Die Schweiz und ihre Neutralität - Marco Jorio - E-Book

Die Schweiz und ihre Neutralität E-Book

Marco Jorio

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Beschreibung

Die Schweiz sucht ihre Rolle in Europa und der Welt nicht erst seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Mit dem schrittweisen Aufbau der Europäischen Union und dem Ende des Kalten Krieges (1989) hat sich die internationale Lage unseres Landes von Grund auf geändert. Die Schweiz muss sich überlegen, welche Haltung sie als Staat mitten in Europa einnimmt und wie sie sich nach dem Untergang der bipolaren Welt positioniert. In diesen Diskussionen spielt die Neutralität eine zentrale Rolle. Aus der Staatsmaxime ist ein nationales Identitätsmerkmal geworden. Woher kommt diese tiefe Verankerung in der Bevölkerung? Wie konnte die Neutralität die Identität des Landes dermassen prägen? Wie, wann und warum entstand sie? Und können aus der Vergangenheit Perspektiven für die Zukunft aufgezeigt werden? Der Blick auf 400 Jahre Neutralitätsgeschichte gibt Antworten auf diese Fragen. 50 Jahre nach dem monumentalen Werk von Edgar Bonjour (1965–1970) legt der Historiker Marco Jorio eine neue Gesamtdarstellung zum Thema auf der Basis der Forschungen der letzten Jahrzehnte vor.

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Seitenzahl: 1104

Veröffentlichungsjahr: 2023

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DIE SCHWEIZ UND IHRE NEUTRALITÄT

EINE 400–JÄHRIGE GESCHICHTE

Marco Jorio

HIER UND JETZT

Vorwort

Die Schweiz hat die Neutralität nicht erfunden

Was versteht man heute unter Neutralität?

Erste Regungen: Antike und Mittelalter

Antithese zur Neutralität: der Gerechte Krieg

Die völkerrechtliche Neutralität bildet sich heraus (16.–17. Jh.)

Die Schweiz wahrt keine Neutralität (14.–17. Jh.)

Grossmacht Schweiz?

Friede mit den Nachbarn (1511, 1516)

Die Westexpansion der nichtneutralen Eidgenossenschaft im 16. Jahrhundert

Neutralitäten der nichtneutralen Schweiz

Und Marignano?

Die Schweiz entdeckt die dauernde Neutralität (1618–1714)

Die Leiden eines Nichtneutralen: die Bündner Wirren (1618–1639)

Die Schweiz im Dreissigjährigen Krieg (1618–1648): Die dauernde Neutralität entsteht

Erste Schritte zur «bewaffneten Neutralität» (1647)

Die Eidgenossenschaft wird souverän (1648)

Die erste Neutralitätserklärung der Schweiz (1674)

Neutralität im Zeitalter Ludwigs XIV.

Auf Distanz zu Ludwig XIV.

Der Spanische Erbfolgekrieg (1700–1714)

Die ersten «Guten Dienste»

Neutrale Insel des Friedens

Die Erfindung der Neutralitätstradition

Die Schweiz geniesst ihre Neutralität (1715–1798)

Die eidgenössische Neutralität beim Tod Ludwigs XIV. (1715)

Neutralität in den Kriegen des 18. Jahrhunderts

Neue Allianzen I: Renversement des alliances (1756)

Neue Allianzen II: Soldvertrag mit Frankreich (1777)

Der schweizerische Beitrag zum völkerrechtlichen Institut der Neutralität

Neutralität im Zeichen der Revolution: der Erste Koalitionskrieg (1792–1797)

Die Schweiz verliert ihre Neutralität und gewinnt sie wieder (1798–1815)

Die französische Aggression und die «Helvetische Revolution» (1798)

Französischer Satellitenstaat und Kriegsschauplatz (1798–1800)

Napoleon lockert den Würgegriff (1803–1813)

«Scheinneutralität» unter Napoleons Fuchtel

Auf dem Weg zur Neutralität (1813/14)

Die Schweiz am Wiener Kongress (1814/15)

Die «neutrale Schweiz in spe» im Krieg: Burgunderfeldzug (1815)

Endlich: die völkerrechtliche Anerkennung der Neutralität (1815)

Die Schweiz entwickelt ihre Neutralität (1815–1914)

Im Schlepptau der Heiligen Allianz (1817–1829)

Die Neutralität auf dem Prüfstand (1830–1848)

Neutralität und Bundesverfassung (1848)

Schwankende Neutralität im Revolutionsjahr 1848

Der junge Bundesstaat und die Neutralität (1849–1870)

Der zweite italienische Einigungskrieg von 1859 als Schule der Neutralität

Der Savoyerhandel und die Kriege der 1860er-Jahre

Deutsch-Französischer Krieg (1870/71)

Neutralität im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus (1870–1914)

Völkerrechtliche und innenpolitische Neutralitätsdebatten

Haager Konventionen: völkerrechtliche Regelung der Neutralität (1899, 1907)

Die Schweiz pendelt zwischen integraler und differenzieller Neutralität (1914–1938)

Die Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg (1914–1918)

Integrale und differenzielle Neutralität (1918–1938)

Die Schweiz hat die Neutralität «einigermassen durchgehalten» (1939–1945)

Militärische Bedrohung und Neutralität

Luftneutralität

Seeneutralität

Wirtschaftliche Neutralität

Aussenpolitische Neutralität

Nachrichtendienste und Neutralität

Gute Dienste

Humanität und Neutralität

Meinungsfreiheit und Neutralität

Die Neutralität der Schweiz im Vergleich

Warum wurde die Schweiz nicht angegriffen?

Die Schweiz übertreibt mit ihrer Neutralität (1945–1990)

Vae Neutris! Kriegsende und Krise der Neutralität (1943–1948)

Offene Zukunft (1945–1948)

Erste Schritte in Richtung europäische Integration

Die Schweiz macht ernst mit der Universalität

Der Kalte Krieg beginnt (1947–1954)

Die harte Bindschedler-Doktrin (1954)

Im west-östlichen Wirtschaftskrieg

Die hohe Zeit des Kalten Kriegs

Herausforderung: «Dritte Welt»

Herausforderung: europäische Einigung und US-Skepsis

Erste Öffnungsschritte im Zeichen der Détente (1962–1970)

Doch in die UNO?

Kritik an der Schweizer Neutralität

Gesamtverteidigung und Menschenrechte

Konflikte (1960–1975)

Dem Ende des Kalten Kriegs entgegen: KSZE/OSZE (1975–1990)

Der Zweite Kalte Krieg (1979–1985)

Das Ende des Kalten Kriegs (1985–1990)

Synthese und Rückblick: Neutralität im Kalten Krieg

Die Schweiz (ver)zweifelt an ihrer Neutralität (1990–2023)

Eine neue Weltordnung entsteht

Verunsicherte Schweiz: Neutralität abschaffen oder beibehalten?

Der Bundesrat richtet die Neutralität neu aus

Bundesrat und Parlament ringen mit dem Volk

Die neue Neutralität im Praxistest

Das Knistern im Gebälk

Neutralitätsdebatten

Der erste Ukrainekrieg (2014)

Neutralitätsdebatten nach 2014

Neutralität und die Crypto-Affäre

Zweiter Ukrainekrieg (2022/23)

Wie neutral sein im Ukrainekrieg?

Neutralität in die Bundesverfassung?

Ausblick: die Schweiz und die Neutralität – wie weiter?

Bildteil

Anhang

Bibliografie

VORWORT

«Die Schweiz ist neutral seit Marignano 1515.»

Schulbuchweisheit

«Die Neutralität ist nur allmählich aus dem Dämmer völkerrechtlicher Verflechtungen zu klarem Bewusstsein ihres Wesens erwacht.»

Edgar Bonjour

Was gilt nun? Ist die Neutralität an jenem fürchterlichen 14. September 1515 auf dem oberitalienischen Schlachtfeld von Marignano aus dem Blut der gegen 10 000 niedergemetzelten Schweizer entstanden, wie das Generationen von Schülerinnen und Schülern beigebracht wurde und noch heute in Schrift und Wort kolportiert wird? Oder ist die Neutralität, wie der grosse Neutralitätshistoriker Edgar Bonjour raunte, wie Dornröschen aus einem langen Schlaf erwacht? Keines von beidem stimmt! Die Entstehung der schweizerischen Neutralität und ihre wechselvolle Geschichte bis heute lässt sich ziemlich gut nachzeichnen. Zahlreiche Historiker (aber nur wenige Historikerinnen) haben dazu geforscht und wertvolle Erkenntnisse zusammengetragen. Daher ist dem Diplomaten Paul Widmer zuzustimmen, wenn er sagt: «Die Entstehungsgeschichte der Neutralität ist mehr als ein Mythos.»1

So wissen wir heute, dass die Neutralität weder von Niklaus von Flüe «angemahnt» wurde, noch dass die Schweiz seit 1515 neutral ist. Darauf hat bereits 1974 der Zürcher Historiker Emil Usteri in seinem Standardwerk hingewiesen; er schrieb die Entwicklung der Neutralität späteren Generationen zu. Um es gleich vorwegzunehmen: Die «immerwährende Neutralität» der Schweiz ist ein Kind des 17. Jahrhunderts, genauer gesagt des Dreissigjährigen Kriegs und der zahlreichen Angriffskriege des französischen Königs Ludwig XIV.; damals wurde die Eidgenossenschaft, das «Corpus Helveticum», als souveränes europäisches Staatswesen anerkannt. Nur souveräne Staaten können neutral sein. Souveränität und Neutralität sind wie siamesische Zwillinge. Zudem entwickelte sich parallel dazu das moderne Völkerrecht, das sowohl der Souveränität wie der Neutralität ihr völkerrechtliches Fundament gab.

Der Titel dieses Buchs spricht deshalb von der 400-jährigen Neutralitätsgeschichte und nicht, was wohl viele Leserinnen und Leser erwarten, von 500 Jahren Neutralität. Noch genauer wäre der Titel meines Referats, das ich 2015 an der Diplomatischen Akademie Wien anlässlich des 50. Jahrestags des österreichischen Staatsvertrags und der österreichischen Neutralität halten durfte und das den Auftakt zu meiner Beschäftigung mit der Geschichte der Neutralität bildete. Er lautete: «2×200 Jahre Schweizer Neutralität». Denn tatsächlich teilt sich die Neutralitätsgeschichte in zwei markante Zeitabschnitte: in die alt-eidgenössische vor 1798 und in die moderne Neutralität seit 1815.

