Die Neuentdeckung der Gemeinschaft - Cornelia Coenen-Marx - E-Book

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft E-Book

Cornelia Coenen-Marx

0,0

Beschreibung

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft fordert Kirche heraus. Während Gemeindehäuser geschlossen und diakonische Gemeinschaften kleiner werden, entstehen neue Nachbarschaftsnetze und Caring Communities. Was gilt es zu lernen? Was neu zu entdecken? Im Zuge der Coronapandemie wie bereits in anderen Transformationsprozessen zeigen sich gesellschaftliche Brüche, wachsende Einsamkeit und eine starke Sehnsucht nach Gemeinschaft. Schrumpfende ländliche Räume und neue Konzepte der Quartiersentwicklung fordern Kirche und Diakonie heraus, sich als Akteurinnen in der Zivilgesellschaft neu zu verstehen. Das Buch geht den Veränderungen in Familie, Arbeitswelt und Nachbarschaft nach, macht auf Herausforderungen für die alternde Gesellschaft aufmerksam und stellt neue Gemeinschaftsprojekte in Quartieren, sozialen Unternehmen und Gemeinden vor. Neue Wohnformen und Nachbarschaftsnetze brauchen ergänzende soziale Dienste. Sorgende Gemeinschaften brauchen Sorgestrukturen. Kirche ist dabei in allen Feldern gefragt – als Gemeinde in der Nachbarschaft, als Institution gegenüber Staat und Kommune und als diakonisches Unternehmen bei wachsendem Bedarf in Pflege und Erziehungseinrichtungen. Als "Gemeinde von Schwestern und Brüdern" ist sie historisch wie theologisch mit dem Thema "Gemeinschaft" verknüpft. Welche Traditionen sind dabei hilfreich, welche hinderlich? Und welche Rolle spielen die Engagierten wie die "Betroffenen" selbst?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cornelia Coenen-Marx

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft

Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege

Vandenhoeck & Ruprecht

Dem Wickrather Gemeindeladen in Mönchengladbach, der seit 1986 mitten in der Einkaufszone die Türen offen hält und das Leben im Quartier bereichert. Petra Vogt, die den »Laden« 30 Jahre lang geführt und vielfältige Netze geknüpft hat – anstelle eines »Diakonissendenkmals«, wie es in diesem Buch beschrieben wird. Und allen Quartiersinitiativen, die in der Coronazeit mit Einkaufshilfen, Telefonketten, Bürgerbussen und mobilen Andachten für Ältere und Einsame da waren.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Adobe Stock/DisobeyArt

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99461-1

Inhalt

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft – Vorwort von Bischöfin Beate Hofmann

1   »Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

1.1 Einsamkeit – wie Corona die Gemeinschaft neu fokussiert

1.2 Neue Erfahrungen – der Kampf um gemeinsame Zeit

1.3 Fürsorge – das Beziehungsgeflecht des Miteinanders

1.4 Wahlfamilien – Kirche als Gemeinschaftsagentur

1.5 »Gemeinschaft der Schwestern und Brüder« – Traditionen zwischen Selbstkritik und Kraftquelle

2   Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

2.1 Zusammenhalt gegen Fliehkräfte – die digitale Single-Gesellschaft

2.2 Gemeinschaft am Küchentisch – Sorge hält die Welt zusammen

2.3 »Globale Nomaden« und moderne Lagerfeuer – Arbeit braucht Begegnung

2.4 »Wo Vertrauen ist, ist Heimat« – die neue Nachbarschaft

Gemeinschaft – nicht nur in der Coronakrise – Interview mit Christine Falk und Renate Abeßer (Teil 1)

2.5 Alter neu gestalten – Wohngemeinschaften und Unterstützungsnetzwerke

2.6 Pflege ist systemrelevant – Familien, Versicherungen und der Care-Markt

2.7 Sorgekämpfe und Sorgende Gemeinschaften – Zivilgesellschaft im Quartier

Die Kraft des Kollektivs und die Rolle der Kirche – Interview mit Ursula Schoen

2.8 Die neue Stadt – Solidarität statt Ausgrenzung

Verantwortungsgemeinschaften für die Menschen des 21. Jahrhunderts Interview mit Christine Falk und Renate Abeßer (Teil 2)

