Die sieben Tode des Max Leif - Juliane Käppler - E-Book
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Die sieben Tode des Max Leif E-Book

Juliane Käppler

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Beschreibung

Witzig, wehleidig, wunderbar! Max Leif ist ein Überflieger, immer auf der Überholspur, immer ganz vorn. Doch jetzt wird er ausgebremst, vom Tod höchstpersönlich. Der holt sich seinen besten Freund, und Max weiß einfach: Er ist der Nächste. Das plötzliche Fieber kann nur eine HIV-Infektion sein, der schmerzende Magen eine exotische Seuche und der Husten erst … Die Beteuerungen der Ärzte, die Beruhigungsversuche seiner Freunde, ja selbst die energischen Kommandos seiner russischen Putzfrau Jekaterina helfen nicht gegen die Macht von Max' Einbildung. In Erwartung seines baldigen Ablebens verkauft er sein Unternehmen und trifft hektisch weitere Vorkehrungen. Denn einfach so sterben ist nicht drin! Zuerst muss er einen Weg finden, die eine Sache zu regeln, die in keinem Testament erscheinen darf ...

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Seitenzahl: 432

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Juliane Käppler

Die sieben Tode des Max Leif

Ein Hypochonder-Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Max Leif ist ein Überflieger, immer auf der Überholspur, immer ganz vorn. Doch ganz unerwartet wird er ausgebremst, vom Tod höchstpersönlich. Der holt sich seinen besten Freund, und Max weiß einfach: Er ist der Nächste. Das plötzliche Fieber kann nur eine HIV-Infektion bedeuten, der schmerzende Magen muss irgendeine exotische Seuche sein und der Husten erst … Die Beteuerungen der Ärzte, die Beruhigungsversuche seiner Freunde, ja selbst die energischen Kommandos seiner russischen Putzfrau Jekaterina helfen nicht gegen die Macht von Max‹ Einbildung. In Erwartung seines baldigen Ablebens verkauft er sein Unternehmen und trifft hektisch weitere Vorkehrungen. Denn einfach so sterben ist nicht drin! Zuerst muss er einen Weg finden, dem einen Menschen, dem er tiefstes Unrecht angetan hat, ein gutes Leben zu sichern.

Inhaltsübersicht

WidmungStill aLeifJuniDie unheimliche BedrohungLauter unsortierte GedankenGanz ungünstiges TimingEine unfreundliche ExpertinTotal unmännliche ProzedurenZwei unbeschwerte GemüterDer unnötige AufstandEin unfassbares GlückGanz unerwartete GesellschaftJuliSehr verschwitzte StundenSieben verdammte FehlerIn vereinsamter NachtArg verflixte PeinlichkeitenDie verkannte KrankheitDer vertonte AbgangViel verheiztes BenzinWenig versöhnliche WorteEin verregneter AbschiedEine verwirrende NachrichtAugustEndlos ausufernde LangeweileVoll ausgewachsene ParanoiaEine ausführliche BegründungEin ausgedehnter ServiceWegen ausgesperrter VernunftDas austauschbare DanachManch ausschweifende IdeeRecht ausgefallene AblenkungEine ausgesprochene FrechheitSeptemberDas geliebte AutoEine gefährliche ReiseDie gehasste TiradeGanz gewaltige IrritationenIn geselliger RundeFrisch gegrillte NervenKein gewöhnlicher GastDer gebremste MutOktoberUnter bewölktem HimmelDas befristete GeheimnisDrei beschriebene ZettelDie begründete SorgeEin bewegter MannZiemlich beherzte SchlägeLeicht beschwingtes SchicksalDer betrunkene GeistNovemberEin entmutigtes HerzSchwer entgleiste GefühleKeine entspannte MinuteEine entnervte ÄrztinDer entbehrte FreundVoll entfaltete TraurigkeitNeu entwickelte KräfteBitter enttäuschende SätzeGanz entsetzliche SchmerzenDezemberDas erbärmliche EndeDie erstaunliche ErkenntnisHalbwegs erfreulicher BesuchEine erquickliche SpritztourMit erstaunlicher LeichtigkeitDanke …
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Für meinen Großvater

im Licht

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Still aLeif

Ich hab das Leben verflucht, die Zeit angehalten und mich auf einer Insel versteckt. Jetzt will ich nur weg. Weg von Sansibar, so schnell wie möglich. Und aus Afrika. Aber das ist so groß. Seit drei Stunden fliegen wir schon über diesen Kontinent, haben gerade mal Tansania, Kenia, Äthiopien und die Hälfte des Sudans hinter uns gebracht. Seit drei Stunden starre ich auf das Flugzeug, das auf dem Monitor vor mir Afrika überquert. Es bewegt sich im Schneckentempo. Außer ich setze den Zoom auf das Maximum. Dann kommen wir auf Igel-Geschwindigkeit.

Der Monitor ist ein Business-Class-Standard-Touchscreen. Ein paarmal tatschen für die neuesten Filme, eine Runde Mensch ärgere Dich nicht oder Vivaldis Vier Jahreszeiten. Grandios wäre es, könnte man das Flugzeug über der Landkarte antippen und die Route nach Wunsch manipulieren, denn was mir unter Final Destination angezeigt wird, ist absolut inakzeptabel. Ich will nicht nach Frankfurt und hämmere so lange auf das Minussymbol ein, bis ich die gesamte Welt sehen kann, um nach Zielen zu suchen, an die ich das Flugzeug ziehen könnte. Ich würde gern an einen Ort fliegen, an den sich kaum eine Menschenseele verirrt. Nach Spitzbergen, auf den Mount Everest oder nach Mecklenburg-Vorpommern, die Küste ausgenommen.

Das Flugzeug im Auge behaltend, lege ich eine Hand auf meinen Magen, der seit dem Start rumort und schmerzt. Beim Anblick des leeren Platzes neben mir rumort er noch mehr, und das ganz und gar elende Gefühl, das mich seit zehn Tagen im Griff hat, schnürt mir die Kehle zu. Paul hätte dort sitzen sollen. Mein Paul, der mit mir durch dick und dünn gegangen ist. Von der Sandburg bis zum Börsengang. Paul war immer da. Er war an meiner Seite, als mir Friedhelm Biermann in der Dritten mit Prügel drohte, weil ich ihm mein Snickers nicht geben wollte. Er hat mir Joints zur Beruhigung gedreht, als ich Die Toten Hosen für die Schülerzeitung interviewen durfte. Er war da, als ich fürs Abitur eine Ehrenrunde drehen musste, indem er mit dem Studium gewartet und ein soziales Jahr eingelegt hat. Er füllte mich mit Tequila ab, als Frederike Diekhoff einen anderen heiratete. Er hörte zu, als ich die Idee zu LeifMusic hatte, und er redete so lange auf mich ein, bis ich das Projekt startete. Er stand mir bei, nach dieser Katastrophe vor zwei Jahren, war mein Gewissen und sorgte dafür, dass ich heute in den Spiegel schauen kann. Er war da, als ich während eines Interviews umkippte.

Diagnose: Akutes Koronarsyndrom.

Auf Patientendeutsch: Herzinfarkt.

Ursache war nicht, wie zuerst vermutet, eine Arteriosklerose, denn meine Gefäße waren nicht verkalkt, sondern verkrampft. Die krampfartige Verengung unterbrach die Versorgung des Herzens und ließ mich kollabieren. Als mittelschwerem Fall verpasste man mir statt des Bypasses sogenannte Stents, welche die Gefäße weit halten und die Durchblutung des Herzens sicherstellen sollen. Unter Umständen. Ich dürfe nicht glauben, so die Ärzte, weiterhin wie ein Duracell-Häschen durch ein von Hektik und Stress bestimmtes Leben hopsen zu dürfen. Mein inneres Gleichgewicht sollte ich herstellen, und zwar durch einen geregelten Tagesablauf, freie Wochenenden, pünktliche Feierabende und liebevolle Zuwendung von Lieblingsmenschen. Fast alles Fremdworte und prinzipiell undenkbar! Das mit der liebevollen Zuwendung wollte ich aber definitiv in Angriff nehmen. Da sah ich Möglichkeiten. Bedauerlicherweise verspielte Claudia den Status Lieblingsmensch, weil sie mich an meinem ersten pünktlichen Feierabend in den Tulpen liegend empfing, mit dem Gärtner zwischen ihren Beinen.

