kaum, und in ihren Augen lag stets irgendeine ernste Besonnenheit. Sie war freundlich und sehr intelligent. Wie nur hat sie diesen finster blickenden Pál Uzdy heiraten können? Nichts zu machen!

Den Frauen gefallen nun einmal solche Satansfratzen, dachte er bei sich, und als ihm dies einfiel, erwachte in ihm flüchtig wieder der Ärger, der ihn ohne jeden Grund erfüllt hatte, als er – zwei Jahre war es her – die Nachricht von Adriennes Verlobung vernahm.

Nicht aus Eifersucht. Ach, nein. Bestimmt nicht.

Als Adrienne im Frühling 1898 Debütantin war, stand er als Jurist schon im vierten Jahr, und zu der Zeit war seine Affäre mit der schönen kleinen Frau Abonyi am heftigsten im Gange. Eine leidenschaftliche Angelegenheit. Die erste Frauengeschichte, die in seinem Leben zählte. Eine Monate dauernde, spannende Jagd und am Ende dann nach viel quälender Eifersucht und glänzender Hoffnung die triumphale Erfüllung. Dies beanspruchte gerade damals jeden Nerv, seine volle Liebessehnsucht, jeden seiner Sinne.

Das Haus Milóth besuchte er also nicht wegen einer Liebe.

Dergleichen kam mit Adrienne nie zur Sprache. Nicht einmal als Thema. Einen Flirt gab es zwischen ihnen ebenso wenig und auch kein Wort über Flirts. Er begehrte sie als Frau nie, nicht einen Augenblick lang, mochten sie noch so lange miteinander tanzen. So viel er auch mit ihr zu zweit zusammensaß, sooft sie auch – beinahe täglich – einander trafen.

In ihren Kreisen war es ohne Bedeutung, wenn ein junger Mann im Haus, wo es ein heiratsfähiges Mädchen gab, so häufig verkehrte. Man führte damals in Klausenburg ein reges gesellschaftliches Leben, und in dieser Stadt mit Provinzausmaßen traf ohnehin fortwährend jeder mit jedem zusammen.

Die besser gestellten, vermögenden Siebenbürger Familien verbrachten den Winter alle noch dort, und an den Nachmittagen empfingen sie Besucher ohne jede Formalität. Die Enkel, die Verwandten und die Scharen von ergebenen Anhängern machten ihre Visiten bei den alten Damen, während in den Häusern mit Mädeln jene jungen Herren erschienen, die gerade dabei waren, ihre mondänen Streifzüge zu machen. Eine Einladung brauchte man nur zum Mittag- und Nachtessen. Bei den Nachmittagsjausen wäre es eher aufgefallen, wenn sich jemand während mehrerer Tage nicht gezeigt hätte. Folglich bedeutete es keineswegs, dass ein junger Mann mit Absichten unterwegs war, wenn er sich jeden Tag zum »Kaffee mit Schlagobers« einstellte, denn damals war eher noch dieses Getränk in Mode, nicht der englische Tee.

Gewöhnlich bildeten drei bis vier Mädchen und fünf bis sechs junge Männer einen intimeren Kreis, je nach ihrer Verwandtschaft und den Sympathien, und jene, die dazugehörten, waren beim Tennisspiel, dem Nachmittagskaffee, im Theater und auf Ausflügen immer beisammen. Sympathie und freundschaftliches Interesse schufen das Bindeglied in solchen Gruppen. Ja, Sympathie! So viel bloß bestand auch zwischen Bálint und Adrienne. Kein Zweifel, auch Adriennes Schönheit spielte eine Rolle, doch Bálint kam es so vor, als gefiele sie ihm einzig in aller Sachlichkeit wie ein feines Schmuckstück oder eine wunderbare Figur aus Bronze.