Der Begriff Neutralität selbst ist schillernd. Das grosse Fremdwörterbuch des Dudens gibt gegen dreissig verschiedene Bedeutungen aus der Chemie, der Physik, dem Sport, der Grammatik, dem Klima («klimaneutral») bis hin zur Innenpolitik (z. B. der konfessionell neutrale Staat) und zur Aussen- und Sicherheitspolitik an. Uns interessiert die militärisch-politische Bedeutung von «Nichtbeteiligung an einem Krieg oder bewaffneten Konflikt». Aber dieser Begriff hat seinerseits einen weiten und einen engen Inhalt. Der weite, der sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt, bezeichnet allgemein, dass sich ein Herrschaftsträger, eine Stadt, ein Fürst, ein Staat nicht in einen Krieg hineinziehen lassen will und «stille sitzt» – wie die alten Eidgenossen dieses Verhalten nannten und dies situativ auch schon vor dem 17. Jahrhundert in verschiedenen Konflikten praktizierten. Der enge und präzise Inhalt hingegen meint das moderne, oben erwähnte völkerrechtliche Institut der Neutralität, das Neutralitätsrecht. Und dieses steht im Zentrum dieses Buchs.

Die Arbeit basiert in erster Linie auf gedruckten Quellen und der Forschungsliteratur. Bis Ende des 19. Jahrhunderts interessierten sich die Historiker wenig für die Geschichte der Neutralität. Es waren vor allem Juristen, Staats- und Völkerrechtler sowie Offiziere, die sich mit Neutralitätsfragen beschäftigten: so als einer der Ersten der Schwyzer Franz Michael Büeler (1642–1725), der Neuenburger Völkerrechtler Emer de Vattel (1714–1767), der Genfer Diplomat und Autor der Anerkennungsurkunde von 1815, Charles Pictet de Rochemont (1755–1824), oder der Zürcher Rechtsprofessor Johann Caspar Bluntschli (1808–1881). Das schlagartig erwachte Interesse der Historiker hat ein genaues Datum: das des Wohlgemuth-Handels von 1889. Damals verhaftete die Aargauer Polizei einen deutschen Spitzel, worauf der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck drohte, die Anerkennung der Neutralität von 1815 zu widerrufen. Bereits 1890 widmete der junge Bündner Rechtshistoriker Felix Calonder, der spätere Bundesrat, seine Dissertation der Neutralitätsgeschichte. 1895 legte der Zürcher Staatsarchivar Paul Schweizer seine quellenbasierte, monumentale Schweizer Neutralitätsgeschichte in zwei Bänden vor, in der er argumentierte, dass die Neutralität der Schweiz nicht ein Geschenk der Mächte von 1815 gewesen sei – wie das Bismarck behauptete –, sondern viel weiter zurückreiche, nämlich bis 1291!

Auf der Basis des Standardwerks von Paul Schweizer entwickelte sich eine reiche Neutralitätsforschung, die für die Zeit bis in die 1930er-Jahre noch einigermassen überblickbar ist. Dann nahm die Anzahl Titel lawinenartig zu. Das gilt für die Neutralitätsforschung im In- und Ausland. Schon 1978 stellte der österreichische Völkerrechtler Michael Schweitzer fest, dass die Literatur zur Neutralität im 20. Jahrhundert «schon nahezu unüberschaubar geworden» sei.2 Als zweites Monumentalwerk legte der Basler Professor Edgar Bonjour, der während Jahrzehnten über die Geschichte der Neutralität forschte, von 1970 bis 1976 seine neunbändige «Geschichte der schweizerischen Neutralität» vor. Drei Bände behandelten die Neutralität vor 1939, die sechs folgenden nur den Zweiten Weltkrieg. Dafür hatte er einen Auftrag des Bundesrats und privilegierten Archivzugang erhalten. Seither wagte sich niemand mehr an eine Gesamtgeschichte, zu gross war der Respekt vor dem Altmeister der Neutralitätsgeschichte. Immerhin brachte Alois Riklin im Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) und im Neuen Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik aktualisierte Kurzfassungen.

Mit der Wende um 1990 erfuhr die Neutralitätsforschung einen neuen Aufschwung, wobei es vor allem um die politische Frage ging, ob die Schweiz angesichts der neuen strategischen Ausgangslage die Neutralität beibehalten, modifizieren oder aufgeben sollte. Als sich der erhoffte ewige Friede nach dem Ende der bipolaren Welt nicht einstellen wollte, erlahmte gegen die Jahrtausendwende das Forschungsinteresse. Bereits 1997 stellte der Politikwissenschaftler und Neutralitätsforscher Jürg M. Gabriel im Vorwort seines Buchs «Sackgasse Neutralität» desillusioniert fest: «Das Thema […] ist zumindest aus politwissenschaftlicher und völkerrechtlicher Perspektive ‹ausgeforscht›.»3 Um gleich beizufügen: «[S]chon mehr als einmal habe ich beschlossen, kein Wort mehr über die Neutralität zu schreiben, denn aus wissenschaftlicher Sicht sind damit keine Lorbeeren zu holen.» Auch ich erfuhr das Desinteresse an der Neutralität in Form von mitleidigem Lächeln und Bemerkungen in Historikerkreisen, als diese von meinem Neutralitätsprojekt erfuhren: «Warum dieses verstaubte und überholte Thema? Neutralität ist doch passé!»

Das Interesse an der Neutralität nahm ab 2014, dem ersten Ukrainekrieg, wieder zu, als sich abzeichnete, dass sich Russland unter Wladimir Putin zu einem aggressiven und imperialistischen Staat gewandelt hatte. Der Auftrag des Verlegers Bruno Meier von 2016 an mich, eine neue Neutralitätsgeschichte zu schreiben – mit der prophetischen Voraussage «Die Neutralität wird wieder aktuell» –, der vom jungen Schweizer Historiker Pascal Lottaz ab 2017 aufgebaute internationale Forschungskreis «Neutrality Studies» sowie das viel diskutierte Buch von alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey zur Neutralität (2020) belegen die Rückkehr des Themas. Geradezu explodiert ist das Interesse an der Neutralität dann aber an jenem fatalen 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine zum zweiten Mal, dieses Mal in Form eines klassischen Eroberungskriegs, angriff. Nun war sie wieder da, die jahrelang verschmähte Neutralität! Es zeigte sich, dass in Politik, Medien und Gesellschaft die Kenntnisse über die Neutralität in den vergangenen drei Jahrzehnten recht eigentlich verdunstet waren: Die Schweiz konnte nicht mehr Neutralität. In diesem Umfeld und angesichts der Aktualität musste das Buch, vor allem die beiden letzten Kapitel, welche die Zeit nach 1945 behandeln, unter Hochdruck abgeschlossen werden. Für die Neutralität nach dem Jahr 2000 gab es fast keine und für das allerletzte Unterkapitel, den Ukrainekrieg 2022, überhaupt keine Forschungsliteratur. Für diese Periode basiert die Arbeit fast ausschliesslich auf amtlichen Publikationen und auf der Presse.

Es bleibt mir zu danken: zuerst meiner Familie, vor allem meiner Frau Cécile Hasler, die sich während Jahren meine Neutralitätsgeschichten anhören und meine Abwesenheit erdulden musste, dem Verlag Hier und Jetzt, insbesondere Bruno Meier, der mit Verständnis und Geduld das infolge meiner vielen anderen Engagements gemächliche Voranschreiten der Arbeit jahrelang begleitete, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Nationalbibliothek in Bern, meinem Arbeitsort der letzten Jahre, und schliesslich meinen Kollegen Thomas Maissen, Rudolf Jaun, Peter Lehmann, Rolf Stücheli und Marcel Berni sowie Roger Dubach (EDA) für zahlreiche hilfreiche Hinweise.

1 NZZ, 6.6.2016.

2 Schweitzer, Artikel «Neutralität» in: Historische Grundbegriffe: S. 331.

3 Gabriel, Sackgasse, S. 7.

DIE SCHWEIZ HAT DIE NEUTRALITÄT NICHT ERFUNDEN

Der Begriff «neutral» und die von ihm abgeleiteten Begriffe wie Neutralität, Neutralisierung, Neutralismus, Neutrum sowie deren Verben und Adjektive beinhalten eine Fülle von Bedeutungen. Sie alle wurzeln im lateinischen Begriff «ne-uter» («weder der eine noch der andere»). Das Fremdwörterbuch des Dudens1 gibt über zwanzig verschiedene Bedeutungen für diese Wortfamilie an: unparteiisch, weder basisch noch sauer (Chemie), indifferent, Aufhebung von Spannungen (Physik) bis hin zum konfessionell neutralen Staat.2 Hier interessiert uns der Begriff aber im Sinne von «Nichtbeteiligung an einem Krieg oder bewaffneten Konflikt». Dieses Verständnis von Neutralität hat seinerseits zwei Bedeutungen: Im allgemeinen Sprachgebrauch umschreibt es unspezifisch jede Art von Abseitsstehen eines Herrschaftsverbands oder eines Staates von gewalttätigen Auseinandersetzungen Dritter untereinander. Der präzise Begriff – quasi eine Teilmenge des Ersten – meint ein Rechtskonzept der Nichtbeteiligung eines Staates an einem zwischenstaatlichen Krieg. Dieses konnte erst entstehen, als es souveräne Staaten und ein Völkerrecht gab – es existiert also seit dem 17. Jahrhundert. Damals entstand auch die Schweizer Neutralität. Und dieses Rechtskonzept ist wie alle anderen stetem Wandel und wechselnden Interpretationen unterworfen und hat seine Vorgeschichte(n), die in diesem Buch nachgezeichnet werden.

Die Schweiz hat die Neutralität nicht erfunden – auch wenn diese vielen in unserem Land als Schweizer Spezialität gilt und sie längst zu einem mythisch überhöhten Identifikationsmerkmal mutiert hat. Neutrales Verhalten gibt es, seit es Kriege zwischen den Menschen gibt. Immer wieder wollten sich Sippen, Stammesverbände, Städte, Fürsten oder Staaten nicht in die Konflikte ihrer Nachbarn hineinziehen lassen. Ja, die Nichtteilnahme an einem bewaffneten Konflikt ist eigentlich in bewaffneten Auseinandersetzungen in der ganzen Menschheitsgeschichte der Normalfall – oder wie es der englische Historiker Neville Wylie 2002 formulierte: «The desire of individuals, groups or states to stand aside from the conflicts of their neighbours is a natural one.»3 Die beiden Weltkriege waren da eine Ausnahme, da die meisten der damals souveränen Staaten in irgendeiner Form am Krieg beteiligt waren – darum nennt man sie ja Weltkriege. Aber auch in diesen beiden Konflikten hielten sich viele der damaligen souveränen Staaten aus dem Kriegsgeschehen heraus. Im Ersten Weltkrieg standen den rund dreissig kriegführenden Staaten der Entente und der Mittelmächte (ohne Kolonien) rund 25 neutrale Staaten gegenüber. Im Zweiten Weltkrieg gab es dagegen nur noch rund zehn Neutrale und über sechzig Staaten, die sich 1945 im Kriegszustand befanden. Davon beteiligte sich aber rund ein Drittel (z. B. die lateinamerikanischen Staaten) nicht an den Kämpfen. Seither wurden die bewaffneten Konflikte nur noch jeweils von einigen Staaten unter den Augen der mehr oder weniger passiven Staatenwelt ausgefochten. Selbst die grosse «Koalition der Willigen» im Kampf gegen Saddam Husseins Irak im Jahr 2003 umfasste nur um die 40 der damals rund 190 UNO-Mitgliedstaaten.