Blieb nur noch ein Lieblingsmensch.

»Max, das wird wieder!«, hat Paul gesagt, während er Claudias Pumps die Absätze abhackte, weil ich mich schonen sollte. »Jetzt höre mal auf die Ärzte und tritt kürzer! Ohne Wenn und Aber! Leg eine Auszeit ein! Ich mache sogar mit. Ich brauche das genauso sehr wie du, habe nur noch Stress in der Redaktion. Lass uns in den Urlaub fliegen!« Nachdenklich hat er den hellblauen Pumps auf dem Holzklotz betrachtet, dann die Axt geschwungen und ihn entabsatzt. »Mal ehrlich«, hat er sowohl mich als auch sich selbst gefragt. »Was ist nur aus unserem Leben geworden?«

Ich hatte viel Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, und war zu dem Schluss gekommen, dass aus meinem Leben das geworden war, was ich daraus gemacht hatte. Dass ich Jahreszeiten weder kommen noch gehen sah und Familienfeiern so regelmäßig verpasste wie andere Events, die mir einen Hauch sozialen Lebens bescheinigt hätten, daran war ich selbst schuld.

Ich liebe Musik, seit ich denken kann. Ohne ein besonderes Interesse, selbst welche zu machen. Ich spiele ganz gut Gitarre und Klavier, aber mit meiner Stimme könnte ich Fliegen tot von der Wand fallen lassen. Hinter das Mikro habe ich nie gewollt, sondern lieber auf die andere Seite, wo ich noch mehr Musik hören konnte. Ich wollte sie finden, die Diamanten, sie schleifen und putzen. Nicht für den Mainstream. Die Charts habe ich natürlich nicht ignoriert, doch mir war immer bewusst, wie viele unfassbar begabte Menschen in deren Schatten sangen. Die all jenen den Stinkefinger zeigten, die ihnen sagten, wie ihre Musik für ein Studioalbum bitteschön zu sein habe. Mir auch, als ich noch bei Sony war und ihnen das eingereichte Tape mit Bedauern zurücksendete. Dabei war mein Bedauern echt, und mit jedem grandiosen, nicht mainstreamkompatiblen retournierten Tape potenzierte sich meine Frustration über den Verlust der musikalischen Vielfalt, den die Musiklabels mit ihrer Produktionspolitik verursachten. Ich zog die für mich einzig logische Konsequenz, hängte meinen Job an den Nagel und gründete LeifMusic. Der Erfolg, den ich zum Leben natürlich brauchte, war, nicht überraschend, an Bedingungen geknüpft, an Kompromisse. Denn nun bekam ich den Stinkefinger von anderer Seite gezeigt und kämpfte gegen Windmühlen, um die von mir produzierten Alben auch auf dem Markt zu plazieren. Einen ersten Kompromiss ging ich ein, indem ich ein Duo unter Vertrag nahm, das seine Musik weder selbst schrieb noch sonderlich gut sang. Die beiden Jungs machten massentauglichen Herzschmerzpop und sahen vor allen Dingen gut aus. Ihre erste Single schlug wie eine Bombe auf dem Markt ein, und das Schicksal von LeifMusic nahm seinen Lauf. Ziemlich bald brauchte ich einen Profi an meiner Seite und stellte Florian, kurz Flo, für das Marketing ein.

Heute, zehn Jahre später, produziere ich fünfzehn Prozent der deutschen Charts und habe regelmäßig Übernahmeangebote von Sony, Warner & Co. auf dem Tisch. Gemäß Flo ist mein Jahresziel die Zwanzigprozenthürde. Als er mir das zwei Monate nach meinem Infarkt sagte, lauschte ich in mich und erkannte mein eigentliches Ziel: weniger Termine, weniger Selbstlüge, weniger schlechte Musik. Mir wurde klar, wie recht Paul mit seiner Behauptung hatte, dass wir eine Auszeit brauchten, also buchten wir den Last-minute-Urlaub in Tansania.

Abermals blinzele ich zum leeren Platz neben mir, und meine Kehle wird noch enger.

Zwei Tage vor unserem Urlaub rief mich Paul aus dem Krankenhaus an. Er konnte kaum sprechen, weil er so husten musste. Bei ihm im Krankenzimmer erfuhr ich, dass er außer dem Husten Herzrasen und Schmerzen im Bein hatte. Er habe eine Thrombose und könne nicht mitfliegen, sagte er und wollte mich erwürgen, falls ich den Urlaub sausenließ. Kurz vor Mitternacht legten sich der Husten und die Schmerzen. Ich fuhr nach Hause. Am nächsten Morgen hielt ich am Krankenhaus, um zu sehen, ob es Paul inzwischen gut genug ginge, um doch mitfliegen zu können.

Da war er schon eine Stunde tot.

Nicht mehr am Leben! Von einem Tag auf den anderen.

Eben noch im Meeting. Jetzt schon tot.

Nicht. Mehr. Da.

Wegen einer verdammten Thrombose, die innerhalb von zwanzig Stunden eine Lungenembolie ausgelöst hatte.

Unter Schock verließ ich das Krankenhaus. Unter Schock stieg ich ins Flugzeug. Unter Schock checkte ich in das Fünfsterneresort auf Sansibar ein, das als Oase, in der Sie den Alltag vergessen angepriesen worden war. Ich könnte reklamieren, denn ich erinnere mich, obwohl ich alles getan habe, um zu vergessen: Ich habe bis zum Vergessen gesoffen, bis zum Vergessen getanzt und bis zum Vergessen gevögelt. Egal wie besoffen ich war, ich habe niemandem etwas erzählt. Nicht von Paul. Nicht von meinem Herzinfarkt. Nicht von Claudia. Nicht von LeifMusic.

Okay, kleine Korrektur an dieser Stelle; einem habe ich von LeifMusic erzählt: Klaus Kuhn aus Düsseldorf, Spitzname Machete, hat letzte Nacht beim Absacker an der Bar davon erfahren.

Machete fläzt zwei Reihen vor mir, schaufelt sich den dritten Gang des Menüs rein, säuft seinen vierten Whiskey und ist schon wieder voll wie ein Eimer. Eben, nach dem zweiten Gang, hat er der Stewardess seine Telefonnummer zugesteckt und sie eingeladen, doch auch mal zu ihm zum Kochen zu kommen.

»Prost, Jong!« Machete hebt mir den Whiskey entgegen. »Schau net so bedröppelt! Man soll doch aufhören, wenn et am schönsten ist.«

Damit meint er den Urlaub, wie mir mit einigen Sekunden Verzögerung bewusst wird. Ich zwinge meine Mundwinkel nach oben und nicke ihm zu.

Er ruft die Stewardess zu sich und zeigt mit dem Daumen in meine Richtung. »Leckerschen, bring dem Jong mal ennen Klaren! Dat arme Dier hat enne Depression.«

Fragend schaut sie mich an. Ich hebe die Hände und verneine. Jeden der drei Gänge habe ich ausfallen lassen. Ich will keinen Sekt und kein Selters und schon gar keinen Whiskey, keine intensive Business-Class-Zuwendung, sondern nur meine Ruhe, endlich raus aus dem Flugzeug und etwas gegen diese verdammte Übelkeit einnehmen.

Die Stewardess kommt zu mir. Sie beugt sich herab und erkundigt sich mit dem obligatorischen Lächeln: »Ist alles gut bei Ihnen?«

Ob alles gut ist? Gut?

Das Flugzeug gerät in ein Luftloch und verliert einige Meter an Höhe, die mein Magen so schnell nicht ausgleichen kann. Er protestiert vehementer. Zeitgleich mit dem Signal, dass man sich anschnallen soll, brennt in meinem Kopf eine Sicherung durch.

»Mir ist speiübel«, knurre ich. »Ich hatte einen Scheiß-Urlaub mit lauter Scheiß-Verrückten. Auf mich warten tausend Scheiß-Verpflichtungen in meiner Scheiß-Firma. Und ein Haus, das scheißleer ist, weil ich meine Scheiß-Freundin rausgeschmissen habe, da sie es mit dem Scheiß-Gärtner getrieben hat, als ich aus dem Scheiß-Krankenhaus kam, in dem ich wegen eines Scheiß-Herzinfarktes war. Das nächste große Happening ist eine Scheiß-Seebestattung, nämlich die von meinem besten Freund.«

Ich schnappe nach Luft und klappe den Mund zu.

