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Sommer 1782: Acht Monate nachdem in Mannheim Friedrich Schiller seine Räuber Moor, Schwarz, Razmann, Spiegelberg gegen die Feudalherrn hatte rebellieren lassen, gelang der Schwarzen Lis in Ludwigsburg ihr großer Coup: Beim Fest des Herzogs Carl für den Zarewitsch Paul zog sie an der Kirchentür dem Grafen Schenk gut 1700 Gulden aus der Westentasche. Blamiert vor der adligen Gesellschaft, widmete der bald als "Malefizschenk" renommierte Graf sein weiteres Leben der Jagd auf Kriminelle aus der Paria-Schicht der Vaganten, speziell nach dieser Lis, die er als Mutter von acht Kindern (drei noch minderjährig) 1787 in sein Privatzuchthaus und im Sommer 1788, just ein Jahr vor der französischen Revolution, auf sein Schafott brachte. Traditionen komfortabler Herrschaft á la Adel über Pöbel, Männer über Frauen, Himmel über Erde bringt dieses historisch präzis fundierte Stück auf die Bühne: nicht als trockene Geschichtsstunde, vielmehr als pralles, sehr musikalisches Volksstück mit überraschendem Ende.
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Seitenzahl: 231
Veröffentlichungsjahr: 2019
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„Zu di Chuzpenikess gehert ojch der Gan Ejden.“Jiddisches Sprichwort1, jesuanisch übersetzt:„Selig die Chuzpe haben, denn ihrer ist das Himmelreich.”
„Juifs de cour et bandits juifs ont en effet ceci de commun que, chacun à leur façon, ils cherchent à surmonter leur condition de parias, et bravent la société qui les opprime.”Leon Poliakov2; auf deutsch:„Hofjuden und jüdische Banditen haben tatsächlich das eine gemeinsam, dass sie, jeder auf seine Art, ihrer Paria-Kaste nach oben zu entkommen suchen und der Gesellschaft trotzen, die sie unterdrückt.”
Und alle, denen mein historisches Schlussfolgern aufgrund an schwarzen Haaren herbeigezogener Indizien zuviel der Chuzpe ist, möchte ich (frei erzählt nach Salcia Landmann) daran erinnern, wie vor Zeiten einer sein Gegenüber im Zugabteil der polnischen Staatsbahn erforschte:Liest ein französisches Buch, trägt roten Bart und Kippah, reist in unser kleines Shtetl, zwei Stunden vor den Sabbatkerzen – also nichts Geschäftliches, sondern Familienbesuch. Moment mal: Ist nicht dem rothaarigen Moische Pisser sein Sohn Moses, der Schwager von der Esther Schlesinger, vor dreißig Jahren nach Berlin gegangen, hat sich dort Moritz Wasserstrahl genannt, geheiratet und ist dann mit Frau und Sohn nach Paris gegangen? Genau! „Willkommen in Trimbowlar! Ihre Tante Esther ist übrigens meine Nachbarin, Herr Maurice Lafontaine!“ – „Woher wissen Sie ...?“ – „Was heißt wissen, ich hab Sie berechnet.“
2 Léon Poliakov, Histoire, I, p.253 (nach Barbara Gerber, p.48).
In memoriam:
Ein andrer gekürzter Lebenslauf
Leo Ebner hieß wie der Großvater der Schwarzen Lis, wurde 1906 im rumänischen Czernowitz geboren, lebte dort als Büroangestellter zusammen mit seiner Frau Rosa (geb.1910) und ihrer gemeinsamen Tochter Nia (geb.1938). Alle drei starben in der Shoah. Diese Information und das Foto wurden in Yadvashem eingereicht von seinem Bruder Avraham Ebner.
Teil A: Zu Ebner Erde
Ihr Bild
Ihr erster Mann: Johannes Gassner
Die Trennung
Der zweite: Matheis Ruttmann
Dreieck in Reutlingen
Die Herren
Der Aufräumer: Graf Schenk
Der Zar der Zukunft: Fürst Pavel Petrowitsch
Der Leithengst: Herzog Karl Eugen
„Die Hauptpersohn in Deutschland“
Die Mutter
Die Jüdin
Die andere Welt
Die Juden Hur
Die Cousine Jesu
Kirchenopfer
Miederhaken
„Die Toten sind uns nah ...“
Unrecht Gut gedeihet nicht?