WAS VERSTEHT MAN HEUTE UNTER NEUTRALITÄT?

Die Neutralitätsauffassungen haben sich in der Vergangenheit stark gewandelt.4 Phasen passiver Neutralität, als die Eidgenossen «stille sassen», lösten sich ab mit Phasen aktiver Neutralität, in denen man sich berufen fühlte, Frieden zu vermitteln, Gute Dienste anzubieten, aber auch laut Stellung zu beziehen. Aber seit es das völkerrechtliche Institut der Neutralität gibt, blieb der Kern der Neutralität unverändert: Es ging und geht immer um die Nichtbeteiligung eines souveränen Staates im bewaffneten Konflikt zwischen zwei verfeindeten Staaten oder Allianzen. Die Voraussetzungen für völkerrechtliche Neutralität sind ein erklärter Krieg oder ein bewaffneter Konflikt ohne formelle Kriegserklärung. Schon der Altmeister der schweizerischen Neutralitätsgeschichte, Paul Schweizer, stellte 1895 apodiktisch fest: «Neutralität setzt immer einen Krieg zwischen zwei anderen Parteien voraus», und: «In Friedenszeiten gibt es keine Neutralität.» Damit folgte er dem grossen Neuenburger Völkerrechtler Emer de Vattel (1714–1767), der in seinem Hauptwerk «Droits des gens» 1758 festhielt: «Cette impartialité, qu’un peuple neutre doit garder, se rapporte uniquement à la guerre» (§ 104).5 Diese Einschränkung der Neutralität auf den Krieg lockerte sich schon im 19. Jahrhundert. So dehnte bereits 1899 alt Bundesrat Emil Frey die Neutralitätsdefinition auf alle Arten von Konflikten aus: «Neutralität ist die Nichteinmischung in die Händel Dritter.»6 Das 20. Jahrhundert, insbesondere die Zeit im Ersten Weltkrieg, sollte dann eine Ausweitung der Neutralität auf weitere Bereiche bringen, so entstanden die «Wirtschaftsneutralität» oder die «Gesinnungsneutralität» und die Neutralität in Friedenszeit. In der heutigen Diskussion stehen verschiedene Neutralitätsbegriffe mit ihren zahlreichen Adjektiven neben- und gegeneinander: die aktive/passive, die integrale/differenzielle und neuerdings die kooperative Neutralität.7

Immer stand auch die Frage im Zentrum, welche Rechte und Pflichten mit der Neutralität in Kriegs- und Friedenszeiten verbunden seien. Die säkularen Debatten mündeten schliesslich ins Neutralitätsrecht, wie es 1907 in der Haager Konvention vertraglich festgelegt und seither im Völkergewohnheitsrecht weiterentwickelt wurde. Es wird so umschrieben: Das Neutralitätsrecht definiert die Gesamtheit der völkerrechtlich verbindlichen Rechte und Pflichten, die aus der Nichtbeteiligung eines Staates am Krieg oder an einem Konflikt resultieren. Die Schweiz, die bis ins 18. Jahrhundert wenig zur theoretischen Neutralitätsdebatte beitrug, hat aber bereits seit dem 17. Jahrhundert durch die praktizierte Neutralität viel zur Entwicklung des Neutralitätsrechts beigetragen, etwa durch das sehr frühe Verbot von militärischen Durchzügen, das Ausfuhrverbot von Waffen und Munition oder das Internierungswesen.

Auch wenn sich die meisten Neutralitätstheoretiker einig waren, dass die Neutralität nur im Krieg zum Tragen komme und Teil des Kriegsrechts sei, setzte sich doch allmählich die Auffassung durch, dass Staaten, welche beabsichtigen, dauernd oder in einem absehbaren Krieg neutral zu bleiben, bereits in Friedenszeiten Verpflichtungen akzeptieren mussten, womit die Neutralität sogenannte Vorwirkungen entfaltete. So sollte der Neutrale keine Verbindlichkeiten, beispielsweise Beitritt zu einer Militärallianz oder den Abschluss eines Angriffs- oder Defensivbündnisses, eingehen, welche die Wahrung der Neutralität im Kriegsfall verhindern oder erschweren könnten. Daneben hat der Neutrale im Frieden eine Politik zu führen, welche alles unterlässt, was in einem Kriegs- oder Konfliktfall die Wahrung der Neutralität verhindert, und die alles unternimmt, um sie wahren zu können.8 Diese Politik, Neutralitätspolitik genannt, führt der neutrale Staat in eigener Verantwortung. Somit beruht die Neutralität auf zwei Pfeilern: dem völkerrechtlich festgesetzten Neutralitätsrecht, ergänzt durch das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht, sowie der frei gestalteten Neutralitätspolitik.

Das Verhältnis zwischen den beiden Elementen der Neutralität definierte 1992 Alois Riklin so: «Neutralität im Sinne des Völkerrechts bedeutet Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg anderer Staaten. Was Nichtbeteiligung eines Staates zur gegebenen Zeit im Einzelnen meint, bestimmt das Neutralitätsrecht. Die Neutralitätspolitik dagegen ist der Inbegriff all jener Massnahmen, die ein Neutraler im Krieg und ein dauernd Neutraler bereits im Frieden ausserhalb seiner neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen nach eigenem, freiem Ermessen trifft, um die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit seiner Neutralität zu sichern.»9 Damit führt Riklin gleichzeitig eine Unterscheidung zwischen dem dauernd Neutralen, der sich verpflichtet, in allen künftigen Kriegen neutral zu bleiben (wie die Schweiz), und den gelegentlich Neutralen, die sich situativ entscheiden, ob sie in einem bewaffneten Konflikt neutral sein wollen oder nicht. Die «immerwährende Neutralität» kann völkerrechtlich anerkannt sein, wie im Fall der Schweiz und Österreichs, und muss nicht bei jedem Krieg erklärt werden, oder sie kann einfach als politische Praxis eines Neutralen ohne formelle völkerrechtliche Anerkennung durch andere Staaten angewendet werden, wie im Fall von Irland oder bis 2022 Schweden.

Von der dauernden oder gelegentlichen Neutralität eines Staates, die selbst gewählt ist, wird die Neutralisierung eines unselbstständigen Territoriums unterschieden. Seit der Frühen Neuzeit wurde immer wieder versucht, die Kriegseinwirkungen durch die Neutralisierung von Gebäuden (z. B. Kirchen und Klöster) oder grösseren Gebieten, vor allem längs der Konfliktlinien zwischen Grossmächten, zu verhindern. Ein frühes Beispiel ist die Neutralisierung der Freigrafschaft und des Herzogtums Burgund im Jahr 1522. Quasi vor der eidgenössischen Haustüre vereinbarten König Franz I. von Frankreich und Margarethe von Österreich beim Wiederausbruch der Kämpfe in Oberitalien die Neutralisierung des französischen Herzogtums Burgund und der habsburgischen Freigrafschaft Burgund für drei Jahre.10 Später waren es dann vor allem die Savoyer Herrscher, welche versuchten, ihre westlich der Alpen gelegenen Territorien durch eine von der Schweiz garantierte Neutralisierung vor dem Zugriff Frankreichs zu schützen.11 Die Frage der Neutralisierung ist für die Schweiz insofern von Bedeutung, als im Ausland, aber zunehmend auch in der Schweiz behauptet wird, die Eidgenossenschaft sei 1815 von den Alliierten «neutralisiert» worden, ähnlich wie es 1839 Belgien geschah.12 Der Weg der Eidgenossenschaft zur selbst gewählten und eigenverantwortlich gestalteten Neutralität bildet den Inhalt des vorliegenden Buchs.

ERSTE REGUNGEN: ANTIKE UND MITTELALTER

Neutrales Verhalten ist seit der Antike bezeugt und erscheint schon in den ersten Dokumenten, die vom Krieg reden. So sollen bereits in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. die Hethiter die Babylonier in einem Bündnisvertrag zur Nichtteilnahme bewegt haben.13 Die Griechen, so der Athener Stratege und Historiker Thukydides (5. Jh. v. Chr.), beschrieben das neutrale Verhalten vieler griechischer Städte in den endlosen Kriegen untereinander als «mésos» («unparteiisch» bzw. «in der Mitte») oder «hesycházo» («ruhig bleiben»), ein Begriff, der im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit als «stille sitzen» auch in der Eidgenossenschaft wieder auftaucht. Aus der griechischen Geschichte sind zahlreiche Fälle von Neutralität bezeugt: So erklärten 480 v. Chr. die Stadt Argos nach der Schlacht von Salamis und die Böotier nach der Schlacht bei den Thermopylen ihre Nichtteilnahme am Krieg. Selbst im fernen Indien wurden im Staatslehrbuch Arthaschastra um 300 v. Chr. Überlegungen zur Neutralität angestellt.

Im republikanischen Rom war die Neutralität zuerst ein akzeptiertes Verhalten im Krieg (so beim Historiker Titus Livius im 1. Jh. v. Chr.), wurde dann aber im imperialen Rom als Handlungsoption ausgeschlossen nach dem Leitspruch «Romanos aut socios aut hostes habeatis oportet. Media nulla via est» («Ihr müsst die Römer entweder als Bundesgenossen oder Feinde haben. Es gibt keinen Mittelweg»). Wer nicht für Rom war, war gegen Rom.14 Den Begriff «neutralitas» in einer politischen Bedeutung gab es in der Antike noch nicht. Die Römer sprachen von «medium esse» («dazwischen sein»), «medium se gerere/agere» («sich in der Mitte halten», «neutral bleiben») oder «quiescere» («sich ruhig verhalten»). Sie kannten zwar den Begriff «neutralis» vor allem in der Philosophie im Sinne von «gleichgültig» und in der Grammatik als Genus («neutrum», deutsch «sächlich») zwischen dem männlichen («masculinum») und dem weiblichen («femininum»). Aber es gab bereits die Verwendung des Begriffs im militärischen Sinne von neutral: «neutri auxilia mittere» («keinem von beiden Hilfe oder Hilfskräfte zukommen lassen») oder «toto bello abesse» («sich gänzlich vom Krieg fernhalten»). Im 7. Jahrhundert entstand im arabischen Raum ein eigenes Neutralitätsverständnis, indem der Koran (Sure 4, 90–91) Regelungen über die Neutralität beinhaltete und vorschrieb, den Neutralen zu schonen. «Darum, wenn sie sich von euch fernhalten und nicht gegen euch kämpfen, sondern euch Frieden bieten; dann hat Allah euch keinen Grund gegen sie gegeben.»