Die Stewardess vertreibt den Schreck aus ihrem Blick, indem sie mit den Wimpern klimpert. Dann strafft sie die Schultern und fragt: »Brauchen Sie etwas gegen die Übelkeit?«

»Das wäre ganz wunderbar, danke.«

Ich lehne den Kopf zurück und schließe die Augen. Da ist er wieder, dieser Satz, der endlose Runden in meinem Hirn dreht, seit ich halbwegs nüchtern bin: Ich will nicht zurück! Ich will nicht zurück! Ich will nicht zurück!

Nicht nach Hause. Nicht ins Studio. Nicht auf Pauls Bestattung. Vor Letzterem graut mir ganz besonders. Allein beim Gedanken tritt Angstschweiß auf meine Stirn, denn eine Tatsache schiebt sich in mein Bewusstsein: Ich war derjenige mit dem Herzinfarkt.

Was, wenn diese komischen Stents nicht tun, was sie sollen, und mein Herz endgültig zu schlagen aufhört? Was, wenn ich, wie Paul, eine Thrombose bekomme? Gerade beim Fliegen besteht doch die Gefahr. Voller Unbehagen beginne ich mit den Zehen zu wackeln, kreisele mit den Füßen und strecke die Beine, um den Blutfluss zu unterstützen. Im Dunkel meiner Gedanken sehe ich plötzlich den Tod vor mir. Er lacht, reibt sich die Hände und höhnt: Denk du nur an dein Herz und deine Venen!

Erschrocken öffne ich die Augen. Wie durch einen Schleier sehe ich das Flugzeug auf dem Bildschirm, das jetzt die Grenze zwischen Sudan und Ägypten überquert.

Was, wenn es gar nicht mein Herz ist? Hier sitze ich und mache Venengymnastik, dabei habe ich längst etwas ganz anderes. Bin ahnungslos. So ahnungslos wie Paul. Wie zur Bestätigung zieht es besonders heftig in meinem Bauch. Ich will darüberreiben, die Übelkeit und den Schmerz zusammen mit den schlimmen Gedanken vertreiben, da verliert das Flugzeug abermals an Höhe. Ich werde ein Stück aus dem Sitz gehoben, fummele den Gurt unter meinem Hintern hervor und lasse den Verschluss einrasten.

Wenig später werden wir so gut durchgeschüttelt wie der Long Island Iced Tea, mit dessen Hilfe ich an den vergangenen Tagen alles vergessen wollte. Die Kabine der Business-Class gleicht einem Wackelpudding, und aus der Economy-Class dringen Poltern und Schreie. Machete leert seinen Whiskey, weil die goldene Flüssigkeit überschwappt, und sitzt dann stocksteif, wie alle anderen Passagiere. Einige sind leichenblass, andere atmen in Stößen. Keine Spur von der Stewardess mit meinem Magenmittel. Die Stimme des Kapitäns braucht eine Weile, um sich gegen das Knistern der Lautsprecher durchzusetzen. Wir hören, was wir schon wissen: Das Flugzeug durchfliegt eine turbulente Wetterzone. Man möge den Gurt geschlossen lassen und sitzen bleiben.

Nein!, ich bin nicht so blauäugig, an eine gewöhnliche turbulente Wetterzone zu glauben. Äußerst unwahrscheinlich ist außerdem, dass mich ein läppischer Gurt retten kann. Wäre nicht alles so fürchterlich, würde ich lachen. Gerade noch habe ich über das Unerwartete nachgedacht und tadaaa: Hier ist es! Natürlich! Natürlich habe ich nicht mit einem Flugzeugabsturz gerechnet! Ich war viel zu abgelenkt von den Stents in meinem Herzen und der drohenden Thrombose im Bein.

Im Geiste sehe ich die Nachricht von meinem Tod in Pauls Nachrichtenmagazin über die deutschen Monitore, Tablets und Smartphones flimmern: Bester Freund des Redaktionschefs stirbt nur eine Woche später. LeifMusic-Gründer Max Leif (41) bei Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Auf die Tragik verdeutlichende Adjektive oder reißerische Sublines wie Mainhatten trauert um seinen Music-Maker hat man bei Paul in der Regel verzichtet.

Erneut verliert die Maschine an Höhe. Mein Magen ist eine einzige Widerstandsbewegung, und das Geschrei in der Business-Class übertönt das aus der Economy. Ein sich öffnendes Deckenfach spuckt zwei Kosmetikkoffer und mehrere Tennisbälle aus, die bald gemeinsam mit Lippenstiften und Mascara über den Gang hopsen. Irgendjemand spricht ein Gebet. Sauerstoffmasken fallen herab und werden schluchzend oder zitternd aufgesetzt. Meine baumelt vor meiner Nase und versperrt mir den Blick auf das kleine Flugzeug.

Wozu zur Hölle braucht man Sauerstoff, wenn man gleich zerscheppert in Ägypten liegt? Praktischer wäre es, säße man in einem mit Fallschirm ausgestatteten Schleudersitz, der einen durch eine Luke ins Freie katapultiert. Um Zusammenstöße zu verhindern, müsste man die Starts der verschiedenen Sitzreihen natürlich timen. In diesem Fall würden Sauerstoffmasken durchaus Sinn machen. Stürze ich hingegen ab, werde ich lieber vor dem Aufprall bewusstlos – oder bekomme meinen zweiten Herzinfarkt. Sauerstoffmaske? Nein danke also! Bei den gefühlten Kilometern an Höhenverlust ist es sowieso gleich vorbei. Max Leif over and out. Tschüss Welt! Ab jetzt dann ohne mich!

Es kribbelt in meiner Nase, und meine Augen beginnen zu brennen. Ich will nicht heulen!

Ich habe bei einer deutschen Fluggesellschaft gebucht. Ganz bewusst nicht bei Ethiopian Airlines oder Oman Air. Und jetzt so was! Ich will, dass das aufhört! Sofort! Ich will landen! Im Ganzen! Und ich will leben. So richtig. Ich will es besser machen als bisher. Für mich und für Paul!

Das Kribbeln und Brennen wird stärker. Ich blinzle, würge die Verzweiflung hinunter. Ich will jemanden anrufen. Jemanden, der mich wirklich vermissen würde. Jemanden, dessen Stimme ich unbedingt noch einmal hören möchte. Aber Paul ist tot, Claudia eine Schlampe, Flo sicher in einer Konferenz und meine Mutter … Nein, sie will ich jetzt definitiv nicht anrufen. Ich arme Sau habe also nicht mal einen Telefonjoker.

Während sich das Flugzeug durch die Turbulenzen kämpft, rollt eine Träne über meine Wange. Ich wische sie nicht weg und spüre dem merkwürdigen Gefühl nach. Nicht mal nach dem Herzinfarkt habe ich geheult. Auch nicht bei Claudias Betrug. Zuletzt ist mir das vor zwei Jahren passiert, als mich Paul vor den Spiegel gestellt und mir ins Gewissen geredet hat.

Wenn ich tot bin, wird mein Konto aufgelöst. Niemand wird auf die Idee kommen, alte Zahlungen zu überprüfen. Mein Testament regelt diesen Fall nicht, denn niemand soll davon erfahren – diese Sache geht niemanden etwas an. Das ist eine Sache zwischen mir und …

Wäre ich doch nie geflogen! Hörten diese Turbulenzen doch bloß auf! Bitte!

Als hätte jemand mit dem Finger geschnippt, kehrt Ruhe ein.

Alle um mich herum sitzen noch stocksteif und voller Furcht, dass es nur eine Pause ist, nur die Ruhe vor dem richtigen Sturm, die Zeit für den letzten Atemzug. Die eigentlich leisen Fluggeräusche dröhnen in den Ohren, und ich lausche auf außerordentliche Geräusche, ein Knacken, ein Kreischen von Metall, einen Knall.

Es bleibt still. Die Spur der Träne trocknet auf meiner Wange.

Als das Signal zum erlaubten Abschnallen ertönt, höre ich ein vielfaches Aufatmen. Die Stewardess steuert auf mich zu. Sie hat etwas in der Hand. Das versprochene Mittel gegen Übelkeit?

Mein Magen hebt sich. Meine Hände beben, als ich den Gurt löse. Meine Knie sind butterweich, als ich aufstehe. Ich stürze zur Toilette, drücke die Tür auf und verschwinde in der Kabine, schaffe es, mich über die Schüssel zu beugen – und lasse mir alles noch mal durch den Kopf gehen.