3   Pflege-Dienst-Gemeinschaft – für eine neue Sorgekultur

3.1 Das Diakonissendenkmal – zurück ins 19. Jahrhundert?

3.2 Controller, Soziale Roboter und die Kultur der Gemeinschaft

Kraftquellen im Arbeitsalltag – Interview mit Sigrid Pfäfflin

3.3 Die neue Mit-Kultur – von der Langzeitpflege zur End-of-Life Care

Orte der Verständigung schaffen – Interview mit Thomas Mäule am 5. August 2020

3.4 Die Buurtzorg-Familie – von der Dienstgemeinschaft zur Sorgegemeinschaft

Das Markenversprechen einlösen – wie Mitarbeitende Diakonie erfahren Interview mit Veronika Drews-Galle

3.5 Fragmente der Vergangenheit – Impulse für morgen?

Gastfreundschaft und Tischgemeinschaft – Interview mit Günter Tischer

4   Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

4.1 Gemeinschaften brauchen einen Ort

4.2 Dritte Orte – Gemeinde im Quartier

Sorgende Gemeinde und Netzwerklogik im Sozialraum – Interview mit Steffen Merle

4.3 Mit allem Sinnen – Kirche als Agentur für Inklusion

4.4 Gemeinde als Familiaritas – Wahlfamilien in der Single-Gesellschaft

4.5 Mit Grenzen leben – Gemeinschaft der Lebenden und der Toten

4.6 Erinnerungen teilen – Kirche als Erzählgemeinschaft

5   Das Eingemachte – was für die Zukunft stärken kann

5.1 Kirchengemeinschaft im Wandel

5.2 Die Werkstatt für himmlische Gesellschaft – weltweit vor Ort

5.3 Alleine einzigartig, gemeinsam stark – Gemeinde von Schwestern und Brüdern

5.4 Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und Kirche

Literatur

Danke

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft – Vorwort von Bischöfin Beate Hofmann

»Die Gemeinschaft« – das habe ich oft als Antwort auf die Frage gehört: »Was war für Sie wichtig bei diesem Seminar oder bei dieser Freizeit?« Einhellig kam dieses Stichwort aus dem Mund von Jugendlichen nach Freizeiten, von Eltern nach einer Familienfreizeit oder von Pflegekräften nach einem Seminar über Erfahrungen in der diakonischen Arbeit.

Erfahrungen von Gemeinschaft sind wertvoll und sie sind nicht mehr selbstverständlich, gerade in Zeiten einer Pandemie, die uns in soziale Distanz zwingt. Doch der Begriff »Gemeinschaft« ist schillernd: Was bei den einen für schöne Erinnerungen und glänzende Augen sorgt, ist für die anderen eher mit Stress und Zwangserfahrungen verbunden. Gemeinschaft kann auch Individualität rauben und einengen, politisch missbraucht werden oder zum Mantra von sich nach außen abschließenden Gruppen und Kreisen werden.

Was ist Gemeinschaft, was macht Gemeinschaft aus? Wie sozial und solidarisch ist Gemeinschaft? Inwiefern ist Gemeinschaft ein unverfügbares Geschenk, etwas, das sich ereignet? Inwiefern ist sie gestaltbar? Wo entstehen durch aktuelle Entwicklungen wie die Coronapandemie neue Formen von Gemeinschaft und was haben Diakonie und Kirche damit zu tun? Wie können Gemeinden an unterschiedlichen kirchlichen Orten als communio sanctorum, als Gemeinschaft der Heiligen, konkrete Erfahrungen von Gemeinschaft ermöglichen und beleben? Und welche Rolle und Zukunft haben diakonische Gemeinschaften als eine besondere Form der gemeinsam gestalteten Spiritualität und sozialen Verantwortung?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieses Buch. Diese Fragen haben Cornelia Coenen-Marx und mich vor 20 Jahren zusammengeführt. Es ging damals um die Diakonissen und Diakonischen Gemeinschaften in Neuendettelsau und Kaiserswerth. Diese alt gewordenen Gemeinschaften werden kleiner und sie verändern sich, weiten sich und gewinnen jüngere Menschen für den Diakonat.

In den letzten Jahren sind es die »Caring Communities«, die uns beschäftigen, als Sorgenetze in den Quartieren, in den Städten und Dörfern. Sie wurden gerade jetzt, in der Coronakrise, zu einem hochaktuellen Thema. Und sie sind in vielfältiger Weise verwandt mit den »Sorgenden Gemeinschaften« des 19. Jahrhunderts, die in Kaiserswerth und Neuendettelsau ihren Ursprung haben.

Welche Impulse ähnlich sind und was sich verändert hat, darum geht es in diesem Buch. Aber auch um die Frage, wie unsere Zeit mit Globalisierung, Digitalisierung und Mobilität unser Zusammenleben und den Zusammenhalt herausfordert. Und was die gesellschaftlichen Veränderungen mit unseren Gemeinschaften machen – in Familie, Schule, am Arbeitsplatz und eben auch in der Kirche. Es gibt neue Entdeckungen in diesem Feld, die uns optimistisch stimmen können.

