Die Seele des Sozialen - Cornelia Coenen-Marx - E-Book

Die Seele des Sozialen E-Book

Cornelia Coenen-Marx

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Beschreibung

Das Buch gibt einen kenntnisreichen Überblick über verschiedene Problemlagen der Diakonie. Dabei wird die Entwicklung der diakonischen Arbeit von der auf Aufopferung setzenden Dienstgemeinschaft der Gründungszeit zu einem auch nach unternehmerischen Kriterien geführten Dienstleister mit selbstbewussten MitarbeiterInnen aus verschiedenen sozialen Kontexten dokumentiert und illustriert. Dunkle Seiten der Diakoniegeschichte und ihre Konsequenzen werden ebenso erwogen wie die allgemeine Entwicklung des Sozialwesens in Deutschland in Folge des demografischen Wandels und der Globalisierung. Gestützt auf Führungserfahrung und die persönliche Kenntnis der Problemlagen in vielen Einrichtungen entwickelt die Autorin eine breite Perspektive für die Unternehmen und ihr Verhältnis zur Kirche einerseits, zur säkularen Gesellschaft andererseits. Um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, braucht es neben gelebter Spiritualität und fürsorglicher Gemeinschaft einen offenen Umgang mit den Konflikten, die entstehen, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenarbeiten, aber auch neue Konzepte für Bildung und Weiterbildung. Und schließlich den Mut, Innovationen zu wagen. Nach der Rekapitulation der diakonischen Gründungsgeschichte und einer vorwärtsweisenden Auseinandersetzung mit dem, was davon Diakonie und Gesellschaft bis heute prägt, ruft die Verfasserin diakonische Dienste, Gemeinden und Engagierte dazu auf, sich an den Neuanfängen zu beteiligen, die heute wieder in sozialen Bewegungen spürbar sind.

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Cornelia Coenen-Marx

Die Seele des Sozialen

Diakonische Energien für den sozialen Zusammenhalt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013

Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Düsseldorf

Umschlagabbildung: america365/shutterstock.com

Lektorat: Ekkehard Starke

E-Book-Produktion: eScriptum GmbH & Co KG, Berlin

ISBN 978–3–7887–2660–7 (Print)

ISBN 978–3–7887–2771–0 (E-Book-PDF)

ISBN 978–3–7887–2811–3 (EPub)

Den Diakonissen

Ruth Felgentreff, Agnes Bröcker und Hilde Robiné

und den vielen anderen, die mit ihrer Leib- und Seelsorge in Krankenhäusern und Pflegestationen, in Schulen, Gemeinden und Wohnquartieren unsere Sozialkultur geprägt haben

Danksagung

Ohne starke Frauen wie Schwester Agnes Bröcker und Schwester Hilde Robiné hätte es dieses Buch nie gegeben. Eine Altenpflegerin, eine Hebamme, auch im Feierabend noch hoch engagiert für die internationalen Partner der Kaiserswerther Diakonie – die Schwesternschaft in Brasilien, das Pflegenest in Rumänien. Die beiden Diakonissen gehören zur immer kleiner werdenden Gruppe der Schwesternschaft in dem großen diakonischen Unternehmen; sie werden von vielen bewundert, aber ihren Weg will kaum noch eine gehen. Warum das so ist und was geschehen muss, um die Traditionen von Engagement, Spiritualität und Gemeinschaft in unsere Zeit zu übersetzen, das hat mich in den letzten 15 Jahren beschäftigt. Drei haben mir besonders geholfen zu verstehen: Schwester Ruth Felgentreff, die Leiterin des Archivs, die keine Scheu hatte, auch den dunklen Seiten der Diakonissengeschichte nachzugehen, und Dr. Norbert Friedrich, ihr Nachfolger und Leiter der Fliedner-Kulturstiftung und des Kaiserswerther Pflegemuseums, deren Gründung ich vor mehr als 10 Jahren mit anstoßen durfte. Ihnen beiden danke ich ganz herzlich. Ein besonderer Dank gilt auch Prof. Andreas Heller, dessen Impulse und Begleitung für den Veränderungsprozess zu Ethik und Spiritualität in der Kaiserswerther Diakonie entscheidend wichtig waren.

Aber für ein Buch genügt es nicht, Impulse zu bekommen und Wissen zu sammeln. Es muss geschrieben, sortiert und geordnet werden. Und es braucht kritische Gesprächspartner und Leser. Ein herzliches Dankeschön geht deshalb an meine Kaiserswerther Sekretärin, Birgit Wolsky-Fischer, die die ersten Texte zusammengestellt hat. Und ein ganz besonderer Dank geht an meine Freundin Dr. Gesine Palmer vom Büro für besondere Texte in Berlin, die mir über zwei Jahre eine wichtige Gesprächs- und Sparringspartnerin war.

Einzuordnen, was ich in den Veränderungsprozessen von Diakonie und Gesellschaft erlebt habe, haben mir auch die vielen Gesprächs- und Dialogpartner in der EKD geholfen: das Team des Sozialwissenschaftlichen Instituts unter der Leitung von Prof. Gerhard Wegner, aber auch die Teams des evangelischen Verbandes Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt unter Leitung von Dr. Axel Brassler und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie unter Leitung von Dr. Insa Schöning. Vor allem aber bei der Erarbeitung gesellschaftspolitischer Schriften in Kammern und Kommissionen der EKD habe ich seit nun bald 20 Jahren unendlich viel gelernt. Ich danke besonders den Mitgliedern der Kammer für Soziale Ordnung unter Leitung von Prof. Gustav Horn und Bischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm und den Ad-hoc-Kommissionen für Gesundheit, Altern, Familie und Inklusion und deren jeweiligen Vorsitzenden: Prof. Dr. Peter Dabrock, Prof. Dr. Andreas Kruse, Dr. Christine Bergmann und Prof. Dr. Ute Gerhard sowie Prof. Dr. Annette Scheunpflug und Vizepräsident Klaus Eberl. Ein herzlicher Dank geht auch an das Bündnis für Bürgerschaftliches Engagement und seinen Vorsitzenden, Prof. Dr. Thomas Olk, für die vielfältigen Gedankenanstöße aus der Zivilgesellschaft, und an Dr. Sabine Schössler vom Zentralkommittee der Deutschen Katholiken, meiner ökumenischen Kollegin und »Mitstreiterin« für ehrenamtliches Engagement in den Kirchen.

Solche Diskussionen erinnern mich gelegentlich an die, die ich Anfang der 90er Jahre in dem inspirierenden und fachlich kompetenten Team der Abteilung Sozialwesen im Diakonischen Werk Rheinland hatte. Kolleginnen und Kollegen wie Dr. Moritz Linzbach, Gabriele Winter, Karen Sommer-Loeffen, Ingrid Dürr-Monzel, Dorothea Bender-Lubej und Hartmut Bröcker verdanke ich viele Reflexionen über Grundlagen und Professionalität des Sozialwesens in Deutschland. Wie könnte Wandel gelingen ohne solche Teams und Netzwerke? Und wie ohne die ökumenischen Kontakte, die mich von Kaiserswerth aus bis in den Nahen Osten begleitet haben?

