Die Seele des Monte Pavione - Matteo Righetto - E-Book

Die Seele des Monte Pavione E-Book

Matteo Righetto

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Beschreibung

In dem italienischen Bergdorf Nevada kann Augusto de Boer seine Familie vom Tabakanbau allein nicht ernähren. Daher versteckt er im Sommer ein paar Tabakblätter vor den Kontrolleuren und zieht im Spätherbst über die stark bewachte Grenze nach Österreich, um dort den hochwertigen Tabak zu tauschen und Lebensmittel zu beschaffen. Eines Tages - es ist das Jahr 1893 - entscheidet er sich, seine älteste Tochter, Jole, mitzunehmen. Sie besteht das Abenteuer an seiner Seite.

Drei Jahre später muss sie allein zum Schmuggeln aufbrechen, denn Augusto ist nach einem neuerlichen Aufbruch nach Österreich spurlos verschwunden, und die Familie droht zu verhungern. Auf ihrem Ritt über die Dolomiten muss Jole nicht nur mit bewaffneten Grenzwachen und durchtriebenen Schmugglern fertig werden, sondern auch sonderbare Gerüchte über ihren Vater vernehmen. Anfangs nimmt sie diese nicht ernst, doch die Saat der Zweifels scheint langsam aufzugehen ...

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Seitenzahl: 235

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Das Buch

In dem zum italienischen Veneto gehörenden Bergdorf Nevada leben Ende des 19. Jahrhunderts nur drei Familien, unter ihnen die De Boers. Augusto, 41 Jahre, schlägt sich als Tabakpflanzer durch. Im Februar gräbt er die Erde um, seine Frau und seine Kinder geben die Saat aus, die man von der Regia dei Tabacchi, dem Tabakmonopol, bekommen hat, im Juni pflanzt man um, bekämpft im Sommer die Werre und andere Schädlinge und erntet im September. Die Blätter werden akkurat gelagert, damit die Gärung einsetzt. Im Oktober kommen die Inspektoren der Regia dei Tabacchi und kaufen die Blätter, nachdem sie diese genau inspiziert haben.

Obwohl er unentwegt arbeitet, kann Augusto sich, seine drei Jahre jüngere Frau Agnese und die drei Kinder kaum ernähren. Daher stürzt Augusto sich in den Tabakschmuggel. Er verbirgt ein paar Tabakblätter, versteckt sie etwas entfernt vom Hof und zieht dann im Spätherbst über die stark bewachte Grenze nach Österreich, um denTabak gegen das begehrte Kupfer oder Silber einzutauschen. Davon kann er dann Essensvorräte einkaufen und die Familie vor dem Verhungern bewahren. Fünfmal hat er das erfolgreich gemacht, 1893 entscheidet er, diesmal zu zweit aufzubrechen.

Von seinen drei Kindern ist Jole, die Pferdeliebhaberin, mit 16 Jahren die Älteste. Daher nimmt Augusto sie mit. Vergeblich protestiert seine Frau. Mit zwei Gewehren brechen sie in einer Septembernacht auf. Sie stopfen sich alle Taschen mit Tabak voll, nehmen zwei Feldflaschen Wasser und wandern in Bergschuhen los. Sie wissen, auf den steilen Hängen des Monte Pavione lauert die erste große Gefahr.

Der Autor

Matteo Righetto wurde 1972 geboren und lebt in Padua. Er ist Dozent für Literatur. Sein Roman »Das Fell des Bären« (Originaltitel: »La pelle dell’orso«) war ein internationaler Bestseller und wurde von Marco Segato verfilmt. Auch sein »Die Seele des Monte Pavione« wurde in zahlreiche Länder verkauft. Matteo Righetto gilt als »der literarische Meister der Bergwelt«.  (La Stampa)

MATTEO RIGHETTO

Die

Seele

des

Monte

Pavione

ROMAN

Aus dem Italienischen

von Bruno Genzler

BLESSING

Dieses Buch ist der Fantasie entsprungen. Alle Personen und Schauplätze wurden vom Autor erdacht oder zumindest so umgeformt, dass sie sich ins Romanganze einfügen. Etwaige Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Menschen sind rein zufällig.
Originaltitel: L’anima della frontieraOriginalverlag: Mondadori Libri, Mailand
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Copyright © 2018 Matteo Righettound Piergiorgio Nicoloazzini Literary AgencyCopyright © 2019 by Karl Blessing Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: Leingärtner, NabburgISBN: 978-3-641-22238-3V002
www.blessing-verlag.de

Den Freien und Gerechten, den Dichtern und Heiligen:

dem Geist, der keine Grenzen kennt.