Auch die Bibel spricht die Neutralität an. Altes und Neues Testament widersprechen sich aber: Der Rat Gottes in Jesaja 30,7 an sein Volk wird als Aufforderung zur Neutralität interpretiert: «Denn so spricht der Herr, der Heilige Israels: Nur in Umkehr und Ruhe liegt eure Rettung, nur Stille und Vertrauen verleihen euch Kraft.» Im Neuen Testament tönt es anders und härter: «Qui non est mecum, contra me est», «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich» (Matthäus 12,30; Lukas 11,23). Diese Aufforderung Jesu ist aber an jeden einzelnen Menschen gerichtet, sich individuell für oder gegen ihn zu entscheiden. Sie wurde dann im christlichen Mittelalter und insbesondere in den konfessionellen Kriegen der Neuzeit zu einer politischen Leitidee umgedeutet und als Waffe gegen jede Art von Neutralität eingesetzt. Eine Position dazwischen – «tertium non datur» («es gibt nichts Drittes») – ist im Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Irrtum und zwischen dem (eigenen) richtigen und dem falschen Glauben (der anderen) nicht akzeptabel und wird den Zorn Gottes auf den ziehen, der auf der falschen Seite steht.

Im Mittelalter gab es den Begriff der Neutralität im Konfliktfall anfänglich nicht. Erst im Hochmittelalter entstand der lateinische Begriff «neutralitas», zuerst in der Medizin, so etwa bei dem im 12. Jahrhundert lebenden Spanier Dominicus Gundisalvi oder Gundissalinus, für den es zwischen Krankheit («egritudo») und Gesundheit («sanitas») einen Zustand der «neutralitas» gibt. Im militärisch-politischen Sinn tauchte der Begriff wohl zum ersten Mal in der lateinischen Chronik des Dietrich Engelhusen auf, als 1394 im Krieg zwischen dem Bischof und der Bürgerschaft von Würzburg erklärt wurde, «Francigenae facti fuerunt neutrales» («Die Franken blieben neutral»). 1408 erklärte sich der französische König im Schisma zwischen den beiden Päpsten Gregor XII. in Rom und Benedikt XIII. in Avignon «neutral».

Im Deutschen erscheint der Begriff «Neutralität» erstmals 1446 in «Frankfurts Reichscorrespondenz», im Italienischen 1460, als der Herzog von Mailand, Francesco I. Sforza, erklärte, «nuy siamo stati sempre neutrali», und im Französischen 1492, als Lüttich erklärte, «bonne et vraie Neutralité» beachten zu wollen.15 In der Folge wurde der Begriff «Neutralitet» und «neutralité» zunehmend in politischen und militärischen Dokumenten verwendet und ersetzte Umschreibungen wie etwa den noch 1463 im Bündnis zwischen England und Dänemark verwendeten Begriff «guerrarum abstinentia» («Abseitsstehen in den Kriegen»). Neutralitätsrecht wurde zum ersten Mal im Bereich der Seeneutralität formuliert, wie überhaupt die Seeneutralität in der europäischen Neutralitätsgeschichte viel bedeutender war als die Landneutralität: So sammelten die Richter des Seegerichts in Barcelona 1494 im «Consolat de mar» die Rechtssätze des seerechtlichen Gewohnheitsrechts für den Handel in Kriegszeiten, wobei den Schiffen der Nichtkriegführenden und ihrem Frachtgut ein besonderer Rechtsstatus zukam.

ANTITHESE ZUR NEUTRALITÄT: DER GERECHTE KRIEG

Das Mittelalter kannte weder eine begriffliche noch eine rechtliche Neutralität. Letztere wurde mit Hinweis auf das Konzept des «bellum iustum», des Gerechten Kriegs, durchwegs abgelehnt.16 Die Vorstellung, Krieg sei unumgänglich, aber nur legitim, wenn er gerecht sei, gab es bereits bei den Griechen (Plato), bei den Römern (Cicero) und im frühen Christentum (Augustinus). 1140 wurde der in der christlichen Moraltheologie entwickelte Begriff «bellum iustum» in das «Decretum Gratiani», eine Sammlung von Rechtsbüchern des in Bologna lebenden Mönchs Gratian, aufgenommen und damit Bestandteil des Kirchenrechts. Nach mittelalterlicher Auffassung war ein Krieg gerecht, wenn er gewisse Kriterien erfüllte: Er musste von einer rechtmässigen Autorität angeordnet werden; es mussten zulässige Kriegsgründe vorliegen, vor allem eine Reaktion auf ein Unrecht; die Kriegführenden mussten den Krieg mit einer gerechten Absicht führen und die Wiederherstellung des Friedens anstreben; die Kriegführung musste verhältnismässig sein. Der Feind führte somit einen «bellum iniustum», also einen ungerechten Krieg. Zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg gab es keine Mittelposition; Neutralität war demzufolge unmoralisch. Einzig dem Papst kam wegen seiner herausragenden religiösen Stellung als Schiedsrichter über «bellum iustum» und «bellum iniustum» sowie als Mittler die Rolle eines Friedensstifters zu.

Das «bellum iustum»-Argument prägte die Diskussion um die Neutralität bis in die Frühe Neuzeit und verblasste dann bis ins 18. Jahrhundert. Der Gerechte Krieg erlebte im Ersten und im Zweiten Weltkrieg eine Wiedergeburt und lebt seit den 1990er-Jahren in säkularisierter Form der humanitären Interventionskriege (Irak, Kosovo, Afghanistan, Irak, Syrien) oder in der legitimen Abwehr einer Aggression (Ukraine 2022) weiter. Die «bellum iustum»-Doktrin bedeutet für die neutralen Staaten eine moralische Herausforderung, da der Neutrale mit seinem Abseitsstehen dem Opfer nicht hilft und damit den Aggressor in seinem unrechten Handeln unterstützt.

DIE VÖLKERRECHTLICHE NEUTRALITÄT BILDET SICH HERAUS (16.–17. JH.)

Es war eine seit Jahrhunderten geübte Herrschaftspraxis, sich während der Dauer eines konkreten Kriegs aus dem Konflikt herauszuhalten, ohne dass aber daraus je eine Staatsmaxime entstanden wäre. Theoretisch wurde über die Neutralität kaum je nachgedacht. Erst mit der Herrschaftsverdichtung und der Herausbildung von frühmodernen Territorialstaaten um 1500 entwickelte sich auch eine staatstheoretische, juristische und moralische Literatur, welche die Neutralität zuerst als politisches Konzept im Kriegsfall behandelte, das schliesslich im 17. Jahrhundert in ein völkerrechtliches Institut mündete.17 Die Diskussionen gingen Hand in Hand mit der zunehmenden Ablehnung des Konzepts des «bellum iustum». Angesichts der Kriege um die richtige Konfession, in denen beide Parteien behaupteten, Gott auf ihrer Seite zu haben, kamen Zweifel auf, wer denn überhaupt feststellen könne, ob ein Krieg gerecht sei. Es gab keine den Fürsten und Staaten übergeordnete Instanz mehr, seit der Papst als oberste Autorität von einem Teil der Christenheit abgelehnt wurde.

Als Grundsatz politischen und militärischen Handelns galt nun die «ragione di Stato», die Staatsräson beziehungsweise das Staatsinteresse. Mit dem Recht des souveränen Staates auf Kriegführung war aber auch die Freiheit verbunden, sich nicht entweder für die «causa iusta» oder die «causa iniusta» entscheiden zu müssen und neutral zu bleiben. Staatliche Souveränität und Neutralität bedingen sich gegenseitig – sie sind wie siamesische Zwillinge. Mit dieser Entwicklung wurde auch das Urteil über die Neutralität günstiger: So beurteilte schon Bodin die Neutralität positiv, da sie eine friedensstiftende Funktion habe und das Gleichgewicht der Staaten stabilisieren könne.

Den Auftakt zur Neutralitätsdiskussion machte zu Beginn des 16. Jahrhunderts Italien, wo es angesichts der sich dauernd bekriegenden italienischen Staaten klug sein konnte, neutral zu bleiben: Der Florentiner Niccolò Machiavelli verwendete den Begriff «neutral», riet aber in seinem 1513 erschienenen «Il principe» den Fürsten, nicht neutral zu bleiben, sondern Krieg zu führen, insbesondere wenn die Kriegführenden schwach seien und sie daraus Gewinn ziehen könnten. Für ihn war die Neutralität ein machtpolitisches Instrument, das der Mächtige einsetzen könne. Der schwache Neutrale aber werde vom Sieger als unzuverlässiger Freund und vom Besiegten wegen unterlassener Unterstützung in Not verachtet. Machiavellis Freund und Weggefährte, der Historiker Francesco Guicciardini (1483–1540), pflichtete ihm in den «Ricordi politici und civili» von 1525 bei: Es sei eine Dummheit, nicht auf der Seite einer Partei in den Krieg einzutreten, da sich der Neutrale, vor allem wenn er schwächer sei als die Kriegführenden, dem Sieger ausliefere; nur mächtige Staaten oder solche, die sich durch Verträge mit den Kriegführenden abgesichert hätten, könnten sich erlauben, neutral zu sein – eine Meinung, die von verschiedenen Staatstheoretikern geteilt wurde, so etwa noch 1595 vom venezianischen Priester und Diplomaten Minuccio Minucci (1551–1604). Der Piemontese Giovanni Botero (1544–1617) druckte 1598 in Pavia die erste Abhandlung, die exklusiv die Neutralität («Della neutralità») behandelte und sie trotz Risiken als mögliche aussenpolitische Handlungsoption empfahl. 1620 erschien das erste deutschsprachige Werk «Von der Neutralitet und Assistentz oder Unpartheyligkeit und Partheyligkeit in Kriegs Zeiten» von Johann Wilhelm Neumair von Ramsla (1572–1641), der die Neutralität unter staatspolitischen und moralphilosophischen Aspekten behandelte; im deutschsprachigen Raum war es bis ins 18. Jahrhundert Standardwerk in der Frage der Neutralität.

Mit dem Ende der mittelalterlichen Idee einer einheitlichen christlichen Gemeinschaft mit dem Papst und dem Kaiser an der Spitze wandelte sich das europäische Staatensystem zu einem Nebeneinander souveräner Staaten. Es war nun das neue Völkerrecht, welches das rechtliche Verhältnis zwischen den werdenden nationalen Staaten regelte. Als dessen Begründer gilt der spanische Jesuit und Philosoph Francisco Suárez (1548–1617). Nach einem langen Prozess setzte sich ausgehend von Jean Bodins Souveränitätslehre, die dieser 1576 in seinen «Les six livres de la République» («Die sechs Bücher über den Staat») entwickelt hatte, die Vorstellung durch, dass jeder souveräne Staat selbst entscheide, was die «causa iusta» («gerechte Sache») sei. Bodin war wie die italienischen Neutralitätsdenker der Überzeugung, dass die Neutralität vor allem einem starken Staat nütze, da dieser als mächtiger Schlichter die beiden Streitparteien von sich abhängig machen und in einem Krieg zwischen Nachbarn von deren Schwächung profitieren könne.