Nach wie vor aber begeistern mich vor allem Menschen und ihre Projekte. Wie Petra Vogt, die Leiterin des Wickrather Gemeindeladens, der bald schon 30 Jahre besteht, und ihr Ehrenamtlichen-Team aus der Kirchengemeinde, Bettina Wietzker von der Jugendberatungsstelle in Neuss oder die Hebammen aus der Geburtsstation in Kaiserswerth, die mir zum Abschied ein »Moseskörbchen« schenkten. Männer und Frauen, die heute Anfänger und Initiatoren sind – beruflich oder auch ehrenamtlich engagiert, so wie einst die Diakonissen. Ich denke besonders an Dr. Mitri Raheb, dessen Projekte in Palästina für viele Menschen Hoffnungszeichen setzen, an Friederike und Uwe Weltzien mit ihrem friedens-und versöhnungsorientierten Gemeindeaufbau in Beirut, an Martin Schenk und seine partizipativen Armuts- und Quartiersprojekte in Wien, aber auch an Reinhard Thies, den Initiator von »Kirche findet Stadt«, der ökumenischen Projektplattform für kirchliche Quartiersarbeit in Deutschland. Nicht zuletzt aber danke ich den vielen Initiatorinnen und Initiatoren aus meinem »alten« Kaiserswerther Team: Elke Auracher vom Erich-Plauschinat-Haus, Hilde Benninghoff-Giese von der ambulanten Jugendhilfe, Jörg J. Schmitz, meinem Mit-Geschäftsführer bei »FairDienst«, und Thomas Behlmer mit seinen immer neuen sozialpsychiatrischen Initiativen, Karen Rothenbusch, der es gelang, die Kultur der »Feierabendhäuser« mit der Altenhilfe zu verknüpfen, Susanne Reitze-Jehle und Hans Bartosch von Spiritual Care und Ethik, Volker Gläser und Dr. Michael Schmidt mit ihren innovativen Ideen zur Personal- und Qualitätsentwicklung und nicht zuletzt Godje Berning, die nach wie vor Leiterin des neu gestalteten Mutterhaus-Hotels ist. Viele sind, wie wir, längst weitergezogen, aber ihre Initiativen haben Spuren hinterlassen und die Verbundenheit bleibt. Alle, die ich kennengelernt habe, haben in mir das Gefühl geweckt, dass die Seele des Sozialen quicklebendig ist. Dafür bin ich von Herzen dankbar. Last, but noch least, danke ich meinem Mann, Michael Marx, für die vielen Gespräche, in denen wir gemeinsam die Höhen und Tiefen des kirchlich- diakonischen Alltags so bedacht haben, dass sich persönliche und gesellschaftliche Veränderungen, Glauben und Leben verknüpfen konnten.

Cornelia Coenen-Marx

Inhalt

Einleitung

1.  Die leere Mitte – Diakonie ohne Spiritualität?

1.1  Keine halbe Stunde mehr für Stundengebete

1.2  Keine Sinne mehr für Spiritualität

1.3  Fast vergessen: Eine diakonische Liturgie

1.4  Eine neue Suche: Religion als Energie und Widerstandskraft der Spiritualität

2.  Auf die Beziehung kommt es an – Zur Ökonomisierung der Pflegebranche

2.1  Anspruch und Wirklichkeit: Eine Problemanzeige

2.2  Das Krankenhaus als »Schule Gottes« – An der Wiege diakonischer Pflege

2.3  Brüche und Aufbrüche

2.4  Keine Zeit für die Seele? Pflege als Dienstleistung

2.5  Hellhörig bleiben – Zur Bedeutung der Pflegekultur

3.  Eine Frage der Würde – Abhängigkeit, Humanität und Selbstbestimmung

3.1  Der demographische Wandel: Eine unterschätzte Herausforderung

3.2  Eine lebenswerte Gesellschaft – Inklusion als Leitziel

3.3  Wie muss sich Pflege verändern? Ein engagiertes Plädoyer

3.4  Die Fürsorgekräfte stärken – Zur Reform des Gesundheitssektors

3.5  Gemeinsam mit Grenzen leben – Die Mentalität verändern

4.  Gesellschaftliche Spaltung und neue »Arbeitsteilung«

4.1  Kinderarmut in einem reichen Land – Ein Skandal

4.2  Familien stärken: Für eine neue Arbeitsteilung

4.3  Die Größten im Himmelreich: Kinderrechte ernst nehmen

4.4  Milieuüberschreitung gefragt – Armut in der Mittelschichtkirche

5.  Markt und Quartier

5.1  Arme und reiche Quartiere

5.2  Diakonische Markenentwicklung

5.3  Die Gesundheitsbranche als Dienstleistungsmotor

5.4  Strategien für Markt und Quartier

6.  Geld allein reicht nicht – Verbindlichkeit in einem neuen Sozialgewebe

6.1  Alte Netze neu verknüpfen – Ausbildungsketten, Arbeitsmigration, öffentliche Verantwortung in einem sozialen Europa

6.2  Subsidiarität neu gestalten: Die Wurzeln der Diakonie im freiwilligen Engagement

6.3  Wirtschaft, Sozialwirtschaft und soziale Verantwortung – Corporate Social Responsibility hat eine Geschichte

6.4  Freiwilliges Engagement und Beruflichkeit auf dem Markt: Zwei Seiten einer Medaille

6.5  Engagement und Spiritualität auf dem Sozialmarkt – Über die Grenzen der Funktionalisierung

7.  Spannungsfelder diakonischer Führung

7.1  Diakonie auf dem Sozialmarkt: Ein unverwechselbarer Beitrag

7.2  Geld oder Liebe – Werte im Konflikt

7.3  Die neuen Dienstleister: Motivation und Zusammenarbeit stärken

7.4  In der Vielfalt der Werte: Der diakonische »Mehrwert«

7.5  Pluralität respektieren – Entscheidungen im Dialog treffen: Zur Bedeutung von Ethikberatung

7.6  Orientierung, Halt und Geborgenheit: Zur Bedeutung von Ritualen in der Diakonie

7.7  Vom Diakonissenbuch zum integrierten Studiengang – Diakonie als spirituelle Bildungsbewegung

8.  Dienstgemeinschaft als Stütze der Freiheit

8.1  Subjekt des eigenen Lebens werden: Gemeinschaft in Freiheit

8.2  Ungeteilte Aufmerksamkeit – Warum Gemeinschaft nicht funktionalisiert werden darf

8.3  Das Projekt vom gemeinsamen Leben – Sakrales braucht soziale Form

8.4  Was nicht kalkuliert werden kann

8.5  Mein Traum von einem neuen Netzwerk

9.  Die verborgene Schrift – Vergessene Aspekte einer Kultur des Sozialen

9.1  Auf der Seite der Loser: Kirche als Motor für die neue Stadt

9.2  Erinnern und Durcharbeiten: Das Gedächtnis der Religionen

9.3  Grenzen überschreiten: Ökumene und Interkulturalität

9.4  Arbeit an der Identität: Zur Bedeutung von Bildung und Personalentwicklung

10.  In uns allen ist Diakonie – Unterwegs zu einer neuen Sozialkultur

10.1  Die eigene Stimme zum Klingen bringen: Von Chören, Lebensmittelpunkten und gerechter Teilhabe

10.2  Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Zur Bedeutung stützender Netze

10.3  Aufbruch von unten – Eine Engagement-Perspektive

10.4  Wahlverwandtschaften und Netzwerke – Auf den Spuren der Solidarität

10.5  Heaven oder Das neue Jerusalem

Schluss: Fangen wir also an!

Literatur und Lesehinweise

1. Im Text erwähnte oder verwendete Literatur

2. Texte von Cornelia Coenen-Marx

Anhang: Anfänger und Impulsgeber

Diakonische »Leuchtturm«-Projekte

Social Entrepreneurs

Ökumenische und internationale Projekte

Preise für hervorragende Projekte

Bildung, Beratung, Organisationsentwicklung

Retraiten, Einkehrhäuser

Gemeinschaften und Netzwerke

Verband Evangelischer Diakoninnen und Diakone (VEDD): www.vedd.de

Interessante Websites zu Bürgergesellschaft, Sozialpolitik und Nachhaltigkeit

Einleitung

»Ich bin mit Diakonissen aufgewachsen«, sagten mir oft begeisterte Besucher während meiner Zeit als Vorsteherin der Kaiserswerther Diakonie. Ich muss zugeben, ich konnte diesen Satz lange Zeit nicht hören; er war mir zu sentimental, obwohl – oder vielleicht weil – auch ich mit Diakonissen aufgewachsen bin. Die geliebten Kindergärtnerinnen und Gemeindeschwestern meiner Kindheit waren Schwestern mit Pünktchenkleid und Haube. Wann immer ich Freunde und Fremde in Kaiserswerth zu Besuch hatte, war zu spüren: Sie werden bis heute vermisst – in den Gemeinden, aber auch in den inzwischen technisch weit besser ausgestatteten diakonischen Einrichtungen. Sie waren das Symbol einer diakonischen Kirche, vor allem aber ein Zeichen von Schwesterlichkeit und Barmherzigkeit.