Er fand, in der Schönheit der Welt lag ein Geheimnis verborgen. Er fand, der Herzschlag der Welt hatte einen furchtbar hohen Preis; das Gleichgewicht zwischen Schmerz und Schönheit der Welt verschob sich mal hierhin, mal dorthin, und in Zeiten krasser Unausgewogenheit wog vielleicht der Anblick einer einzigen Blume das Blut zahlloser Menschen auf.

Cormac McCarthy

All die schönen Pferde

ERSTER TEIL

1

Es gibt Dörfer, die scheinen das Unheil anzuziehen. Man riecht es schon, wenn man die Luft dort einatmet, die trüb ist, abgestanden und verbraucht – wie alles, was dem Niedergang entgegengeht. Ein solches Dorf war auch Nevada mit seinen wenigen Bewohnern in ihren ärmlichen Hütten, die sich an die Steilhänge rechts des Flusses klammerten, halb verborgen durch raue Wälder und verstreut zwischen den masiere, jenen schmalen, den Felswänden abgerungenen Terrassen, die östlich der Hochebene von Asiago in Richtung des Städtchens Enego hin abfallen, um schließlich ins Brenta- und Suganatal einzutauchen.

Eingefasst von Trockenmauern aus Bruchsteinen, die hier massenhafter noch als Maulwürfe die Erde durchsiebten, waren es diese masiere, auf denen die Bewohner des Dorfes Tabak anbauten. Das geschah seit Generationen, seit Jahrhunderten, denn über dem Tal der Brenta gedieh Tabak so gut und mit einem solchen Aroma wie sonst nirgendwo weit und breit. So hatte der Tabakanbau bereits den Holzhandel abgelöst, als im 17. Jahrhundert unten im Tal der Schwarze Tod immer weiter nach Süden vordrang und es so aussah, als würde es für niemanden ein morgen geben.

2

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten in Nevada nur drei Familien, und eine davon waren die De Boers.

Augusto war das Familienoberhaupt. 1852, als seine Heimat noch von Österreich beherrscht wurde, war er in jenem Haus zur Welt gekommen, in dem er dann bis zu seinem Tod leben sollte und in das er auch seine Frau Agnese aufnahm, die Tochter einer Bauersfamilie aus Stoner, einem ebenfalls winzigen Dorf auf der Hochebene von Asiago. Drei Kinder schenkte sie ihm, zwei Mädchen und einen Jungen, die alle in Nevada geboren wurden, in eben jenem Haus.

Augusto war weder groß noch stämmig, verfügte aber über schier unerschöpfliche Kräfte. Mit fünf Axthieben konnte er eine Fichte fällen, die doppelt so alt war wie er. Ein dichter schwarzer Schnurrbart verbarg seinen Mund, der häufig mit Tabakkauen beschäftigt war. Er sprach wenig und schwieg manchmal ganze Tage lang. Wenn er jedoch einmal die Lippen bewegte, erstarben die Gespräche ringsum und alle verstummten. Denn seine Worte waren so endgültig wie der Stein auf einem Grab.

Augusto war in Armut aufgewachsen und wäre als Kind fast an der Pellagra gestorben. Allzu oft hatte er seine Eltern gegen jene Hungersnöte ankämpfen sehen, die die Bergbauern dieser Gegend regelmäßig heimsuchten.

Vielleicht war dies der Grund, weshalb Augusto de Boer die Last der Verantwortung für alles, was um ihn war, so schwer auf seinen Schultern spürte und jeden Tag in dem Bewusstsein lebte, dass das Schicksal seiner Familie, im Guten wie im Schlechten, so fest mit seinem Schicksal verwachsen war wie die Äste einer Eiche mit ihrem Stamm.

Daher lobte er Gott zweimal am Tag, auf seine Weise. Das erste Mal, wenn er morgens mit dem Zwitschern der Singdrosseln aufstand, um sich zur Arbeit auf den Tabakterrassen aufzumachen, und dann abends, wenn er mit von den Strapazen erschöpften Gliedern heimkehrte. Dann aß er einen Schlag Polenta, legte noch einmal Holz im Küchenofen nach und ging zu Bett. Dort lag er mit geschlossenen Augen, lauschte dem Gesang der Nachtigallen, der aus dem nahen Wald zu ihm drang, und spürte, wie sein Rücken von den Anstrengungen des Tages kribbelte.

