Die Schwangerschaft des Max Leif - Juliane Käppler - E-Book

Die Schwangerschaft des Max Leif E-Book

Juliane Käppler

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Beschreibung

In ihrem neuen anrührenden und gleichzeitig wunderbar komischen Roman "Die Schwangerschaft des Max Leif" konfrontiert die beliebte Autorin Juliane Käppler ihren charmanten Helden mit der größtmöglichen Herausforderung für einen männlichen Hypochonder: Er wird Vater - von Zwillingen. Über neun Monate traktiert Max Leif seine Frau, ja seine gesamte Umwelt samt seiner liebenswert-dominanten russischen Putzfrau mit immer neuen Ängsten - eine ebenso emotionale wie skurril-komische Geschichte mit hohem Wiedererkennungswert! Als Max Leif erfährt, dass seine Maja Zwillinge erwartet, avanciert er zum Schwangerschaftsmanager. Nicht nur vor ungesundem Essen bewahrt er die Frau seines Herzens, sondern auch vor fremdländischen Parasiten und den keimtechnisch riskanten Zuneigungsbeweisen von Hund Hannibal. Selbstverständlich fühlt er auch ihren Ärzten auf den Zahn, unterzieht alle am Markt verfügbaren Babyphone einem Sicherheitscheck und testet die Kurvenlage des Kinderwagens so gründlich wie die der neuen Familienkutsche. Nur eine scheint über seine Hingabe nicht sonderlich glücklich zu sein … "Von den Geschichten aus Juliane Käpplers Feder bekommt man einen ausgewachsenen Lachmuskelkater und ganz feuchte Augen. Denn diese scheinen getränkt zu sein mit jeder Menge Humor - und noch mehr Emotionen." Literaturmarkt.info

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Seitenzahl: 425

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Juliane Käppler

Die Schwangerschaft des Max Leif

Ein Roman in 9 Monaten

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Staying aLeifSeptemberGanz geringe DifferenzenVoll gemeine VorwürfeIn gefährlichen GewässernZiemlich gereizte StimmungStändig gestörte RuheEine gedankenlose EntscheidungGut gepfefferte NeuigkeitenOktoberMit entscheidender MännlichkeitWenig entspannte ZeitenIm entwaffneten ZustandLeicht entflammbare GemüterFrisch enttarnte GefahrenDer entfernte FreundZwei entsetzliche NervensägenEin entblößtes BedürfnisNovemberMit belehrendem FingerEin besonderer PartnerWiederbelebter ArgwohnHerrlich beknackte AnsichtenVoll bekotzte TageEine bedeutsame ErkenntnisDezemberDer unbedingte WunschLauter unnötige RisikenAuf unbekannten TerrassenWegen unmoralischen VerhaltensEcht unvergessliche StundenSchier unlösbare ProblemeEin unausgesprochener GedankeZu unfreiwilliger ProminenzDie unbeantwortete FrageJanuarFür ausgeglichene VerhältnisseEin ausgeflipptes IrrenhausMit ausdauerndem EinsatzZu ausländische TraditionenEine ausgefallene MethodeVon ausgesprochenen ExpertenFebruarEin aufmüpfiges HirnSanft aufblühende GewissheitMit auftrumpfendem EngagementEine aufwendige AngelegenheitIn aufgelöster PanikMärzDas eingravierte GelöbnisZwei einfältige HennenTrotz eingeworfener BedenkenSchwer einsamen HerzensDer eingebildete StarGanz eindeutige MängelAprilEcht absurder LehrstoffDie abgefahrene TatsacheNach abgewehrter AnnäherungEin absonderliches WochenendeMit abgewogenem MutDie abgehobene PutzhilfeMaiViel verwirrendes DeutschMit verflixter SorgfaltIn verdächtiger GesellschaftTotal verrücktes SchicksalDer verzauberte Mann
[home]

Staying aLeif

Ich bin der Ritter im gelben Porsche. Der Daniel Düsentrieb des Schwangerentaxis. Der selbstlose Beschützer ungeborenen Lebens. Das sind die Headlines, mit denen die Presse mein Engagement betitelt. Mein nicht ganz freiwilliges Engagement. Ich hatte keine Wahl.

Mit der Erinnerung gezolltem Schaudern falte ich die Samstagszeitung zusammen und lege sie neben mich auf die Fliesen, lehne den Kopf gegen die Eingangstür und schließe die Augen, als es zum zehnten Mal klingelt. Und klopft. Und tönt: »Herr Leif, machen Sie doch mal auf! Kommen Sie schon! Nur eine Frage!«

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich zwei nackte Beine. Majas schöne, nackte Beine. Sie stecken in karierten Pyjamashorts. Darüber trägt sie ein Hemdchen. Sie stemmt die Hände in die Seiten.

»Max, ernsthaft«, höre ich von ihr. »Soll das den ganzen Tag so gehen? Das ganze Wochenende, wenn es hochkommt? Zieh dir was Anständiges an oder bleib meinetwegen im Schlafanzug, aber beantworte denen bitte die eine verdammte Frage.«

Es ist nie nur eine Frage. Die erste Frage geht in die zweite über und die in die dritte, und an irgendeiner Stelle erzählt man dann irgendeinen Mist, der weitere Fragen nach sich zieht. Außerdem … ich will nicht in die Zeitung. Ich will bloß meine Ruhe. Auch das Notebook, das links neben mir steht und mir die Berichte anderer Zeitungen präsentiert hat, klappe ich zu.

»Die sollen sich vom Acker machen«, knurre ich.

»Meinetwegen. Dann sag denen halt das und komm zum Frühstück. Wie lange willst du hier noch sitzen? Echt, ich finde das nicht witzig.«

Gestern fand sie das noch. Zum Kaputtlachen fand sie es. Sie hat gelacht, bis sie zuerst einen Schluckauf und dann Bauchschmerzen bekommen hat, während ich dumpf vor mich hinbrütend auf der Terrasse gehockt habe. Sie hat gemeint, das sei typisch für mich, so was könne nur mir passieren. Ich hoffe, es passiert mir nie wieder.

Ich will mich gar nicht erinnern, doch die Bilder und Worte – vor allem die Worte – überrollen meinen Geist. Ich sehe sie wieder vor mir, die zwei Spuren der A67 kurz vor Darmstadt. So wenige Kilometer vor dem Ziel, Frankfurt am Main, ging gar nichts mehr. Stau mit Stillstand. Die erste Fahrt im neuen Lieblingsauto hatte ich mir schon zu diesem Zeitpunkt ganz anders vorgestellt, doch es sollte noch schlimmer kommen.

Weil Maja im Kindergarten unentbehrlich war, habe ich Flo zur Werksabholung eingeladen. Mit dem Zug sind wir am Morgen nach Zuffenhausen gefahren, haben das Porsche-Museum besucht, uns am vom Autobauer gesponserten All-you-can-eat-Büfett gelabt und endlich das Geschoss übernommen – einen Porsche in Racing-Gelb. Auf dem Erinnerungsfoto stehen mir die Freudentränen in den Augen, wohingegen Flo wegen der Farbe, die er als Vergewaltigung einer Legende bezeichnete, eher gequält grinst. Der Stau mit Stillstand hat ihn schließlich so sehr frustrierst, dass er zu telefonieren begann. Er ist Marketingleiter meines Ex-Unternehmens, LeifMusic, und hatte nach unserer Tour noch einmal ins Büro gewollt, um notorisch bis Mitternacht zu arbeiten. Auf meinen Einwurf hin, dass das Büro auch nach Mitternacht noch steht, hat er geschnaubt und den Manager einer Band angerufen, um über die Konditionen für den Vertrag zu sprechen. Indes habe ich mir die Route für die erste richtige Ausfahrt des Porsches zusammen mit Maja überlegt. Sie mag die Farbe und fand es verrückt, dass ich mit dem Kauf so lange gewartet habe.