Seit 1984 war und bin ich in der diakonischen Arbeit aktiv – zunächst in Gemeinde und Kirchenkreis, später in der Geschäftsführung des Diakonischen Werks im Rheinland, schließlich von 1998–2004 als Vorstand der Kaiserswerther Diakonie und Vorsteherin der Kaiserswerther Schwesternschaft und heute ehrenamtlich in zwei Kuratorien diakonischer Unternehmen. In der EKD bin ich unter anderem als Geschäftsführerin der EKD-Kammer für Soziale Ordnung mit den Herausforderungen des sozialen Wandels in unserer Gesellschaft beschäftigt. Im Rückblick ist mir klar geworden: Den Spannungsfeldern, die ich während meiner Zeit in Kaiserswerth kennengelernt habe, verdanke ich wesentliche Impulse zur Auseinandersetzung. Dabei ging und geht es vor allem um die Auswirkungen der gesellschaftlichen Umbrüche auf die diakonischen Unternehmen – es hat ja seine Gründe, dass es kaum noch Diakonissen gibt.

Es geht aber auch um die Bedeutung von Spiritualität, Gemeinschaft, Bildung und sozialem Engagement für die soziale Arbeit der Kirchen. Diese Wurzeln aller diakonischen Kultur haben gelitten, und den Früchten scheint gelegentlich der Markenkern zu fehlen – wie einer tauben Nuss. Ich bin aber überzeugt davon, dass die Gesellschaft darauf angewiesen ist – und dass die Kirche eine Verpflichtung hat –, die verborgene Schrift unserer Sozialkultur wieder erkennbar zu machen, damit das Soziale nicht seine Seele verliert. Das hat mich in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt – in Vorträgen und Artikeln, aber auch bei der Beratung diakonischer Träger und Gemeinschaften. Dieses Buch ist der Versuch, die wichtigsten Überlegungen zusammenzufassen.

Keine Frage: Die soziale Struktur unserer Gesellschaft ist im Umbruch. Dabei geht es um mehr als um die fiskalische Krise der sozialen Sicherungssysteme angesichts einer globalisierten Wirtschaft. Zwar wirken sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochene Erwerbsbiografien und Teilzeitbeschäftigungen auf die Stabilität der Sozialsysteme aus – aber der demographische Wandel und die Veränderung von Familien und Geschlechterrollen reichen tiefer: Sie verändern das Design unseres Zusammenlebens grundlegend. Die alte Rollenaufteilung, nach der die erwerbstätigen Männer das Geld für diesen Sozialstaat erarbeiten, während ihre Frauen sich in Familie und freier Zeit ehrenamtlich und kostenlos fürs Soziale engagieren, trägt nicht mehr. Diese Arbeitsteilung spiegelte sich aber auch in der so großartigen Diakonissengeschichte, die zugleich ein Stück Kirchengeschichte ist. Die Vorstellung, dass vor allem der Staat mit den Verbänden und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, auskömmlich finanziert, dafür zuständig ist, sozialstaatliches Handeln professionell zu gestalten, trägt ebenfalls nicht mehr. Der Bedarf an sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen steigt, zugleich aber stoßen Professionalisierung und Ökonomisierung personell wie finanziell an ihre Grenzen. Auch wenn der neu entstandene Sozial- und Gesundheitsmarkt die Chance bietet, den zahlungskräftigen Kunden passgenaue Angebote zu machen: Diejenigen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind, an der Armutsgrenze leben oder denen es einfach an Reflexionskraft, Bildung und Netzwerken fehlt, ihre Bedürfnisse ins Spiel zu bringen, fallen zunehmend heraus aus der Gesellschaft der Steuerbürger und Konsumenten. Es wird Zeit, dass wir soziale Gerechtigkeit neu definieren – mit dem Ziel der gerechten Teilhabe auch für Kinder, Menschen mit Behinderung oder für ältere Pflegebedürftige. Zu lange waren sie Objekte unserer Fürsorge – selbst in der Diakonie.

Dabei brauchen wir einen neuen Mix aus Professionalität und bürgerschaftlichem Engagement, aus bezahlbaren Leistungen und sozialem Einsatz – eine aktive Bürgergesellschaft, die die Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen überwindet. Die sozialen Bewegungen zielen seit langem in diese Richtung, nämlich seit in den 70er Jahren der Wunsch nach Emanzipation und die Suche nach Integration die gesellschaftlichen Debatten bestimmte. Von der Frauenbewegung, der Kritik an der Heimerziehung und der Psychiatrieenquete nach 1968 bis zur Hospizbewegung in den 80er und 90er Jahren stand die Würde jedes und jeder Einzelnen im Mittelpunkt: Von der Entstehung der Sozialpsychiatrie, der Ambulantisierung der so genannten Anstalten für behinderte und psychisch kranke Menschen bis zur Entwicklung der Quartierspflege in der Altenhilfe ging es von Anfang an und bis heute um die Rückführung der Hilfebedarfe in den Sozialraum. Dahinter stehen immer das Wissen um die Verantwortung der Gemeinschaft, die Anerkennung von Verschiedenheit und der Respekt vor der Autonomie. In Bürgergesellschaft und Quartier geht es um gesellschaftliche Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger. Dabei können Kirche und Diakonie auch heute eine Schlüsselrolle spielen. Sie müssen allerdings anerkennen, dass sie nur noch manchmal die Regisseure der Veränderung, die Gastgeber anderer Gruppen sind. In der pluralen Gesellschaft werden sie oft nur noch Mitspieler oder, wenn es gut geht, Initiatoren sein. Aber gerade in dieser Rolle können sie zu Chance-Agents werden.

Eine besondere Bedeutung werden dabei, wie zu Beginn der neuzeitlichen Diakonie, die ehrenamtlich Engagierten bekommen. Soziale Bürgerbewegungen sind die »Detektoren« für neue soziale Notlagen und offene gesellschaftliche Fragen. Sie leben vom Engagement vieler Einzelner, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind. Was wären die Palliativstationen und Hospize ohne die Bereitschaft von Menschen, sich Sterblichkeit aktiv zu stellen, um das Leben neu zu entdecken? Wie sähe die Integration behinderter Kinder aus ohne den wunderbaren Einsatz der Eltern, die sie trotz vieler schmerzhafter Erfahrungen zur Welt gebracht und erzogen haben? Wer würde die Alzheimer-Erkrankung zum gesellschaftlichen Thema machen, wenn nicht die Angehörigen? Wer würde Veränderung von Tageseinrichtungen und Schulen vorantreiben, wenn nicht die Eltern, die auf ein neues soziales Gewebe in der Gesellschaft angewiesen sind? Immer neu schließen sich Angehörige, Nachbarn und ehrenamtlich Engagierte zusammen, weil sie ein Problem anpacken wollen, das gesellschaftlich verdrängt wird – und sie engagieren sich quer zu den alten, konfessionell oder weltanschaulich geprägten Verbändestrukturen. Zum Teil von Sponsoren aus der Wirtschaft unterstützt, wie bei der Tafelbewegung, geben sie auch Kirche und freier Wohlfahrtspflege neue Anstöße. Ein aktiver Sozialstaat braucht eine engagierte Zivilgesellschaft.

Wenn aus Hilfeempfängern Helfer werden sollen, wenn es um Mitmenschlichkeit und Beteiligung geht, sind Christinnen und Christen gefragt. Und damit meine ich nicht nur die Institution Kirche oder die Träger der Diakonie, sondern vor allem die Gruppen und Initiativen, die Notlagen frühzeitig aufspüren und kreative Lösungen suchen. Diakonie hat nicht nur eine Rolle auf dem Sozialmarkt, wie sie heute im Vordergrund steht, sie ist vor allem ein Kristallisationspunkt für die Erneuerung unserer Sozialkultur.

Dabei können die Akteure durchaus anknüpfen an die Initiativen und Bewegungen des 19. Jahrhunderts, als Wichern und die Fliedners, Amalie Sieveking und Bodelschwingh, Kolping und Ketteler aus ihrer Glaubensüberzeugung Vereine gründeten, mit Wirtschaft und Politik kooperierten, Sponsoren fanden, neue Berufe gründeten und schließlich auch die Kirche veränderten. Gerade in Deutschland leben Zivilgesellschaft und Sozialstaat bis heute aus diesen oft vergessenen Wurzeln. Mir scheint es wichtig, daran zu erinnern, weil ich überzeugt bin: Die Sozialkultur ist auf engagierte Menschen angewiesen, und es ist unumstritten, dass religiöse Bindungen für soziales Engagement eine große Rolle spielen. Mit ihren Gemeinden, Gruppen, Initiativen und Verbänden können die Kirchen verlässliche und vielfältige Strukturen für freiwilliges Engagement bieten.