Ihm gefiel ihr schlanker, noch stark mädchenhafter Wuchs, der leichte und doch von Kraft zeugende Gang, bei dessen Anblick er immer an das Bild der jagenden Diana denken musste, einen der Schätze des Fontainebleau-Saals im Louvre: die gleichen, ein wenig verlängerten Proportionen, der im Vergleich etwas kleine Kopf, die geschmeidigen, leicht gebogenen Hüften, die Art, wie die Göttin mit der Hand über der Schulter dem Köcher, der an ihrem Rücken hängt, einen Pfeil entnimmt; der gleiche, weit ausgreifende Schritt. Und auch die Farbe stimmte: dieselbe Elfenbeinhaut, die leicht vergoldet schien. Ihr Gesicht, ihr Hals und Arm, auch die Schultern über dem Ausschnitt des Ballkleids leuchteten ähnlich still. Nur die Haare und die Augen unterschieden sich, denn die Diana war blond und blauäugig, während Adrienne gelbe Bernsteinaugen hatte und braunes, gewelltes Haar, das stets flatterte, wie vom Sturm zerzaust.

Ja, es war angenehm, sie zu sehen, interessant, sich mit ihr zu unterhalten. Über alles hatte sie ihre anregenden, für eine so junge Frau ungewöhnlich eigenen Ideen. Und sie war sehr gebildet. Im Gespräch mit ihr brauchte er die fremden, mit dem Ausland verbundenen Themen oder die weltgeschichtlichen und literarischen Hinweise nicht zu vermeiden, deren Erwähnung manche krummgenommen hätten im Glauben, er wolle mit seinen Kenntnissen prahlen. Adrienne war in all dem überraschend zu Hause. Sie sprach vorzüglich Fremdsprachen, las sehr gern, verabscheute aber revoltierend jene Comtessen-Literatur, die man den damaligen Mädchen ausschließlich vorschrieb. Sie revoltierte, denn im Institut in Lausanne, wo sie erzogen worden war, hatte sie von Flaubert und Balzac, Ibsen und Tolstoi vernommen, und eine verzehrende Sehnsucht trieb sie an, Werke von ernsthaftem Wert kennenzulernen.

Solche Dinge waren flüchtig zur Sprache gekommen, als er an einem Ball beinahe zufällig mit ihr soupierte. Adrienne nahm damals zum ersten Mal an einem Ball teil. Hernach stattete er den Milóths immer öfter einen Nachmittagsbesuch ab.

Bálint hatte zu jener Zeit die Werke Spencers kennengelernt. Sie übten auf ihn eine starke Wirkung aus. Insbesondere galt dies für den ersten Band von »Principles of Science«, in dem die Urbegriffe zur Diskussion gestellt werden: die Entstehung der Gottesauffassung und des Glaubens an eine Seele beim Menschen der Vorzeit.

Von dieser Lektüre ganz erfüllt, erzählte er darüber unwillkürlich dem Mädchen, und das Echo auf seine Worte, der geistige Durst, mit dem sie die Ausführungen beantwortete, überraschten ihn. Blieben sie zu zweit allein, dann folgte ihre Unterhaltung anfänglich dieser Bahn. Freilich verharrten sie nicht bloß bei einem Thema, sondern berührten nach und nach unzählige Probleme, und die Worte flogen dahin, getrieben von jener stets ahnenden, suchenden Leidenschaft, die zu den Merkmalen der jungen Denkweise gehört. In Bálint hallte vielerlei nach, was er noch vom Großvater vernommen hatte, viele lächelnd gefällte weise Urteile über Menschen und Dinge, die Bewertung der Welt vor einem breiten Horizont, die er erst jetzt allmählich zu verstehen begann, und vieles, was der alte Herr in Zusammenhang mit den Naturwissenschaften für den damals zwölf- bis dreizehnjährigen Jungen so dicht zusammenzufassen verstand. Es schmeichelte seiner Eitelkeit, dass jetzt beim Erklären er an der Reihe war, dass er alles weitergab, es machte aber auch Freude und war angenehm, dass er zu diesem immer aufmerksamen und immer interessant antwortenden Mädchen schöner und farbiger zu reden wusste als zu irgendjemandem sonst; als würden ihre Anwesenheit und die auf ihn gerichteten Bernsteinaugen seine Vortragsfähigkeit erhöhen.

Viele Nachmittage verbrachten sie auf diese Weise, viele rasch dahinfliegende Stunden.