Es ist bald zwei Jahre her, dass ich meine Hypochondrie überwand und mit ihr die Panik vor schnellen Autobahnfahrten, wegen der ich Flo meinen alten Porsche vermacht hatte. Ich hätte mir sofort ein neues Geschoss zulegen können, doch ich hatte beschlossen, damit zu warten, bis beide Gruppen in Majas Kindergarten jeweils acht Kinder stark sind – und die Einrichtung so gut wie ausgebucht ist. Ein Jahr nach der Eröffnung, im vergangenen Juni, war es so weit. Inzwischen gibt es im Kling Klang, so heißt Majas auf musikalische Früherziehung fokussierte Kindertagesstätte, wie in vielen anderen Kinderbetreuungseinrichtungen der Stadt eine Warteliste.

Flos Telefonat dauerte an, und er tat mir ein bisschen leid. Nicht so sehr, weil er so beschäftigt ist, sondern vielmehr, weil ihm nicht bewusst ist, mit welchem Schwachsinn er sich einen Großteil seiner Zeit befasst. Wie viel Nerven er dabei lässt. Dank meiner damaligen Einsicht habe ich mein Unternehmen, mein Lebenswerk, relativ spontan losgelassen. Einen Job ohne Musik konnte ich mir aber nicht vorstellen, nur mit dem Markt selbst wollte ich nichts mehr zu tun haben.

Heute bin ich Musiklehrer im Kling Klang. Das lag nahe, denn ich habe den Kindergarten praktisch aus dem Boden gestampft – für Maja – und beherrsche zwei Instrumente. Klavier und Gitarre. Neben Instrumenten- und Singstunden findet für die älteren Kinder Notenunterricht in kleineren Gruppen statt. Den betreut ausschließlich Annette, die als Erzieherin und Musikpädagogin eine entsprechende Ausbildung hat. Außerdem hat sie die Jüngeren in ihrer Obhut. Um Maja zu entlasten, kümmere ich mich nebenbei um alles Organisatorische. Um die Buchhaltung, um Bestellungen und Einkäufe, um alles, was nicht so ist, wie es gehört, und um kaputte Dinge. Ich bin der Mann für fast alle Fälle. Lediglich Kinder sind nicht so mein Fall, was aber schlichtweg daran liegt, dass ich nie mit ihnen zu tun hatte und mich noch an sie und ihre Eigenarten gewöhnen muss. Es ist gewiss nicht so, dass ich sie nicht mag. Ich will sie mögen, aber manche Exemplare machen es mir schwer. Ich es ihnen aber auch. So einiges habe ich dazugelernt, und obwohl es an den wenigsten Tagen im Kindergarten entspannt zugeht, bin ich doch vollkommen glücklich mit meiner Entscheidung.

 

Der Stau dauerte jedenfalls an. Ich schloss mein Fenster, damit die Wärme des Augusttages draußen blieb, und lehnte mich an Flo vorbei zum Handschuhfach, um die Gebrauchsanweisung herauszunehmen und darin zu blättern. Dabei fiel mein Blick auf den Wagen, der neben uns auf der rechten Spur stand. Hinter dem Lenkrad saß eine Blondine und schaute mit seltsam starrem, anscheinend hasserfülltem Blick herüber.

»Was hat die denn für ein Problem?«, murmelte ich, ohne Flos Aufmerksamkeit zu bekommen, nahm die Mappe mit den Fahrzeugdetails aus dem Handschuhfach und wollte mich zurücklehnen, da runzelte die Frau die Stirn und öffnete den Mund, als würde sie schreien. Ihr Blick war geradezu angsteinflößend. Zunehmend besorgt beobachtete ich, wie sie die Tür aufstieß und ausstieg. Mein Verstand hielt es für unwahrscheinlich, dass sie etwas Schreckliches planen könnte – eine Beule in den Kotflügel meines Porsches treten oder die Frontscheibe mit einem Baseballschläger einhauen –, aber mein Verstand ist nicht der anderer Leute, die Kinoereignisse auf der Straße erwarten. Wozu Menschen so fähig sind, erfährt man allerdings täglich in allen Medien, und so nahm ich an, dass diese Lady zumindest ein überzogenes Vorurteil gegen Porsche hegte oder dass die Farbe – Racing-Gelb – eine Aggression bei ihr auslöste.

In null Komma nix stieg ich ebenfalls aus und eilte um den Wagen herum, um die Blondine zu beruhigen.

Das war mein Fehler.

Die Frau schrie und krümmte sich. Vor Schreck hielt ich inne, bewegte mich aber weiter, als sie ein tierisch klingendes Grunzen von sich gab.

Vorsichtig legte ich ihr die Hand auf den Rücken und fragte: »Haben Sie Schmerzen?«

Sie umschlang mein Bein mit beiden Armen, schrie noch einmal und ächzte: »Es geht los.«

Ratlos sah ich mich um. Flo saß noch im Wagen, telefonierte und hatte nichts mitbekommen. Von hinter den Windschutzscheiben anderer Autos glotzten mich Leute an. Ich wandte mich wieder an die Frau und löste ihre Arme sanft von meinem Bein, damit ich mich vor sie hocken und sie anschauen konnte. Sie richtete sich aber auf, starrte mit wildem Blick auf mich herab und legte die Hände auf ihren Bauch. Als ich die Rundung unter ihrem luftig-weiten Sommerkleid bemerkte, wurde mir klar, was losgeht.

Mit einem »Ach du meine Güte!« sprang ich auf und wollte zurückweichen, doch sie packte mein Handgelenk und drückte so fest zu, dass die Blutzufuhr zu den Fingern sicher unterbrochen wurde. Unglaublich, was dieses mit Ausnahme ihres Bauches zierliche Wesen von schätzungsweise zwanzig Jahren für eine Kraft hatte.

»Willst du dich jetzt verpissen, oder wie?«, fauchte sie.

»Nun ja, genau genommen …«, hob ich an, kam aber nicht weiter, weil sie sich wieder krümmte und brüllte.

»Sie brauchen einen Arzt«, stellte ich fest und erntete dafür ein: »Scheiße, du Arsch, tut das weh!«

Ich versuchte, meine Hand zu befreien. »Würden Sie kurz mal loslassen, dann könnte ich mein Handy holen und telefonieren.«

Sie zog ein Loslassen nicht mal in Erwägung, sondern packte auch meinen bis dahin freien Arm und drückte mit gleicher Schraubstock-Power zu. »Bis der hier ist, Idiot, ist er da.«

Nicht den Arzt kündigte sie an, sondern das Kind. Ein Junge. Ich rang um Konzentration und warf Flo einen hilfesuchenden Blick zu, doch der telefonierte immer noch. Aus den umgebenden Autos stiegen Leute. Offenbar aber nur, um besser sehen zu können.

»Ist hier jemand Arzt?«, rief ich mit versucht ruhiger Stimme, doch der Gedanke, Geburtshelfer auf einer Autobahn zu sein, trieb mir den Schweiß auf die Stirn. »Hallo? Irgendein Arzt?« Mit einem schrecklich hilflosen Gefühl in der Brust sah ich von einem geschüttelten Kopf zum nächsten.

»Ich bin Friseurin«, rief eine Frau.

»Und ich Fleischereifachverkäufer«, kam es von einem Mann.

»Wir sind Rentner«, stellte ein grauhaariges Paar klar.

»Ich bin zwar nur Hypnotiseur«, meldete sich von irgendwo anders irgendwer anders. »Aber meine Frau hat schon vier Kinder bekommen und dabei immer gelegen.«

Ich wusste nicht, wohin ich sie legen sollte – doch nicht auf den Asphalt –, aber wenn sie nicht lag, befürchtete ich, würde das Kind vielleicht einfach … aus ihr rauspurzeln. Furchtbare Vorstellung.

»Sie müssen sich hinlegen«, sagte ich der plötzlich hechelnden Blondine also und machte einen Schritt auf ihr Auto zu. Weil sie mich festhielt, tappte sie mit mir mit. Auf dem kurzen Stück gelang es mir, wenigstens eine Hand aus ihrem Griff zu lösen. Ich öffnete die hintere Tür ihres glücklicherweise größeren Wagens und stieg ein. Sie musste mir folgen, ließ sich auf der Rückbank nieder und legte sich hin, als ich die gegenüberliegende Tür öffnete und ausstieg. Wie befürchtet gab sie mich nicht frei, also hockte ich mich hin und versuchte, sie zu beruhigen, da verkrampfte sie sich, hielt den Atem erst an und ließ ihn dann mit einem gequälten Laut aus der Lunge.

»Das war eine Presswehe«, stellte irgendwer fest.