Entscheidend für die Entwicklung der Neutralität war aber die Schrift «De jure belli ac pacis» («Über das Recht des Kriegs und des Friedens») des Niederländers Hugo Grotius (1583–1645) von 1625. Dieser ging in seinem bahnbrechenden Werk zwar nur kurz auf die Frage der Neutralität und der Neutralen ein, von denen er als «de his qui in bello medii» («von denen, die im Krieg dazwischenstehen») sprach. Noch fest in der «bellum iustum»-Lehre verankert, hielt er die Unterstützung der «ungerechten» Partei für unzulässig. Erst wenn sich nicht feststellen lasse, welches die gerechte Sache sei, dürfe es Neutralität geben. In diesem Falle müssten dann aber die beiden Kriegsparteien gleichbehandelt werden «in Bezug auf den Durchmarsch, wie in der Gewährung des Unterhalts für die Truppen und in Enthaltung oder Unterstützung der Belagerten».18

Im Dreissigjährigen Krieg, wie auch in den anderen Konfessionskriegen, war die Frage der Neutralität heiss umstritten.19 Zwar ging es im blutigen Ringen vordergründig um konfessionelle Fragen; tatsächlich war aber der Konflikt machtpolitisch unterlegt, und die Religion diente einmal mehr als Vorwand. So verbündete sich etwa das katholische Frankreich unter Kardinal Richelieu mit dem protestantischen Schweden, um das katholische Habsburgerreich zu schwächen. In der Publizistik des konfessionellen Zeitalters wurde die Neutralität in Flugschriften und Traktaten verhöhnt, verteufelt und in die Nähe des Atheismus gerückt; denn der Kampf zwischen der christlichen Kirche (der eigenen) und dem Antichristen (der anderen) war ein Kampf zwischen Gott und dem Teufel. Die «Neutralisten» höhnten den «Herrn Christi ins Angesicht, in deme sie ihre thorhaffte Hoffnung zugleich uff dem Antichrist und Christum setzen».20 Sie waren «untrewe brüeder und verräther» und «wetterwendische leut». Sogar Gottes Sohn wurde bemüht: «Der Herr Christus verwirfft die Neutralitet und Cunctation in ReligionsSachen», als «das hässliche, schändliche und abscheuliche Monster der Neutralitet». Ein Neutraler sei so schlimm wie der Täter selbst und ziehe «Gottes schweren Zorn» auf sich.

Sowohl in der politischen und militärischen Praxis als auch in der Publizistik wurde die Neutralität vor Mitte des 17. Jahrhunderts mehrheitlich abgelehnt. So ereiferte sich 1617 Agostino Dolce, der venezianische Gesandte in Zürich, in einer Eingabe an den Zürcher Rat über die Absicht der Bündner, gleichzeitig die Werbung von Söldnern der Lagunenstadt und des mit ihr verfeindeten habsburgischen Königs von Spanien in den drei Bünden zu gestatten, da dieses «teuflische Concept» «dem Land ein sehr schedliche Partialitet, die bei allen freyen Regimentsstenden verhasst ist, erwerben mag, inmassen solche nicht mehr mechtig, sich selbsten zudisponieren und zuregieren, vil weniger einer dem anderen kan Hilff erzeigen und leisten».21 Für die Reichsstände war Neutralität angesichts der gebotenen Treue zum Kaiser als Reichsoberhaupt rechtlich ohnehin eigentlich nicht möglich. Der kaiserliche Feldherr Tilly erklärte 1623 denn auch dem Gesandten des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel, der sich neutral erklärt hatte, klipp und klar: «Nicht Neutralität, Gehorsam heisst es; euer Herr ist Fürst des Reiches: der Kaiser dessen Oberhaupt.» Der Reichstag von 1641 verbot gar «die von etlichen Staenden angemaste unzulaessige hochschaedliche Neutralitaet».22

Trotz dem Verbot schlossen Kriegführende mit neutralen Reichsständen und Staaten Neutralitätsverträge, wenn ihnen die Neutralität nützte. So hatte König Gustav Adolf von Schweden einem neutralitätswilligen Reichsfürsten erklärt: «Ich will von keiner Neutralität weder wissen noch hören, ihr müsst euch kalt oder warm erklären.» Aber am 29. Januar 1632 schloss er mit Kurfürst Maximilian von Bayern und der katholischen Liga einen Neutralitätsvertrag, in dem den kleineren und schwächeren Reichsständen bei Nichtbeachtung der Neutralität schwere Sanktionen angedroht wurden.23 Die vertraglich vereinbarte Neutralität und ihre Pflichten waren noch nicht normiert und mussten jeweils neu ausgehandelt werden. Die Verträge konnten protektoratsähnliche Züge annehmen, und der Neutrale musste Truppendurchmärsche und Requisitionen auf seinem Gebiet in Kauf nehmen. Umgekehrt eröffnete die Neutralität den kleineren und mittleren Republiken neue aussenpolitische Handlungsfelder mit den Guten Diensten, allen voran mit dem Instrument der Vermittlung. Dies belegt etwa die Rolle Venedigs und des Papsts am Westfälischen Friedenskongress (1648) sowie jene der gelegentlich neutralen Niederlande im Konflikt zwischen Frankreich und England (1655).

Nach dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs verschwand die moralische Verurteilung der Neutralität allmählich. Die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts hatten die Idee des «bellum iustum», des Gerechten Kriegs, unterminiert. Doch das Interesse an der Neutralität hielt an; es erschienen vor allem in Deutschland und in den Niederlanden zahlreiche Publikationen. Die bis anhin geschmähte Neutralität wurde nun sogar als durchaus nützliches und segensreiches Verhalten im Krieg beurteilt. Es herrschte die Vorstellung, dass vor allem der schwächere Neutrale seine Neutralität vertraglich mit einem oder mit beiden Kriegführenden absichern müsse, um nicht selbst zur Beute zu werden. Zahlreiche Staaten schlossen bilaterale «Neutralitätstraktate», in denen sich die Kriegführenden zur Respektierung der Neutralität verpflichteten, wohingegen die Neutralen versprachen, Unparteilichkeit zu wahren. Dabei waren die Grenzen zwischen Neutralität, Freundschaftsvertrag und Protektion fliessend.

Neben dieser vertraglich abgesicherten Neutralität entstand im 17. Jahrhundert auch das Konzept der bewaffneten Neutralität – ohne dass der Begriff bereits existiert hätte. Einige Neutrale waren nicht bereit, ihre Neutralität von papierenen Neutralitätstraktaten abhängig zu machen, und waren entschlossen, sie notfalls mit Waffengewalt durchzusetzen. So vereinbarten die Neutralen Schweden, die Niederlande und die Hansestadt Lübeck 1613/14 während des Dänisch-Schwedischen Kriegs, den neutralen Handel in der Ost- und der Nordsee militärisch zu schützen. Ein weiteres Beispiel auf dem Weg zur bewaffneten Neutralität betrifft dann schon die eidgenössischen Orte, die 1647 angesichts der drohenden schwedischen Kriegsgefahr zum Schutz der Landesgrenzen das Defensionale von Wil abschlossen.

In diesem Umfeld von Dreissigjährigem Krieg, entstehendem Völkerrecht und Souveränität entstand die Neutralität der Schweiz. Man begann sich auch in der Eidgenossenschaft über die neue aussenpolitische Doktrin Gedanken zu machen. Als erste wissenschaftliche Publikation in der Schweiz gilt das 1680 in Basel erschienene Werk «Synopsis juris gentis» des Heidelberger Professors Johann Wolfgang Textor (1638–1701), das im 26. Kapitel das Neutralitätsrecht thematisierte. Das Absterben des «bellum iustum»-Konzepts schlug sich auch in der theoriefeindlichen Eidgenossenschaft nieder, wenn der Schwyzer Unterschreiber zu Baden und einer der ersten Schweizer Staatsrechtler, Franz Michael Büeler (1642–1725), in seinem «Politisch-Theologischen Tractat» von 1692 die Neutralität der Schweiz in den Kriegen Ludwigs XIV. damit begründete, «weilen […] noch nit bekannt, auff welcher seithen die Gerechtigkeit dess Kriegs sich halte». In dieser Situation hält es Büeler mit dem Spartanerkönig Archidamus: «Bonum est quiescere» («Es ist gut, sich ruhig zu verhalten»).24

1 Duden. Das grosse Fremdwörterbuch. Mannheim 2000, S. 921f.

2 Zur Neutralität in Religionssachen s. den Beitrag von Heinhard Steiger in Grundbegriffe, S. 337–359.

3 Wylie, Neutrals, S. 1; s. auch Abbenhuis, Neutrals, S. 15: «There are always more neutrals than belligerants in the wars oft the world.»

4 Kreis, Schweizer Geschichte, S. 306–309 schreibt von «Neutralitäten». S. 306 als Einleitungssatz auch wortwörtlich der Titel dieses Kapitels. S. auch Widmer, Sonderfall, S. 133–150.

5 Zitate bei Schweizer, Neutralität, S. 8; Vattel, Droits des gens, Buch III, Kapitel VIII, § 104.

6 Frey, Neutralität, S. 8.

7 S. meinen Artikel «Babylonisches Sprachengewirr um die Neutralität» in der NZZ vom 18.7.2022.

8 S. dazu eine weitere Definition von Nef, Gestalten, S. 15: Der dauernd neutrale Staat hat, «alles zu vermeiden, was für den Fall eines Kriegsausbruches das Vertrauen des Auslandes in seinen Willen zur Neutralität schwächen könnte, und umgekehrt alles vorzukehren, was das Vertrauen des Auslandes in diesen Neutralitätswillen zu stärken vermag». Zu den Vorwirkungen s. Schindler, Vorwirkungen.

9 S. Riklin, Neues Handbuch, S. 194 (Hervorhebung im Original).

10 Schweizer, Neutralität, S. 27; Windler, Ressources, S. 9–16.

11 S. dazu den Beitrag von Galliker, Savoyen.

12 S. S. 139f.

13 Zur Neutralität in der Antike und im Mittelalter s. Grundbegriffe, S. 317–320; Schweizer, Neutralität, S. 15–27: Stadlmeier, Interpretation, 22–28.