Das Jüngste Gericht
Himmelsschlüssel
Ihr Lebenslauf, summa summarum
Neue Äpfel, weit vom Baum
Quellen
Generalpardon zur Rollenbesetzung, Aufführungsrechte
Teil B: Auf Bühnen-Brettern
Rollen und Stationen
Ouverture
1.Station bei Binswangen
2.Station in Ludwigsburg
3.Station bei Einsiedeln
4.Station in Reutlingen
5.Station in Oberdischingen
6.Station am Himmelstor
Musiknoten: Me Hum Matto
Shto Mnje Gorje
Avreiml der Marvikher
Fuli Tschai
Danksagung
Es war das Bild, was mich auf Anhieb entscheiden ließ: Die Frau muss auf die Bühne, das wird ein Stück von mir: das kleine Farbbild der Räuberin, ausgerechnet in einem Buch der Kreis- und Stadtparkasse Neu-Ulm mit dem Titel „Bilder und Geschichten aus dem Altlandkreis Neu-Ulm“, mit Texten meines Lehrerkollegen Eduard Ohm herausgegeben zum 125-jährigen Jubiläum des Bankhauses.
Das Bild eines Gesichts mit ins Auge springender Verschiedenheit von links und rechts, akzentuiert vor allem in beiden Augenbrauen: die linke zur Nase hin abfallend, die rechte zur Mitte aufsteigend. Wenn man aus den asymmetrischen Gesichtshälften (L-R) eines Menschen fotografisch zwei symmetrische Hälften (L+L, R+R) zusammenfügt, entstehen oft zwei Gesichter mit ganz verschiedenem Ausdruck seelischer Befindlichkeit, eine abgründige und eine quasi heilige, fast wie bei Dr.Jekyll and Mr.Hyde. Kompakt und eindimensional sind dagegen die folgenden zwei Schwarz-Weiß-Skizzierungen der Erzdiebin:
„Sie ist ein Raubvogel in Menschengestalt. Bei Nacht bricht sie wie eine Eule in die Vorratskammern der Bauern und entwendet irgend etwas Eßbares. Bei Tage schießt sie gleich einem Sperber an einem Unvorsichtigen vorbei und entreißt ihm die Uhr oder Geldbörse. Sie sieht auch aus wie ein Raubvogel. Aus ihrem hageren, braunen Gesicht streckt sie eine gebogene, spitzige Nase in die Luft. Zwei schwarze, äußerst lebhafte Augen beobachten dauernd die Umgebung. Ihre Finger sind lang und dünn wie Krallen und zum flinken Zugreifen wie geschaffen. Ihre pechschwarzen Haare und und ihre dunkle Haut haben ihr den Namen die ‚Schwarze Lies‘ eingetragen ... Ihre Weltanschauung ist höchst einfach und brutal. So wie es Raubtiere und Raubvögel gibt, so gibt es auch eine Schwarze Lies. Sie ist eben wie sie ist. Woher das Raubzeug die Berechtigung hat zum Rauben, daher nimmt auch die Lies das Recht.“
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„Das Weib war seither wie gefeit gewesen, wild und frei geblieben, als hätte sie der Teufel selbst zur Liebsten erkoren. Doch schließlich legte dieses Weib ein unumwundenes Geständnis ab, gleich als ob es ihr letzter diabolischer Streich wäre, sich in ihrem ganzen schwarzen Glanze zu zeigen ...“
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Diese beiden Beschreibungen des Weibsbilds, gedruckt in Ulm 1956 bzw. Weißenhorn 1966, malten ins Zentrum der Zielscheibe noch immer das Dunkelböse, wie man es arisch-deutsch doch kannte: „Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens Volke raubt.“ Dies schrieb einer, der selber in der Angst lebte, von Juden abzustammen.5
Solche Schwärze eignete ziemlich vielen public enemies der Gassnerschen Epoche: etwa dem „Schwarzen Toni“ Antoni Heim (hingerichtet in Oberdischingen 1787); dem „Schwarzen Veri“ alias Franz Xaver Hohenleiter (1788-1819) oder dem „Schwarzen Peter“ Johann Peter Petri (1752-1812), einem Köhler und Räuber, nach dem vielleicht die ungeliebte Spielkarte benannt ist. Schon ihre Eltern, sagte die Lis, seien „Schwarze Lies“ und „Schwarzer Hannes“ genannt worden.6
Unter den deutschen Räubern und Sacklangerinnen ihrer Zeit gab es anscheinend keine Blonden, was sich schon anhand des deutschen Kinderspiels „Wer hat Angst vor‘m schwarzen Mann?“ psychologisch ausgiebig deuten ließe. Die ethnologische Literatur zum Ende des 19.Jahrhunderts ging in schönem Konsens von einem Bild der Juden aus, demgemäß diese „schwarz“ oder zumindest „schwärzlich“ waren.7 Im Jahr 1922 definierte der dann zur Nazizeit als „Rassepapst“ gefeierte Professor Hans F.K. Günther (1891-1968) die Juden, nach heutigen Erkenntnissen gar nicht zu unrecht, als „eine orientalisch-vorderasiatisch-nordisch-hamitisch-negerische Rassenmischung“ und im Jahr 2017 erklärte der Rassist David Duke, Imperial Wizard des Ku-Klux-Klan, zu meiner jüdischen Beruhigung: „Jews are not white“.