Ich war schockiert. Sie konnte doch jetzt nicht pressen! Nicht bevor ein Arzt da war.

»Bitte nicht pressen«, raunte ich ihr zu, doch sie funkelte mich wütend an und schimpfte:

»Leicht gesagt, du verdammter Spinner! Du Scheißkerl hattest ja nie Presswehen. Kein Scheißkerl weiß, wie das ist. Ihr schwanzgesteuerten …«

»Mein Gott, schon gut!«, fiel ich ihr ins Wort, aber sie war nicht aufzuhalten.

»Gar nichts ist gut. Und hör mir bloß mit Gott auf! Noch so ein Scheißkerl, der beschlossen hat, dass diesen Mist hier Frauen erledigen sollen. Wäre Gott eine Frau …«

Diesmal unterbrach sie sich selbst, weil sie mit einer neuen Presswehe zu tun hatte. Dabei umklammerte sie mein Handgelenk so fest, dass jedes Gefühl aus meinen Fingerspitzen wich.

»Was ist denn hier los?«, hörte ich von Flo, der endlich fertig telefoniert hatte und ausgestiegen war.

»Sie bekommt ein Kind«, erklärte ich ihm über das erneut einsetzende Schimpfen der Frau hinweg, hob den Kopf und schaute in seine entgeisterte Miene. In seinem Blick stand ganz klar die Frage, was ich mit all dem zu tun hätte.

»Ich dachte, sie wollte den Porsche demolieren«, fügte ich also an.

Flo kratzte sich am Kopf und kommentierte das mit einem »Aha«, da ertönte weiter hinten auf der Autobahn eine Sirene.

»Die Polizei!«, entfuhr es mir mit einem Geistesblitz. »Halt sie an und sag ihnen, was los ist! Die Frau muss in ein Krankenhaus.«

»Wir haben einen Notruf gemacht«, kam es vom Rentnerehepaar.

»Danke, das ist gut«, entgegnete ich, während ich die sich auf der Rückbank windende Frau musterte. »Möglicherweise brauchen wir aber tatsächlich eine schnellere Lösung.«

Flo trabte zum Seitenstreifen, auf dem sich der Polizeiwagen mit Blaulicht näherte, und stoppte ihn mit erhobenen Händen. Wenig später waren er und die beiden Beamten bei mir und der Frau.

»Folgen Sie uns auf dem Seitenstreifen«, beschloss einer der Polizisten kurzerhand. »Die nächste Ausfahrt liegt nur zwei Kilometer entfernt, und der Unfall, zu dem wir müssen, hat sich dahinter ereignet. Fahren Sie Ihren Wagen von der Autobahn und bringen Sie Ihre Frau nach Darmstadt ins Krankenhaus.«

Ich wollte den Männern erklären, dass das weder mein Wagen noch meine Frau war, da spurteten sie schon zurück zu ihrer Streife, fuhren an und warteten, dass ich folgte. Während Flo half, mein Handgelenk aus dem Griff der keifenden und pressenden Blondine zu lösen, beschloss er, mir im Porsche zum Krankenhaus zu folgen. Gedanklich total überfordert, saß ich bald hinter dem Steuer des Kombis, startete den Motor und lenkte das Fahrzeug unter dem Beifall der Zuschauer auf den Seitenstreifen. Auf dem Weg zur Ausfahrt verfluchte ich Gott. Nicht weil er das Gebären zur Aufgabe der Frauen gemacht hatte, sondern weil er das eine so schockierende Prozedur hat sein lassen. Als Allmächtiger hätte er sicher eine dezentere Lösung finden können, aber wer die Bibelgeschichte kennt, weiß ja, was er sich dabei gedacht hat. Gott könnte das inzwischen, nach den paar Jahrtausenden, vergessen und vergeben haben, doch offenbar ist er über die Maßen nachtragend.

Bei einem besonders schrillen Schrei der Frau auf dem Rücksitz erschrak ich so sehr, dass ich das Gas mit der Bremse verwechselte und dem vor mir mit Blaulicht und Sirene düsenden Polizeiwagen beinahe drauf fuhr. Am Ende aller Nachsicht angelangt, biss ich mir auf die Lippe, um ihr nicht zu sagen, dass sie sich zusammenreißen und Verständnis für meine Stresssituation haben solle, da beruhigte sie sich und verlangte nach ihrer Tasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Ich reichte sie ihr. Sie riss sie mir aus der Hand. Im Rückspiegel beobachtete ich, wie sie ein Telefon herauskramte und es an ihr Ohr presste.

»Du bist so ein Versager!«, brüllte sie wenig später in einem Ton, der mir einen vom Scheitel zur Sohle laufenden Schauder bescherte. »Ich bekomme gerade deinen Sohn, und zwar auf der Rückbank des Scheißautos meiner Mutter. Ein wildfremder Kerl, der ein Irrer oder Perverser sein könnte, kutschiert mich ins Krankenhaus, eskortiert von der Polizei, während du wahrscheinlich faul in die Glotze starrst und Pizza frisst. Du hebst deinen trägen Arsch jetzt besser von der Couch und schwingst ihn in die Klinik, sonst will ich dich nie wieder sehen. Verstehst du? Nie wieder!«

Die arme Sau!, dachte ich mir und umklammerte das Lenkrad mit inzwischen schweißnassen Händen.

Die Blondine schmiss das Telefon weg und ergab sich den Strapazen einer neuen Wehe, während ich aus der Ausfahrt düste. An deren Ende wartete eine andere Streife, die wahrscheinlich von den eben getroffenen Kollegen dorthin bestellt worden war. Sie übernahm meinen Fall und verschaffte mir und Flo im Schlepptau freie Fahrt zur nächsten Darmstädter Klinik.

 

Nach einem tiefen Atemzug nehme ich die Zeitung und falte sie auseinander. Vom Titelbild lächeln mir die nun nicht mehr schwangere Jasmin und ihr Mann Roberto mit dem kerngesunden neuen Erdenbürger Adriano glücklich entgegen. Gemäß den Berichten bedauert Jasmin es, nicht mal meinen Namen zu kennen. Das dürfte sich inzwischen geändert haben, denn die Presse hat ihn innerhalb weniger Stunden herausgefunden. Mein eigener Fehler.

Irgendein Arsch auf der Autobahn hat meinen Porsche, den Racing-gelben, mitsamt seinem Kennzeichen fotografiert. Genau so ist er in der Zeitung gelandet. Als ich gestern nach Hause kam, war ich so fertig, dass ich den Wagen nicht in die Garage gefahren, sondern in der Auffahrt stehen gelassen habe. Saublöd, Max! Wirklich ein saublöder Fehler!

Natürlich bin ich froh, dass es Mutter und Kind gutgeht, dass auch der Vater überlebt hat, aber ich will mich einfach nicht äußern, verdammt! Ich will dieser Held nicht sein. Ich war die Presse, die mir in meinem Ex-Job oft genug am Arsch klebte, los und mag meine ganz persönliche Pressefreiheit. Da sie sich aber recht genau an mich, den Ex-Produzenten, erinnert, klingelt und klopft und ruft sie mit jeder Minute lauter. Ihre Bitten sind längst nicht mehr freundlich, sondern provokant.

Maja reicht mir die Hand. Ich sehe zu ihr hoch, zögere und lasse mich von ihr auf die Füße ziehen.

»Frühstück«, sagt sie und zwinkert mir zu.

Ich folge ihr in die Küche und stelle eine Tasse unter den Kaffeeautomaten. Mit dem heißen Schwarzen in der Hand trete ich durch die offene Tür in den Garten, der glücklicherweise hinter einer hochgewachsenen Hecke liegt.

Hannibal, unser Dobermann, wärmt sein schwarzes Fell in der Morgensonne. Mit einem »Hey, Kumpel« kraule ich ihm den Kopf und mache einen nächsten barfüßigen Schritt, der mich erstarren lässt, denn ich trete auf etwas Pelziges, Weiches.

Mit einem angeekelten »Bah! Verdammt!« mache ich einen Satz nach vorn, verschütte Kaffee und fahre herum, um die tote Maus zu betrachten. Wie immer ist noch alles dran, weder ein Ohr noch ein Bein fehlt. Fein säuberlich wurde sie ums Leben gebracht.