 

Sechs Stunden später, kurz vor dreiundzwanzig Uhr, drehen wir eine Schleife über Frankfurt am Main. Noch immer ist mir speiübel, aber für einen Blick auf die vertrauten Lichter der Stadt lehne ich mich zum Fenster. Seltsam tröstlich ist der Anblick der erleuchteten Wolkenkratzer und niemals schlafenden Autobahnen.

Ganz sachte setzt das Flugzeug auf der Landebahn auf und rollt zum Gate. Aus der Economy-Class hört man Jubel und Klatschen. Der Kapitän meldet sich zu Wort, entschuldigt sich für den unruhigen Flug, wünscht eine geruhsame Nacht und hofft, uns demnächst wieder begrüßen zu dürfen.

Mich ganz gewiss nicht! Nie wieder setze ich einen Fuß in ein Flugzeug! Auch nicht in einen Hubschrauber oder den Korb eines Heißluftballons. Derjenige, der uns erschaffen hat, wird sich schon etwas dabei gedacht haben, als er beschloss, dass wir nicht fliegen können.

Ich warte, bis Machete die Kabine verlassen hat, dann quäle ich mich aus dem Sitz, hole mein Handgepäck aus dem Deckenfach und trotte zum Ausgang. Die Stewardess wünscht mir gute Besserung.

Nach der leidlichen Einreiseprozedur schleppe ich mich aus dem Terminal, atme durch, froh über die frische Luft der Juninacht, und gehe zu einem Taxi. In einem Stil, den man gewiss nicht in Deutschland erlernt, prescht der Fahrer Richtung Westend. Ich weiß nicht, ob es nur die rasante Fahrt ist oder ob die orientalische Musik und der würzige Geruch ihren Teil beisteuern – wieder und wieder kämpfe ich gegen aufsteigenden Mageninhalt, der prinzipiell nicht mehr vorhanden sein sollte. Auf Höhe des Rebstockparks bitte ich den Taxifahrer anzuhalten, sprinte zu einem Busch und übergebe mich abermals.

Mehr als elend wanke ich zurück und plumpse auf die Rückbank.

»Party in Flugzeug? Warst du Malle?«, erkundigt sich der Fahrer mit starkem arabischen Akzent.

»Party im Flugzeug. Und was für eine.«

In meiner Jackentasche krame ich nach einem Tempo und ertaste einen Zettel. Ich muss ihn nicht lesen, ich erinnere mich an jedes Wort und den zittrigen Schwung jedes Buchstabens: Kümmer dich um Hannibal!

Diese Bitte hat Paul auf die Rückseite einer Zufriedenheitsumfrage des Krankenhauses geschrieben. Eine Schwester hat mir das gegeben.

Der Plan war, dass ich Hannibal morgen zu mir nehme. Da ich nicht weiß, ob ich es morgen auf die Beine schaffe, will ich es gleich hinter mich bringen. Außerdem sind Hannibal und ich zwar nicht die besten Freunde, was insbesondere an einer dummen Angewohnheit von ihm liegt, aber wir sind irgendwie vertraute Seelen. Beide haben wir Paul verloren. Ich brauche jetzt eine vertraute Seele um mich, also bitte ich den Taxifahrer, einen Umweg einzulegen.

Wenig später klingele ich bei Home4Dogs. Eine Frau im gestreiften Bademantel öffnet und wirkt wenig erfreut über das nächtliche Wecken. Sie lässt sich meinen Ausweis zeigen, bittet mich zu warten und knallt mir die Tür vor der Nase zu. Kurz darauf führt sie einen Dobermann aus dem anliegenden Gartentor. Als er mich entdeckt, beginnt er zu winseln und an der Leine zu zerren, weshalb die Frau ordentlich gegenhalten muss. Ein warmes Gefühl keimt in mir auf, so etwas wie Rührung ist das, aber da ist auch Misstrauen, das mich einen Schritt zurücktreten lässt. Meine Bitte, den Dobermann direkt zum Taxi zu bringen, ignoriert die Hundesitterin. Sie drückt mir seine Leine in die Hand und lässt mich mit ihm stehen. Hannibal sieht zu mir hoch, beschnüffelt mich und blinzelt dabei. Dann stellt er sich an meine Seite, hebt sein Bein und pinkelt auf meinen Schuh.

[home]

Juni

Die unheimliche Bedrohung

Ni figa sebje!«, höre ich im Dämmerschlaf. Dazu aufgeregte Schritte. Ich weiß, was das bedeutet, und deshalb ziehe ich meine Bettdecke über die Nase. Wenig später fliegt die Schlafzimmertür auf. Hannibal, der vor dem Bett Wache hält und bis eben geknurrt hat, stellt sich auf alle viere, fletscht die Zähne und bellt. Ein Schrei vermischt sich mit dem Bellen, also setze ich mich mühsam auf und befehle dem Dobermann, ruhig zu sein, was er relativ unzufrieden tut. Dass er pinkeln könnte, bereitet mir keine Sorgen. Ich bin der einzige Mensch, den er, seit er auf der Welt ist, mit einem Laternenpfahl verwechselt.

Mein Blick wandert zu Jekaterina Poljakow, die ihren Schreck überwindet und vor meinem Bett Position bezieht.

»Ist Stall von Schweine hier, Max Leif!«, schnaubt sie und sieht zu Hannibal. »Und was ist das für Chund?«

»Das ist Pauls Hund. Er wohnt jetzt hier.«

Das Kissen bauscht sich um meinen Kopf auf, als ich mich wieder hineinfallen lasse. Ich verkneife mir ein Ächzen und reibe meinen schmerzenden Bauch unter der Bettdecke.

Dass Jekaterina Poljakow wütend ist, kann ich nicht nur vom mit »Heilige Scheiße« zu übersetzenden »Ni figa sebje« ableiten. Die Arme in die Seiten gestemmt, starrt sie auf mich herab, die Brauen gerunzelt, die Lippen gespitzt. Sie ist meine Putzfrau und eine Russin, wie sie im Buche steht. Das platinblondierte Haar ist streng zurückgesteckt, die Gesichtshaut verbirgt sich unter zehn Millimetern Schminke, die Lippen sind knallrot angepinselt, riesige goldene Reifen baumeln von ihren Ohren. Ihr schwarzes Shirt ist zwar hochgeschlossen, aber so eng, dass die Körbchengröße D keine Vermutung ist. Knalleng ist auch ihre Jeans. Ihre Pumps hat sie, wie immer, an der Haustür ausgezogen, um mein Parkett nicht zu ruinieren. Claudia hat diese Frau gehasst, mich jedoch nicht zur Kündigung überreden können, worüber ich prinzipiell froh bin. Jekaterina Poljakow arbeitet seit fünf Jahren für mich, und das mit Akribie. Ihre Launenhaftigkeit ist dafür hinzunehmen.

»Wer soll das machen sauber?« Sie deutet auf eines ihrer D-Körbchen. »Ich etwa? Njet! Chabe ich Arbeitsvertrag, der sagen: Kommen an Montag, Mittwoch und Freitag. Musst du saugen Staub und reinigen die Spiegel und Flächen und Boden und Fenster manchmal. Steht da nicht: Musst du kratzen Pizza von Boden, waschen Chaufen stinkige Kleidung und auf die Chut sein vor große, schwarze Chund!« Sie nimmt einen von zwei Tellern, die auf dem Tisch neben dem Bett stehen. »Überall chast du dreckige Teller hingestellt, Max Leif, chast du vergessen dein Geschirrspüler? Klappe auf, Teller rein, Klappe zu, Teller weg.«

Sie hat ja recht. Beim Versuch, meinen Koffer auszupacken, habe ich ihn im Foyer ausgeschüttet. Dabei blieb es. Einiges Geschirr, das ich benutzt habe, hat es bis in die Spüle geschafft. Der Rest nicht. Seit zwei Tagen ernähre ich mich von Toastbrot. Nur einmal habe ich von der bestellten Pizza abgebissen. Während ich auf der Couch schlief, gönnte sich Hannibal den Rest und verteilte die verschmähten Spezialitäten im Wohnzimmer.

Jekaterina Poljakow fällt etwas auf. »Wieso du bist noch in Bett überchaupt? Wieso nicht angezogen?« Sie tippt auf ihre goldene Uhr. »Musst du zur Arbeit in dreißig Minuten. Bist du krank?«

Endlich komme ich zu Wort.