Der graubärtige, in jüngeren Jahren wohl schwarzhaarige Räuber, dessen Bild (auf Seite →) in braunen Zeiten, als auch Jesus und Maria blond sein mussten, unter dem Titel „Typischer jüdischer Krimineller“ durchaus antisemitischen Zwecken hätte dienen können, gehört zur Schwarzen Lis: per Ehering, per Lebenslauf, und zuletzt in diesem postumen Dialog des Ehepaares, gemalt von den geübten Händen eines offensichtlich tiefblickenden und nicht zuletzt vorausplanenden Künstlers. Denn er malte den Ehemann zu einem Zeitpunkt, als für seinen Auftraggeber, den Grafen Schenk, der Tod auch der Ehefrau schon vor dem Urteil wohl lang beschlossene Sache war.
Aufgrund seiner Pinselführung kommt die Potsdamer Historikerin Silke Kai Foshag in ihrer voluminösen summa cum laude Dissertation „Es seye eine Forcht, was sie gestohlen“ zu interessanten Aussagen über das lebenslang so bewegte und nun in Öl gebannte Ehepaar. Statt hier etwas vorwegzunehmen, möchte ich der Leserin empfehlen, erst vor dem Beginn des Spieltextes zu diesen beiden Bildern zurückzukehren und dann vielleicht bewundernd aufzuspüren, wie sensibel der Maler seinen Pinsel handhabte. Nur zwei Punkte erscheinen vorab anzusprechen:
Während der Künstler beim Porträt des Mannes wohl wenig Diskrepanz verspürte zwischen seinem Auftrag „Verbrecher malen“ und dem Menschen, der da vor ihm saß, malt er das Bild der mittlerweile Witwe Gassner als eine „Landkarte der Seele“, wie geblendet von den Nuancen eines Frauenlebens, das er in den Nuancen ihrer Augen einfängt und der Nachwelt überliefert, damit Theater daraus werde.
Zweitens beachte man die Körperdrehung der Lis Gassnerin – unterhalb des Halses weggehend, dem Mann entfliehend, oberhalb jedoch zu ihm hingezogen, in die Vergangenheit zurückblickend.
Wie kam die anscheinend spannungsreiche Verbindung des Paares zustande? Wie kam die Lis, die als Geburtsort den kleinen Weiler Hirschbach bei Wertingen angab und mit ihrer Mutter vagierend im Raum Dillingen – Wertingen – Binswangen lebte, nach Biberberg? Durch ihn.
„Die Welt ist eine wunderliche Einrichtung; und die göttlichsten Wirkungen, mein lieber Sohn, gehen aus den niedrigsten und unscheinbarsten Ursachen hervor. Der Mensch, um dir ein Beispiel zu geben, das in die Augen springt, gewiss, er ist ein erhabenes Geschöpf; und gleichwohl, in dem Augenblick, da man ihn macht, ist es nicht nötig, dass man dies, mit vieler Heiligkeit, bedenke. Ja, derjenige, der das Abendmahl darauf nähme, und mit dem bloßen Vorsatz ans Werk ginge, seinen Begriff davon in der Sinnenwelt zu konstruieren, würde ohnfehlbar ein ärmliches und gebrechliches Wesen hervorbringen; dagegen derjenige, der, in einer heitern Sommernacht, ein Mädchen, ohne weiteren Gedanken, küsst, zweifelsohne einen Jungen zur Welt bringt, der nachher, auf rüstige Weise, zwischen Erde und Himmel herumklettert, und den Philosophen zu schaffen gibt. Und hiermit Gott befohlen.“
Diese belehrende Ansprache hält der väterliche Meister im „Brief eines Malers an seinen Sohn“ geschrieben vom kinderlosen Heinrich von Kleist. Dieser Dichter der deutschen Romantik, der sich 1811 mit der Begründung „Mir war auf Erden nicht zu helfen“ und einer Pistolenkugel Gott befahl, war Ende Januar 1777 „gemacht“ worden, sein Zeitgenosse Johann Gassner anno 1740, ebenfalls im Januar. Beide, wie ersichtlich, in keiner „heitern Sommernacht“. Dass die Elisabetha ihren Mann zuletzt beschuldigte, an all ihrem Unglück schuld zu sein, liegt aber wohl weniger am Zeugungstermin als an einer Lebensbasis, die Shakespeare im König Lear anspricht: Der „Bastard“ Edmund, illegitimer Sohn des Grafen von Gloster, kann es nicht ertragen, bloß wegen seiner unehelichen Geburt zurückgesetzt zu werden, wo er doch ganz kleistisch sicher ist, „im heißen Diebstahl der Natur mehr Stoff“ und „kräft’gern Feuergeist“ empfangen zu haben.8