»Hannibal! Wo ist Lecter?«, brumme ich, doch erhalte vom Hund keine Antwort. Als hätte er keine Ahnung, schaut er zu mir hoch und lässt die Zunge aus dem Maul hängen. Also drehe ich mich um, halte nach dem Killer Ausschau und entdecke ihn hinter einem der Gartenstühle. Halb versteckt linst er hervor und miaut, dann tappt er herbei und umschmust meine Beine.

Das funktioniert immer, und er weiß es. Ich vergesse den Groll und stelle den Kaffee auf dem Gartentisch ab, um den roten Tiger hochzunehmen. »Du sollst keine Mäuse für mich töten!«, sage ich ihm vorwurfsvoll, doch er blinzelt und beginnt zu schnurren.

»Er liebt dich nun mal so.« Das kommt von Maja.

Mit vor der Brust verschränkten Armen steht sie in der Terrassentür.

»Dann soll er die Mäuse leben lassen. Entgegen seiner Natur.«

Sie lacht und schlendert an mir vorbei in den Garten. »Er kann nicht gegen seine Natur an. Das ist seine Art, danke zu sagen.«

Ich lasse mich in einen Stuhl plumpsen und plaziere den Kater auf meinem Schoß. Er stemmt die Vorderpfoten auf meine Brust und stupst mir die nasse Nase gegen die Wange. Die tote Maus blende ich aus, und die Anspannung fällt von mir ab, da höre ich einen neuerlichen Ruf, diesmal von hinter der Hecke.

»Herr Leif, sind Sie im Garten? Wir wollen Sie doch nur ganz kurz sprechen. Wie war das denn für Sie?«

Maja stöhnt. Und ich möchte am liebsten aufspringen und irgendeinen Pflanzenkübel über die Hecke schleudern.

Wie das für mich war? Furchtbar.

Ich habe Furchtbares gesehen, bin Zeuge prinzipiell menschenunwürdiger Qualen geworden. In mancher Sekunde glaubte ich, die Frau stirbt mir weg. Ich war heilfroh, dass der Vater des Kindes im Krankenhaus wartete und sie mich endlich losließ, um ihn in den Klammergriff zu nehmen. Die Abdrücke ihrer Nägel habe ich an meinem Handgelenk. Auch ihre Schreie hallen noch in meinen Ohren, ihre Beschimpfungen und übelsten Beleidigungen.

Ich will das nie wieder erleben!

[home]

September

Ganz geringe Differenzen

In der Nacht von Samstag auf Sonntag, als Maja und ich das Licht im Haus ausschalteten, verließ die Presse ihre Stellung vorm Haus. Sicherheitshalber wartete ich noch eine Stunde ab, dann schlich ich nach draußen und fuhr den Porsche in die Garage.

Am Sonntag ging das Theater zwar weiter, und Maja wurde richtig sauer, doch ich versprach ihr, dass es sich bald erledigt haben würde. Die Presse würde bald ein neues Fressen finden, das aktueller war, und sich darauf stürzen. Da ich mit dem Verkauf von LeifMusic an Popularität verloren habe und sich eigentlich niemand, den es nichts angeht, mehr für mein Leben interessiert, ist nicht bekannt, dass ich im Kling Klang arbeite, also konnten Maja und ich heute, am Montagmorgen um sieben Uhr, unbeobachtet aufbrechen. Natürlich nicht im Porsche, sondern im schon länger vorhandenen Auto, dem VW Käfer.

Acht Stimmchen begleiten mich jetzt auf dem Piano. Die Jungen und Mädchen zwischen fünf und sieben treffen jeden Ton, was man von einer Reihe erwachsener Profi-Sänger nicht behaupten kann. Hatice und Tabea schauen mich beim Singen mit großen Augen an und formen die Töne mit Vorsicht, während Lucy beim Trällern mit den Fingern auf dem Piano trommelt, als würde sie die Aufgabe total langweilen. Marlene und Gwyneth finden insbesondere das Uh uh huu uh huu uh huu im Refrain so toll, dass sie lange vorher grinsen und aufgeregt hopsen. Sahid, Arthur und Janosch sind zwar auch tonsicher, haben aber Textschwierigkeiten, oder besser gesagt: Sie texten um und verwandeln die Zeile mit dem gebrochenen Beat schnell einmal in »Brich ins Beet mit Gefühl. Du bist so schön, wenn du das machst«.

Ich unterbreche das Spiel und wende mich an die Jungs: »Macht das noch einmal und ihr müsst morgen Flöte üben.«

Weil die drei die Flöte für ein Mädcheninstrument halten, vergeht ihnen der Spaß. Arthur hebt zu einer Rechtfertigung an: »Aber wir dachten, das geht so, und deshalb …«

»Erzähl das deiner Großmutter!«, unterbreche ich ihn und haue wieder in die Tasten. Diesmal klappt bei Tanz der Moleküle, einem Song der Band MIA, alles so, wie es soll.

Nach dem letzten Ton vom Piano klatschen die Kids in die Hände, hüpfen herum und rufen: »Noch mal, Max, bitte noch mal singen«, also stimme ich den Song ein weiteres Mal an. Während der zweiten Strophe betritt Maja das Zimmer. Um nicht zu stören, tappt sie auf Zehenspitzen zu einem Hocker, setzt sich und hört zu.

Eine weitere Zugabe gibt es nicht, denn in der verbleibenden Stunde, bis das Kling Klang schließt, steht Spielen im Garten auf dem Plan. Maja geht mit den Kids aus dem Zimmer. Ich höre, wie sie die kleine Meute bittet, eine Minute mausestill zu sein und eine Zweierreihe zu bilden. Ich klappe den Deckel über den Tasten zu und stehe auf, da kommt Maja zurück ins Zimmer. Das Lächeln von eben ist von ihren Lippen verschwunden. Eindeutig verärgert kräuselt sie die Stirn und klatscht einen Zettel aufs Piano.

»Der ist von Frau Wallbusch-Schabrowski«, flüstert sie dazu, damit die Kinder vor der Tür sie nicht verstehen.

»Ah, mal wieder.« Ich nehme den Zettel und entfalte ihn.

Die Frau schreibt mindestens einmal im Monat, obwohl sie ihrem Unmut über dieses und jenes bereits zweimal täglich Luft macht, nämlich wenn sie ihren Sohn Janosch bringt und wenn sie ihn wieder abholt. Bei den mündlichen Beschwerden handelt es sich meist um Kleinigkeiten. Mit ihren Briefen verleiht Frau Wallbusch-Schabrowski ernsteren Problemen einen offiziellen Charakter.

Sehr geehrte Frau Rados,

lese ich heute,

abermals muss ich Sie auf Unstimmigkeiten in Ihrer Kindertagesstätte aufmerksam machen. Besonderen Anlass zum Schreiben gibt mir aktuell der in Ihrer Einrichtung angebotene Musikunterricht. Immer häufiger singen die Kinder der Regenbogengruppe Radiomusik statt gängige Kinderlieder bekannter Liedermacherinnen und Liedermacher. Ausdrücklich möchte ich klarstellen, dass Janosch weder Luftgitarre spielen noch hätbängen lernen soll, vielmehr soll Ihr Musikunterricht die Basis für seine klassische Instrumentalausbildung sein. Musik, zu der man Luftgitarre spielen und hätbängen kann, halte ich nicht nur für kontraproduktiv, sondern auch für schädlich. Darüber hinaus bereiten mir folgende Problematiken Kopfzerbrechen:

1. Mir fiel auf, dass die im Juni zur Regenbogengruppe hinzugekommene Lucy abwechselnd von zwei Frauen abgeholt wird. Als ich Janosch darauf ansprach und er mir erzählte, dass Lucy zwei Mütter statt Mutter und Vater hat, blieb mir fast die Sprache weg. Ich bitte Sie eindringlich, zu überdenken, ob den Ihrer Einrichtung anvertrauten Kindern mit einer derartigen Elternkonstellation nicht ein vollkommen falsches Familienbild vermittelt wird, und rate zu einer Entfernung von Lucy aus dem Kling Klang.