»Ja«, sage ich, und Hannibal bellt zur Bestätigung. Er ist der Zeuge meines Elends.

»Ah! Wo bist du krank? Nicht dein Cherz schon wieder?«

»Nein, mein Magen.«

»Ah! Zu viel Alkohol in Urlaub! Musst du trinken ein Wodka und gut. Kannst du gehen in Arbeit, und ich aufräumen Stall von Schweine. Leben geht weiter. Findest du neuen Freund.«

Schimpfend zieht die Russin ab. Hannibal wirft mir einen unsicheren Blick zu und setzt sich wieder.

Musst du trinken Wodka!, ächze ich im Stillen und angele nach der Flasche, die neben meinem Bett steht. Ein Viertel der giftgrünen Flüssigkeit ist noch übrig. Mit ein paar Schlucken reduziere ich das auf ein Achtel und ächze erneut, weil sich mein Magen kurz zusammenzieht. Dann klingen die Schmerzen ab. Während ich die Flasche leere, überlege ich, ob es in Russland an der Tagesordnung ist, einen Freund zu verlieren … im Kugelhagel oder bei vierzig Grad unter null. Und ob es dort Apotheken gibt oder der Arzt die Leute zum Kiosk schickt. Hier in Deutschland kann man das mit der Apotheke ja immerhin versuchen, so wie ich am Samstag. Irgendein Zeug gegen Magenbeschwerden habe ich gekauft. Es hat nicht geholfen, auch nicht in doppelter und dreifacher Dosis, also habe ich meine Alkoholreserven durchforstet. Etwa fünfzig Flaschen Sekt, Schampus und Wein habe ich gefunden und eine Flasche Absinth. Keine Ahnung, woher die kam und wie lange die dort stand. Ich erinnerte mich jedenfalls, gelesen zu haben, dass Absinth im Mittelalter als Heilmittel gegen verschiedenste Beschwerden eingesetzt wurde, und köpfte die Flasche.

Habe ich getrunken Absinth am Sonntag. Fast ganze Flasche. Besser als Wodka. Übelkeit beinahe weg. Motivation auch.

Ich wühle mich aus den Federn und stelle mich aufrecht hin. Das Haus schwankt, und mein Schlafzimmer scheint sich ausgedehnt zu haben. Alles ist so weit weg. Unter einem Haufen Kleidung finde ich mein Telefon und wähle Flos Nummer. Er ist gestresst, und das ist nichts Neues. Zwei neue Studioalben kommen heute auf den Markt. Und ich will keinen Ton davon hören.

»Du, ich komm heut nicht«, sage ich ins Telefon. »Ich bin nämlich total …« Da wäre mir doch beinahe ein besoffen entwischt! Schnell füge ich die korrekte Info an: »Total krank. Auch morgen und übermorgen noch und bestimmt die restliche Woche.«

Prompt noch gestresster, erinnert mich Flo an all die Termine: mit YouTube, mit den Produzenten einer Castingshow, bei der ich Juror sein soll, mit dem Finanzamt, mit Lufthansa, mit dem Webmaster von LeifMusic und weiß der Geier.

»Was soll ich den Leuten sagen?«, überlegt er. »Ich habe keine Zeit für …«

»Sag ihnen einfach, ich bin nicht da.«

So simpel war es. In der Tat. Einfach mal nein sagen.

»Was hast du überhaupt? Du lallst irgendwie.«

»Das sind die Nebenwirkungen des Medikaments. Lähmung der Sprechorgane und so.«

Um Flo nichts Näheres zum Medikament verraten zu müssen, erzähle ich ihm von den Magenproblemen, die mich seit dem Rückflug aus Tansania plagen. Weder das noch die Schilderung des Beinahe-Flugzeugabsturzes lösen Verständnis aus. Am Ende höre ich ein trockenes »Ja, das klingt schon nach einer verdammt ernsten Sache. Du bist nicht zufällig gestochen worden da unten in Sansibar?«.

Gestochen worden?

»Was meinst du? Von Mücken und so? Klar hatte ich ein oder zwei Mückenstiche. Warum fragst du?«

»Bist du sicher, dass es Mücken waren?«

»Die Stiche sahen aus wie normale Mückenstiche.« In meinem Nacken kribbelt es, als krabbele ein Insekt darüber. »Worauf willst du hinaus?«

Flo druckst herum. »Noch nie von der Tsetsefliege gehört? Die saugt dein Blut und überträgt dabei die Tsetse-Seuche.«

Wieder schwankt das Zimmer. Ich blinzele. Tsetse-Seuche? Nie gehört. Das sage ich Flo auch.

»Eines der typischen Symptome ist Übelkeit. Fühlst du dich kraftlos und unmotiviert?«

Und ob. Doch das könnte damit zusammenhängen, dass ich seit Tagen nichts Anständiges gegessen und keine Lust auf schlechte Musik habe.

»Ein bisschen. Wieso? Und schwummrig ist mir außerdem. Sind das auch Symptome?«

»Jep.« Flo entschuldigt sich, weil er husten muss. Ganz gesund scheint er ebenfalls nicht zu sein. Mit kratziger Stimme meldet er sich zurück. »Max, ohne dich beunruhigen zu wollen, aber diese Tsetse-Seuche, also die überlebt man nicht. Innerhalb eines Monats lösen sich deine Verdauungsorgane auf. Medizinische Hilfe bringt nichts. Kein Medikament und keine Therapie können diesen Prozess stoppen.«

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Flo sagt, dass er losmuss, wünscht mir gute Besserung und beendet das Gespräch. Noch ein paar Minuten starre ich auf das Handy-Display. Wie in Trance öffne ich das Internet und gebe den Namen dieser Fliege bei Google ein. Ein gruselig aussehendes Insekt wird mir gezeigt. Zungenfliegen … Stechfliegen … gefürchtete Krankheit … ernähren sich von tierischem und menschlichem Blut … unheilbar. Ich blinzele, weil mir schwummrig ist, doch das Bild bleibt dasselbe. Von Entsetzen gepackt, werfe ich das Handy weg. Es schlittert über das Parkett, dreht eine Pirouette, wird aber vor der Kür von der Wand gestoppt. Ich gehe zum Bett, setze mich auf die Kante, stütze den Kopf in eine Hand und lege die andere auf meinen Bauch, der wieder stärker schmerzt. Vor meinem geistigen Auge löst sich mein Darm auf. Wie weit das wohl schon vorangeschritten ist, nach den paar Tagen?

Der Film Final Destination fällt mir ein. Die Botschaft dieses von unrealistischen Unfällen getragenen Machwerks besagt, dass der Tod eine To-do-Liste hat, die er abarbeitet, und sich die gelisteten Menschen nach und nach holt. Kein Entkommen. Wahrscheinlich stehe ich ganz oben auf der To-do-Liste des Todes. Bei meinem Herzen haben ihm die Rettungssanitäter einen Strich durch die Rechnung gemacht, und das Flugzeug ist sicher nur deshalb nicht abgestürzt, weil die anderen dreihundert Passagiere nicht gelistet waren.

Das Piepen meines Telefons kündigt eine Nachricht an. Ich krieche hinüber, sehe, dass sie von Flo ist, und lösche sie ungelesen. Das wenige, das ich über die Tsetsefliege erfahren habe, genügt. Minutenlang hocke ich auf dem Parkett und starre ins Nichts. Jekaterina Poljakow zerrt den Staubsauger am Schlafzimmer vorbei und singt ein russisches Lied.

Ich muss hier raus!

Lauter unsortierte Gedanken

In Windeseile tausche ich den Pyjama gegen eine Jeans und das erstbeste T-Shirt, schlüpfe in die Sneakers, stürze aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss halte ich inne, schlinge einen Arm um den Treppenpfosten und schwanke. Meine Küche war schon immer ziemlich groß, aber nun ist sie geradezu gigantisch, und der Wohn- und Essbereich scheinen in der vergangenen Nacht die Seiten gewechselt zu haben.

Raus hier! Nur raus!

Dazu muss ich an Hannibal vorbei, der jetzt vor mir steht. Er kommt näher. Ich weiche zurück.