Die Tage waren zwar dabei, länger zu werden, doch gewöhnlich begann es schon zu dämmern, wenn diese Dialoge ein Ende nahmen. Manchmal erschien ein verspäteter Gast, doch zumeist brach ihr Gespräch auf andere Art ab. Aus der immer offenen Flügeltür, welche die zwei Salons verband, ertönte die pedantische, strenge Stimme der Mama Milóth: »Warum sitzt ihr dort im Dunkeln, Addy? Du weißt, dass ich das nicht mag. Mach sofort das Licht an!«

Adrienne erhob sich wortlos. Einen Augenblick hielt sie inne, als müsste sie sich überwinden – gehorchen, nichts erwidern –, sie stand trotzig da und blickte mit erhobenem Haupt in den Dämmerschein, starrte vor sich hin, dann ging sie mit ihren langen Schritten zu der Konsole und zündete die Lampe an. Und bevor sie zurückkehrte, blieb sie eine kurze Weile auch dort stehen und blickte mit zunehmend verengten Pupillen ins Licht …

All dies erschien vor Bálint nicht der Reihe nach und ebenso wenig in der Form von Worten oder Sätzen, sondern als ein Bild, das als lebendiges Ganzes alle Einzelheiten enthielt, aber nicht durch die Verbindung von Gedanken geschaffen worden war, sondern mitsamt allen seinen Teilen unvermittelt fertig vor ihm stand.

Doch diese innere Schau dauerte nur eine kurze Minute. Abermals holte ihn ein Wagen ein. Bekannte. Er musste grüßen, und die Vision von zuvor war verschwunden, so wie die vollkommene Spiegelung an der Oberfläche von Seen gelöscht wird, wenn der kleinste Windhauch jäh am Wasser vorbeistreicht. Hernach überholte ihn nun ein Gespann nach dem anderen, sie folgten einander immer dichter. Hinter jedem stieg weißer Staub auf und schwebte langsam hinüber zu den Wiesen entlang der Landstraße.

Diese Wagen brachten nun schon die Gesellschaft, die im Anschluss an das Pferderennen nach Vársiklód aufgebrochen war. Zwei dicke Aschenschimmel trabten an ihm vorbei, hinter ihnen eine offene Kutsche. Der Obergespan saß darin. »Servus!«, rief er freundlich zu Bálint herüber und verschwand in der weißlichen Wolke.

Neue Wagen strebten rechts an ihm vorbei. Es ging so schnell, dass er nur einige Gesichter zu erkennen vermochte in dem Moment, der von ihrem Auftauchen bis zum Augenblick verstrich, da sie vom selber ausgelösten Wirbel wieder verschluckt wurden. In einem Einspänner-Gig saß Zoltán Alvinczy allein. Zwei herrschaftliche Kaleschen folgten, in denen er nur zwei Damen erkannte: die verwitwete Frau Gyalakuthy und Dodó, ihre Tochter. Jetzt zeigte sich unter gewaltigem Knattern ein amerikanischer Vierrad-Reisewagen und sauste fort wie der Wirbelwind. Tihamér Abonyi lenkte seine zwei schwarzen russischen Traber. Er kutschierte äußerst elegant, mit herausstehenden Ellbogen und an die Brust gepressten Händen. Neben ihm seine Frau, die – ach, so liebe! – schöne Dinóra, die sich zurückwandte und mit dem breiten, sinnlichen Mund und den weißen Zähnen Bálint zulachte.

Und kaum verzog sich der Staub ein wenig, da tauchte rechts schon das nächste Gespann auf: vier starkknochige, kräftige Falben. Sie eilten nicht, sondern trabten gleichmäßig. Man sah ihnen an, dass sie große Reisen gewohnt waren. Als Pferde von der Siebenbürger Heide wussten sie, was es bedeutet, auf langen Stationsstrecken zu dienen. Sie waren das pure Gegenteil von Abonyis Russenpferden. Diese rennen in wilder Hast womöglich zehn Kilometer in weniger als zwanzig Minuten, dann aber bringt man sie selbst mit dem Knüppel kein Stückchen mehr vorwärts. Die Falben dagegen legen am Tag auch hundert zurück. Der ihnen eigene, stets ruhige Trab verändert sich dabei allerdings nie, obwohl sie immer gern laufen.