2. Janosch hat letzte Woche Freitag seine Jacke mit der Jacke von Arthur vertauscht. Zugegeben besitzen beide Kleidungsstücke eine gewisse Ähnlichkeit, sind aber durch die Label im Nacken eindeutig zu unterscheiden. Bei Janoschs Jacke handelt es sich um Markenware, während die von Arthur vom Discounter ist. Leider hatte Arthur Janoschs Jacke gestern nicht an, so dass wir nicht zurücktauschen konnten. Bitte fordern Sie Arthurs Mutter auf, Janoschs Jacke herauszugeben. Ich befürchte, dass der Frau nach der Scheidung das Geld knapp wird und sie sich auf fremde Kosten bereichert. Sollte kein Austausch stattfinden und ich das Kleidungsstück auf einer Verkaufsbörse im Internet finden, werde ich polizeiliche Schritte einleiten.

3. Bei Janoschs Eingewöhnung hatten Sie in Erwägung gezogen, vegane Kost einzuführen. Bis heute bieten Sie jedoch lediglich vegetarisches Essen als Alternative an. Bitte informieren Sie mich, wann es vegane Gerichte geben wird.

4. Mir ist aufgefallen, dass die Deutschkenntnisse des kleinen Arabers nach wie vor zu wünschen übrig lassen. Da der Junge bedauerlicherweise mit Janosch befreundet ist, besteht die Gefahr, dass er ihm im Zuge der Verständigung arabisches Vokabular beibringt, womit mein Mann und ich keinesfalls einverstanden sind. Ferner müssten bei dem Kind die Prioritäten geordnet werden. In diesem Sinne sollte er Deutsch lernen, bevor er sich an einem Instrument versucht, dies insbesondere, wo in seiner Kultur wahrscheinlich nur Buschtrommeln und Schlangenflöten gespielt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Natascha Wallbusch-Schabrowski

 

Ich lasse den Brief sinken und bemühe mich, ernst zu bleiben. Wenn ich jetzt lache, könnte mir Maja ernsthaft böse werden.

»Hast du mit Big Mama wegen veganer Küche geredet?«, frage ich, weil mir das am unverfänglichsten erscheint.

Big Mama ist die Köchin des Kling Klang. Eigentlich heißt sie Latifah Dauphine, aber niemand nennt sie so. Ihr Spitzname lässt nicht nur auf ihren Körperumfang schließen, sondern auch auf ihre dunkle Haut. Sie stammt aus Louisiana, kam vor vielen Jahren aus Liebe zu einem hier stationierten US-Soldaten nach Deutschland und blieb, obwohl die Liebe nicht hielt. Weil ihre kreolischen Wurzeln ihr Wesen noch immer ausmachen, ist sie ohnehin der Meinung, dass sie unsere zwei Vegetarier mangelernährt. Auf dem Vegan-Ohr dürfte sie taub sein.

»Nein«, gibt Maja zähneknirschend zurück. »Nicht im Traum. Ebenso wenig werde ich Lucy entfernen oder Sahid zum Deutschkurs schicken. Darum geht es gerade auch nicht, sondern um deinen Musikunterricht.«

»Ist ein Scherz, oder?« Ich lasse den Brief flattern, stehe auf und lehne mich ans Piano. »Du hast uns eben gehört. Das war doch gut, und es hat den Kids Spaß gemacht. Außerdem haben wir vorher Bruder Jakob gesungen, im Kanon.«

Maja verschränkt die Arme. »Das mit dem Headbangen irritiert mich aber, und ich muss der Frau eine Antwort geben. Welches Lied war vorige Woche deine Alternative zu den Kinderliedern?«

Ich wappne mich innerlich. »Das war Wünsch dir was.«

Maja zieht die Brauen hoch. »Das ist doch von …«

»… den Toten Hosen, jepp.«

Zuerst zuckt es um Majas Mundwinkel, dann legt sie den Kopf zurück und lacht. »Max, du kannst mit den Kids keine Songs von den Toten Hosen singen.«

»Wieso nicht?« Ich nehme Majas Hand, will sie an mich ziehen, besinne mich aber auf die neugierige Meute, die vor der Tür wartet. »Der Song enthält nicht ein Schimpfwort, dafür jedoch jede Menge gesellschaftlich und sozial wertvolle Weisheiten.«

Ungeachtet der Kinder legt sie die Hand an meine Wange, streicht mit dem Daumen darüber und stellt sich für einen Kuss, einen nur ganz kurzen, auf die Zehenspitzen.

»Ich lasse mir was einfallen für Frau Wallbusch-Schabrowski«, sagt sie und versucht, das mehrstimmige »Ihh!« von draußen zu übertönen. Dann geht sie. Als sie in die Hände klatscht und ein Spiel ankündigt, trappeln die Jungs und Mädchen hinter Maja die Treppe hinunter ins Parterre, von wo aus es in den Garten geht.

Ich trete ans Fenster des Musikzimmers. Das goldene Licht der Nachmittagssonne liegt über den Grasflächen und dem Spielplatz. Die Gruppe mit den jüngeren Kindern spielt unter der Aufsicht von Annette und Lena, einer weiteren Erzieherin. Saskia, die neben Maja und mir für die Großen zuständig ist, hat schon Feierabend.

Mit den Älteren wird es laut im Garten. Auf einer Bank im Schatten sitzt Big Mama und schaut dem Gewimmel zu, bevor sie sich um die Vorbereitung des morgigen Essens kümmert.

»Du, Max?«, ertönt ein Stimmchen hinter mir.

Ich wende mich um und entdecke Janosch Schabrowski im Türrahmen.

»Hey, was machst du denn hier? Du bist doch gerade mit Maja und den anderen in den Garten gegangen.«

»Ich durfte wieder rein, weil ich pieseln muss.«

Mein Blick fällt auf den dunklen Fleck rund um den Reißverschluss seiner Jeans. »Richtig dringend, hm?«

Er nickt, ignoriert seine nasse Jeans und fährt fort: »Rate, was ich werden will, wenn ich groß bin!«

Weder mit Feuerwehrmann noch mit Polizist oder Astronaut liege ich richtig.

Voller Ungeduld verrät mir der Kleine seinen Berufswunsch: »Ich will eine tote Hose werden«, raunt er. »Aber das darf meine Mama nicht wissen. Sie sagt, die Toten Hosen würden Harz bekommen und gar keine Musik machen, sondern nur Lärm.«

»Ich verrate es keinem. Ehrenwort.« Mit einem verkniffenen Grinsen gehe ich zu Janosch und reiche ihm die Hand. »Komm, du nasse Hose, suchen wir dir eine trockene.«

Janosch nimmt meine Hand. Auf dem Weg zu seinem Fach in der Garderobe erzählt er mir, wie er leben wird, wenn er eine tote Hose ist.

Voll gemeine Vorwürfe

Bist du Cheld, Max Leif, Cheld in gelbem Auto Sport«, sagt Jekaterina Poljakow. Dann legt sie ihre Hände an mein Gesicht und kneift mir in die Wangen. »Bin ich stolz auf dich.«

Wie gewohnt hat sie ihr platinblondes Haar in einem Dutt fixiert und so viel Make-up aufgetragen, als wolle sie in einem Club abfeiern: grüner Lidstrich, grüne Wimpern, rosa Wangen, knallroter Mund. Jede andere Putzfrau würde so figurbetonte Kleidung, wie die Russin sie trägt, wahrscheinlich als hinderlich empfinden, doch in mittlerweile sieben Jahren habe ich Jekaterina Poljakow nie in einer Schürze oder mit Schlappen an den Füßen gesehen.

»Wieso sind Sie so sicher, dass ich das war?« Ich nehme ihre Hände aus meinem Gesicht, denn meine Wangen brennen schon vom Kneifen.

Jekaterina Poljakow verzieht abschätzend den Mund. »Ist logisch. Bild von gelbe Auto Sport chängt an Brett in Küche, und wusste ich, cholst du ab an Freitag.«

»Bestimmt gibt es mehr Männer in Frankfurt, die einen gelben Porsche fahren.« Das hoffe ich zumindest.