3

Agnese war drei Jahre jünger als er und seit ihrem Wegzug aus Stoner nie wieder in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie hatte leicht klobige Hände, deren rötliche Haut auf den Handrücken schrumpelig und in den Handflächen von unzähligen feinen Falten durchzogen war. Mit gesenktem Kopf und mit raschen Schritten, als habe sie es immer eilig, bewegte sie sich durchs Haus. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, das aber nur wenige Menschen gesehen hatten, trug sie es doch, im Nacken zusammengefasst, stets unter einem dunklen Kopftuch verborgen, das unter dem Kinn verknotet war.

Agnese betete viel, vor allem zur Madonna, auch wenn sie auf dem Feld arbeitete oder vor dem Herd stand und in dem Topf mit der ockergelben, sämigen Polenta rührte. An manchen Tagen kehrte sie derart erschöpft von den Tabakfeldern zurück, dass sie selbst zum Essen zu schwach war. Dann bereitete sie das Abendessen nur für die anderen zu, ließ sich neben dem Herd oder auf den Stufen vor der Haustür nieder, ruhte sich aus und bewegte dabei betend die Lippen. Trotz des harten Lebens in den Bergen war sie eine feinfühlige Frau, die jeden Tag aufs Neue über die Schönheit der Natur selbst in den kleinsten Dingen staunen konnte und sich davon verzaubern ließ: von einer Löwenzahnblüte, einer Haselnuss oder der kunterbunten Feder eines Eichelhähers.

Agnese war noch nie etwas geschenkt worden, aber sie hatte auch keine Wünsche, außer dem einen, ihre Kinder gesund und zu guten Christen heranwachsen zu sehen.

4

Augusto und Agnese hatten drei Kinder. Jole kam im Jahr 1878 zur Welt, Antonia 1883 und Sergio 1886.

Im Aussehen sowie in ihrem Wesen war die Älteste, Jole, ganz der Mutter nachgeschlagen. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb sie mehr noch als die anderen ihren Vater liebte. Ihr Haar war blond, und sie trug es meist zu einem Zopf geflochten, der ihr lang auf den Rücken fiel. Sie war schlank und hatte große helle Augen, deren Farbe schwer zu bestimmen war: Zuweilen schimmerten sie grün wie ein Lärchenwald im Sommer, andere Male grau wie das Winterfell der Wölfe, dann wieder blaugrün wie ein Gebirgssee im Frühjahr.

Jole liebte Pferde über alles, und schon als Kind war sie barfuß durch Wälder und über unwegsame Pfade gelaufen, nur um sich welche anzusehen. So machtvoll war diese Leidenschaft, dass sie, vor allem im Sommer, schon frühmorgens aufbrach und erst kurz vor Sonnenuntergang heimkehrte. Zwei Orte gab es, an denen sie Pferde beobachten konnte. Im Norden die Weiden bei dem Gehöft Rendale, wo neben den Herden von Foza-Schafen immer zahlreiche Pferde grasten, und im Süden die Gebirgskämme um den Ort Sasso, wo eine ganze Reihe kräftiger Zugpferde dazu eingesetzt wurden, den Marmor, der dort abgebaut wurde, ins Tal zu bringen.

Jole mochte sie alle, egal ob es sich um schlanke Rassepferde oder um stämmige Kaltblüter handelte, die schwere Arbeiten verrichteten, und wie in einem Traum oder einem Zauber gefangen, konnte sie ihnen stundenlang geistesabwesend zuschauen.

Antonia, ihre Schwester, trug die Haare am liebsten kurz. Also schnitt Agnese sie ihr zweimal im Jahr mit einer alten Schere ab, ganz vorsichtig, um sie nicht mit der Klinge zu verletzen, denn gegen einen Wundstarrkrampf wären sie noch machtloser gewesen als gegen den Hunger. Antonia half der Mutter gerne im Haushalt und hatte Spaß am Kochen, selbst mit dem wenigen, das ihnen zur Verfügung stand. Im Sommer war sie ebenfalls häufig im Wald zu finden, spazierte umher, lauschte auf die Geräusche und Stimmen der Tiere und ließ sich den Duft der Bäume in die Nase wehen.

In einer alten Blechbüchse sammelte sie das Harz, das die Rinden der Rottannen absonderten, und brachte es ihrem Vater, der es knetete und zu harten Kügelchen formte, die zum Anfeuern des Ofens gebraucht wurden. Einen Teil des Harzes hielt er aber stets für Antonia zurück, die damit besonders schöne Blumen oder Insekten dem Wirken der Zeit entzog, sodass sie sie in ihre Sammlung einordnen konnte.