Abády mochte diese altmodische, echt siebenbürgische Pferdeart. Mit den Augen des Pferdekenners blickte er dem Gespann nach. Erst als die Kalesche zum Beipferd des Fiakers aufschloss, erblickte er die Reisenden.

Auf dem Vordersitz saß ein unbekannter Herr, neben ihm die kleinere Milóth-Tochter, Margit. Hinten zwei Frauen. Das Gesicht der links Sitzenden sah er nicht mehr, doch sie war gewiss Judith, die größere, denn Adrienne, die nun schon verheiratete Schwester, saß rechts, ihr Profil der Nachbarin zugewandt. Es dauerte einen Augenblick, bis er sie erkannte, denn ihre immer flatternden Haare, die so sehr nur zu ihr gehörten, waren jetzt von einer grauen Staubhaube turbanartig an ihre Stirn gepresst. Die dicken Falten des Stoffes bedeckten auch den Hals und die Schultern. Sie trug einen Schleier, der, unter ihrem Kinn festgemacht, ihr blasses Gesicht noch schmaler machte. Ach, dennoch, gewiss ist sie es, dies ist ihre kaum gebogene, feine Nase, dies sind ihre leicht geschürzten Lippen! Auch sie wird also am Ball bei den Laczóks mit dabei sein. Es versteht sich, dass es Adrienne ist, die jetzt, verheiratet, ihre jüngeren Schwestern als Garde-Dame begleitet und nicht die säuerliche Mutter, die seinerzeit schon die Ausflüge Addys ins gesellschaftliche Leben so lästig fand.

Bálint begann zu berechnen, wie alt die Schwestern Adriennes, die er zuletzt noch als Kinder gesehen hatte, nun sein mochten. Judith konnte kaum mehr sein als siebzehn, und Margit war wohl sechzehn. Und man führt sie schon zum Ball? Doch da fiel ihm ihre nahe Verwandtschaft mit den Leuten von Siklód ein. Die Mütter waren Schwestern aus der Familie der Kendys von Bózsva, natürlich, bei solchen Familienfesten dürfen selbst Backfische mittun.

Heute Abend wird er also Adrienne Milóth wiederbegegnen. Diese Aussicht bewirkte bei ihm nichts, weder Freude noch den vorhin bei der Erinnerung verspürten grundlosen Ärger. Er nahm die Sache gleichgültig auf. Und bald fand sich anderes, was ihn fesselte und zerstreute.

Wagen anderer Art holten ihn ein. Die herrschaftlichen Zweier- und Vierergespanne waren zumeist schon vorbei. Nun folgten viele Fuhrwerke mit kurzer Wagenleiste, von einem einzigen Pferd gezogen, darauf drängten sich die aus den Nachbardörfern stammenden Bauern, manchmal zusammen mit ihren Frauen, und da sie einige Gläser gehoben hatten, grölten und sangen sie nun gutgelaunt, mochte das Sitzbrett unter ihren Hüften noch so rütteln. Sie fuhren kreuz und quer in gewaltiger Unordnung, der eine schlängelte sich rechts, der andere links, der Dritte in der Mitte durch, damit man an ihm ja nicht vorbeikam. Die vielen Székler aus der Region den Nyárád entlang, sie wetteiferten miteinander, denn die Leidenschaft der Herren lebte auch in ihnen. Sie schlugen eifrig auf ihre Pferdchen ein, auf die grauen und die braunen, und rissen mit dem Zügel am Maul der Tiere, um die Armseligen noch schneller in Trab zu bringen – »Warum bist du nicht Bischof geworden, dein Kopf ist groß genug!«