»Ist meglich, aber sind die nicht schichtern wie du, Max Leif, und mechten bestimmt gern in Zeitung sein.«

»Okay.« Ich schöpfe tief Atem und lasse ihn mit einem Seufzen aus meiner Lunge. »Behalten Sie das aber bitte für sich. Sprechen Sie nicht mit der Presse, und erzählen Sie auf keinen Fall, dass ich hier arbeite. Sonst rennen die uns im Kling Klang auch noch die Bude ein.«

»Werde ich schweigen wie Gruft«, verspricht sie und schlüpft aus ihren Pumps, um die Dielen, die in den Gruppenräumen liegen, nicht zu beschädigen. Auf dem Weg zur Abstellkammer, wo sie sich mit Eimer, Schrubber und Putzmittel bewaffnen will, passiert sie die Garderobe, zu der ich es noch nicht geschafft habe.

Nach dem Gespräch mit Natascha Wallbusch-Schabrowski war Maja so erledigt, dass sie vor ein paar Minuten nach Hause gefahren ist. Das grobe Aufräumen wäre heute allein meine Sache – würde sich Jekaterina Poljakow nicht einmischen.

»Ist Stall von Schweine!«, ruft sie beim Anblick der kreuz und quer stehenden winzigen Hausschuhe, von denen einige mit heruntergefallenen Regenjacken drapiert sind. Ich entdecke auch mehrere Paar Gummistiefel, die sicher zum Spaß aus dem Schrank geholt und angezogen wurden.

Jekaterina Poljakow schnalzt mit der Zunge und stemmt die Hände in die Seiten. »Schlampige Eltern sind das, die erziehen schlampige Kinder. Kommst du nach Russland, Max Leif, und gehst in Kindergarten dort. Herrscht da Ordnung, sonst …«

Was sonst geschieht, will ich gar nicht wissen und versuche, die Russin zu stoppen. »Frau Poljakow, lassen Sie das doch.«

»Njet! Kommt in Frage nicht!«, schimpft sie und sammelt die Jacken auf. Sie hängt sie an die Haken, plaziert die Schuhe paarweise in Reih und Glied unter der Sitzbank und greift sich die Gummistiefel. »Ist morgen nur schlimmere Stall von Schweine sonst. Denken sie alle, blede Putzfrau macht das schon.«

In schwungvollen Bewegungen stellt sie die Stiefelchen in den Schrank und sorgt auch dort für militärische Ordnung, dann nähert sie sich mir mit erhobenem Zeigefinger. Der Ärger färbt ihre Wangen röter als das Rouge.

»Ist das meine Pflicht? Njet! Chabe ich Arbeitsvertrag, der sagen: Kommen von Montag bis Freitag um siebzehn Uhr. Musst du in zwei Stunde wischen Boden und Treppen, desinfizieren Klos und Waschbecken, bringen Müll raus und putzen Fenster manchmal. Steht da nicht: Musst du räumen Krempel von schlecht erzogene deutsche Kinder.«

»Dann machen Sie das doch einfach nicht, Frau Poljakow. Kümmern Sie sich lieber um die Küche.«

Sie hebt den Kopf, verengt die Augen zu Schlitzen. »Njet. Amerikanka ist drin.« Mit einem weiteren Schnauben dreht sie sich um und wackelt zur Abstellkammer.

Natürlich, der Staatsfeind! Big Mama ist noch da. Nach über einem Jahr hat es die Russin nicht verwunden, dass Maja und ich eine Amerikanerin eingestellt haben – als Einzige hier nennt sie sie nicht Big Mama. Die Abneigung beruht allerdings auf Gegenseitigkeit.

Ich gehe in den ersten Gruppenraum, um das herumliegende Spielzeug wegzuräumen, bevor sie es entdeckt und einen weiteren Koller bekommt, da klingelt es. Mit der Vermutung, dass ein Kind etwas vergessen hat, kehre ich um, schließe die Tür auf und öffne.

»Hen ich et doch jesacht«, dröhnt Machete. »Is de Max nit zu Haus, is er sischer im Kling Klang.«

An seiner Seite stehen eine Frau und ein Mann – sie mit einem Aufnahmegerät in der Hand, er mit einer Kamera vor der Nase, aus der sofort Knipsgeräusche kommen. Weil ich so überrascht bin, dauert es ein paar Sekunden, bevor ich begreife: Klaus Kuhn alias Machete, seines Zeichens Versicherungsmakler, wusste ebenfalls, dass ich meinen Porsche am Freitag aus Zuffenhausen hole. Schließlich hat er die Versicherung des Fahrzeugs vermittelt. Eigentlich lebt er in Düsseldorf und ist vermutlich wegen anderer Mandanten oder seiner Schwester, die zufällig meine Ärztin ist, in der Stadt.

»Mensch, Jong!«, lacht er und haut mir auf die Schulter. »Halb Frankfort socht dich. Weißt du dat denn nit?« Er richtet sein Jackett über dem nicht ganz zugeknöpften Hawaii-Hemd, in dessen Ausschnitt eine Goldkette hängt, und wendet sich zu seinen Begleitern um. »Dat is nun der Ritter in dem jelben Jeschoss.«

»Lächeln Sie mal!«, sagt der Fotograf und knipst weiter.

»Wo steht denn der Porsche?«, fragt die Reporterin. »Wir hätten gern ein Foto mit Ihnen vorm Auto. Wie war das denn für Sie? War es stressig? Hatten Sie Angst, dass das Kind auf der Autobahn geboren wird?«

»Max Leif, schaust du Klo an! Ist Frechheit bodenlose!«, zetert Jekaterina Poljakow irgendwo hinter mir.

Ich fühle mich vollkommen überfordert.

»Hier gibt’s keinen Porsche«, brummele ich. »Und es gibt nichts zu sagen.«

Der Fotograf nimmt den Apparat vom Gesicht, und auch die Reporterin scheint verunsichert. »Der kleine Adriano würde Sie gern kennenlernen und sich bedanken.« Bei diesen Worten legt sie die freie Hand auf ihren Bauch.

Sie ist schwanger! Auch. Als mir das klarwird, weiche ich wie von Geisterhand gezogen einen Schritt zurück.

»Richten Sie der Familie schöne Grüße aus«, presse ich hervor. »Ich wünsche allen beste Gesundheit und ein langes, zufriedenes Leben …«

»Sie wollen das Baby nicht sehen?« Die Reporterin klingt schlagartig empört und runzelt die Stirn. »Wie sind Sie denn bitte schön drauf?«

»Nix för onjot, Max«, klinkt sich Machete ein. »Dat is ens keine jroße Sache. Schnappschoss mit dem Porsche, Schnappschoss mit dem Säuchleng. Schon is jut, und du kannst widder ding Kindergarten managen.«

Noch ein Wort und ich vergesse meine gute Kinderstube!

»Es ist meine Entscheidung, wann ich wo was manage, wem ich was erzähle oder von wem ich mich für welchen Zweck auch immer fotografieren lasse.«

»Das hab ich alles auf Band«, droht die Reporterin.

»Und keine Genehmigung zur Veröffentlichung«, drohe ich zurück.

»Sie sind ja ein Riesenarsch!«, ächzt sie. »Unfassbar!«

»Ach? Jetzt kommen die Beleidigungen. Na, auf die hab ich ja schon gewartet. Was werfen Sie mir als Nächstes an den Kopf? Männer sind feige Schweine? Von Gott bevorzugte Schwächlinge? Winselnde Feiglinge, die eine Schwangerschaft nicht überleben würden? Eine Geburt schon gar nicht.«

Machete und der Fotograf schweigen bedächtig, doch die Reporterin reagiert mit einem: »Das gibt’s ja nicht! So ist das. Sie haben was gegen Schwangere!«

»Ich hab überhaupt nichts gegen Schwangere, sondern sehe bloß nicht ein, mich ständig von einer beleidigen zu lassen, weil sie ihre Hormone nicht unter Kontrolle hat.«

Während die Reporterin hochrot anläuft, hebt der Fotograf eine Hand vor den Mund, und auch Machete scheint über meine Worte erschrocken – als hätte ich was absolut Falsches gesagt.

»Hormone?«, keift die Frau und kommt einen Schritt näher. »Sie sind der letzte Husten, ein ganz erbärmlicher Mistkerl, Sie Ausgeburt von einem Macho-Widerling.«

Ich will ihr nicht erklären, dass ich kein Macho bin, sondern bloß, wie andere Männer, verletzbaren Stolz habe, ahne aber, dass wahrscheinlich jedes neue Wort auf die Goldwaage gelegt werden wird. Da kreischt es hinter mir im Haus.