»Diakonie als teilendes, heilendes und versöhnendes Amt der Kirche gehört unabdingbar zum Wesen der Kirche. Sie fordert von dem einzelnen und von der Kirche, dass sie nicht von dem geben, was sie haben, sondern aus dem, was sie sind. Diakonie muss die bestehenden Grenzen … durchbrechen und durch die Gemeinschaft des Volkes Gottes zum teilenden und heilenden Wirken des Geistes in der Welt werden,« so die ökumenische Versammlung von Vancouver.1 Die Überlegungen dieses Buches betreffen das Selbstverständnis der Diakonie und ihren unverwechselbaren Beitrag zu einer Gesellschaft im Transformationsprozess. Ich beginne mit einer Frage, die mitten hinein zielt in das zentrale Problem: Wo sind in der sozialwirtschaftlich aufgestellten Diakonie die theologischen Kennzeichen diakonischer Arbeit – Engagement und Spiritualität?

1  Gill,David, Gathered for life. Official report of the 6th Assembly of the WCC, Vancouver/Canada, Grand Rapids 1983.

1.  Die leere Mitte – Diakonie ohne Spiritualität?

Der holländische Theologe Jan Hendriks2 versteht Gemeinde als Herberge auf dem Weg – ein Bild, das auch zur diakonischen Arbeit passt. Seine konkrete Utopie für das 21. Jahrhundert sieht Wesen und Auftrag der Kirche in einer dreifachen Begegnung: Begegnung mit Gott, Begegnung miteinander und Begegnung mit der Gesellschaft. Alle drei Dimensionen sind unauflöslich miteinander verbunden. Fällt eine weg, fallen alle. Die moderne Definition von Jan Hendricks erinnert an das grundlegende Selbstverständnis der Diakonissengemeinschaften im 19. Jahrhundert. Die Kaiserswerther Diakonissen verstanden sich als Gemeinschaft im Dienst für den Nächsten, im Dienst an Gott und im Dienst aneinander. Dieses diakonische Selbstverständnis ist heute zerbrochen. Diakonische Unternehmen sind Träger in der Sozialbranche, ihre Arbeit ist professionell, funktional und ökonomisiert. Die Schwestern- und Brüdergemeinschaften sind klein und zumeist alt geworden. Zugleich erlebe ich Kirchengemeinden, die sich gegen die gesellschaftlichen Herausforderungen abschotten; viele sprechen in diesem Zusammenhang von Milieuverengung.3 Gemeinden, die in Betrieb und Vereinsleben aufgehen, und diakonische Unternehmen, die sich nur noch als Dienstleister am Markt verstehen, verlieren gleichermaßen ihre innere Kraft, den Zugang zu den erneuernden Quellen der Spiritualität, die so nötig sind, um den aktuellen Herausforderungen standzuhalten und Zukunft zu gestalten.

1.1  Keine halbe Stunde mehr für Stundengebete

Ein sprechendes Bild dafür ist die Mutterhauskirche in Kaiserswerth, in der ich viele Jahre regelmäßig gepredigt habe. Sie steht mitten auf dem schönen alten Parkgelände, zwischen Krankenhaus und Altenwohnungen, zwischen Hauptverwaltung und dem stilvoll modernisierten Mutterhaus-Hotel. Hier wurden bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts große Gruppen von Diakonissen eingesegnet und in den Dienst gestellt. Hier fanden die Stundengebete und wöchentlichen Abendmahlsfeiern statt, hier war die Kraftquelle der diakonischen Arbeit, die damals noch für ein Taschengeld geleistet wurde. Ohne diese »Liebestätigkeit«, den unbezahlten Dienst von Generationen von Schwestern, hätten die damaligen diakonischen Anstalten nicht so expandieren können, wie es geschah.

Als Mitte der 60er Jahre auch in den Schwesternschaften eine Emanzipationsbewegung begann, wurde klar, dass nur wenige Kirchengemeinden bereit waren, die tatsächlichen Personalkosten der Gemeindeschwestern zu tragen. Es war der aufkommende Wohlfahrtsstaat, der es dann ermöglichte, weiterhin professionelle Mitarbeiterinnen in der Pflege zu beschäftigen und mit einem angemessenen Entgelt zu bezahlen. Die Gemeinden wurden Träger von Diakoniestationen, wie sie Träger der Kindergärten waren – zu großen Teilen allerdings refinanziert durch Mittel aus Kommunen und Sozialversicherungen. Als Rekrutierungsorte für Diakonissen aber, als Basisstationen diakonischen Handelns, mussten sie sich nun nicht mehr verstehen. Kein junges Mädchen träumte mehr davon, Gemeindeschwester zu werden. Immer weniger Schwestern traten in die Gemeinschaften ein, und nur noch selten gab es Einsegnungen in der Mutterhauskirche. Und mit den Diakonissen in Tracht ging schließlich eine sichtbare Bindung zwischen Kirche und Diakonie verloren. Noch immer läuten die Glocken dreimal am Tag. Aber die große Kirche, die einst Mittelpunkt und Kraftquelle der Diakonissenanstalt war, ist zu einer finanziellen Belastung für das diakonische Unternehmen geworden. Aus Kranken- und Pflegeversicherung lässt sie sich nicht finanzieren; und die nahe Kirchengemeinde hat ohnehin zu viele Gebäude. So ist die Kirche eine Erinnerung an die Geschichte der »Anstaltsdiakonie«, die mit den Emanzipationsbewegungen der 60er Jahre zu Ende ging – und zugleich ein räumliches Zeichen für die offene Frage, wie es in Zukunft gelingen kann, Kirche und Diakonie im Quartier zu vernetzen; was sich ändern muss, damit die Fürsorgearbeit von Männern und Frauen auch finanziell die Wertschätzung erfährt, die sie verdient; und was nötig ist, um die sinnstiftende Mitte, die tragende Motivation, die Kräfte der Gemeinschaft, um Spiritualität neu zu entdecken.

Wie in einem Gegenbild habe ich die Situation in Thailand erlebt, als ich nach dem Tsunami 2004 dorthin gereist bin. An der Küste in Khao Lak trafen wir auf ein neu errichtetes buddhistisches Kloster, um das eine Siedlung von hilfebedürftigen Menschen entstanden war – Menschen, die heimatlos geworden waren, weil ihre Häuser von den Wellen mitgerissen wurden. Ganz selbstverständlich war das Kloster der Mittelpunkt der einfachen Siedlung, der Ort, an dem man geistliche Zuflucht wie soziale Hilfe fand. Ein Ort, an dem eine neue Gemeinschaft entstand; Heimat auf Zeit, in der die Selbsthilfekräfte wieder wachsen konnten. Ganz ähnlich ging es mir in den Slums von Kairo, die wild am Rand der Großstadt wuchern. Wo die Häuser alle illegal errichtet wurden, die Analphabetenquote hoch ist, das nächste Krankenhaus weit entfernt, da hat die katholische Gemeinde Schulen und eine Krankenstation, Läden und Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene eingerichtet. Mittendrin aber wurde eine neue Kirche gebaut. Unter dem Altar liegen Reliquien der Märtyrer aus der Kathedrale in der Stadt. Sie geben der Gemeinschaft einen Mittelpunkt und jedem Einzelnen seine Würde. Hier wird deutlich, wie Kampf und Kontemplation, Anbetung und soziale Arbeit zusammengehören. Hier wird sichtbar, wie Spiritualität die Gemeinschaft konstituiert und stärkt.

Diese Erfahrung stand auch an der Wiege der Mutterhausdiakonie, als die Diakonissenanstalten gegründet wurden, um auf den Spuren Jesu dem Elend der beginnenden Industrialisierung zu begegnen. Für die Gründerväter und -mütter stand nicht in Zweifel, dass Gott selbst bei den verwahrlosten Kindern, bei den unversorgten Kranken und Sterbenden, bei den überforderter Familien zu finden war, wie es im Gleichnis vom großen Weltgericht erzählt wird. »Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein«,4 steht in der Eingangstür des Kaiserswerther Mutterhauses. In dieser Haltung entstanden die Hospitalkirchen in den Krankenhäusern, auf diesem Hintergrund wuchs die Bereitschaft, immer neu aufzubrechen, dahin, wo Not war.