Doch Antonia sammelte nicht nur Harz. Auch Walderdbeeren brachte sie von ihren Ausflügen mit, Himbeeren und Holunderblüten, aus denen ihre Mutter köstlichen Sirup kochte, der mit Flusswasser verlängert wurde und bestens den Durst löschte.

Und eben dieser große Fluss unten im Tal war der Lieblingsort des jüngsten der drei De-Boer-Kinder. So oft es ging, durchstreifte Sergio den Wald, der sich östlich von Nevada ausbreitete, und ließ sich am oberen Rand der Felswand nieder, die senkrecht aus dem Brentatal aufsteigt, schaute über den Fluss und lauschte dem Rauschen, mit dem das Wasser der Stadt Bassano del Grappa und der Küstenebene vor Venedig zuströmte. Sergio war schmächtig, blond, zappelig und plapperte in einem fort. Zum Spaß hieß es unter den Schwestern und der Mutter, dass er doppelt so viel wie die anderen rede, weil er nicht nur eine eigene, sondern auch die Stimme seines Vaters mitbekommen habe.

Alle drei jedoch brachten ihre Tage nicht nur mit ihren kindlichen Beschäftigungen zu, ihren Vorlieben und Träumen in jener Unbekümmertheit, wie sie für Menschen diesen Alters überall auf der Welt typisch ist. Nein, sie arbeiteten auch bis zum Umfallen, vor allem auf den Tabakfeldern, zusammen mit den Eltern, denn der Tabak bestimmte das Schicksal der Familie, und dem konnte sich niemand entziehen.

5

Die De Boers lebten so gut es ihnen die Umstände erlaubten, das hieß, sie schlugen sich irgendwie durch, wie alle Bergbauern der Gegend in jenen Jahren, ja, im Grunde zu allen Zeiten.

Sowohl im Tal der Brenta als auch oberhalb der Steilwände, die den Fluss im Osten und Westen begrenzten, also der Hochebene von Asiago auf der einen und der Gegend um den Monte Grappa auf der anderen Seite, hatten in den zurückliegenden Jahrzehnten Hunderte von Familien ihre Heimat für immer verlassen und ihr Glück andernorts, vielfach sogar in der Neuen Welt jenseits des Ozeans gesucht.

Die De Boers hingegen waren geblieben, hatten für verschiedene Könige Tabak angebaut und weiterhin Armut und Entbehrungen getrotzt. Der Nostrano del Brenta war ein hochgeschätzter Tabak, der als Rauch-, Kau- und Schnupftabak in den Sorten Cuchetto, Avanetta, Avanone und Campesano angebaut wurde. Um ein gutes Produkt zu erhalten, war viel Arbeit vonnöten, handelte es sich doch um ein langwieriges, empfindliches Verfahren, bei dem der kleinste Fehler die gesamte Ernte gefährden konnte. Was für die Bauern hieß, dass sie hungern würden.

Nach dem stets harten Winter begann Ende Februar die Arbeit. Nun galt es, die Terrassen für das Umgraben vorzubereiten. Mit Hacken ausgerüstet, machten sich Augusto und Agnese, Jole, Antonia und Sergio daran, Unkräuter zu jäten und in Haufen zu sammeln sowie Mist auf den Feldern zu verteilen. Anfang März hoben sie mit dem Spaten Furchen aus, wobei die Erde immer zum Hang hin abgelegt wurde, damit angesichts der geneigten Terrassen die Trockenmauern nicht zusätzlich belastet wurden und einbrachen. Dieses erste Umgraben sollte die Bodenstruktur verbessern.

Danach durchzogen Furchen wie Bahngleise die Terrassen. Das eigentliche Umgraben begann dann Mitte Mai und musste schnell von der Hand gehen. Diese Aufgabe war Augusto vorbehalten, da sie von allen Arbeitsgängen der härteste war. Auf den schmalen, abschüssigen Terrassen konnte man schwerlich einen Pflug einsetzen, sondern musste die Erde allein mit der Kraft der Arme für die Pflanzung vorbereiten. Meisterlich geführt von der Hand des Familienoberhaupts, wendete und glättete der Spaten Erdscholle um Erdscholle.

Der so planierte Boden war dann bereit, die vielen kleinen Tabakpflanzen aufzunehmen. Während Augusto die Felder umgrub, hatten Agnese und die Kinder damit zu tun, diese Pflänzchen in eigens angelegten wind- und sonnengeschützten Saatbeeten vorzuziehen. Das dazu benötigte Saatgut erhielten sie von einem Angestellten des Staatlichen Tabakmonopols Regia dei Tabacchi, der jedes Jahr um diese Zeit in Nevada eintraf und der Familie De Boer fünfzehntausend Samen für die Saatbeete aushändigte, eine Menge, die er mit einem fingerhutgroßen Becher abmaß.