Von der Grafschaft Gloster nach Biberberg, Besitztum des Klosters Kaisheim: Im Taufeintrag des kleinen Johannes vom 15.Oktober 1740 firmieren sein 27-jähriger Vater Fridericus Gassner aus dem Nachbarort Biberachzell und die 26-jährige Magdalena Langenwalder als „ambo ad huc soluti stati“ – beide ledigen Standes. Während das Biberberger Kirchenbuch „ledige Kinder“ regelmäßig als „proles illegitima“ oder gar „filius hurius“ (sic) bezeichnet, weist jedoch der Eintrag des „ledig“ geborenen kleinen Johannes keinen solchen Makel auf. Denn die Familie Langenwalder war alteingesessen und zahlreich, mit 43 Täuflingen seit 1664. Nur: der junge Kindsvater kam für die Langenwalders als Ehepartner ihrer Magdalena keineswegs in Frage: Für die Einheirat in die Dorfschmiede war der Nur-Landwirt ungeeignet – im Gegensatz zum „juvenis honestus“ und Schmied Johannes Amann, der die Magdalena dann am 23. Januar 1742 vor den Traualtar führen durfte. Ihr kleiner Bankert Johannes war an diesem Hochzeitstag genau 14 Monate und acht Tage alt. Im Ehevertrag war ausdrücklich festgelegt, dass der in die Ehe mitgebrachte Johannes allen zukünftigen Kindern des Paares gleichgestellt sei. Tatsächlich starben von den acht Kindern Magdalenas mit dem Vernunftpartner Johannes Amann, gezeugt in Kleistscher „vieler Heiligkeit“, sieben schon im Kindesalter; einzig der Sohn Nepomuc war neben Johannes noch am Leben, als anno 1758 Magdalena selbst mit 43 Jahren starb. Elf Wochen später heiratete der Witwer die Magdalena Renzin aus Wullenstetten, und im neuen Ehevertrag bekam Nepomuc fast alles, sein elf Jahre älterer Stiefbruder Johannes Gassner fast nichts – außer 60 Gulden florin, dem Preis von immerhin drei Kühen.9
Der Lebensbeginn als Unfall, das Gefühl der Unerwünschtheit schon im Mutterleib, gefolgt von Stiefkinddasein und schließlicher Fast-Enterbung erklären das kriminelle Leben des Johannes Gassner schon mehr als bruchstückweise. „Wenn man mich geboren hat, wollte man mich doch hier haben, aber jetzt kümmert sich niemand um mich. Hat man vergessen, dass man mich geholt hat?“ So beschreibt Alice Miller das Grundgefühl der Unerwünschten.10 Lehrer schätzen das Sozial- und Lernverhalten dieser unerwünschten Kinder durchweg schlechter ein, Eltern neigen zu Misshandlungen „aus Wut und Hilflosigkeit“ oder zur Überbetreuung, um Schuldgefühle zu kompensieren. Herangewachsen, haben die Ungewollten dann ständig Beziehungsprobleme, sind sozial unangepasst, doppelt so häufig kriminell und „oft ihr ganzes Leben lang nicht glücksfähig.“11
Passt dies auf den Gassner? Der erste Einblick in eine zuletzt mehr als unglückliche, von männlicher Gewalt geprägte Ehe findet sich in den Verhörprotokollen nicht der Liesel, sondern ihrer Jugendfreundin und Weggefährtin Marian, die nach ihrer Verhaftung 1786 in Dischingen nicht nur Belastendes über die Elisabeth erzählte, sondern: „Dies müsse sie noch beysetzen. Da sie 6 Wochen mit der Gassners Lies geloffen, habe sie die Gassnerin öfters klagen hören, daß sie der Gassner so hart gehalten und geschlagen, daß sie von ihme gehen müssen, und dieses harte Verfahren nicht länger habe ausdauern können. Er alleinig seye die Ursach an ihrem und ihrer Kindern Unglück gewesen. Sie habe vieles gestohlen, welches Sie thun müssen, wenn sie anderst ein Frieden mit Ihme habe wollen. Er seye in Zwischen in denen Wirtshäusern gesessen, gefressen und gesoffen.“ Ein Jahr später sitzt die Gassnerin im selben Verhörraum und sagt am 24.Oktober 1787: „Es seye zu Biberberg eine bekannte Sach, daß niemand bey ihme wohnen könne, jndeme selber immerhin mit seinen Huren herumgezogen, hingegen sie jmmerhin geschlagen habe und alle Torturen angethann.“ Und „es seye an all ihrem Unglück niemand als ihr Mann der Gassner schuldig, welcher sie zum Stehlen gezwungen, und wenn sie solches nicht thun wollen, also fort mit ihr verfahren seye, daß sie es bei ihme nicht erleiden können.