1.2  Keine Sinne mehr für Spiritualität

»Spiritualität ist eine Haltung, die das Leben in ihren Mittelpunkt nimmt und es gegen alle Mechanismen des Todes schützt und fördert«; schreibt der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff.5 So gesehen erwächst diakonische Motivation in einem umfassenden Sinne aus Spiritualität. Diakonie lebt von der Achtsamkeit, die immer neu unterscheidet zwischen dem, was lebensdienlich, und dem, was lebensgefährlich ist, zwischen Fluch und Segen. Es kommt darauf an, auf Lebenszeichen zu achten, die Apathie zu durchbrechen und damit auch anderen zum Leben zu helfen. Hermann Josef Silberberg spricht in diesem Zusammenhang von der inneren Fähigkeit, »zu sehen, zu hören, zu schmecken, was von Gott kommt.«

Aber auch im Alltag der Pflege bleibt heute wenig Zeit und Raum für Spiritualität. Dabei brauchen gute Ärzte und Pflegende diese tiefer gehende Wahrnehmung – trotz aller Professionalisierung und modernen Technik in unseren Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. »Professionalität braucht entwickelte Menschlichkeit«, sagt Friedemann Schulz von Thun. »Professionalisierung allein läuft Gefahr, Perfektion und Kontrolle zum alleinigen Maßstab werden zu lassen.«6 Wie Ausstrahlung, Geruch, Körpertemperatur und Stimme eines Patienten sich verändern, wie es mit Lebenswille und Lebenskraft aussieht, gilt es mit allen Sinnen wahrzunehmen: zu sehen, zu riechen, zu spüren. Ärztliche und pflegerische Be-handlung zielt nicht nur auf eine Krankheit oder eine Störung, sondern auf den ganzen Menschen, auf sein ganzes Leben. In der medizinischen Intervention, in der diakonischen Zuwendung entsteht eine Beziehung, die über das professionelle Hilfeverhältnis hinausgeht. Der Augenblick, in dem Menschen einander ganzheitlich und mit allen Sinnen wahrnehmen, stellt die Hilfebeziehung in einen größeren Lebenszusammenhang und macht sie transparent für die Gottesbeziehung.

Diakonische Arbeit hält spirituelle Erfahrungen bereit, die die Helfenden herausfordert und sie verändern kann. Manche Erlebnisse sind ermutigend, andere erschütternd – und oft gehört beides zusammen. Wir werden mit Schönheit und Sterblichkeit konfrontiert, erfahren Nähe und bleibende Fremdheit. »Jeder echte Kontakt mit einem Menschen aus Fleisch und Blut macht uns verletzlich«, schreibt Sam Keen.7 Alle, die in der Diakonie arbeiten, wissen das nur zu gut. Die meisten bauen deshalb Schutzmechanismen gegen die Verletzlichkeit auf. Wenn es gut geht, lernen sie sich abzugrenzen. Sie entwickeln Routine, aber auch Gleichgültigkeit und Apathie. »Das Krankenhaus hat eine apathische Kultur«, sagte mir einmal ein Oberarzt. »Darin kann niemand gesund werden.«

Verflüchtigt sich also die Spiritualität der Diakonie, weil der Alltag immer mehr funktionalisiert und durchgetaktet wird, weil kaum noch Zeit bleibt für Begegnungen? Wer genau beschriebene Module »abzuarbeiten« hat und nach Fallpauschalen planen muss, hat es jedenfalls schwer, in größeren Zusammenhängen zu denken, den ganzen Menschen wahrzunehmen, wachsam zu bleiben und gegebenenfalls auch ethische Konsequenzen zu ziehen, wo das Leben verletzt wird.

1.3  Fast vergessen: Eine diakonische Liturgie

Gleichwohl: Auch frühere Generationen hatten es mit der Unerträglichkeit menschlicher Schicksale und mit innerer Leere zu tun, sie kannten die Spannungsfelder ethischer Fragen. Die Betstunden-Litanei der Kaiserswerther Schwesternschaft erzählt davon. Sie hält Worte bereit, die die verwundete Seele bergen, aufrichten und stärken können. In dieser diakonischen Liturgie, die jahrzehntelang auf allen Schwestern-Stationen gebetet wurde, werden Alltagserfahrungen mit dem Evangelium »ver-sprochen«.

»Vor Gleichgültigkeit gegen dein Wort und Kreuz, vor unseligem Großwerden, vor aller Selbstgefälligkeit,vor unnötiger Verlegenheit,vor Verwirrungen, vor Unwahrheit und Unzufriedenheit,vor Trägheit und unheiligem Eifer behüt uns, lieber Herr und Gott.

Deine menschliche Geburt, Gott,Deine Armut und deine Knechtsgestalt,Deine Sanftmut und Demut, Deine dienende Liebe beim Fußwaschen, Deine Versuchungen, Deine Tränen und Angstgeschrei,tröste uns, lieber Herr und Gott.«

Noch immer kommen einige alte Kaiserswerther Diakonissen am Sonntagabend um sechs Uhr zusammen, um die schöne alte Liturgie zu beten. Um diese Zeit wird im Krankenhaus und in den Pflegeeinrichtungen gerade das Essen abgeräumt. Schwestern und Pfleger bereiten sich auf das Ende der Schicht und die häuslichen Aufgaben vor. Kaum jemand wohnt noch auf dem Diakoniegelände. Im täglichen Balanceakt zwischen Teamgeist und Familienaufgaben bleibt wenig Zeit, nach der eigenen inneren Mitte zu fragen. Gemeinsame Gebetszeiten, von denen die Glocken noch erzählen, gehören in eine andere Wirklichkeit.

Der selbstverständliche Zweiklang zwischen Aktion und Kontemplation, von Gottes- und Weltbezug ist zerbrochen. In den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen bestimmt der Schichtdienst den Zeittakt. Mit dem Auseinanderfallen von Arbeit und Leben zerfiel die Dienstgemeinschaft. Neue, familiäre Bindungen traten neben die dienstlichen. Mit dem Zwang, mobil und flexibel zu sein, nahm die Individualisierung zu. Mit der Säkularisierung wurden die Bibelworte über den Eingangstüren zur Fremdsprache. In den Häusern zerfiel mit dem Catering auch die Tischgemeinschaft, mit der Entkirchlichung die Kultur der Sterbebegleitung. Gerade in der Hospizbewegung zeigt sich aber auch ein gegenteiliger Trend: Die Sehnsucht nach Religion ist ungestillt. Freunde, Verwandte, Ehrenamtliche setzen ihre ganze Phantasie ein, um einem Menschen zu helfen, dem Sinn des eigenen Lebens, dem Glück auch im Abschiednehmen noch auf die Spur zu kommen. Und angesichts der Zerrissenheit des täglichen Lebens sind Auszeiten im Kloster gefragt. Nicht nur christliche Therapeuten empfehlen Rituale, um dem Leben Gestalt zu geben.

1.4  Eine neue Suche: Religion als Energie und Widerstandskraft der Spiritualität

Die innere Fähigkeit zu sehen, zu hören, zu schmecken, was von Gott kommt, kann man schulen – das gilt auch für die diakonische Arbeitswelt. Eine Klangschale aufstellen, die zur Stille einlädt, Tücher in den unterschiedlichen Farben des Kirchenjahrs drapieren, eine Schale mit Steinen, Blumen oder eine Kerze ins Zentrum rücken, einem Sterbenden die Hände falten – das lässt sich lernen und weitergeben, so wie man Farbtherapie oder Feng Shui lernen kann. In den letzten Jahren wurde vielerorts die Schönheit und Bedeutung spiritueller Räume wieder entdeckt. Nun werden Abschiedsräume und Räume der Stille neu gestaltet. In einer Arbeitsgruppe des Kaiserswerther Florence-Nightingale-Krankenhauses wurde die »Lade« entwickelt: ein Holzgefäß mit Kreuz und Osterkerze, mit Decke und Karten für den Nachttisch, das auf den Abschiedsstationen bereitsteht und von allen Mitarbeitenden genutzt werden kann. Solche Zeichen und Symbole, die Gestaltung eines Raumes und die Einübung elementarer ritueller Gesten machen Spiritualität körperlich und sinnlich erfahrbar. Sie laden zum Innehalten ein und können damit mitten im diakonischen Alltag zu einem Rahmen für die Gottesbegegnung werden. Die Kraft, die von solchen Momenten der Stille und Vertiefung ausgeht, kann die alltägliche Arbeit leichter machen.