Auch einige Städter – der eine oder andere Notar, ein reformierter oder ein griechisch-katholischer Pfarrer – fuhren in der Menge, sie saßen in leichten, niedrigen Reisewagen, die ein kleiner Knecht lenkte. Ihnen wichen die Bauern allerdings nicht aus, mochten sie noch so laut schreien, sie stachelten einander bloß in bester Laune zum weiteren Wettrennen an. Der Staub wurde nun unerträglich, als schwämme alles in weißem Nebel. Man sah keine fünf Schritte weit. Da tauchte plötzlich ein Reiter auf. Es war der verrückte Baron Gazsi, wie Gáspár Kadacsay von allen genannt wurde. Er trug noch Doppelnaht-Stiefel und weiße Jockeyhosen, am Oberkörper die hellblaue offene Offiziersattila des Husarenregiments Nummer zwei und auf dem Kopf die keck schräg aufgesetzte, rote Gemeinen-Mütze. Er war an diesem Tag bei vier Hindernisrennen geritten, und da ihm das nicht reichte, galoppierte er jetzt mit einem dicken, scheckigen Pony hinaus nach Siklód. Wortlos raste er zwischen den vielen kleinen Einspännern dahin. Manchmal, wenn ihm in der dichten Staubwolke unerwartet ein Fuhrwerkschragen entgegenragte, riss er sein Pferd zurück. Einmal verlangsamte, ein andermal beschleunigte er seinen Ritt, er riss aus, schlug Haken, beschrieb schlängelnd eine Zickzacklinie, so kam er voran.

Doch kaum war er in der mächtigen Staubwolke verschwunden, vernahm man von hinten drohenden Peitschenknall. Es klang wie starkes Gewehrfeuer. Zuerst hallte es aus der Ferne, näherte sich aber in unheilvollem Tempo. Und eine scharfe, hohe Falsettstimme in schrillem Befehlston durchdrang schon von weitem das üble Geknatter der Fuhrwerke: »Hei, da! Hei, da! Weg von der Straße! Dass euch der Teufel!«

Die Székler, die bisher niemandem Gehör geschenkt hatten, wichen nun eilig auf alle Seiten aus. Keine Minute verging, und drei Pferde am Zugscheit eines Fünfergespanns schlossen in vollem Lauf zum Landauer Bálints auf: drei Pferdeköpfe mit verziertem Zaumzeug, die Nüstern weit gebläht, mit schäumendem Maul, dann folgten die Stangenpferde, so nah, dass sie das Beipferd des Fiakers beinahe streiften. Hinter den fünf Apfelschimmeln rollte ein aus Esche gefertigtes, niedriges und breites Streckfuhrwerk mit Deichsel, das man mit Eisen hart beschlagen hatte. Es schleuderte ein wenig hin und her, denn die reißende Kraft der fünf Pferde ließ den kleinen Wagen in so rasender Fahrt vorankommen, dass seine Hinterräder die Erde kaum berührten.

Jóska Kendy saß stolz im tiefen Ledersitz, der, an Riemen aufgehängt, wie eine Schaukel hin und her schwang. Steif, die Beine weit gespreizt, so saß er da, die Stummelpfeife zwischen den Zähnen. In seiner Linken hielt er die an ihrem Ende zu einem Knoten gebundenen, wie Saiten gespannten Zügel der fünf Pferde, während in seiner Rechten die lange Lederpeitsche pausenlos sauste, in der Luft rechts und links bei jeder Wendung Achter beschrieb und im Takt gewaltig knallte. Die Straße vor ihm lag schon frei, denn jedermann in der Gegend wusste, dass lange zu säumen nicht ratsam war, wenn der junge Herr Jóska einmal zu rufen begann. Er mit seinem starken Wagen konnte ein Fuhrwerk an der hinteren Wagenleiste so erfassen, dass entweder das Rad abgerissen wurde oder das Gefährt kippte. Es war allemal gescheiter, diesem einen aus dem Weg zu gehen. So machten sie ihm Platz, und das Fünfergespann verschwand.

Endlich schimmerten auf der Linken durch die Staubwolke hohe italienische Eichen. Hier folgte die Abzweigung zum Schloss Laczók. Der Fiaker bog ein, und wie er in der planierten und kiesbestreuten Allee vorankam, verstummte mit einem Mal das Dröhnen der Fuhrwerke, das Bálint in der vorangegangenen halben Stunde unentwegt begleitet hatte.