“ Daraufhin muss sie sich vom Oberamtmann Röm fragen lassen, „ob sie diese harte Verfahren niemand anvertrauet“ habe, worauf die Gassnerin zur Antwort gibt, „sie habe es in denen Beicht Stühlen freylich geklaget“. Das klingt nicht nach ernster Gegenwehr, und tatsächlich scheint die Liesel eher versucht zu haben, „die Erwartungen ihres Ehemannes zu erfüllen“ und ihn wo immer möglich zu besänftigen. Einmal habe sie sogar, gibt die Gassnerin selbst zu Protokoll, „einem Handwerks Pursch“ eine Sackuhr „welche gelb gewesen“, für 12 Gulden abgekauft und weil sie nur fünf Gulden dabeihatte, die fehlenden sieben kurzerhand „von einer LandKrämerin namens Cezill entlehnet“, und all die teure Liebesmüh‘ nur um den Gatten – mit Erfolg – zu besänftigen: „Der Gassner seye allschon zufrieden gewesen, wann er nur die Uhr gesehen habe.“12
Bezüglich einer anderen Sackuhr, deren geglückte Erlangung die Gassnerin in Ravensburg gefeiert hatte, indem sie „den Berg herunter in ein BekenHaus gegangen, und eine halb Maas Wein getrunken“, fragt der Amtmann, wie die Uhr dann verhökert wurde. „Solches seye ihr unbekannt; wisse auch nicht wie theur der Gaßner diese Sackuhr angebracht, wenn dieser eben eine Sach in seine Händ gebracht, so habe sie nicht mehr davon reden därffen.“ Und auf die Nachfrage, „was ihr von dieser Sackuhr zutheil geworden“ sagt sie schon in diesem ersten Verhör am 16.Oktober 1787: „Nichts, dann Schläg, es seye ja bekannt, und därffe man nur nach O/hausen schreiben so werde man hören, wie sie von ihrem Mann geplaget worden seye; sie wolle alles gerne bekennen, wenn man ihr nur in Ansehung ihrer Kinder gnädig seyn werde.“
Der Gassner, Vater ihrer Kinder, konnte freilich schon noch gröber. Kurz vor dem Hauskauf in Biberberg sei es gewesen, dass er er in Ulm „bey der sogenannten Kuchel Hütten gesaget, daß wirklich ein Mann dem WirthsHaus zum Adler zugehe, welcher ungemein viel Geld habe, sie solle sich richten, dass sie das Geld überkommen, wiedrigenfalls er sie noch heute in die Donau werffe.“13
Aber gehen wir zurück in glücklichere Tage, in Dillingen an der Donau, wo Johannes Gassners Kaserne stand und man sich wohl zum Bund des Lebens fand. Jedenfalls hatte sie „von dem Gaßner dortmals in dem Leedigen Stand ein Kind” und der kleine Hansjörg bekam vom jung verliebten Paar dann, noch immer ohne Trauschein, sein Schwesterle Kreszenzia. Vermutlich erst mit dem Entlassungssold konnte man sich, wohl zusammen mit der Oma Elisabetha Ebnerin, zu Biberberg ansiedeln und nun auch die obrigkeitliche Heiratslizenz bekommen. Der nächste Schritt in geordnete Verhältnisse war die Hochzeit am Donnerstag, dem 7.6.1770 in Biberbergs Pfarrkirche St.Andreas. Da führte der Bräutigam, „als gewesner Soldat sehr aufrecht“ gehend,14 seine glückliche Braut in die Kirche, strahlend beide wie die warme Junisonne. Und falls es regnete, trösteten sich das Paar und seine Gäste wohl mit der schwäbischen Volksweisheit: „Des gibt a reiche Braut.“
In diesem Sinne sollte nun das Eigenheim der nächste Schritt in eine gesicherte Zukunft sein. Das Protokoll des Hauskaufs benennt am 31.10.1778: Haus, dabei liegender Garten, 9 ¼ Jauchert Acker [knapp 3 ha], 1 Kuh, 1 Kalb, Vorräte an Futter und Stroh, „was Nagl und Band hält“ und drei Krautstrangen im gemeindlichen Krautacker. Gegenwert: 592 Gulden florin.“ Der Käufer ist Johannes Gassner, das Geld kam größtenteils von seiner Frau. Für ihn, den enterbten Stiefsohn, war der Kauf der kleinen Sölde wohl sehr wichtig: Denn nun hatte er in der dörflichen Hierarchie von Bauern, Söldnern und Tagelöhnern doch zumindest den Eingang in die Mittelklasse hingekriegt. Dass ihm dies nur mit Liesels Geld gelungen und er von seiner ihm überlegenen Frau abhängig war, dürfte – auf der Basis eines sicher gespannten Verhältnisses zu seiner eigenen Mutter – ein Hauptgrund für das mit Gewalt dominieren wollende Verhalten gegenüber seiner Frau gewesen sein.