Viele sehnen sich nach diesem »Mehrwert« der Diakonie – und fürchten zugleich, sich verletzlich zu machen, wenn sie sich in einem oft gnadenlosen Alltag auf diese spirituelle Dimension einlassen und ihre Seele öffnen. Religion bleibt auch in diakonischen Unternehmen in der Regel Privatsache und hat mit dem Beruf nichts zu tun. So wie es zur Professionalität gehört, eine gewisse Distanz zu den Hilfebedürftigen zu wahren, so bleibt die Gottesfrage auf Abstand. Auch in diakonischen Krankenhäusern kann man eine »apathische« Kultur erleben; eine manchmal geradezu erschreckende Selbst- und Seelenvergessenheit. Wer Mauern der Apathie durchbrechen will, muss bereit sein, Gewohnheiten in Frage zu stellen, andere zu irritieren, über die eigenen Werte und Emotionen zu reden, der inneren Stimme Gewicht zu geben, selbst wenn sie sich dem Alltag widersetzt. Und auch einmal Nein zu sagen.

Die sogenannten evangelischen Räte, Armut, Keuschheit und Gehorsam, die die Tradition der Diakonissengemeinschaften geprägt haben, können, neu verstanden, dabei helfen. Sie bieten Widerstandspotenzial, wenn sie denn als Freiheit wahrgenommen werden. Gegen das Machen und die Machtgier heißt Gehorsam, hellhörig zu bleiben für die Wirklichkeit Gottes, die uns anspricht. Gebet, Meditation, Bibellesen sind in diesem Sinne Schulen des inneren Hörens – genauso wie die Praxis des orthodoxen »Herzensgebets«, die in jüngster Zeit von vielen wiederentdeckt wird.8 Sich dafür Zeit zu nehmen kann helfen, die innere Mitte wiederzufinden. In einer Welt der Habgier kann Armut auch die Bereitschaft zum Verzicht auf materiellen Gewinn bedeuten. Dazu allerdings braucht es eine auskömmliche Sicherung, eine freie Entscheidung und einen Gegenwert, der mehr verspricht als Konsum. Keuschheit schließlich markiert die Achtung vor den Grenzen – den eigenen und denen des anderen – und die Ehrfurcht vor dem Leben gegen jede Verobjektivierung. Die eigenen Grenzen achten, verzichten und auf die innere Stimme hören – viele nutzen neuerdings die Fastenzeiten im Advent oder vor Ostern, um sich darin zu üben. Während aber die Praxis des Fastens, Meditierens und das Pilgern sich wachsender Beliebtheit erfreuen, stehen Keuschheit, Gehorsam und Armut nicht eben hoch im Kurs. Schuld daran ist auch ihre Missbrauchsgeschichte in den geistlichen Gemeinschaften. Zu viel Normierung, zu viel Gesetz – zu wenig Freiheit. Hat nicht die sexuelle Keuschheit, die so lange von Diakonissen gefordert wurde, viele Lebensläufe in Sackgassen enden lassen, Beziehungen zerbrochen? War es nicht zynisch, von Verzicht zu reden, während die Unternehmen auf dem Rücken der Schwestern wuchsen? Wer auf die prekäre Beschäftigung in der Pflege schaut, kann den Eindruck haben, dass dieses Erbe noch weiter wirkt. Kann man ernsthaft vom Hören auf die innere Stimme reden, während Vorstände ganz anderen Normen folgen? Geld und Gewinn, Macht und Sexualität, Druck und Verführung waren und sind Realitäten auch in der Diakonie. Und gerade an diesen Themen entzünden sich Konflikte, die Teams zerreißen und die Glaubwürdigkeit der Diakonie in Frage stellen.

Der faszinierende und nicht unbelastete Weg der alten Diakonissengemeinschaften geht zu Ende. Manche meinen auch, die besondere Stellung der Diakonie als kirchlicher Wohlfahrtspflege habe ihre Berechtigung verloren. Zugleich spüren wir: Auf dem Sozialmarkt kann man professionelle Hilfe, aber keine Nächstenliebe organisieren. Gute Dienstleister können Familie und Nachbarschaft nicht ersetzen, und Unternehmen stiften noch kein Gemeinwohl. Während die Diakonie ihr Gesicht verändert, wächst deshalb die Sehnsucht nach Alternativen zur staatlichen und geschäftsmäßig organisierten Fürsorge. Und manche innerhalb und außerhalb der Diakonie fragen, ob das Feuer unter der Asche noch brennt. Dieses Buch macht sich auf die Suche.

Dabei gehe ich von vier im Rückblick gewonnenen Beobachtungen aus:

In den letzten 160 Jahren hat sich die Rolle diakonischer Gemeinschaften grundlegend verändert. Während sie heute oft nur eine kleine Gruppe im diakonischen Unternehmen sind oder sich sogar ganz bewusst neben den Unternehmen neu profilieren, spielten sie in der Gründungsgeschichte der »Anstaltsdiakonie« eine tragende und initiative Rolle bei der Entwicklung übergemeindlicher diakonischer Arbeit. In dieser Umbruchphase der frühen Industrialisierung war der soziale Dienst Ausdruck des Glaubens. Und die diakonischen Gemeinschaften waren Modell und Ausgangspunkt für die Erneuerung von Familien, Nachbarschaften und Gemeinden. Als zivilgesellschaftliche Bewegung der Kirche hatten diakonische Dienste eine große, gleichsam avantgardistische, soziale und spirituelle Ausstrahlungskraft. Dabei blieben sie allerdings über lange Zeit bestimmt von einem patriarchalen Fürsorgedenken, das gleichberechtigte Teilhabe erschwerte.Die diakonische Bewegung war von Anfang an nicht frei von Konflikten. Bereits in der Gründergeneration wurde über die Zuordnung diakonischer Initiativen und Gemeinschaften zu Gemeinden und Kirche gestritten. Die nicht zuletzt durch Friedrich Wilhelm IV. vorangetriebenen Kirchenreform-Initiativen, mit denen die Schieflage der »Pastorenkirche« durch ein geordnetes diakonisches Amt und einen verstärkten Einfluss der Diakonissen und Diakone in der preußischen Generalsynode ausgeglichen werden sollte, führten nicht zum Erfolg. Auch der Gedanke, die Initiativen der Bürgerinnen und Bürger in der Synode zu verankern, wurde nicht umgesetzt. Kirche und Diakonie haben eine 160 Jahre alte Trennungsgeschichte.Die zu Ende gehende »Volkskirche« mit ihrer noch immer »hinkenden Trennung« von Kirche und Staat tut sich nach wie vor schwer, sich selbst als Teil der Zivilgesellschaft zu verstehen. So ist es bis heute nicht gelungen, tragfähige Brücken zwischen diakonischen Unternehmen, Gemeinden und der Zivilgesellschaft zu schlagen. Kirche als diakonische Bewegung, die sich gesellschaftlichen Herausforderungen stellt und die Zukunft der Wohlfahrtsgesellschaft zwischen Markt, Staat und Bürgerinitiativen mit entwickelt – das bleibt ein Auftrag für die nächsten Jahrzehnte, für eine kleiner und ärmer werdende Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft wie für die großen diakonischen Unternehmen.Diakonische Gemeinschaften, Organisationen und Ehrenamtliche, aber auch engagierte Theologen haben ihr Engagement und ihre Erfahrungen von Anfang an genutzt, um Sozialpolitik zu gestalten. Das gilt für Wichern wie für Bodelschwingh, für Kolping oder für Naumann. Die Kirchen in Deutschland haben den Sozialstaat entscheidend mit geprägt. Das geschah vor dem Hintergrund eines christlich geprägten Landes und einer engen Verbindung von Staat und Kirche. In dieser Hinsicht hat sich die Situation grundlegend verändert: Wir leben in einer zunehmen säkularen und pluralen Gesellschaft. In Sachsen-Anhalt, dem Kernland der Reformation, liegt der Anteil der Konfessionslosen derzeit bei 81 Prozent.9 Inzwischen leben etwa 4 Millionen Muslime in Deutschland. Gerade in dieser Situation gilt es wieder wahrzunehmen, was die Gründergeneration der neuzeitlichen Diakonie angetrieben hat: die Betonung der Bürgergesellschaft und des freiwilligen Engagements, den Blick auf die Bedeutung von Spiritualität, den Zusammenhalt, den Gemeinschaften stiften, und die Verantwortung der Kirchen für Sozialpolitik. Ich bin überzeugt: Dabei lassen sich neue Funken schlagen aus dem diakonischen Feuer, das unter der Asche noch glüht. Im nun folgenden Kapitel soll es zunächst darum gehen, was das unter den aktuellen Bedingungen für die Pflege bedeuten kann.