Die Erfahrungen des »Lockdowns« in Deutschland haben unseren Alltag und unseren Fokus verändert. Wir haben eine neue Konzentration auf das Wesentliche erlebt; die Entschleunigung ließ viele Menschen sehr intensiv über ihr Leben nachdenken; vielen wurde bewusst, worauf es wirklich ankommt. Gleichzeitig brachte diese Zeit an vielen Stellen Ungerechtigkeiten und Defizite in unserer Gesellschaft zum Vorschein, die uns weiter beschäftigen müssen.

Corona hat zu massiven Ausgrenzungen geführt – z. B. im Blick auf Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die im Homeschooling erschwerte Bedingungen haben. In vielen Familien wurden Frauen deutlich stärker mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie belastet; Alleinerziehende gerieten in sehr schwierige, oft überfordernde Situationen; pflegende Angehörige kamen an ihre Grenzen und wurden alleingelassen. Das führt zu einem neuen Nachdenken über die Verletzlichkeit von Leben und das, was Leben ausmacht. Solche Fragen wurden auch im Blick auf die Menschen gestellt, die in Pflegeeinrichtungen und Hospizen leben und von der Außenwelt und ihren Familien isoliert wurden, um ihr Leben zu schützen. Das alles hat in bisher kaum gekannter Schärfe gezeigt, wie wichtig Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit für unser Leben sind. Die Coronapandemie hat uns aber auch deutlich vor Augen geführt, dass nicht nur Wirtschaftszweige und Banken »systemrelevant« sind, sondern auch »Care-Arbeit«, also die Pflege und Begleitung von Kindern, kranken, behinderten oder alten Menschen. Diese Sorgearbeit ist das Geflecht, das die Gemeinschaften zusammenhält.

Die Coronapandemie hat uns auch als Kirche vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Wie gestalten wir Gemeinschaft in sozialer Distanz? Wie feiern wir Gottesdienst, wenn wir uns nicht in Kirchen versammeln können und vor allem: nicht singen können? Wie feiern wir Abendmahl? Wie gestalten wir kirchenmusikalische Arbeit und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unter Pandemiebedingungen? Wie unterstützen wir die, die durch Corona besonders betroffen sind?

Neben viel Verunsicherung, Schmerz und Hilflosigkeit hat die Pandemie auch viel Kreativität freigesetzt. So sind Sorgenetze verstärkt oder weitergeknüpft worden. Viele neue Kontaktflächen zu Menschen, die bisher nicht in unsere Kirchen kommen, haben sich entwickelt. Die Pandemie hat aber zugleich die demokratischen Prozesse und Möglichkeiten der Teilhabe beschränkt, Formen der kreativen Beteiligung und Beratung behindert und vor allem Gemeinschaftserfahrungen verhindert. Zugleich hat die Krise mit der Digitalisierung einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess beschleunigt, dessen Auswirkungen noch nicht genau absehbar sind, die aber vielerorts neue Wege der Gestaltung von Gemeinschaft eröffnet haben. Noch misstrauen viele vor allem aus dem Bereich der Kirchen der Qualität digitaler Gemeinschaft. Kann das genauso real sein und tragen wie analoge Treffen und Gespräche?

Diese Fragen und Erfahrungen zeigen: Corona hat uns den Stellenwert von Gemeinschaft neu vor Augen geführt, aber auch viele neue Fragen aufgeworfen rund um das, was Gemeinschaft ausmacht, wie sie gestaltet und zu einem sozialen Sorgenetz werden kann.

Dieses Buch verknüpft ganz unterschiedliche Perspektiven auf Gemeinschaft miteinander und bietet damit eine gute Basis und viele Ideen für alle, die mitknüpfen wollen an Sorgenetzen, die als »Caring Communities« erlebt werden.

Kassel, am 1. Advent 2020

Prof. Dr. Beate Hofmann,Bischöfin der Evangelischen Kirchevon Kurhessen-Waldeck

 

»Noch hallen die Heilsbotschaften im Raum: Du hast es in der Hand, Du bist Deines Glückes Schmied, Du kannst mit Deinem Willen die Wirklichkeit kreieren. So pfiffen es die Spatzen von den Dächern. Nein, nicht die Spatzen, sondern die Spatzenhirne mancher Coaches …, die uns weismachen wollten, eine jede und ein jeder hätte die Verfügungsmacht über das, was sie ›mein Leben‹ nennen. Die Wahrheit aber sieht ganz anders aus. Die Wahrheit, die Corona lehrt, macht ein für alle Mal deutlich: Niemand ist der Herr und Meister seines eigenen Lebens. Alle sind unauflöslich eingebunden in ein umfassendes Netz des natürlichen und des sozialen Lebens, das wir weder mit unserem Narzissmus ignorieren noch mit unserem Egoismus dominieren können. Das Gebot der Stunde lautet: Interaktion, Solidarität, Miteinander.«

Aus: Christoph Quarch (2020): Neustart. Fünfzehn Lehren aus der Corona-Krise. Legenda.