Jetzt aber würde alles besser werden: Nun hatten das Hansjörgle und sein Schwesterle Kreszentia zwar nicht das Paradies, doch zumindest einen eigenen Garten. Der kleine Antonius (*12.1.1772) starb zwar bald nach der Geburt, aber im August 1774 konnte Elisabetha die Wiege ihres Josephus (*23.7.1774) draußen im Garten schaukeln und im September 1777 mit der kleinen Maria Josepha (*11.9.1777) auf dem Arm unter den roten Äpfeln stehen. Dass der kleine Meinradus (*16.7.1779) so bald wegstarb, musste doch keine baldige Vertreibung aus dem Garten Eden fürchten lassen, in der Weise „Unrecht Gut gedeihet nicht“?
„Und der Mensch und sein Weib verbargen sich“ und Gott fragte sie: Wer hat euch kundgetan, dass ihr nackt seid?“ Nein, nicht das Flammenschwert der Cherubim vertrieb das sündige Menschenpaar aus seinem kleinen Garten, sondern: Kundgetan hatten zwei Bauern aus Biberbergs Nachbarorten Roth und Finningen, die Gassnerin in Laupheimgesehen zu haben, wo sie im Oktober 1780 an der Zollstelle einem Bauern in die Tasche gelangt habe; im Februar 1781 wurden Gassner und Gassnerin im Amtsknechtshaus von Oberhausen inhaftiert, zwei Kilometer südlich ihres Biberberger Hauses, wo jetzt Elisabethas 76-jährige Mutter die Kinder versorgen musste.
Schon nach „11 oder 13 Tagen“ entkam die nun 40-jährige Tochter aus dem Oberhauser Hochsicherheitsgefängnis. Sie habe nur „ein Prett unter der Bank hinweggethann, und sich davongemacht.“ – „Wie sie es angestellt habe?“ – „Das Prettl seye nicht einmal angenagelt gewesen, und da sie solches hinweggethann so seye sie durch die Öffnung in des Amtsknechts Stuben geschlupfet, von dar zur Stuben Thür hinaus, und die Stiege hinauf zu ihrem Mann gegangen, welcher in einem Plockhaus gelegen seye.“ – „Was sie bey ihrem Mann zu thun gehabt?“ – „Sie habe diesen nur gefraget was er thue und da dieser erwiedert, wie ihme die Zeit lang seye, so habe sie selben gefraget ob er nicht mit wolle. Ihr Mann der Gassner habe geantwortet, er verlange nicht fort, und woll seine Sache schon hinaus bringen, sie solle nur gehen, und nicht mehr zurückkommen, sondern sich in ein anderes Land entfernen.“ – „Warum sie ihren Mann gefraget ob er nicht mit ihr fortgehen wolle?“ – „Weilen kein Schloß an ihres Manns Gefangenschaft ware, folgsam sie die Thür wohl öffnen, und ihne herauslassen können, wenn er es von ihr verlangt hätte; sie habe ihrem Mann noch gesagt, daß sie da bleiben wolle, er mithin sich fortmachen solle, allein er habe sich nicht darzu verstanden, sondern ihr nur außer Lands zu gehen, und nicht mehr auf Bieberberg zu kommen zugesprochen, und noch beygesezet, daß wenn sie seinem Rath nicht folgen, und wieder in die Herrschaft kommen, und erwischet werden sollte, sie um all ihr Sach kommen würden.“15
Kurz gesagt: Er gab ihr den Laufpass. Dieses Verhalten gegenüber seiner Frau ist angesichts des zerrütteten Verhältnisses viel weniger erstaunlich als das sich selbst gegenüber: Ein Häftling weigert sich zu fliehen, durch die leicht zu öffnende Tür einfach rauszugehen. Als Erklärung dafür scheinen zwei persönliche Faktoren entscheidend: erstens, dass er sich in seiner Sölde und seinen Kindern in Biberberg verankerte, und zweitens im Umstand, dass seine Frau es war, die ihm die Tür hätte öffnen müssen, öffnen können. Was für eine neue Demütigung, nach allem, was er bisher schon seinem Weib verdankte, das so vieles besser konnte! Oder war eine andre Frau im Spiel?