Am Gründonnerstag ging Agnese alljährlich zum Fluss hinunter, wusch sich dort zum Zeichen der Buße und der Läuterung das Gesicht und brachte zwei Eimer Wasser mit zurück, um jedes neue Tabakpflänzchen mit ein paar Tropfen davon zu versorgen. In den ersten Junitagen konnte dann mit dem Auspflanzen begonnen werden. Mit einem Kreuz markierte Augusto die Stellen, und wo sich die Linien trafen, setzten Agnese und ihre Kinder die inzwischen zehn Finger hohen Pflanzen ein und gossen sie mit dem von der Brenta heraufgeschleppten Wasser. War der Tabak drei Spannen hoch gewachsen, düngten Augusto und Agnese ihn mit Jauche aus den Latrinen, jäteten das Unkraut, das sich mittlerweile ausgebreitet hatte, und lasen die Insekten ab, die den Tabak befielen. Jede Pflanze, die dennoch nicht zu retten war, wurde durch eine neue ersetzt und musste, wenn sie gar nicht mehr zu verwenden war, vor den Augen eines Beauftragten der Staatlichen Tabakgesellschaft vernichtet werden.

Aber bis zur Ernte war es noch lange hin.

Wenn die Tabakpflanzen etwa die Höhe von Augustos Hüfte erreicht hatten, wurden sie gestutzt. Das war Joles Aufgabe: Zunächst schnitt sie den oberen Teil jeder Pflanze ab, damit sich die unteren Blätter besser entwickeln konnten. Danach galt es, die Pflanzen gut im Auge zu behalten, denn nun würden sie innerhalb weniger Tage austreiben, und auch diese Triebe waren sofort zu entfernen. Eine eintönige Arbeit, die Augusto gern Antonia und Jole überließ. Als Nächstes hieß es, die unteren, minderwertigen Blätter der Tabakpflanzen zu entfernen, und zwar noch bevor die Inspektoren des Königlichen Tabakmonopols ein weiteres Mal zur Kontrolle erschienen. Schließlich wartete man auf den September, wenn der Tabak langsam reif wurde. War der richtige Zeitpunkt gekommen, begann die Ernte. Die ganze Familie war dabei, brach die Blätter von den Stielen und legte sie am Feldrand ab. Augusto und Agnese war es anschließend vorbehalten, die Ernte sorgfältig im Stall einzulagern und senkrecht zu schichten, also immer mit den Spitzen nach oben und den Blattrippen nach außen. Einige Tage lang vergilbte, also fermentierte der Tabak auf diese Weise, eine unerlässliche Voraussetzung für ein aromatisches Produkt.

Von der ganzen Familie war Augusto der Einzige, der beurteilen konnte, wie weit die Vergilbung fortgeschritten war und ob sie den gewünschten Grad schon erreicht hatte. Jedes einzelne Blatt nahm er zur Hand, legte jene zur Seite, die noch nicht so weit waren, und sortierte die anderen nach ihrer Größe. Immer wieder musste er prüfen, ob die Fermentierung wunschgemäß verlief und keine Blätter verdarben oder faulten. In diesen Tagen herrschte eine gespannte Atmosphäre im Stall, und das nicht nur wegen der stickigen Tabakdünste, denn an Augustos Miene ließ sich bereits erraten, ob die Tabakqualität zufriedenstellend oder der ganze Jahrgang zu vergessen war. Und so lebten die De Boers in diesen Tagen in Erwartung eines Zeichens ihres Familienoberhaupts. War es dann so weit, machten sich wieder alle an die Arbeit und schafften die Blätter auf den Dachboden, wo sie an den sogenannten smussi, den langen Stangen von Holzgestellen also, zum Trocknen aufgehängt wurden. Nach zwei Wochen wendete Augusto die Blätter, indem er kurzerhand die ganze Stange umdrehte.