»Nein!«, sage ich streng. »Max ist kein Laternenpfahl!« Ich strecke den Arm aus, zeige auf die offen stehende Terrassentür. »Geh zum Pinkeln in den Garten!«

Er schaut über seine Schulter und abermals zu mir, dann dreht er sich um und läuft zur Haustür, von deren Griff seine Leine baumelt. Er zerrt sie ab und wartet.

»Du willst mit?«

Er winselt und wedelt mit dem Schwanz.

»Wehe, du pinkelst mich an!«, drohe ich und gehe zu ihm.

Aus sicherer Distanz leine ich ihn an. Er zerrt und drängt zur Tür, scheint das Haus so dringend verlassen zu wollen wie ich, und wenig später rennen wir die Straße entlang, wobei er die deutlich elegantere Figur macht. Ich taumele und stolpere eher hinter ihm her. Hannibal genießt sein Tempo, springt in großen Sätzen voran und schaut sich mit aus dem Maul hängender Zunge zu mir um. Meine Oberschenkel schmerzen nach einer Weile, doch ich laufe weiter, denn dieser Schmerz lenkt vom anderen im Magen ab und von dem Grauenvollen, das ich gerade erfahren habe.

Vorm Café Fröhlich stoppe ich so abrupt, dass ich beinahe vornüberfalle. Um Atem ringend, binde ich Hannibal an einen Laternenpfahl an.

Seit einigen Jahren von Montag bis Freitag hole ich im Café Fröhlich meinen Mittags-Espresso-to-go – eine Routine, die ich nach meinem Herzinfarkt vernachlässigt habe. Nun reihe ich mich in eine der beiden Warteschlangen ein. Wie immer ist es die Schlange, die Maja abfertigt.

»Hey«, begrüßt sie mich, als ich am Tresen stehe. »Lebst du noch? Siehst scheiße aus!«

Charmant wie eh und je!, denke ich und bedauere es, nicht wenigstens den Rasierer zum Einsatz gebracht zu haben. Ich verberge mein stoppeliges Kinn in der Hand und überfliege die Angebotstafel an der Rückwand des Cafès.

»Espresso wie immer?«, fragt Maja und will sich an die Zubereitung machen. Mein »Warte mal!« stoppt sie. Sie stützt die Hände in die Hüften. Es fehlt nur noch, dass sie mit dem Fuß wippt.

»Cappuccino? Latte macchiato? Milchkaffee? Normaler Kaffee?«, höre ich sie in genervtem Ton runterrattern. »Was denn nun?«

Wahrscheinlich ist Maja die unfreundlichste Barista in ganz Frankfurt. Nur selten bedient sie Stammkunden, denn die stellen sich alle bei ihrer jeweiligen Kollegin an. Ich bin wohl der Einzige, der sich immer wieder zu ihr wagt, und es lohnt gewissermaßen, denn sie macht den besten Espresso. Ihre Grantigkeit geht nicht so weit, dass sie einem Unbekannten ein ähnliches Kompliment machen würde wie mir gerade – das ist ein Zeichen des Vertrautheitsgrades. Ein Lächeln oder gar die im Namen des Cafés steckende Fröhlichkeit bekommt allerdings niemand von ihr.

»Max, ich schlag hier gleich Wurzeln.«

»Ja doch!«

Anders als alles andere ist die Schrift auf der Angebotstafel nicht gewachsen, sondern geschrumpft. Ich kneife die Augen zusammen, um sie entziffern zu können. Maja beugt sich über den Tresen. Ihr Tonfall ist jetzt gedämpft.

»Sag mal, kann es sein, dass du besoffen bist?«

Wieso fragt sie das? Schwanke ich etwa?

»Nein!«, antworte ich in einem bestimmten Tonfall, schaue sie an und lege zur Stabilisierung eine Hand auf den Tresen. Mir fällt auf, dass ich sie noch nie mit Make-up gesehen habe. Ihre Haut ist beinahe weiß und ein wundersamer Kontrast zu ihren dunklen Augen und Haaren. Kurze Locken rahmen ihr Gesicht ein. Maja wäre hübsch – ohne die zwei Narben, die über ihre linke Wange und Schläfe laufen.

»Gib mir einen Tee. Irgendetwas Magenschonendes.«

Sie zieht die Brauen hoch. »Dir geht’s echt nicht gut, oder?«

Nein, ich bin fast tot, aber egal.

»Mir geht’s bestens, danke!«

»Pfefferminztee ist magenschonend, aber auch Melissen- oder Kamillentee. Welcher schmeckt dir am besten?«

»Gar keiner. Ich mag keinen Tee. Also irgendeinen, bitte.«

Sie tippt auf der Kasse herum, wobei sie einen Fehler macht, flucht und die Eingabe korrigiert.

»Ein Kamillentee also, verdammt noch mal. Nimmst du den mit, wie immer?«

Ich wüsste nicht, wohin. In die Firma fahre ich nicht, nach Hause will ich nicht. Beim Blick über die Schulter entdecke ich einen freien Tisch in einer Nische.

»Zum Hiertrinken.«

Maja kommentiert meinen Beschluss nicht, sondern will Geld.

»Zwei Euro fünfzig.«

Das sind fünfzig Cent mehr als für den Espresso. Aus meinem Portemonnaie ziehe ich einen Zehneuroschein und lege ihn auf den Zahlteller. »Stimmt so.«

Sie mustert den Schein, nimmt ihn aber nicht. »Der Tee kostet nur …«

»Zwei Euro fünfzig, ich weiß.«

»Du kannst mir nicht immer so viel Trinkgeld geben.«

Ich nehme meinen Tee. »Siehst du doch, dass ich es kann.«

Sie zuckt die Schultern, steckt den Schein in die Kasse und zählt das Trinkgeld für sich heraus. »Aber hol deinen Hund rein. Ist hier erlaubt. Ist ja nicht zum Aushalten, wie traurig der guckt.«

Ich bringe den Tee zum Tisch in der Nische, hole Hannibal herein und setze mich. Einen Moment kneife ich die Augen zu, weil es wieder in mir zerrt, als wehrten sich meine Organe gegen die attackierenden Bazillen. Es tut so weh, dass mir sämtliche Gedanken entgleiten. Als es abklingt, sehe ich auf und durch das Fenster auf die Straße, die sich im grellen Licht des Junitages sonnt. Den Sommeranfang erlebe ich also noch, das Ende des Sommers hingegen nicht mehr.

Was zur Hölle tue ich hier? Wieso sitze ich im Café Fröhlich und trinke Tee? Ich sollte einen Arzt aufsuchen, aber was würde der in diesem Fall sagen: Tsetse-Seuche! Noch drei Wochen. Maximal! Ich müsste ins Krankenhaus. Schon wieder. Vielleicht würde man an mir herumexperimentieren und mir Mittel einflößen, die mir die letzten Lebenswochen versauen. Nach diversen OPs würde ich dahinsiechen. Schließlich ist der Mist ja nicht heilbar. Lieber kaufe ich noch eine Flasche Absinth, mit dessen Hilfe diese ganze leidliche Angelegenheit halbwegs erträglich wird. In den schlimmen Sekunden sollte ich mich lediglich von Brücken und Hochhäusern fernhalten.

Ich nehme den Teebeutel aus der Flüssigkeit, trinke und verziehe das Gesicht. Kamillentee schmeckt grässlich. Hannibal, der vor dem Tisch hockt und mich beobachtet, winselt mitfühlend. Ich wickele den Keks aus der Verpackung und gebe ihn dem Dobermann.

Wie kann ein so kleines Insekt einen so großen Schaden anrichten? Wie kann es so heimtückisch sein und einen, der es nicht mal erschlagen wollte, einfach so ansaugen und infizieren? Im Schlaf auch noch. Reisen nach Tansania sollten verboten werden! Den Veranstalter sollte ich verklagen, weil der keinen Warnhinweis gegeben hat – doch was nützte das? Ich würde eine Entschädigung erhalten, post mortem, die in den Millionen unterginge. Was mit denen geschieht, darüber muss ich mir ohnehin bald Gedanken machen. Weil ich keine Kinder und Claudia zum Glück nicht geheiratet habe, sind meine Eltern die Alleinerben. Mit den Sachwerten werden sie nichts anfangen können, aber vielleicht nehmen sie die Kohle und gönnen sich endlich Ruhe, statt sich weiter mit der Pension an der Nordsee zu plagen. Mein Haus können sie verwalten lassen und vermieten – oder doch verkaufen. Die Plattensammlung und Gitarren sollte ich vielleicht eher Flo vermachen, und auch den Porsche. Er steht auf die Karre. 560 PS, von null auf hundert in drei Sekunden dank des Biturbomotors mit variabler Turbinengeometrie – wer kann es ihm verdenken? Claudia hingegen hat das BMW-Cabrio geliebt.