Die Liesel begriff wohl nur zu gut, dass hiermit das Dillinger Betttuch zerschnitten war, nach etwa 15 Jahren Zusammensein. Sie nahm, symbolisch vielsagend, aus Biberberg „2 Better, 1 Pfulben und 2 Kissen“ mit und ging allein ins 8,5 Kilometer entfernte Ichenhausen, das vor 1939 die größte jüdische Landgemeinde Deutschlands beherbergte. Dort wohnte sie zunächst bei einer Frau, „die den 2ten Mann habe, gegen 8 Täge“ und dann noch „ein paar Täg ... bey dem alldasigen Beerenwirth“, bei dem sie das Bettzeug für 5 fl versetzte, „damit sie nicht darum kommen möchte“.16 Von Ichenhausen ging sie dann – der kürzeste Weg führte stracks durch Biberberg und Pfaffenhofen – nach Katholisch Holzen, das heute Holzheim heißt und im Kontrast zur lutherischen Nachbargemeinde Holzschwang noch immer sehr katholisch ist (mit Pfarrgemeinderat unter Vorsitz des Kirchenmalermeisters Johannes Riggenmann, und Kirchenchor unter Leitung seiner Frau, meiner Schwägerin Klara). Von Holzen geht die Liesel in der Nacht, wohl wieder über Pfaffenhofen, die zwei Wegstunden zurück nach Biberberg, verbringt dort einen Tag, einen letzten Tag im Leben bei ihren Kindern und ihrer betagten Mutter, und kehrt im Schutz der nächsten Nacht nach Holzheim zurück.
All dies ist auf die Fastenwochen 1781 zu datieren, da sich die Gassnerin „hinnach noch eine gute Zeit in dem Schwabenland“ aufhielt, bevor sie am Palmsonntag, dem 8.April, mit einer Vagantin namens „Schleiffer Victor“ zunächst nach Südosten aufbrach. Kurz vor Ursberg bei Krumbach vertraut sie der Victoria an, „dass sie sich in dieser Gegend in so lange nimmer aufhalten könne, bies ihr Mann der Gassner wieder aus dem Arrest seye.“ Die direkteste Linie von 27 Kilometern zwischen Holzheim und Ursberg verläuft übrigens genau zwischen den Nachbarorten Biberberg und jenem Oberhausen, wo der Gassner im Arrest lag. Das erscheint umso weniger zufällig, als sich die beiden Frauen erst jetzt wieder nach Südwesten wandten und schon sechs Tage nach Palmsonntag, nämlich am Karsamstag (14.April) 1781 in Konstanz am Bodensee ankamen. Dort fanden sie „beim weißen Kreuz nahe bey dem Thor, wo man auf das Damm kommt“ Unterkunft. Den Ostermontag verbringen sie in einem Dorf bei Überlingen, „wo man die Oster Ayer gelesen, und sie zugesehen habe“... und dabei wohl auch an ihre Kinder gedacht?
Über das Schweizerische Arbon, wo das weibliche Duo die Gelegenheit zum Diebstahl in einem Bauernhaus nutzte, ging es dann nach Isny im Allgäu, weil das Schleiffer Torle dort mit einem Mann, den die Gassnerin sowohl als Victorias Ehemann, als auch „des Torlis Kerl“ bezeichnet, auf dem Markt verabredet war. Dort gelingt den beiden ein letzter Diebstahl, dann trennen sich ihre Wege. Die Victor hatte wieder ihren Kerle – und die Gassnerin? Am nächsten Morgen zieht sie allein zunächst nach Norden, um sich in Memmingen umzuhören „ob ihr Hannes noch nicht aus dem Arrest entlassen worden“. Das war nicht der Fall, also zurück nach Süden, allein und verunsichert. „Froh gewesen“ sei sie, wann man sie habe mitlauffen lassen, jndeme sie ja keinen Weg in die Schweiz gewißt.“17 Mit „2 alten Leuthen“ namens Joseph und Marian sei sie „im Appenzellischen herumgeloffen“, und zwar allgemein mit „recht praven und Haussessigen Leuthen“. Aber auch gerne mit Gaunerprominenz. Nach einem kurzen Intermezzo mit einem „Erzdieb“ namens Waschlers Michele und seiner Schwester geht sie angeblich allein nach Bischofszell, wird dort ertappt, gibt an, sie sei „Elisabeth Alberin, 26 Jahre [!], chatolischer Religion, ledigen Standts, habe kein Heimath, seie eines Soldaten Kind“. Nach einer Nacht im Armenhaus wird sie „von dem Hatschier durch das Stadtthor ... bis an die Gräntzen gefüret“ – abgeschoben mangels Beweisen, denn von der Tat wisse sie „nicht das mindeste“ und mit der Täterin, einer Elisabetha Rapoldin aus Nürnberg, habe sie „keinen Umgang gehabt“.18