2  Jan Hendriks, Gemeinde als Herberge – Kirche im 21. Jahrhundert. Eine konkrete Utopie, Gütersloh 2001.

3  Vgl.: www.bfg-muenchen.de/cms/media/pdf/Sinus-Studie2013.pdf (zuletzt aufgerufen am 27.5.2013).

4  Johannes 12,26.

5  Boff, Leonardo, Die Erde ist uns anvertraut, Kevelaer 2010.

6  »Die Balance der Werte«: Interview mit Friedemann Schulz von Thun, in: Psychologie heute, Februar 2012.

7  Keen, Sam, Es lohnt sich nur der Weg nach innen, Hamburg 1992.

8  Maschwitz, Rüdiger, Das Herzensgebet. Ein Meditationsweg, München 1999 oder Bobert, Sabine, Mystik und Coaching mit MTP – Mental Turning Point, Münsterschwarzach 2011, passim.

9  Vgl. z.B. Die aktuelle Statistik in »Der Spiegel-Wissen«, Nr. 2, 2013 – »Mein Glaube«, 22ff.

2.  Auf die Beziehung kommt es an – Zur Ökonomisierung der Pflegebranche

»Es gebe niemand die Seele preis um der Kunst willen«, hat Friederike Fliedner einmal gesagt. Sie meinte die Krankenpflegekunst. Und sie nahm in Gedanken vorweg, dass berufliche Professionalisierung und methodische Perfektion da ihre Grenze haben, wo die persönliche Beziehung verloren geht. Heute brauchen wir eine neue Bewegung der spirituellen Achtsamkeit und des bewussten Carings. In den letzten Jahren bin ich häufig Schwestern begegnet, die sich aus großen Organisationen gelöst und selbständig gemacht haben – in der Intensivpflege oder Kinderkrankenpflege zum Beispiel. Selbst hoch qualifizierte Pflegekräfte machen dies, um – meist unter Verzicht auf Einkommen – die Rhythmen ihrer Arbeit beziehungsorientiert gestalten, den einzelnen Patienten, die Patientin tatsächlich in den Mittelpunkt stellen zu können. Selbständige Hebammen tun sich zusammen und kämpfen öffentlich für auskömmliche Entgelte. Und selbständige Pflegekräfte sind die Akteure von Basisgesundheitsdiensten in Mecklenburg und halten gemeinsam mit Hausärzten die Versorgung in größeren Regionen aufrecht. 20 bis 30 Jahre, nachdem die allermeisten Gemeindeschwestern aus der Trägerschaft von Kirchengemeinden in Diakoniestationen abgegeben wurden, scheint das alte Fliednersche Modell der Gemeindeschwester als zentraler und eigenständiger Ansprechpartnerin vor Ort wieder lebendig zu werden. Sie sind flexibel, entdecken schnell die Nischen und die Lücken im Netz und sind besser als die großen Einrichtungen in der Lage, Ressourcen in Familie und Nachbarschaft zu aktivieren.

Die Ökonomisierung des Sozialen lässt sich wohl kaum zurückdrehen. Wenn wir aber nach vorne schauen wollen, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, welcher Geist den Kern diakonischen Engagements ausmacht: Die unternehmerische Kraft der Diakonie, ihr Profil und ihr Esprit erwachsen aus persönlicher Zuwendung und Verantwortung. Versteht man den diakonischen Dienst als eine spirituelle Haltung, die in verschiedenen Lebens- und Arbeitskontexten Gestalt findet, so wird es darum gehen, grundlegende persönliche Kompetenzen zu entwickeln und zu fördern und mit der jeweiligen Professionalität des Arbeitsfeldes zusammenzubringen. Dazu gehören das Aufrechterhalten von Beziehungen auch in Krisen, das Mitsein mit den Leidenden, die Bereitschaft zum Vertrauen in Unsicherheiten, ein Gespür für den rechten Augenblick; die Fähigkeit, dem »Unsagbaren« eine Sprache zu geben.

2.1  Anspruch und Wirklichkeit: Eine Problemanzeige

Anfang der 90er Jahre wurde der Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung gerade im Bereich der Pflege von einem Sozialmarkt abgelöst, der die alten Erstattungs- und Abstimmungsmuster der Freien Wohlfahrtspflege aufgebrochen hat und auf Wettbewerb setzt. Die Institutionenorientierung ist damit der Nutzerorientierung gewichen, statt langfristiger Beziehungen und Lebensräume werden Produkte angeboten, verglichen und verkauft. In Folge dieser Logik arbeiten Kassen wie Nutzer mit dem günstigsten, kompetentesten und effektivsten Anbieter im jeweiligen Sektor zusammen.

Jeder dritte »Pflegefall« bekomme nicht genug zu essen und zu trinken, jeder zehnte Heimbewohner werde durch falsche Pflege krank und jeder dritte Demenzkranke im Altenheim werde nicht vernünftig versorgt, klagte die »Ex-Pflegerin« Eva Ohlert 2007 im Pflegereport der BILD-Zeitung. Ihr Fazit: »Wir müssen in Pflege und nicht in Bürokratie investieren.« Und in einem GEO-Spezial-Heft zum Thema »Soziale Gerechtigkeit« fand sich im gleichen Jahr eine Reportage über den Alltag von Schwester Silke Müller, die auf einer Intensivstation in Mecklenburg mit großer Liebe und Hingabe arbeitet und nach 30 Stunden mit einem Monatsgehalt von 1250 Euro nach Hause kommt. Der Geschäftsführer ihrer Klinik sagt, das Krankenhaus sei ökonomisch betrachtet ausreichend besetzt, man müsse eben nur mehr interne Vernetzung und Synergien schaffen und das Bettenmanagement verbessern – und natürlich die Tätigkeiten ausgliedern, die nicht von Fachkräften erledigt werden müssen. Schwestern wie Silke sollen sich mehr und mehr auf hochwertige Aufgaben konzentrieren: Sie sollten röntgen, Infusionen legen, Schmerzmedikation und Vitalfunktionen kontrollieren und natürlich auch dokumentieren. An einem Bett sitzen, eine Hand halten, einen Patienten zum Spazieren fahren: Das gehört nicht dazu. Schwester Silke allerdings würde ihrer Tochter nicht mehr raten, unter diesen Bedingungen Pflegekraft zu werden.