»Max, musst du kommen cher sofort! Ist ein Pa-uk in Dusche! Ein sehr große Pa-uk!«

Meine Chance!

»Wat is in der Dusche?«, grunzt Machete.

»Ein Pa-uk«, gebe ich schnell zurück. »Ein riesiger! Ich muss unbedingt helfen. Sorry, Leute!« Damit werfe ich den dreien die Tür vor der Nase zu und lehne mich einen Moment gegen die nächste Wand, um zur Ruhe zu kommen. Auf Jekaterina Poljakows zweites Kreischen hin setze ich mich in Bewegung.

Sieben Jahre Gesellschaft einer Russin haben meine Russischkenntnisse nicht merklich verbessert, mich aber sensibel für bestimmte Vokabeln gemacht. Aus diesem Grund weiß ich, dass ich bei Pa-uk springen sollte, denn das bedeutet Spinne. Durch nichts und niemanden ist Jekaterina Poljakow vom Putzen abzuhalten, mit Ausnahme von Spinnen.

Mit vor Ekel verzerrtem Gesicht presst sie sich an den Türrahmen des Badezimmers und deutet in Richtung Dusche. »Ist Gigant! Machst du tot oder bin ich weg.«

Ihrem Mann mag diese Drohung ein Befehl sein. Jekaterina Poljakows Schilderungen zufolge zerquetscht er die Krabbeltiere mit dem Daumen – was wiederum mir ein Gruseln beschert. Unter dem Protest meiner Putzfrau fange ich die im Durchmesser kaum zwei Zentimeter große Spinne in einem Zahnputzbecher ein, öffne ein Fenster und schüttele sie in die Freiheit. Leben und leben lassen – das ist meine Devise. Schade, dass nicht alle, insbesondere nicht schwangere Reporterinnen, das so sehen. Unter Garantie formuliert sie in diesem Moment die Headline des saftigen Artikels über den vermeintlichen Held.

In gefährlichen Gewässern

Ich habe das Wochenende neu schätzen gelernt und beginne jeden Samstag mit einer Routine: auf den Wecker linsen und feststellen, dass er nicht geklingelt hat, obwohl es schon halb zehn ist. Das Auge wieder zumachen, mich auf die andere Seite rollen, unter Majas Bettdecke kriechen, sie an mich ziehen und an ihrer Haut schnuppern. Wieder eindösen.

Heute kann ich die Prozedur nur zum Teil ausführen, denn Majas Seite ist schon leer. Also ziehe ich ihre Bettdecke an mich, schnuppere daran, genieße die herrliche Ruhe und döse vor mich hin. Ich mag meinen Job total, aber der tagtägliche, sich von Stunde zu Stunde steigernde Lärm hat es in sich. Nur zum Vergleich, wie still es gerade ist, stelle ich mir vor, am Vormittag, kurz vor dem Mittagessen, die Tür des Kling Klang aufzuziehen, einzutreten und Wämmm! – mittendrin bin ich in der Kakophonie: Quietschen, Heulen und Kreischen vermengen sich mit Stimmengewirr, dem Trappeln von zig kleinen Füßen, dem Klimpern von Geschirr, dem Scheppern von herunterfallendem Besteck. Da hinein tönen weinende Puppen, bellende Stoffhündchen, tutende Autos, jaulende Feuerwehrsirenen, klingelnde Spielzeughandys.

Maja sagt, sie hört das alles gar nicht mehr. Ich höre es sehr wohl und bin manches Mal ein bisschen froh, dass mein Musikzimmer eine schallisolierende Tür hat.

Heute dagegen: himmlische Ruhe. Hin und wieder zwitschert ein Vogel, das schon trocknende Laub raschelt im Wind, und eine verwirrte Hummel brummselt gegen das gekippte Fenster. Doch davon abgesehen … miaut es. Heftigeres Laubrascheln, ein Krächzen und Flügelschläge ertönen, dann miaut es lauter. Noch ein-, zweimal, bis der Ton eine klägliche Note bekommt. Jetzt bellt es auch. Eindeutig Hannibals hundert Dezi-Bell, in das sich Majas Stimme mischt.

Unschlüssig, ob ich gebraucht werde, drehe ich mich auf den Rücken und schaue erneut zum Wecker. Gerade mal fünf vor zehn ist es, doch die ach so gelobte Samstagmorgenroutine ist wohl beendet. Mit einem Seufzen setze ich mich auf, stelle die Füße vors Bett, reibe mir übers Gesicht und strubbele mir durch die Haare, um wach zu werden, dann stehe ich auf und tappe zum Fenster.

Maja schleppt eine Leiter zum einzigen Baum im Garten, vor dessen Stamm Hannibal inzwischen nur noch kläffend sitzt und hochschaut. Auf dem untersten Ast, in etwa drei Metern Höhe, tänzelt Lecter und miaut immer theatralischer, weil er nicht runterkommt. Als Maja die Leiter zu erklimmen beginnt, beeile ich mich, nach unten zu kommen, und entere den Garten mit den Worten:

»Warum rufst du mich denn nicht?«

»Musst du bei dem Lärm noch gerufen werden?«, lautet Majas trockener Kommentar. Sie ist bereits beim Ast angekommen, schnappt sich Lecter und klettert die Leiter wieder runter, wobei sie sich mit nur einer Hand festhält. Ich kann gar nicht hinsehen.

»Wie ist er da überhaupt raufgekommen?«, frage ich mit dem Luftzug, der aus meiner Lunge braust, als ich den angehaltenen Atem gehen lasse, weil Maja festen Boden erreicht.

Sie lässt Lecter gehen, der wie ein Blitz ins Haus schießt. Hannibal stellt das Kläffen ein und trottet hinterher.

»Na, wie schon.« Sie nimmt die Leiter vom Baum, um sie zurückzuschleppen, und schnaubt, als ich sie ihr abnehme. »Er ist hochgeklettert, wie Katzen es tun. Die verdammte Krähe hat ihn wieder genervt, und er wollte sie fangen.«

Die Krähe ist ein seit Jahren beständiger Gast in unserem Garten. In ihrer Jugend trieb sie Hannibal in den Wahnsinn, und seit ihm ihr provokantes Gehopse egal ist, veranstaltet sie es für den Kater – der, wie einst der Dobermann, so dumm ist, darauf hereinzufallen.

Ich bringe die Leiter an ihren Platz und folge Maja in die Küche, wo sie den Tisch fürs Frühstück gedeckt hat. Während sie Orangensaft einschenkt, grummelt sie: »Du hast die falsche Butter gekauft.«

»Wieso das?« Bleib ruhig, Max! Sie hat ihre fünf Minuten! Reagier nicht auf den stachelnden Tonfall!

»Du hast irische Butter aufgeschrieben. Die hab ich mitgebracht.«

»Die ist aber ungesalzen.«

Noch mal: Bleib ruhig! »Macht das einen Unterschied?«

»Natürlich!« Maja stellt den Saft ab und funkelt mich an. Die Narben, die über ihre linke Schläfe und Wange verlaufen, färben sich rot, wie immer in dieser Stimmung. »In der ungesalzenen Butter ist kein Salz.« Das sagt sie, als sei ich ein bisschen blöd.

Ohne einen weiteren Kommentar gehe ich an ihr vorbei zum Gewürzregal und greife mir das Salz. Schnell habe ich die verdammte Butterschachtel in der Hand und salze den Inhalt ordentlich. Im Augenwinkel sehe ich, wie Maja die Arme vor der Brust verschränkt, und gebe noch ein paar Extraprisen obendrauf.

Mit einem »So!« stelle ich die Butter auf den Frühstückstisch. »Passt es nun?«

Maja schüttelt den Kopf. »Aber sonst ist alles fit?«

Auch den Salzstreuer stelle ich auf den Tisch – falls doch noch Bedarf bestehen sollte. »Du meinst, abgesehen davon, dass ich dir seit einigen Tagen absolut nichts recht machen kann?«

»Nee, Max, komm mir jetzt nicht so!«

»Ist doch aber wahr. Ich mache alles falsch. Kaufe die falsche Butter, singe die falschen Lieder, bin nicht da, um den Kater vom Baum zu holen.«

»Eine Runde Mitleid für Max Leif!«, spottet sie, und das gibt mir den Rest.