14 Zit. nach Köpfer, Neutralität, S. 5. Ich danke Renato Piva für seine Hilfe bei den griechischen und lateinischen Begriffen.

15 Maissen, Erfindung, S. 245.

16 Kreis, Der «gerechte Krieg»; Steinweg, Der gerechte Krieg.

17 Zur Neutralität in der Frühen Neuzeit s. Grundbegriffe, S. 320–328; Enzyklopädie der Frühen Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart, Weimar 2009 (Sp. 152–157: Artikel «Neutralität» von Axel Gotthard); Oeter, Ursprünge; Maissen, Geburt, S. 198–214 (Kap. 5: «Die Sprache des Völkerrechtssubjekts: Souveränität, Interesse, Republik, Neutralität»); Maissen, Erfindung, S. 244–249.

18 Maissen, Erfindung, S. 245.

19 S. dazu Gotthard, «Abominable monstre»; ders., Artikel «Neutralität» in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Sp. 152–157.

20 Alle Zitate nach Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Sp. 153 und Gotthard, «Abominable monstre», S. 94ff.

21 S. Usteri, Urteil.

22 Zit. nach Grundbegriffe, S. 324f.

23 Schweizer, Neutralität, S. 29.

24 Büeler, Tractat, S. 112, 119.

DIE SCHWEIZ WAHRT KEINE NEUTRALITÄT

14.–17. JAHRHUNDERT

Die Schweiz verdankt ihre Existenz der kriegerischen und nichtneutralen Politik der alten Eidgenossen. Ab dem Beginn des 14. Jahrhunderts wird um den Vierwaldstättersee ein Bündnissystem fassbar – eines unter vielen im Heiligen Römischen Reich. Im Juni 1309 bestätigte König Heinrich VII. von Luxemburg den drei Waldstätten die Reichsfreiheit und fasste sie in einer Reichsvogtei unter dem Grafen Werner von Homberg zusammen. In der (ziemlich unklaren) Schlacht von Morgarten behaupteten sich am 15. November 1315 die Schwyzer gegen die angreifenden Habsburger, und am 9. Dezember schlossen die drei Länder ein Bündnis, das fast 500 Jahre in Kraft bleiben sollte und das älteste unter den bis 1798 gültigen eidgenössischen Bünden war. Ausgehend von diesem «ewigen», das heisst unbefristeten Landfriedensbündnis von 1315 begannen nun «die landluite» in den «waltstetten ze Uren, ze Switz und ze Underwalden», wie sie schon 1318 genannt wurden, ihr Bündnis zuerst friedlich mit weiteren Verträgen zu erweitern, so 1332 mit der habsburgischen Landstadt Luzern, 1351 mit der Reichsstadt Zürich und 1353 mit dem mächtigen Bern. Aber schon 1352 wurde die kleine habsburgische Stadt Zug unter Zürichs Führung belagert und zusammen mit dem Lande Glarus mit Waffengewalt ins eidgenössische Bündnis gezwungen.

Um die Mitte des 14. Jahrhunderts verdrängte in den eidgenössischen Orten eine neue Führungsschicht die alte: Der einheimische Ministerialadel musste in der Innerschweiz den Viehzüchtern und in den Städten den reichen Händlern und Gewerbetreibenden weichen.1 Und diese neuen Herren setzten auf Waffengewalt. Für zwei Jahrhunderte trieben sie eine kriegerische Expansionspolitik, vor allem gegen die kleinen Adligen in ihrer Nachbarschaft, aber auch gegen mächtige Dynastien. Schritt für Schritt bauten die eidgenössischen Städte- und Länderorte ihre Territorien durch Kauf und Eroberungen aus: So begann etwa die Territorialbildung der Stadt Solothurn 1344 mit dem Erwerb des Schultheissenamts von den Grafen von Buchegg und der Herrschaft Balm, um dann bis Anfang des 16. Jahrhunderts in den Besitz aller anderen Gebiete zu gelangen, die den heutigen Kanton Solothurn ausmachen, so etwa Grenchen (1388), Buchegg (1391), Olten (1426) und als Letzte Bärschwil, Nunningen und Gilgenberg (alle drei 1527). Dabei griffen einzelne Orte über die «natürlichen» Grenzen hinaus: So erwarb die Stadt Zürich die nördlich des Rheins gelegenen Herrschaften Stein am Rhein (1484) und Eglisau (1496), und Uri expandierte 1480 in die Leventina südlich der Alpen. Der einheimische Adel wurde so bis Ende des 15. Jahrhunderts im Raum zwischen Alpen und Rhein weitgehend ausgeschaltet: Er wanderte entweder ab oder wurde in die neue eidgenössische Führungsschicht integriert. Die Eidgenossenschaft um 1500 war weitgehend adelsfrei und republikanisch.

Bei ihrem Territorialausbau stiessen die Eidgenossen aber auf mächtige Dynastien, die sich für ihre Machtstellung wehrten: im schweizerischen Mittelland auf die Habsburger, südlich der Alpen auf die Mailänder, in der heutigen Westschweiz auf die Savoyer und noch weiter westlich auf die nach 1450 aufstrebende Grossmacht Burgund. In den zahllosen grossen und kleinen Kriegen gelang es den eidgenössischen Orten, einzeln oder gemeinsam vor allem die Habsburger und ihre Vasallen aus dem schweizerischen Mittelland weitgehend zu verdrängen: Etappen waren etwa die habsburgischen Niederlagen in Sempach (1386) und Näfels (1388), der Verlust des Aargaus (1415), der aber nicht wie noch im 14. Jahrhundert üblich (z. B. Zug und Glarus) als gleichberechtigter Ort in die Eidgenossenschaft eingeschlossen, sondern als erste «Gemeine Herrschaft» gemeinsamer Besitz der eidgenössischen Orte wurde. Das Gleiche geschah dann 1460 mit dem habsburgischen Thurgau. Den Höhepunkt dieser kriegerischen Phase der Schweizer Geschichte bildeten die Siege der Eidgenossen über Herzog Karl dem Kühnen (Burgunderkriege 1474–1476) sowie die Mailänderkriege. Diese hatten mit dem Neapelfeldzug des französischen Königs Karl VIII. 1494 begonnen und endeten mit den Friedensverträgen von Cateau-Cambrésis (1559) zwischen Frankreich, Spanien und England, in denen Frankreich das heftig umkämpfte Herzogtum Mailand an Spanien-Habsburg abtreten musste. Die Eidgenossen waren während der ganzen Kriegszeit in die blutigen Auseinandersetzungen in Oberitalien involviert, spielten aber nur von 1499 (Eroberung Mailands) bis zur Schlacht von Marignano von 1515 eine selbstständige Rolle. Nachher waren sie noch als Verbündete und Soldatenlieferanten vor allem von Frankreich aktiv. Sie fochten auf kaiserlich-habsburgischer sowie französischer Seite und erlitten wie schon in Marignano in den grossen Schlachten von Bicocca (1522) und Pavia (1525) riesige Verluste.

GROSSMACHT SCHWEIZ?

In den Burgunder- und Mailänderkriegen erwiesen sich die Eidgenossen als tüchtige, aber auch grausame und beutegierige Krieger, die in Europa bewundert, gefürchtet, aber auch verachtet wurden. Sie konnten auf dem Schlachtfeld siegen, aber sie waren oft nicht in der Lage, militärische Siege in politische und territoriale Gewinne umzumünzen. Hier zeigten sich die strukturellen Schwächen der Eidgenossenschaft: Es fehlte ein Machtzentrum, das strategische Ziele formulieren und diese militärisch oder politisch umsetzen konnte. Die Eidgenossen waren als unter sich gleichberechtigte Bündnispartner nicht fähig, eine kohärente Aussenpolitik zu betreiben. Diese war lediglich die Summe der einzelörtischen «Aussenpolitiken », die gelegentlich konvergierten, insbesondere bei der Abwehr von äusseren Gefahren (so gegen Burgund). Öfter aber widersprachen sie sich, wie etwa die gegenläufigen Interessen belegen: Die «Südkantone» (Innere Orte, Wallis, Graubünden) strebten gegen Italien, das Interesse der «Westkantone» (Bern, Solothurn, Freiburg) lag in der heutigen Westschweiz.

Die Schweiz war daher auch um 1500, auf der angeblichen «Machthöhe», keine Grossmacht.2 Und das Gerede vom Ende der Grossmachtpolitik nach der Schlacht von Marignano entspricht nicht den tatsächlichen Machtverhältnissen auf dem europäischen Kontinent.3 Der Eidgenossenschaft fehlten ausser einer gewissen militärischen Schlagkraft alle entscheidenden Eigenschaften einer Grossmacht. So war sie zwar in der Lage, das Herzogtum Mailand zu erobern, scheiterte aber an der Verwaltung eines so komplexen Staates. Im Vergleich zu den wirklichen Grossmächten um 1500 (das Haus Habsburg, Frankreich, Venedig, der Papst) war die Eidgenossenschaft im besten Fall für kurze Zeit eine Regionalmacht in ihrem unmittelbaren Vorgelände, und auch das nur in Oberitalien und im Burgund.

Militärisch waren die viel gerühmten Eidgenossen mit ihren infanteristisch starken Schlachthaufen nicht immer die Herren der Schlachtfelder. Schon 1512 mussten sie auf dem Pavierzug durch die venezianische Kavallerie gestützt werden. In Marignano zeigten sie sich dann dem modernen französischen Heer mit der feuerstarken Artillerie krass unterlegen. Die angebliche «Grossmacht Schweiz» gehört daher in die Welt der Legenden.