Wer die Situation der Pflege in unserem Land mit offenen Augen in den Blick nimmt, stößt derzeit vor allem auf Problemanzeigen und Katastrophenszenarien.10 Inzwischen wurde ein Mindestlohn für die Pflegebranche festgelegt, weil viele Pflegekräfte mit ihrem monatlichen Einkommen nicht auskommen. Das mag daran liegen, dass manche von ihnen keine Vollzeitbeschäftigung haben – sei es, weil sie eine volle Erwerbstätigkeit, die zudem in der Regel im Schichtdienst organisiert ist, nicht mit ihrer Familientätigkeit vereinbaren können, sei es aber auch, weil die Arbeitgeber bevorzugt halbe Stellen oder 30-Stunden-Stellen ausschreiben, um die Dienste auch in Krankheits- und Urlaubszeiten besser abdecken zu können. Wer jedenfalls in der Pflege nicht voll erwerbstätig ist und zudem Kinder zu unterhalten hat, kann auch von einem Mindestlohn von 8,50 Euro nicht leben. Dies gilt umso mehr, als inzwischen die Tendenz erkennbar wird, nicht mehr wie bislang den »ortsüblichen Tarif«, sondern eben diesen Mindestlohn zur Normgröße zu machen. Die Wettbewerbs-Spirale nach unten, die mit dem Mindestlohn gebremst werden sollte, geht weiter: Die privaten Dienste, die seit Einführung der Pflegeversicherung Anfang der 90er Jahre auf den Markt drängten, waren die ersten, die Marktmacht durch den Druck auf die Tarife gewannen. Sie traten in einem Tarifgefüge an, das junge, leistungsfähige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen honorierte, die älteren mit Erfahrung aber nicht mehr besserstellte, wie es im öffentlichen Dienst und damit auch in Kirche, Diakonie und Caritas tendenziell noch immer der Fall ist. Damit zogen sie jüngere Jobsuchende an und setzten die Träger, bei denen ältere Kräfte beschäftigt waren, unter erheblichen Budgetdruck. Die Reaktionen folgten sehr bald: mit neuen Tarifen auch in der Diakonie, mit Outsourcing von Pflegediensten, die niedrigere Entgelte ermöglichten, und schließlich sogar mit Leiharbeitsfirmen in kirchlich-diakonischer Trägerschaft. Der Pflegemarkt setzt den »Frauenberuf« Pflege in erheblicher Weise unter Druck.

Das liegt auch daran, dass nicht genügend gesellschaftliche Ressourcen für diese – mit dem demographischen Wandel wachsende – Herausforderung zur Verfügung gestellt werden. Allein aus privaten Mitteln – etwa mit einem »Pflegeriester« – lässt sich die Lücke, die die Pflegeversicherung als »Teilkaskoversicherung« lässt, jedenfalls nur schwer schließen. Die Entwicklung der Schattenarbeit und der osteuropäischen Leihfirmen in diesem Bereich spricht eine deutliche Sprache.11

2.2  Das Krankenhaus als »Schule Gottes« – An der Wiege diakonischer Pflege

Die Debatte um Leiharbeit und Dumpingpreise in der Pflege führt uns zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die beginnende Industrialisierung, Frauenerwerbstätigkeit und neue Mobilität die noch großen Familien mit ihren Pflege- und Erziehungsaufgaben überforderten. Krankenhäuser waren zu diesem Zeitpunkt vor allem Pflegeeinrichtungen, in denen Ärzte Krankenbesuche abstatteten, soweit die Einzelnen es sich leisten konnten. Auch professionelle Pflegekräfte im heutigen Sinne gab es nicht. Die Krankenwärterinnen lebten von dem, was die Gäste für Kost, Logis und Hilfstätigkeiten erübrigen konnten. Es waren erweckte Christinnen und Christen wie Amalie Sieveking in Hamburg oder Theodor Fliedner in Kaiserswerth, die diese Zustände als menschenunwürdig begriffen und – mehr noch – darin Glauben und Kirche herausgefordert sahen. Die Gleichnisse der Evangelien, am meisten vielleicht das vom großen Weltgericht in Mt 25, standen Pate, als sie die Werke der Barmherzigkeit für die evangelische Kirche neu entdeckten. Dabei waren sie im Zuge dieser ersten Globalisierungsphase durchaus offen für ökumenische Perspektiven und diakonische Ideen aus England und den Niederlanden, aber auch für die Tradition der Barmherzigen Schwestern des Vincent von Paul, kurz, für die Wiederentdeckung der Barmherzigkeit in der Nachfolge des mitleidenden Gottes. Die Schweizer Pflegewissenschaftlerin Silvia Käppeli12 hat gezeigt, dass das Motiv des mitleidenden Gottes im Christentum und im Judentum unsere Vorstellung von Diakonie und Pflege entscheidend geprägt hat. Dabei bezieht sie sich auf einen roten Faden biblischer Texte, der von der Befreiung aus Ägypten bis zum Hebräerbrief führt: »Wir haben einen Hohenpriester, der mit unseren Schwächen mitfühlt und mitleidet.«13 Hier liegen die Wurzeln für die Arbeit von Theodor Fliedner oder Florence Nightingale, aber auch für den Begriff »compassion«, der die moderne Pflegewissenschaft prägt.

Als Theodor Fliedner mit seiner Frau Friederike Münster 1836 in Kaiserswerth das erste Diakonissenmutterhaus gründete, konnte er noch nicht wissen, dass diese kleine Einrichtung mit zunächst einer Handvoll Schwestern bald schon boomen würde, ja mehr noch – dass sie die Wurzel einer Bewegung mit Nachfolgeeinrichtungen in aller Welt werden würde.14 Sein neues Konzept bot eine Lösung für drei große Nöte der damaligen Zeit: Es bot professionelle Hilfen zur Erziehung und Pflege, es bot unverheirateten jungen Frauen die Chance einer Ausbildung in diesen Arbeitsbereichen und einer sinnvollen Betätigung, und es schuf eine Gemeinschaft, die für diese Frauen zur Ersatzfamilie auf Dauer oder jedenfalls auf Zeit werden konnte – einer Familie, in der sie geschützt und versorgt wurden. Fliedner fasste damit soziale Nöte an und – das war für ihn das Wichtigste – er machte zugleich deutlich, wie das Evangelium Leben und Welt gestaltet. Das Mutterhaus, ein Krankenhaus mit angeschlossener Schule und der Mutterhauskirche, bot eine ganzheitliche Perspektive: Es war ein Werk des Glaubens, diakonische Initiative und Lebenshilfe für Kranke wie auch für die Schwestern, denen es berufliche Perspektiven bot. So entstand die Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft, von der im Eingangskapitel schon die Rede war. »Man sagt, so eintönige Verrichtungen wie das Kämmen schmutziger Köpfe und das Verbinden abstoßender Wunden könnten nur die übernehmen, die darauf angewiesen sind, Geld zu verdienen«, schrieb damals Florence Nightingale, Fliedners Schwesternschülerin, in ihr Kaiserswerther Tagebuch. »Die so denken, sollten einmal die Atmosphäre erleben, die ein Krankenhaus beseelt, das man als Schule Gottes ansehen darf, in der Patienten wie Pflegerinnen Gewinn davon tragen.«15

Die diakonischen Gemeinschaften waren Lebens- und Gebetsgemeinschaften, vor allem aber Dienstgemeinschaften. Die engsten menschlichen Beziehungen wuchsen auf den Schwesternstationen,16 in den Teams, da, wo man als Gruppe zusammen arbeitete und lebte. Der gemeinsame Arbeitsrhythmus, das gemeinsame Selbstverständnis und Menschenbild, die geprägte Form der Spiritualität, ja, auch die gleiche Tracht hielten die Gruppe zusammen – in der Einheit von Leben und Dienst, in der Einheit von Person und Institution, von Amt und Beruf. Von einer neuen Familie war die Rede, von einer emotionalen Bindung sogar – »als ob wir unter einem Mutterherzen gelegen hätten«. Dabei war die gesellschaftliche Anerkennung dieses Dienstes hoch, seine Funktion für den sozialen Zusammenhalt unverzichtbar, seine Rolle für die Kirche als diakonische Gemeinschaft kaum zu überschätzen.

Florence Nightingale kritisierte später, dass ihre Ausbildung in Kaiserswerth vor allem aus Allgemeinbildung und biblischem Unterricht bestand. Auch wenn sich hier ein sozialer Frauenberuf entwickelte, konnte in den frühen Jahren von einem Verdienst kaum die Rede sein – der entscheidende Vorteil war die gesicherte Versorgung. Aber das Selbstbewusstsein dieser ersten Generationen war ebenso hoch wie ihr gesellschaftliches Ansehen: Sie waren stolz darauf, eine neue soziale und kirchliche Bewegung mit zu gestalten – und zwar mit Sinn für Qualität und Würde. In den Gestellungsverträgen der Schwestern mit anderen Einrichtungen legte das Mutterhaus viel Wert auf die Zeiten für Bildung und Erholung, aber auch auf die Qualität der Arbeit. War die nicht mehr gewährleistet, wurden die Kaiserswerther Diakonissen zurückbeordert.

2.3  Brüche und Aufbrüche