Die Wahrheit kam erst Jahre später ans Licht, durch einen Star im Gaunermilieu, der die Liesel zusammen mit der „Ehefrau des großen Domini“ beim Diebstahl in Bischofszell beobachtet hatte. Dieser Star war der Johannes Herrenberger, vulgo Konstanzer Hanß, der durch seine „prämiierten Aussagen“ (wie man heute in Brasiliens Korruptionsbekämpfung sagt) den eignen Kopf aus der Schlinge zu ziehen verstand. Seine Aussage zu Liesels Bischofszeller Mißgeschick hatte einen sehr persönlichen Hintergrund. Wenn man seinen Aussagen glauben darf, hatte Elisabetha ihm nämlich unverblümt Avancen gemacht und ihn mit ihrem Erfolg als Diebin (Vorführeffekt in Bischofszell, wie peinlich!) für sich zu interessieren versucht; in seinen Worten: „... ihne Herrenberger zu ihrem Anhänger haben wollen, und ihme Täglichen eine Doucaten versprochen“. Das jugendfrische Alter von 26 Jahren, das Elisabetha beim Verhör in Bischofszell angab, würde zu den Hoffnungen passen, die sie laut Herrenberger auf ihn hegte. Der war allerdings liiert mit der 36-jährigen Barbara Reinhardtin – die mit der Beschreibung „schwarzes langes Angesicht, graue Augen, und schwarze Haare“ der Gassnerin stark ähnelte – und habe auf eine Beziehung zu ihr „keinen großen Lust“ gehabt.19 Oder doch ein bisschen, der Filou? Als die Gassnerin, begleitet von besagtem Waschlers Michele, in einem Nachtquartier mit dieser furiosen Reinhardtin zusammentraf, „habe diese der Gassnerin das Gesicht so verrissen, dass sie kein Fezel Haut mehr darinn gehabt.“ Dieser sehr körperliche Gesichtsverlust war für die Liesel schmachvoll: „Ihre Lebens Täge, habe ihr das Gesicht niemand verrissen“, sagte sie in Oberdischingen, um dann später doch zuzugeben, sie habe „mit der Schleiffer Bärbel im Schweizer Land auf dem Gehäg in der NachtHerberg Händel bekommen.“20
Wohl mit noch lädiertem Gesicht zog es die Liesel wieder zurück in den Umkreis Biberbergs und ihrer Kinder, die sie „noch einmal zu sehen große Begierd gehabt“.21Am 11.Juli 1781 steht sie Schmiere bei einem Einbruch in den Pfarrhof von Billenhausen, keine 15 Kilometer von Biberberg entfernt.Am 3.September ist der Wallfahrtsort Königin Bild bei Limbach nahe Günzburg das Ziel. Dort hatte im Jahr 1679, in der Kutsche von Günzburg nach Innsbruck, die 26-jährige noch kinderlose Gemahlin des Herzogs Karl von Lothringen „ihre so sehnlich gewunschene, und von Gott durch Mariä Fürbitt erhaltene Leibs-Frucht das Erstmahl empfande“ und noch im selben Jahr eine Dankkapelle errichten lassen. In dieser spielten nun Liesels Kumpane, nach magerer Beute im Haus des Mesmers und Schulmeisters, mit den dort gestohlenen Geigen munter drauflos, bis sie vom Kapellan verjagt wurden, der „in der Meinung, der Schulmeister spiele auf der Geigen“ herbeigeeilt war. Im anschließenden Nachtquartier bei einem Bauern in Ettlishofen kamen Liesel und Co. noch näher an das nur dreieinhalb Kilometer südlich gelegene Biberberg heran.Am nächsten Morgen verließ der Serenadenfiedler Hansjörg die Gruppe und mit den anderen machte sich die Liesel, wieder knapp vorbei an Biberberg, auf in Richtung Bodensee, stahl in einer Ravensburger Kirche einen Baldachinflügel aus rotem Taft und quartierte sich wenig später zu Konstanz in einem Schenkhaus ein, das von einem Schneider geführt wurde, was auch insofern praktisch gewesen sein mag, als Liesel den roten Baldachin hier zu einem Mieder umarbeiten lassen konnte.
Egal ob sie dieses rote Mieder bei der ersten Begegnung trug: Als sie den Matheis Ruttmann im Spätsommer 1781 im „Schäpfle“ erstmals sah, sei auch, wie sie wohl gern erinnert, „die Bekanntschaft gleich angegangen.“ In Silja Kai Foshags Worten: „Elisabeth und der knapp zehn Jahre jüngere Rieser Matheis wurden augenblicklich ein Paar.“22 Man ließ sich falsche Schweizer Pässe machen, und am Pfingstdienstag 1782 war es offiziell die „Ruttmännin“, die in Rapperswil – freilich nur kurz – geschnappt wurde.