Der letzte Durchgang war der einfachste. Zu diesem Zeitpunkt hatte Augusto schon erkannt, ob es ein gutes Tabakjahr war, und gönnte sich noch ein paar Tage Erholung, bevor er und seine Familie sich daranmachten, die getrockneten Tabakblätter nach Größe und Qualität zu sortieren, sie in Bündel zu je fünfzig Blatt zusammenzufassen und mit einem Bindfaden, zuweilen auch Lindenbast, zu umwickeln. Innerhalb weniger Tage waren die Bündel fertig für den Abtransport zur Staatlichen Tabakgesellschaft. Den letzten Arbeitsgang im Freien erledigte der kleine Sergio, und zwar bestand der darin, die auf den Terrassen zurückgebliebenen Pflanzenstängel zu entfernen. Der Junge zog sie heraus, schlug sie heftig gegeneinander, um die Erde abzuschütteln, und legte sie zu Garben zusammen, die im nächsten Frühjahr verbrannt würden.

6

Nach den Anstrengungen während der schönen Jahreszeiten verlief das Familienleben in den kalten Monaten ruhiger und gemächlicher. Je näher der Winter rückte, desto mehr verlangsamten sich die Abläufe innerhalb und außerhalb des Hauses. Alle Geräusche klangen gedämpfter oder verstummten gar für ganze Tage. Im Leben der Familie De Boer häuften sich die Stunden, in denen nichts geschah – Stunden, die geprägt waren von Enge und Langeweile. Von Dezember bis Februar schienen die Kälte und die lange Dunkelheit kein Ende nehmen zu wollen. Die De Boers lebten nun zurückgezogen in einer fast klosterartigen Gemeinschaft, deren Tagesablauf von den Mahlzeiten bestimmt wurde, den Hausarbeiten sowie jenen Notwendigkeiten, die ihnen die bäuerliche Welt und die Armut mit ihren unumstößlichen Regeln auferlegten.

Um die Weihnachtszeit des Jahres 1888 waren Jole und die kleine Antonia morgens in der Küche beisammen, in der es nach gekochtem Gemüse und Getreide roch. Augusto war in den Stall hinübergegangen und kümmerte sich um das Vieh; bei ihm war Sergio, der damals gerade zwei Jahre alt war. Agnese hingegen war im Freien beschäftigt und schaufelte Schnee, der bereits in der Nacht zu fallen begonnen hatte. Um sich aufzuwärmen, stellte sich Antonia ein paar Minuten lang an den gusseisernen Ofen, lief zum Fenster, das zum Hof hinausging, stieg auf einen Stuhl und machte es sich auf der Fensterbank bequem, um ihrer Mutter durch die dick beschlagene Scheibe bei der Arbeit zuzusehen.

Agnese rackerte unermüdlich. Obwohl es weiter heftig schneite, schaufelte sie nicht nur den Weg zum Haus frei, sondern auch den Zugang zum Stall mit dem Heuschober und zum Gemüsegarten, in dem es jetzt im Winter allerdings nichts mehr zu ernten gab.

Schneebedeckt war die gesamte Landschaft ringsumher oder zumindest jener Ausschnitt, der trotz der schweren, tiefhängenden Wolken davon zu erkennen war. Eine Atmosphäre friedlicher Stille, aber auch eines vagen Verlorenseins, hüllte alles ein.

»Los, Antonia, komm mal her!«, rief Jole an die kleine Schwester gewandt, während sie zwei Eier und eine Schüssel aus dem schief an der Wand hängenden Regal nahm. »Jetzt hilf mir mal, die Gerstensuppe ist fast fertig.«

Gewandt wie eine Katze kletterte Antonia von der Fensterbank und dann vom Stuhl hinunter und hüpfte zu ihrer Schwester.

»Was soll ich denn machen?«

»Ich schlage die Eier mit Milch auf, und du rührst weiter in der Suppe.«

Seit über drei Stunden passte Jole auf den Topf auf, schob ihn, damit die Suppe ständig nur leicht köchelte, in einem fort auf der gusseisernen Herdplatte hin und her und legte immer mal wieder mittelgroße Buchenholzscheite ins Feuer. Als ihre Mutter am Morgen zum Schneeschaufeln hinausgegangen war, hatte sie die Aufgabe übernommen, diese Gerstensuppe zu kochen, von der die De Boers die nächsten zwei Tage zu Mittag und zu Abend essen würden. Schon am Vorabend, als es am Himmel bereits nach Schnee ausgesehen hatte, ohne dass Flocken gefallen waren, hatte Agnese das Getreide eingeweicht, alles Weitere dann der älteren Tochter überlassen, die zwar erst zehn war, sich in der Küche aber bereits recht geschickt anstellte.

Und so hatte Jole einen ganzen Haufen der verschiedenen Gemüse geschnippelt, die Augusto seit Ende des Sommers in der giazèra, einer im Erdreich angelegten Kühlkammer, nach und nach eingelagert hatte, und dann mit der Gerste langsam zum Kochen gebracht, und zwar ohne auch nur das dünnste Scheibchen Speckschwarte hinzuzufügen, denn es war noch Advent und damit für Agnese eine Fastenzeit, in der die Enthaltsamkeitsregeln zu beachten waren.