In einer Erinnerung halte ich das Lenkrad. Vor mir schlängeln sich Serpentinen durch die italienischen Berge. Claudia sitzt neben mir, und der Fahrtwind wirbelt durch ihre Haare. Einer von vielen wahnsinnig guten Momenten in sechs Jahren mit ihr.

Vielleicht sollte ich ihr verzeihen? Vielleicht ist das Vergeben eines Fehltritts … eines Betrugs … eines gewissenlosen Fremdgehens bloß eine Erfahrung, die man machen muss, um … Um was? Um mit dem Gedanken daran zu verrecken?

Grummelnd verbanne ich Claudia aus meinem Kopf und erwäge, Jekaterina Poljakow den BMW zu vermachen. Vielleicht kann sie ein Auto brauchen? Selbst wenn sie es nur auf dem osteuropäischen Markt verscherbelt, ist es fair, an sie zu denken. Seit so vielen Jahren räumt sie meinen Krempel weg.

Wegen LeifMusic muss ich mir außerdem einen Plan machen, jetzt, wo ich noch Entscheidungen treffen kann. Egal wie die Dinge inzwischen stehen, die Firma ist mein Lebenswerk und die Erfüllung eines einstigen Traums. Die Vorstellung, es abzugeben, ist ganz merkwürdig, aber dennoch mache ich eine gedankliche Notiz zu ein paar Independent Labels, denn ganz sicher werde ich mein Lebenswerk nicht Sony oder Warner in den Rachen schieben.

Irgendwie muss ich außerdem diese eine Sache regeln, die in keinem Testament erscheinen darf. Mein Tod befreit mich nicht von dieser Pflicht. Ich habe mich auf Lebenszeit verantwortlich gemacht – nicht auf meine eigene.

Gedankenverloren trinke ich einen zweiten Schluck Tee und lasse die Tasse beinahe fallen, weil mich ein neuer Krampf packt. Ich kann erst wieder Luft holen, als das Zerren nachlässt. Es muss ein großes Stück Magen gewesen sein, das sich gerade aufgelöst hat.

»Max, verdammt, was ist denn bloß los?«

Ich blinzele, und meine Sicht klärt sich. Vor mir steht Maja. Sie hält eine Schüssel mit Wasser in der Hand, die sie Hannibal vorsetzt.

»Du siehst echt …«

»… scheiße aus. Sagtest du schon.« Ich straffe die Schultern und halte den Atem an, um den Schmerz zu unterdrücken.

»Ist deine Firma pleite oder so? Ich meine, müsstest du um diese Zeit nicht eigentlich das Gekreische irgendwelcher Dance-Häschen produzieren?«

»Ich habe mir freigenommen«, presse ich hervor.

Maja pustet sich eine Locke aus der Stirn. Ihr Mund zuckt, als wolle sie noch etwas sagen. Sie schluckt es aber hinunter und geht zurück hinter den Tresen. Ich sehe ihr nach und fühle mich elend.

Ich will noch nicht sterben!

Das Bild verschwimmt vor meinen Augen, meine Gedanken reisen ins Nirwana und bleiben dort. Eine ganze Weile, bis ich spüre, wie mein Fuß warm und feucht wird. Mit dem Fluch, der über meine Lippen fährt, schärft sich mein Blick wieder.

Hannibal setzt sich gerade wieder und scheint zu lächeln, als er zu mir hochsieht.

Ganz ungünstiges Timing

Ich habe einen Fehler gemacht. Ich bin ans Telefon gegangen, als meine Mutter anrief. Beim Gespräch überkamen mich die Melancholie, das Bedauern über rüdes Benehmen als Jugendlicher und die Angst, sie nie wiederzusehen. Natürlich habe ich nicht direkt gesagt, dass ich sterben werde. Ich habe lediglich erzählt, dass es mir nicht gutgeht und wir uns so bald wie möglich sehen müssen. Mit dem ihr eigenen mütterlichen Instinkt hat meine Mutter die Tatsache jedoch gleich hergeleitet und losgeschimpft. Ich solle mich nicht so anstellen, von Übelkeit sterbe man nicht so einfach, ich müsse einfach Tee trinken und mich gefälligst zum Arzt scheren.

Tee trinke ich ja schon. Magentee aus der Apotheke heute zu Hause. Kamillentee vorgestern und gestern im Café. So viel Tee wie in den vergangenen vier Tagen habe ich im Leben nicht getrunken.

Zum Arzt bekommen mich aber keine zehn Pferde!

Ein Geräusch lässt mich aufhorchen. Jemand ist an der Haustür.

Es ist gerade mal acht Uhr dreißig. Jekaterina Poljakow beginnt erst in einer halben Stunde – und sie hat heute wieder viel mehr zu tun, als im Vertrag vereinbart wurde. Pumps klappern zuerst unten auf den Fliesen des Foyers, dann auf der nach oben führenden Treppe und schließlich auf dem Parkett, mit dem die erste Etage ausgelegt ist. Meine Putzfrau hätte die Schuhe ausgezogen. Claudia nicht. Und sie hat noch einen Schlüssel. Verdammt!

Als die Schritte verstummen, bellt es laut. Dann ein Schrei. Die Schritte folgen in kürzeren, hastigeren Abständen. Ich setze mich im Bett auf, bringe meine Frisur mit den Fingern halbwegs in Ordnung und klatsche mir mit beiden Händen ins Gesicht, um meiner Haut eine lebendige Frische zu verleihen. Wenig später stürmt Claudia ins Zimmer, schlägt die Tür zu und presst sich dagegen.

»Was macht Hannibal hier?«

»Der wohnt hier. Und du?«

Meine Stimme soll grantig sein. Ist sie aber nicht, denn Wärme schießt in meine Glieder. In alle! Ich falte die Hände über der Bettdecke und mustere Claudia, bemüht verärgert. Umwerfend sieht sie aus in dem hellblauen Sommerkleid. Wie sie da so erschrocken an meiner Tür steht, umschmeichelt der Stoff ihre Hüfte, ihre perfekten Brüste, schmiegt sich an ihre Oberschenkel. Sie war beim Friseur. Als ich sie rausgeworfen habe, waren ihre Haare etwas dunkler und länger. Jetzt fallen sie in Wellen auf die Schultern – und ich würde so gern herausfinden, ob sie sich noch so weich anfühlen.

Sie atmet durch und entspannt sich, kommt näher, setzt sich auf das Bett und streicht über meine Wange. Meine Claudia! Vergeben und vergessen und verziehen und … von wegen!

Weil ich ihre Hand wegschiebe und ein Stück von ihr abrutsche, huscht ein schmerzlicher Ausdruck in ihren Blick. Nur kurz. Dann lässt sie ihre Wimpern flattern. Ihre tausend Metallarmbänder klimpern, als sie sich durch die Haare fährt.

»Flo sagte, du seist krank.«

Aus ihren Worten ist zu schließen, dass sie von LeifMusic kommt. Wahrscheinlich hat Flo sie ins neue Album reinhören lassen, das gerade aus dem Tonstudio kam. Das vierte, das wir gemeinsam produziert haben. Claudia ist die Frontfrau von Goldkind, einer Frankfurter Band, die Elektropop macht.

Weil ich stumm bleibe, sagt Claudia einen inzwischen oft von ihr gehörten Satz: »Du weißt doch, wie leid es mir tut.«

Während sie den Gärtner gevögelt hat, hat sie dieses Bedauern allerdings nicht gezeigt.

»Du weißt doch, wie egal mir das ist«, erwidere ich daher.

Eine Träne rollt über ihre Wange. Am Kinn bildet sie einen Tropfen, der auf meinen Arm platscht. Ich wische ihn weg.

»Ich habe das von Paul gehört. Wie schrecklich!«

»Ganz schrecklich, ja. So unerwartet, nicht wahr? Gestern er, morgen ich.«

Claudia weint noch mehr. »Was sagst du denn da?! Jetzt lass dich nicht so gehen! Wir könnten es noch einmal miteinander versuchen. Das mit uns war doch …«

»Ich sterbe nicht, weil du den Gärtner gevögelt hast, sondern einfach so.«

Einfach so auch nicht, aber die Details gehen sie nichts mehr an.