FRIEDE MIT DEN NACHBARN (1511, 1516)

Die Acht Alten Orte der Eidgenossenschaft hatten bis um 1470 das Haus Habsburg-Österreich aus dem Raum südlich des Rheins weitgehend verdrängt und sich im Schwäbischen Krieg mit dem Frieden von Basel (1499) gegen den habsburgisch dominierten Schwäbischen Bund behauptet, ohne aber aus dem Reich auszuscheiden. In den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts begannen die Eidgenossenschaft und Habsburg-Österreich, ihr Verhältnis auf neue, friedlichere Grundlagen zu stellen: Bereits im Vorfeld der Burgunderkriege beendete die sogenannte Ewige Richtung von 1474, ein eigentlicher Friedensvertrag, ein erstes Mal den eidgenössischhabsburgischen Konflikt und garantierte den gegenseitigen Besitzstand. Damit verzichtete Habsburg auf seine früheren Besitzungen in der Eidgenossenschaft. Die Ewige Richtung wurde von 1477 bis 1511 durch mehrere «Erbeinungen» zwischen den Eidgenossen und dem Haus Habsburg abgelöst, wobei die letzte von 1511 eine Nichtangriffsklausel sowie implizit eine Garantie des territorialen Status enthielt und im Gegensatz zu den vorangehenden Erbeinungen keine gegenseitigen Hilfsverpflichtungen mehr vorsah. 1518 folgte eine Erbeinung Habsburgs auch mit den Drei Bünden. Damit sicherte das Haus Habsburg seine Grenzen gegen die Eidgenossen und beendete so deren Expansion gegen Norden und Osten. Die Eidgenossen ihrerseits erhielten eine Garantie für ihren Besitz gegenüber dem Hause Habsburg. Die später immer wieder bestätigten Erbeinungen von 1511 und 1518 bildeten bis 1798 die Grundlagen für die friedliche Nachbarschaft der Eidgenossenschaft und des Habsburgerreichs und sollten ab dem 17. Jahrhundert als einer der diplomatischen Pfeiler der Neutralität dienen.4

Weit wichtiger war aber der Friedensvertrag der Eidgenossenschaft mit Frankreich nach der Schlacht von Marignano. Am 29. November 1516 schlossen die Dreizehn Orte und ihre Zugewandten Orte (Fürstabt und Stadt St. Gallen, Drei Bünde, Wallis, Stadt Mülhausen) in Freiburg mit ihrem Bezwinger, König Franz I. von Frankreich und nun auch Herzog von Mailand, den sogenannten Ewigen Frieden. Darin gaben die Eidgenossen ihre Ansprüche auf Mailand auf, erhielten dafür die ennetbirgischen Vogteien, das heisst die jenseits der Alpen gelegenen Gebiete (das heutige Tessin) sowie Handelsprivilegien im Herzogtum Mailand und in der Messestadt Lyon. Die Vertragspartner verpflichteten sich, auf die Unterstützung von Gegnern der anderen Partei zu verzichten, durften aber bisherige Bündnisverpflichtungen (z. B. der Eidgenossen gegenüber dem Haus Habsburg in der Erbeinung von 1511) behalten. Frankreich zahlte den Schweizern die unglaubliche Summe von 700 000 Kronen und für jeden Ort eine jährliche Pension von 2000 Francs. Damit hatte die Eidgenossenschaft mit Frankreich, der zweiten benachbarten Grossmacht, Frieden geschlossen.5 Da damals Frankreich erst im Süden unmittelbarer Nachbar war, war mit dem «Ewigen Frankreich» nach der Nord- und Ostexpansion auch die Südexpansion abgeschlossen, nicht aber die Westexpansion.

Dem Ewigen Frieden von 1516 folgte 1521 ein Defensiv- und Soldbündnis mit Frankreich. Zürich trat diesem Bündnis unter dem Einfluss des Solddienst-feindlichen Reformators Huldrych Zwingli erst 1614 bei, und Bern schied nach der Reformation von 1529 bis 1583 vorübergehend aus.6 Das Soldbündnis wurde Ende des 18. Jahrhunderts von der Mehrheit der Dreizehn Orte und der Zugewandten Orte immer wieder erneuert (1602, 1663, 1777), 1714 aber nur von den katholischen Orten. Das Soldbündnis räumte der französischen Krone einen privilegierten Zugriff auf die eidgenössischen Söldner ein und verschaffte den eidgenössischen Eliten in Form von Pensionszahlungen und Handelsprivilegien beträchtliche Einkünfte.7

Die beiden Friedensschlüsse von 1511 und 1516, die bis Ende des 18. Jahrhunderts die Basis der eidgenössischen Beziehungen zu den beiden benachbarten Grossmächten bildeten und wesentlich zur Ausbildung der Neutralität beitrugen, beinhalteten ähnliche Bestimmungen: Kein Vertragspartner durfte für den Gegner des anderen Partners Partei ergreifen und jenem Durchpass gewähren, was darauf hinauslief, dass in einem Krieg zwischen Frankreich und Habsburg (nicht aber in allen anderen Kriegen) die Eidgenossen «stille sitzen» mussten. Ferner durfte keine Partei neue Zölle erheben, und bei Streitfragen wurde ein Schiedsgerichtsverfahren ausgelöst. Beim Angriff auf Länder des Hauses Habsburg waren die Eidgenossen zu «getreuem Aufsehen» gehalten, was so viel hiess wie: Gute Dienste leisten und den Gegner nicht unterstützen. Frankreich verlangte dagegen im Bündnis von 1521 mehr: Gegen grosszügige Pensionszahlungen an die eidgenössischen Orte durfte es zwischen 6000 und 16 000 Mann Fussvolk, von dem Frankreich zu wenig hatte, rekrutieren. Trotz aller Ähnlichkeit der Bündnisse hatte Frankreich gegenüber dem Haus Habsburg die besseren Karten: Es bestand eine «ungleiche Vertragsbalance» zugunsten Frankreichs.8 Bis zum Ende des Ancien Régimes übte Frankreich einen dominierenden und auch mässigenden Einfluss auf die oft unter sich zerstrittenen Eidgenossen aus, auch im eigenen Interesse: «Nur eine befriedete Schweiz konnte Frankreich dienen.»9 Denn bei einem inneren oder äusseren Konflikt hätte die Gefahr bestanden, dass die Orte ihre Truppen aus französischen Diensten zurückgerufen hätten und damit Frankreich eines militärischen Instruments verlustiggegangen wäre.

Als Gegengewicht zur französischen Vorherrschaft schlossen die beiden konfessionellen Lager separate Bündnisse mit auswärtigen Mächten, die oft der Sicherung der eigenen Konfession dienten und gegen die andersgläubigen Miteidgenossen gerichtet waren.

Die katholischen Inneren Orte samt Freiburg verbündeten sich 1560 mit dem Herzog von Savoyen in einer Defensivallianz, welche unter anderem savoyische Hilfe in einem schweizerischen Glaubenskrieg in Aussicht stellte und 1577 und 1581 erneuert wurde.10 Die katholischen Orte (ohne Freiburg) unterzeichneten 1565 mit Papst Pius IV. ein Defensivbündnis. 1587 folgte trotz französischen Protesten ein Defensiv- und Soldbündnis mit König Philipp II. von Spanien, dem Herrn des Herzogtums Mailand und der Freigrafschaft Burgund (1604 erneuert unter Einschluss des Fürstabts von St. Gallen). Die katholischen Orte erschlossen sich damit neue Möglichkeiten für Solddienste samt ansehnlichen Pensionen und wirtschaftlichen Privilegien im spanisch-habsburgischen Herrschaftsgebiet. Umgekehrt gewährten sie den Spaniern das Durchmarschrecht in kleinen Detachementen durch die katholische Schweiz von Mailand über den St. Gotthard an den Oberrhein. Von 1604 bis 1625 wurden rund 73 000 spanische Soldaten auf dem «Camino de Suizos» durch die katholische Schweiz von Mailand zur Unterdrückung der aufständischen Niederlande und auf andere Kriegsschauplätze Spaniens geschleust.11 Mithilfe der Allianzen schufen die katholischen Orte so ein Gegengewicht zu den militärisch und wirtschaftlich stärkeren reformierten Orte.

Die reformierten Orte ihrerseits schlossen seit dem Beginn der Reformation Bündnisse mit evangelischen Partnern im Reich, so Zürich das Christliche Burgrecht mit Konstanz und anderen Reichsstädten (1527), Zürich und Basel mit der Stadt Strassburg und Hessen (1530), Zürich und Bern erneut mit Strassburg (1588) sowie mit dem Markgrafen von Baden (1612) und schliesslich Zürich und Bern ein Soldbündnis mit Venedig (1615). 1602 gingen die mehrheitlich reformierten Drei Bünde mit Frankreich ein Bündnis ein, und im folgenden Jahr räumten sie der Stadt Venedig Durchmarschrechte ein (1612 gekündigt). 1570 und dann wieder 1617 unterzeichnete Bern einen Bündnis- und Beistandsvertrag mit dem Herzog von Savoyen, der darin endgültig auf die Waadt verzichtete und den Frieden von Saint-Julien von 1603 bestätigte.

Damit waren die Eidgenossenschaft als Ganzes, aber auch einzelne Gruppen von Orten oder Einzelorte am Vorabend des Dreissigjährigen Kriegs in ein widersprüchliches Geflecht von Bündnisverpflichtungen mit den benachbarten Mächten eingebunden. Von einer neutralen Schweiz kann daher um 1618 noch nicht gesprochen werden.

DIE WESTEXPANSION DER NICHTNEUTRALEN EIDGENOSSENSCHAFT IM 16. JAHRHUNDERT

Seit der Erbeinung von 1511 mit dem Hause Habsburg und dem Ewigen Frieden von 1516 mit Frankreich war eine territoriale Erweiterung gegenüber diesen beiden Vertragspartnern nicht mehr möglich. Zudem waren mit dem Beitritt von Basel (1501), Schaffhausen (1501) und Appenzell (1513) zur Eidgenossenschaft als (fast) gleichberechtigte Orte die Nordexpansion und mit der Annexion des Veltlins 1512 durch die Drei Bünde sowie dem Erwerb der tessinischen Herrschaften 1516 auch die Südexpansion abgeschlossen: Die Nord- und die Ostgrenze (gegen das Heilige Römische Reich und Habsburg) sowie die Südgrenze (französisches, später spanisches Mailand) waren nun für fast 300 Jahre festgelegt. Offen war die Westflanke in der heutigen Romandie. Die Eidgenossenschaft grenzte dort noch nicht an Frankreich. Dazwischen lagen Reichsgebiete (z. B. das Fürstbistum Basel, elsässische Städte), die spanisch-habsburgische Freigrafschaft und das Herzogtum Savoyen. Die Westkantone setzten nun ihre nichtneutrale Eroberungs- und Expansionspolitik nach Marignano gegen Westen fort.

Im Zentrum stand die savoyische Waadt: 1536 eroberten bernische, freiburgische und Walliser Truppen die Gebiete nördlich des Genfersees sowie das südlich davon gelegene Chablais und teilten die eroberten Territorien unter sich auf. Im Vertrag von Lausanne von 1564 musste aber Bern das Pays de Gex und das westliche Chablais sowie das Wallis im Vertrag von Thonon 1569 das östliche Chablais dem Herzog von Savoyen zurückgeben. Bern behielt die Waadt, Freiburg die südwestlichen und westlichen Gebiete des heutigen Kantons (z. B. Romont, Rue, Châtel-Saint-Denis, Estavayer) und das Wallis die Herrschaft Monthey, das sogenannte Vieux-Chablais. 1555 erwarb Freiburg die bankrotte Grafschaft Greyerz, wobei einige Gemeinden im oberen Greyerzerland (Saanen, Rougemont, Château-d’Oex) an Bern fielen.