Mit einer Erstens-zweitens-drittens-Rede will ich ihr ein paar Takte erzählen, da verzieht sie das Gesicht, hebt die Hände an den Kopf, presst die Fingerspitzen an die Stirn. Augenblicklich ist mir aller Wind aus den Segeln genommen.

»Was ist los, Schatz?« Im Nu bin ich bei ihr, fasse sie vorsichtig bei den Schultern. Sie ist starr wie ein Stein. »Maja?«

Sie atmet gepresst und drückt die Finger fester gegen die Stirn.

»Kopfschmerzen?«, frage ich leise und hoffe, dass sie das verneint, obwohl alle Zeichen darauf hindeuten.

Sie nickt, blinzelt zu mir hoch und legt eine Hand auf ihren Bauch. »Mir ist auch ein bisschen schlecht. Ich sollte mich hinlegen.«

»Kann ich dir irgendwie …«

»Nein. Ich muss nur kurz liegen.« Sie wendet sich um, geht ins Foyer und zur Treppe. »Ein, zwei Stunden.«

Hilflos blicke ich ihr nach.

Majas letzte Kopfschmerzattacke liegt über ein Jahr zurück, und ich war zuversichtlich, dass diese Phase überwunden ist. Menschen, die ein Schleudertrauma hatten, leiden häufig längere Zeit danach an Kopfschmerzen, doch Majas Autounfall liegt inzwischen vier Jahre zurück. Dass diese Qual wieder da ist, in Verbindung mit Übelkeit noch dazu, macht mich nervös. Es ist merkwürdig, dass so lange nichts war, und auf einmal, praktisch aus dem Nichts, kehren die alten Beschwerden zurück. Vielleicht rühren diese neuen Kopfschmerzen gar nicht vom Unfall her, sondern haben eine ganz andere Ursache.

Nein! Ich will an keine andere Ursache denken! Will nicht, will nicht! Doch das Wort Hirntumor buchstabiert sich vor meinem geistigen Auge und beginnt, sobald es komplett ist, rot zu blinken.

Es ist Stress! Bloß Stress! Bestimmt ist es das, sage ich mir und hocke mich an den Frühstückstisch, ohne auch nur eine Sache anzutasten.

Eine halbe Stunde später habe ich ein mit Butter versalzenes Brötchen hinuntergezwängt und übe den Indianerblick mit Lecter, der Majas Platz eingenommen hat. Eigentlich ist er heiß auf den Schinken, doch ich lasse ihm keine Gelegenheit, sein Objekt der Begierde zu fixieren. Hannibal hockt neben meinem Stuhl und hechelt in der Hoffnung, dass der Kater einen Happen abbekommt. Dann ist für ihn gewöhnlich auch einer drin.

»Das Frühstück ist vorbei, Jungs«, knurre ich.

Von Sekunde zu Sekunde mieser gelaunt, räume ich den Tisch ab und schaue dann nach Maja. Sie hat sich ins Bett gelegt und schickt mich mit leisen, erschöpften Worten weg. Das Telefon klingelt. Machete ruft an, um mir zu erzählen, dass ich vom Ritter zum Tyrann degradiert wurde. Jetzt bin ich ein hasserfüllter Unmensch, der werdende Mütter psychisch fertigmacht und eine schwangere Reporterin angepöbelt hat. Machete klingt, als wolle er sich für den Überfall mit den Zeitungsleuten entschuldigen, aber ich würge ihn ab und verkrümele mich mit dem Notebook ins Wohnzimmer auf die Couch, um den Mist im Internet nachzulesen.

Auf der Startseite eines Nachrichtendienstes, der sich seinen einst guten Ruf verspielte, indem er News unter dem Niveau der schlechtesten Boulevardzeitung zu seinem Steckenpferd gemacht hat, sehe ich eine Schlagzeile, die mein Herz stolpern lässt:

Plötzlich Kopfschmerzen. So grausam starb Stacy M. aus Ohio

Schon habe ich geklickt und befinde mich im Artikel, der über den Kopfschmerz berichtet, den Stacy M. in Verbindung mit Übelkeit hatte und schließlich in einem Krankenhaus behandeln lassen wollte. Die Ärzte dort diagnostizierten eine Meningitis, konnten jedoch nicht helfen und brachten die Frau in eine Spezialklinik, wo man ebenso machtlos war. Nach ein paar Tagen schlimmster Qualen, Halluzinationen und anschließendem Koma verstarb die Frau. Wenig später fand man heraus, was oder besser wer die Meningitis ausgelöst hatte: die Gehirnfresser-Amöbe, ein einzelliger Parasit.

In null Komma nix bin ich bei Google, um mir detaillierte Informationen zu holen, und werde auf einer medizinischen Seite fündig. Meine Nackenhaare stellen sich auf, als ich lese, dass vor allem Wassersportler in stehendem Süßwasser vom Parasiten befallen werden, denn an einem besonders heißen Augustwochenende vor zwei Wochen waren Maja und ich zum Schwimmen am Langener Waldsee – ein Gewässer, das zweifelsohne so stehend wie süß ist. Ich erinnere mich, dass sie neben mir geschwommen, für ein paar Meter untergetaucht und prustend wieder aufgetaucht ist. Was, wenn sie dabei vom Parasiten angefallen wurde und er über die Nase und den Geruchsnerv in ihr Gehirn gekrochen ist?

Panik treibt mein Herz an.

Maja muss sofort zu einem Arzt!

Ziemlich gereizte Stimmung

Maja wollte zu keinem Arzt und hat die Gesamtheit der Mediziner als gleichgültige Schnösel bezeichnet. Insbesondere abschreckend fand sie wohl die Vorstellung, in einer Bereitschaftspraxis zwischen hustenden und niesenden Leuten zu sitzen oder in der Uniklinik sechs Stunden lang auf einen überarbeiteten Mitarbeiter mit mäßigen Deutschkenntnissen zu warten. Davon, dass es als Privatpatient ein wenig anders läuft, wollte sie sich nicht überzeugen und hat ihr Leid ertragen.

Von der Gehirnfresser-Amöbe habe ich ihr nichts erzählt, um sie nicht zu beunruhigen, doch in mancher Minute musste ich mit mir ringen. Am Samstagnachmittag verschwanden Kopfschmerz und Übelkeit zwar, doch am Sonntag war beides wieder da. Dasselbe heute, am Montag, und endlich ist sie einsichtig. Annette übernimmt das Aufräumen am späten Nachmittag, so dass Maja und ich zu meiner Ärztin fahren können.

Damals, nach dem Autounfall, wurde Maja zuerst von Spezialisten in Kliniken betreut und trat nach ihrer Entlassung eine Odyssee an, die von einem Allgemeinmediziner zum nächsten führte. Weil bei den einstigen Kopfschmerzen ausschließlich der Notfall-Dooby half, sprich Marihuana, verzichtete sie ganz auf den schulmedizinischen Rat und hat seither keinen Hausarzt mehr. Heute wird sich das ändern. Dr. Ingrid Bärbeißer ist zwar nicht dusselig und plump wie ihr Bruder, Machete, doch als die Liebenswürdigkeit in Person kann ich sie auch nicht bezeichnen. Trotz ihrer Bärbeißigkeit hat mir die Ärztin aber schon einige Male geholfen – auch beim Ausräumen eines Verdachts.

Maja findet es total bescheuert, dass ich sie begleite. Auf der Autofahrt schimpft sie und bedauert es, am Morgen mit mir im Käfer statt wie sonst so oft auf dem Rad zum Kling Klang gefahren zu sein. Ich gebe es nicht zu, bin aber froh darüber, denn ich kann mir vorstellen, dass sie die Probleme vor Dr. Bärbeißer herunterspielt. So schmuggele ich mich nicht nur an ihrer Seite in die Praxis, sondern während des initiierten Small Talks mit der Arzthelferin auch ins Sprechzimmer. Maja kommt nicht dazu, mich rauszuschmeißen, denn Dr. Bärbeißer ist sofort bei uns.

»Herr Leif, wir haben uns ja ewig nicht gesehen«, sagt sie und wirkt dabei ehrlich erfreut.