»Mmh, fein!«, rief Antonia, als sie den Topf aufdeckte und die Nase mit geschlossenen Augen in den zur Küchendecke aufsteigenden Dampf steckte.

Jole lächelte, während sie weiter Eier und Milch in der Holzschüssel zu einem weißlichen, leicht breiigen Gemisch verrührte.

»Jetzt gib ein wenig Suppe in meinen Teller«, forderte sie schließlich die kleine Schwester auf.

»Warum gießt du denn nicht die ganze Creme in die Suppe?«

»Das geht nicht, sonst wird sie klumpig wie Ricotta, sagt die Mama. Man muss sie nach und nach zu der Suppe tun.«

So begannen sie auch, aber schon nach dem ersten Teller nahm Jole das Gemisch aus Milch und Eiern, goss die gesamte Einlage in den Suppentopf und rührte sie kräftig um. In kürzester Zeit war die Suppe fertig, und die beiden Mädchen kosteten mit dem Holzlöffel davon.

»Schmeckt gut«, meinte die Ältere.

»Sehr gut sogar«, schloss sich die Jüngere an.

Sie schauten sich an und lächelten zufrieden in dem Bewusstsein, nun ein weiteres kleines Geheimnis zu teilen. Und dann lachten sie los wie Komplizen, die sich freuen, nicht erwischt worden zu sein.

In diesem Moment betrat ihre Mutter, von Schneeflocken bedeckt und dennoch schweißgebadet, die Küche. Sie nahm das Kopftuch ab und legte die Hände an den Ofen.

»Der erste Schnee hat auch immer was Gutes«, sagte sie, »man kann Spuren erkennen und weiß, ob jetzt Wölfe umherstreifen. Trotzdem habe ich lieber alles freigemacht, sonst kommen wir am Ende nicht mehr aus der Tür.«

Jole nickte, nahm den Topf vom Herd, stellte fünf Teller auf den Tisch, legte einen großen Kanten trockenes Brot dazu und verkündete stolz: »Das Essen ist fertig, Mama.«

Agnese schwieg einen Moment, um zu verschnaufen, schaute dann ihre beiden Töchter an, während ihr gerötetes Gesicht zu einem beglückten Lächeln erstrahlte.

»Mama mia, wie das duftet! Was seid ihr beide für tüchtige Hausfrauen … Gut gemacht, Jole, und du auch, Antonietta. Gott segne euch, meine Kinder.«

Alle drei lächelten.

Kurz darauf trat auch Augusto ein, mit Sergio, der auf seinem Rücken ritt.

Ohne ein Wort nahmen sie Platz und sprachen das Tischgebet, beugten sich über ihre Suppe und aßen mit großem Genuss, während draußen der Winterwind heulte und weiteren Schnee brachte, weiß und blendend hell, und das an diesem Tag, an Santa Lucia, der bei den Gebirgsbauern als der kürzeste und dunkelste des ganzen Jahres galt.

So verliefen die Tage, und so würden sie sich noch weiter hinziehen, bis endlich das nächste Frühjahr kam. Gleichförmig wie die unabänderliche Aufeinanderfolge der Heiligen im Kirchenjahr.

7

Jedes Jahr wieder hieß es: viel arbeiten für wenig Ertrag. Anfang Oktober kamen die Inspektoren der Regia dei Tabacchi ein letztes Mal vorbei, holten die Tabakblätter ab und entlohnten die De Boers mit einer Summe, die gerade so ausreichte, um fünf Mäuler ein ganzes Jahr lang zu stopfen.

Es war Ausbeutung, ohne Wenn und Aber. Doch sich dagegen aufzulehnen war unmöglich. Also hieß es, sich etwas einfallen zu lassen, um über die Runden zu kommen. Und dieses Etwas hatte einen festen Namen: Schmuggel.

In den vom Tabakmonopol auferlegten Beschränkungen sahen alle Bauern eine unrechtmäßige Einmischung des Staates in das Privatleben der Familien, eine Art Raub, wenn nicht gar eine Form der Sklaverei. Gegen seine Gesetze zu verstoßen und ihn zu hintergehen war daher eine pure Notwendigkeit.