»Was hast du denn? Und was sagt der Arzt?«

Mein Arzt ist die Grüne Fee. Die sagt, dass alles egal ist. Die Flasche Absinth, die ich mir gestern gekauft habe, ist schon wieder zur Hälfte geleert, und wenn Claudia nicht sofort das Weite sucht, trinke ich den nächsten Schluck vor ihren Augen.

Sie bleibt und redet weiter. Am Ende geht sie sogar zu meinem Schrank und sucht mir Sachen raus.

»Ich kann schon noch allein zum Arzt gehen. Wenn ich denn wollte. Aber mir kann niemand mehr helfen, okay. Also lass das!«

Claudia wirbelt herum und wirft mir das T-Shirt, das sie vom Bügel genommen hat, an den Kopf.

»Nein!«, schreit sie. »Lass du das, was auch immer du hier abziehst! Du gehst jetzt mit mir zum Arzt!« Ihre Stimme ist so schrill, dass es in meinen Ohren klingelt.

Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust. Also in dem Ton schon mal gar nicht!

»Ni figa sebje!«, tönt es aus dem Flur, und ein paar Sekunden später steht auch Jekaterina Poljakow im Schlafzimmer.

Mit einem Stöhnen sinke ich ins Kissen.

Die Russin sieht Claudia, setzt einen Blick auf, der noch grimmiger ist als der, mit dem sie mich am Montag bedacht hat, und wendet sich mir zu. Sie sagt keinen Ton von wegen Stall von Schweine, sondern: »Was chat die verloren chier? Brauchst du Ruhe, Max Leif, nicht zeternde Hyäne.«

Oh, oh! Ich sehe, wie Claudia zusammenzuckt, und stelle mich auf echte Lautstärke ein.

»Zeternde Hyäne?«, keift sie auch gleich, geht zu Jekaterina Poljakow und bringt sich in Position. »Was bildest du dir eigentlich ein, du Putzfrau? Was glaubst du, mit wem du sprichst?«

»Mit zeternde Hyäne«, entgegnet die Russin ungerührt und bemüht sich nicht mal, die wenigen Zentimeter, die Claudia größer ist, durch eine straffere Körperhaltung gutzumachen. »Wie immer also. Chat sich geändert nichts.« Über Claudias Schulter späht sie zum Kleiderschrank, dann auf die Jeans, die meine Ex in ihrer Faust ballt. »Max Leif ist großer Junge. Kann er anziehen sich selbst, wenn er will rausgehen. Ist nur krank gerade.«

»Das musst du …«, Claudia tippt mit dem Finger vor Jekaterina Poljakows Brust, »… mir nicht erzählen. Ich weiß, dass er krank ist, und jetzt bringe ich ihn zum Arzt.« Sie fährt zu mir herum. »Max, also wenn du nicht gleich was unternimmst!«

Ich soll mal wieder eine Kündigung aussprechen. Nicht im Traum denke ich daran.

»Geh bitte, Claudia!«, sage ich stattdessen mit fester Stimme.

Es tut fast nicht weh. Nur mein Magen schmerzt schlimmer und zieht ganz fürchterlich, als Claudia total außer sich gerät. Sie beschuldigt mich, was mit meiner Putzfrau zu haben. Schon lange, schon bevor sie den Gärtner in meinen Tulpen flachgelegt hat. Sie wirft mir Geschmacksverirrung, Niveaulosigkeit und Russensympathie vor. Auch die Jeans landet an meinem Kopf. Sie wütet und streitet mit Jekaterina Poljakow und hält erst die Klappe, als ich »Raus!« brülle. Deutlich leiser, doch mit vor Ärger heftig klopfendem Herzen schiebe ich ein »Sofort!« hinterher.

Claudia hebt das Kinn. Nun weint sie wieder – verdammt, ich kann nicht sehen, wenn sie weint! – und murmelt »Du bist so ein Arsch, Max! Dann stirb doch«. Tatsächlich wendet sie sich zum Gehen, und ich beiße die Zähne aufeinander, um sie nicht aufzuhalten.

Die Russin vertritt ihr den Weg und hält die Hand auf. »Gibst du Schlüssel erst!«

Claudia fummelt den Haustürschüssel aus ihrer Handtasche. Statt ihn Jekaterina Poljakow zu geben, klatscht sie ihn an die Wand über meinem Bett. Klimpernd fällt er auf das Kissen. Meine Ex rauscht aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Ich halte den Atem an, bis die Haustür ins Schloss fällt.

»So«, sagt meine Putzfrau. »Und jetzt du ziehst dich an, Max Leif, und gehst zu Doktor! Liegst du in Bett seit vier Tagen. Ist nicht normal!«

Eine unfreundliche Expertin

Seit Jahren war ich nicht bei meinem Hausarzt. Es ist so lange her, dass ich den Mann nicht einmal als meinen Hausarzt bezeichnen möchte. Vor meinem Herzinfarkt war ich kerngesund, und was auch immer mich zeitweilig plagte, Kopfschmerzen oder eine Erkältung, das verschwand von allein. Ich hatte keine Zeit zum Kranksein und keine Lust auf ärztliche Predigten über Vorsorgeuntersuchungen. So einige Männer in meinem Alter sind nach einer Vorsorgeuntersuchung gestorben, weil ein Tumor oder etwas anderes Scheußliches entdeckt und behandelt wurde. Gerade noch hatten sie mich im Tennis besiegt oder waren auf dem Snowboard vor mir ins Zillertal gerast, und plötzlich las ich ihre Todesanzeige.

Meinen Arzt muss das ebenfalls ernüchtert haben, denn er hat seinen Job an den Nagel gehängt, wie ich jetzt von der Frau erfahre, die seine Praxis übernommen hat. Noch einige Jahre vor dem Rentenalter ist er auf eine einsame Insel abgehauen.

Dr. Ingrid Bärbeißer ist eine stämmige, untersetzte Frau, die ich, wäre sie mir auf der Straße begegnet, für eine Metzgerin gehalten hätte. Ich würde lieber wieder gehen, will aber nicht unhöflich erscheinen, also bleibe ich auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch sitzen. Aus hartem Kunstleder und einfallslosem Metall besteht der und könnte weder hässlicher noch unbequemer sein.

»Nun denn, Herr Leif«, sagt sie, lehnt sich in ihrem viel bequemeren Sessel zurück und überfliegt meine kurze Akte. »Was führt Sie zu mir?«

Ich würde gern ironisch und von der Grünen Fee angestachelt antworten, dass mich meine Putzfrau schickt, aber mein Gegenüber scheint kein Spaßvogel zu sein. Das Lächeln ist ihr sicher über verschiedenen, überraschenden Todesdiagnosen vergangen. Also beschränke ich mich auf die Tatsachen.

»Ich war auf Sansibar im Urlaub, wurde dort wahrscheinlich von der Tsetsefliege gestochen und habe nun die Tsetse-Seuche.«

Dr. Ingrid Bärbeißer kräuselt die Stirn und rollert ein Stück zurück, dabei könnte ich sie gar nicht infizieren. Nur wenn ich eine Tsetsefliege wäre.

Ich beschreibe gerade meine Magenschmerzen, die Übelkeit und die Schlappheit, da unterbricht sie mich: »Mooooment!«

Ich klappe den Mund zu.

Sie rollert an den Schreibtisch und stützt die Ellbogen darauf: »Übelkeit und Magenschmerzen sind keine Symptome der Afrikanischen Trypanosomiasis.«

»Afrikanische Trypowas?«

Sie wedelt mit den Händen. »Das, was Sie als Tsetse-Seuche bezeichnen. Ihre Gastralgie und Nausea haben vermutlich andere Ursachen. Zum Beispiel könnten eine Gastritis, eine funktionelle oder nichtulzeröse Dyspepsie oder auch eine gestörte Motilität der Magen-Darm-Muskeln zugrunde liegen. Gleichermaßen in Frage kämen ein gastroösophagealer Reflux oder Hyperazidität.«

Angeberin!, schießt es mir durch den Kopf. Sie erwartet doch nicht allen Ernstes, dass ich jetzt nicke und Aha, na dann ist’s ja gut sage! Prinzipiell klingen all diese Begriffe sogar viel gefährlicher als meine angeblich nicht existente Tsetse-Seuche.