Die Grafschaft Neuenburg war seit dem 14. Jahrhundert Burgrechtsverträge mit den Westkantonen Bern, Freiburg und Solothurn eingegangen. Um den französischen Einfluss im Westen einzudämmen, besetzten die Eidgenossen von 1512 bis 1529 Neuenburg und liessen die Grafschaft durch Vögte verwalten. Sie betrachteten Neuenburg als eidgenössische Einflusssphäre und banden die Grafschaft immer enger an sich, sodass sie schon im 16. Jahrhundert als eidgenössisch galt. Die hochadligen Landesherren nannten sich ab 1571 «comtes souverains de Neuchâtel en Suisse» und Herzog Henri von Orléans-Longueville ab 1618 «prince souverain de Neufchastel et Valangin en Suisse». Damit besass die republikanische Eidgenossenschaft neben dem Fürstabt von St. Gallen eine weitere Monarchie als Zugewandten Ort, weigerte sich aber aus konfessionellen Gründen, Neuenburg als vollberechtigten Kanton aufzunehmen.

Ein weiteres Territorium im Visier der eidgenössischen Westexpansion war das Reichsfürstentum des Bischofs von Basel, der während der Reformation seine Residenz von Basel nach Pruntrut, damals noch Reichsgebiet, verlegt hatte. Einzelne Herrschaften seines Fürstbistums hatten sich schon vor 1500 mit eidgenössischen Ständen verbündet: so schon im 14. Jahrhundert die Stadt Biel mit Bern, Freiburg und Solothurn, die Propstei Moutier (1492 mit Bern) und das Kloster Bellelay (1414 mit Solothurn und Bern). Im 16. Jahrhundert folgten ihnen Delsberg und die Freiberge, die 1559 mit der Stadt Basel Burgrechtsverträge eingingen. 1579 verbündete sich der tatkräftige gegenreformatorische Fürstbischof Jakob Christoph Blarer von Wartensee mit den sieben katholischen Orten, wodurch das Fürstbistum mit seinen wichtigen Jurapässen (Les Rangiers) ein Zugewandter Ort der katholischen Eidgenossenschaft wurde. 1717 wurde das Bündnis zwar nicht mehr erneuert. Trotzdem galt der Fürstbischof bis Ende des 18. Jahrhunderts als Bundesgenosse der katholischen Orte. Der südliche Teil des Fürstbistums (der heutige Südjura) blieb aber infolge der unbeschränkt gültigen Burgrechtsverträge mit einzelnen Kantonen, allen voran Bern, immer eidgenössisches Territorium.

Die von Savoyen beanspruchte Stadt Genf wurde 1526 in den freiburgisch-bernischen Burgrechtsvertrag eingeschlossen; dieser wurde 1558 erneuert, und 1584 trat auch Zürich bei. 1530 und 1536 eilten militärische Kontingente aus den westlichen Orten zur Verteidigung der Stadt vor dem Zugriff des Herzogs von Savoyen nach Genf. 1589 marschierten Berner, dann auch Solothurner und Walliser Soldtruppen mit den Genfern in einem Präventivkrieg gegen Savoyen. Mit der Escalade (1602) versuchte Herzog Karl Emanuel I. vergeblich, Genf mit Waffengewalt zurückzuerobern, worauf die Rhonestadt sowie ihre eidgenössischen Verbündeten mit militärischen Streifzügen in der savoyischen Nachbarschaft antworteten. Im Frieden von Saint-Julien (1603) bestätigte der Herzog von Savoyen faktisch die Unabhängigkeit der Stadt Genf. Die eidgenössischen Orte, allen voran die katholischen Kantone und Bern, das sich als Schutzherr der Rhonestadt sah, lehnten es wiederholt ab, Genf als vollberechtigtes Glied der Eidgenossenschaft aufzunehmen, sodass die Rhonestadt wie Neuenburg noch über 200 Jahre nur als Zugewandter Ort einiger Kantone mit dem Corpus Helveticum verbunden war.

Mit dem Frieden von Saint-Julien von 1603 endete die Westexpansion und damit die territoriale Expansion der Eidgenossenschaft überhaupt. Für fast 200 Jahre blieben nun die Aussengrenzen der Schweiz stabil. Es gab auch keine militärischen Raub- und Feldzüge ins benachbarte Ausland mehr.

NEUTRALITÄTEN DER NICHTNEUTRALEN SCHWEIZ

Auch wenn die junge Eidgenossenschaft bis um 1600 eine auf Expansion ausgerichtete Aussen- und Bündnispolitik betrieb und diese notfalls militärisch durchsetzte, kannte sie sehr wohl die Neutralität und wandte sie an, wenn es ihr opportun erschien. Paul Schweizer, der Altmeister der Schweizer Neutralitätsgeschichte, ging bei der Darstellung dieser «unvollkommenen oder gelegentlichen Neutralität» der eidgenössischen Orte bis in die Gründungszeit der Eidgenossenschaft zurück, wenn er schon beim Defensivbündnis von Zürich mit Uri und Schwyz im Jahr 1291 und dem Abseitsstehen der Waldstätten beim Bund der Städte (u. a. von Zürich) und der Adligen gegen Albrecht von Habsburg-Österreich im gleichen Jahr eine erste Manifestation von Neutralität sah. Damit deklarierte Paul Schweizer die Neutralität quasi zu einem «Geburtsmerkmal» der Eidgenossenschaft.12 Aber in den späteren «Befreiungs- und Eroberungskriegen» hätten dann die Eidgenossen diese ihnen in die Wiege gelegte, vorbestimmte Staatsmaxime, quasi das neutrale Gen der jungen Eidgenossenschaft, vergessen und verleugnet.

Es lassen sich tatsächlich vom 14. bis ins 17. Jahrhundert zahleiche Beispiele von Kriegen aufzählen, in denen es die Eidgenossen vorzogen, neutral zu bleiben beziehungsweise «stille zu sitzen». 1309 wurde das Umland von Zürich in einem Vertrag zwischen der Reichsstadt Zürich und den beiden Söhnen des ermordeten Königs Albrecht I. während der Strafaktion der beiden Habsburger gegen die Königsmörder auf der Schnabelburg neutralisiert.13 In Verträgen der Stadt Bern mit dem habsburgischen Herzog Leopold III. (1382), der Stadt Zürich mit dessen Nachfolger Herzog Leopold IV. sowie der Städte Bern und Solothurn mit dem Markgrafen Rudolf von Hochberg vom 31. Mai 1399 finden sich Unterstützungsverbote des jeweiligen Feindes und die Verpflichtung «zum Stillesitzen», womit der an den lateinischen Begriff «quiescere» angelehnte Ausdruck «Stillesitzen» zum ersten Mal im schweizerischen Raum auftauchte.14 Die Alten Orte (ohne Bern) blieben im Konflikt zwischen dem Fürstabt von St. Gallen und den Appenzellern neutral und vermittelten 1421. Ebenso hielten sie sich aus dem Krieg zwischen der Stadt Nürnberg und dem Markgrafen von Brandenburg-Ansbach 1449 heraus und verweigerten dem französischen König 1453 die Werbung von Söldnern für seinen Krieg gegen England.15 1491 schlossen die Eidgenossen den ersten Neutralitätstraktat mit dem Herzog von Bayern. Und selbst während der Mailänderkriege beschloss die Tagsatzung 1507 und 1508, im Krieg zwischen Kaiser Maximilian I. und König Ludwig XII. von Frankreich vorübergehend «stille zu sitzen».16

In den 1520er-Jahren wurde die Eidgenossenschaft mit einer besonderen Art von Neutralität konfrontiert. Nach ersten Neutralitätsverträgen von 1508 und 1512 vereinbarten Margarete von Österreich und König Franz I. von Frankreich im Jahr 1522, der habsburgischen Freigrafschaft Burgund und dem französischen Herzogtum Burgund für drei Jahre «bonne et sûre neutralité» zu gewähren (ab 1525 mehrfach verlängert). Die Eidgenossen wurden in diesem Neutralitätsvertrag (eher widerwillig zwar) als Garantiemacht eingesetzt und mussten später (so 1595) immer wieder vom spanischhabsburgischen Landesherrn an die 1511 eingegangene Hilfsverpflichtung gegenüber dem Hause Habsburg erinnert werden.17 Die Neutralisierung war auf Betreiben der Stände der beiden Territorien zustande gekommen, um die Auswirkungen des habsburgisch-französischen Konflikts zu begrenzen. Sie sollte im Burgund die Fortsetzung des normalen Lebens und des gegenseitigen Handels ermöglichen, obwohl deren Herrscher gegeneinander Krieg führten. Die Eliten in den beiden Territorien sahen in den Eidgenossen die besten Garanten für ihre Selbstverwaltung in den beiden verfeindeten Monarchien. Die eidgenössische Garantie erlosch mit der Besetzung der Freigrafschaft durch Frankreich 1668. Es ist aber nicht ganz zufällig und für die Entwicklung der eidgenössischen Neutralität im 17. Jahrhundert wegweisend, dass die Idee von neutralisierten Gebieten im burgundischen Raum nach der Zerschlagung des Zwischenreichs von Karl dem Kühnen 1477 auf der Bruchstelle zwischen den beiden künftigen Grossmächten Habsburg und Frankreich entstanden war.18

Auch später im 16. Jahrhundert mischten sich die eidgenössischen Orte in der Regel nicht in bewaffnete Konflikte fremder Mächte ein: Anlässlich des Wiederausbruchs des Kriegs zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. forderte der Zürcher Tagsatzungsgesandte am 26. Juni 1536, dass die Eidgenossenschaft «unpartyung und neutralitet» halten solle, womit der Begriff «Neutralität» zum ersten Mal in der Schweiz verwendet wurde.19 Auch im Schmalkaldischen Krieg (1546/47) liessen sich selbst die anfänglich interventionsbereiten reformierten Orte nicht dazu bewegen, den evangelischen, zumal lutherischen Reichsständen zu Hilfe zu eilen; sie argumentierten in ihrer Antwort an den Kaiser, dass eine Parteinahme die katholischen Eidgenossen auf den Plan rufen und damit der Eidgenossenschaft «Unrath und Ungemach» bescheren könnte. Erstmals verbot die Tagsatzung für die Dauer des Kriegs den Durchzug von Truppen und Kriegsmaterial durch die Eidgenossenschaft und liess die Abgeordneten des Kaisers und des Schmalkaldischen Bundes am 9. August 1546 wissen, dass «unsere Herren und Oberen des Sinns, Willens und der Meynung sind, sich des Kriegs nützit ze beladen, sunder sich ganz und gar darin unparthiyisch zu halten und kein frömbd wältsch Kriegsfolck durch unser Land und Oberkeit nit passieren zu lassen und ire Underthanen anheimsch [sc. zu Hause] zu behalten».20 Damit äusserte sich die Tagsatzung zum ersten Mal im Sinne einer gelegentlichen beziehungsweise Ad-hoc-Neutralität, ohne dass es sich bereits um eine permanente aussenpolitische Doktrin gehandelt hätte.