Auch wer Tabak schmuggelte, wurde nicht reich, lebte aber immerhin weniger ärmlich. Es war so ähnlich, wie heimlich Grappa zu brennen oder zu wildern, mehrere Schweine zu schlachten und nur eins anzugeben, ein Kalb zu töten und zu verkaufen, ohne die Gebühren an die königlichen Behörden zu entrichten. Kleine Notlösungen, um sich ein wenig würdevoller durchzuschlagen.

In jenen Jahren zu Ende des 19. Jahrhunderts konnte ein Bauer, wenn er es geschickt anstellte und Mumm besaß, jedes Jahr einige Kilo Tabak vor den Behörden verstecken.

Und Augusto war sehr gewitzt und sehr mutig. Dreimal im Verlaufe der Saison gelang es ihm, die staatlichen Inspektoren hinters Licht zu führen: Zunächst wenn er Sprösslinge heranzog und heimlich weiter kultivierte, die eigentlich nur dazu vorgesehen waren, nicht angewachsene oder aus anderen Gründen nicht brauchbare Pflanzen zu ersetzen; dann, wenn er vor einem Kontrollgang der Inspektoren die unteren Blätter der Tabakpflanzen verschwinden ließ; und schließlich wenn er die Trocknung eines Teils des fior, wie man die obersten, wertvollsten Blätter nannte, beschleunigte. Das ging am besten, wenn man den manego, also die zentralen Blattrippen, mit einer Rolle oder einem Holzhammer zertrümmerte und zusammenpresste. Die so bearbeiteten Blätter wurden dann zum Trocknen in die Sonne gehängt, an unzugänglichen Orten, die auch den Ferngläsern der Gendarmen von der Guardia di Finanza verborgen blieben, die die Steilhänge rechts der Brenta nach illegalem Tabakanbau absuchten.

Für den Tabak, den er abzweigen konnte, besaß Augusto zahlreiche Verstecke, natürliche Hohlräume im Fels, Tierbaue oder Gruben, die er eigenhändig aushob. Insgesamt waren es mindestens ein Dutzend Verstecke, die er auf den Feldern und in den Wäldern rings um Nevada in den letzten Jahren angelegt hatte, genauer, seitdem der Hunger den De Boers noch stärker zusetzte als zuvor.

Dabei war Augusto nicht der einzige Bauer dort oben in den Bergen, der Tabakschmuggel betrieb. Mindestens zwei oder drei weitere Männer im Umkreis trotzten den strengen Kontrollen der Finanzgendarmen und transportierten über eigentlich unbegehbare Pfade und Übergänge Tabak zu Tal. Zuweilen büßten sie dabei das Schmuggelgut ein: Um schneller fliehen zu können und nicht von Gewehrkugeln erwischt zu werden oder im Gefängnis zu landen, mussten sie manchmal die Ladung zurücklassen. Außerdem kam es vor, dass jemand auf diese Weise nicht nur die wertvolle Fracht, sondern auch sein Leben verlor, weil er bei der Flucht Hals über Kopf in einen Abgrund stürzte.

In manchen Familien hatte das Schmuggeln eine lange Tradition, die schon unter den österreichischen Kaisern begründet worden war und unter den italienischen Königen fortgesetzt wurde. Augusto konnte weder der einen noch der anderen Herrschaft etwas Positives abgewinnen.

Den Österreichern nicht, weil sie das Veneto erst ausgebeutet und dann verlassen hatten. Den Italienern nicht, weil sie die Region an sich gerissen und gleich ins Joch der Savoyer gespannt hatten und darüber hinaus dem Volk alle Freiheiten vorenthielten und ihm den Tabak nahmen. Die österreichischen und italienischen Herrscher waren in seinen Augen gleichermaßen verderbt: Weder Kaiser Franz Josef I. noch König Vittorio Emanuele II. hatten sich jemals darum gekümmert, dass die Bergbauern nicht hungerten oder Not litten. Aus genau diesem Grunde fühlte Augusto sich als Mann ohne Vaterland.

Mit den Jahren hatte Augusto De Boer den Weg verlassen, den die Schmuggler üblicherweise beschritten: Er war nicht mehr bereit gewesen, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur um ein wenig Tabak ins Tal hinunterzubringen und dort gegen Mehl oder andere Nahrungsmittel einzutauschen. Er hatte einen anderen Plan, dessen Verwirklichung noch riskanter, dafür auch sehr viel einträglicher als die bisherigen Methoden war.

Als Junge war er mit seinem Großvater, einem Fuhrmann, weit im Norden, im Primörtal gewesen und hatte mit eigenen Augen gesehen, dass es dort Kupfer-, Eisen- und sogar Silberminen gab.