1»Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

1.1 Einsamkeit – wie Corona die Gemeinschaft neu fokussiert

»Wenn Menschen in schweren Zeiten soziale Nähe und Hilfe erfahren, kann das die negativen Auswirkungen der Krise abfedern. Es geht um Dinge wie Nachbarschaftshilfe, ob Freunde oder Familien sich um einander kümmern, wie eng diese Bindungen in einer Gesellschaft sind. Diese sozialen Faktoren werden gern unterschätzt, sie entscheiden aber maßgeblich darüber, ob es uns gutgeht oder nicht. Sie kommen direkt hinter den Faktoren Gesundheit und finanzielle Lage«,

sagte Jan-Emmanuel De Neve, Ökonom in Oxford.1 Im Coronajahr 2020 haben wir die Bedeutung von Gemeinschaft ganz neu entdeckt. Ich denke an die Einsamkeit im Homeoffice, die leeren Kirchen bei abgesagten Gottesdiensten, geschlossene Gaststätten und Clubs, aber auch an die vielen Quartiersinitiativen, die neu entstanden sind, die Einkaufshilfen, Telefonketten und Briefaktionen in Nachbarschaften und Kirchengemeinden. In der Ellenbogengesellschaft wurde das Herz wiederentdeckt. Und auch der neu erfundene Ellenbogengruß zeigt: Wir haben Sehnsucht nach Berührung, nach Gemeinschaft.

»An Einsamkeit stirbt man bloß länger als an Corona«, sagt Elke Schilling. Die 75-Jährige hat den Telefondienst »Silbernetz« gegründet, der sich inzwischen mit einem ganzen Team an einsame Ältere richtet. In der Krise haben sie sich bundesweit aufgestellt. Der Dienst ist nachgefragt wie nie zuvor. Und Elke Schilling hat sich auch vom Lockdown nicht abhalten lassen, ins Büro zu gehen. Auch wenn sie über 70 ist – sie wird gebraucht.

In Deutschland leben ca. 38 Prozent der über 70-Jährigen allein – meist können sie in Alltagsproblemen nicht auf Familie und Freund*innen zurückgreifen.2 Nur noch ein Viertel der befragten Älteren lebt mit den eigenen Kindern am gleichen Ort. Zwar haben die allermeisten Familien wöchentlich Kontakt zueinander – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-Jährigen immer seltener praktische Hilfe bei Einkäufen, kleinen häuslichen Diensten, Fahrten zum Arzt.3 Nachbarschaftsnetzwerke werden deshalb wichtiger; die Internetplattform »nebenan.de« zum Beispiel ist in der Krise rasant gewachsen.

In Großbritannien wurde im Jahr 2018 ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme oder Depressionen verschlechtern sich, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. Deshalb gibt es dort inzwischen die Möglichkeit, soziale Angebote auf Rezept zu verschreiben. Ein Konzert, eine Wanderung mit anderen, einen Chor. Wissenschaftler*innen haben berechnet, dass sich auf diese Weise Termine beim Hausarzt und Krankenhausbesuche um 20 Prozent reduzieren.4

Dass Einsamkeit krank machen kann, zeigen auch Untersuchungen zum Kontaktverbot während der Coronapandemie. Dabei war die psychische Belastung nicht etwa bei den alten, sondern bei den jungen bis mittelalten Menschen zwischen 20 und Ende 40 besonders groß.5 Ihnen fehlten die gewohnten Möglichkeiten des Austauschs bei der Arbeit oder im Sport. Ärzt*innen sprechen inzwischen von einer deutlichen Zunahme von Depressionen.

1.2 Neue Erfahrungen – der Kampf um gemeinsame Zeit

»Disembedding« ist eine Schlüsselkategorie der Moderne.6 Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biografien wie für Berufswege. Die allermeisten Menschen wohnen nicht an dem Platz, an dem sie arbeiten, sie wechseln Wohnort und Arbeitsplatz, aber auch Familienkonstellation und Lebensform oft mehrfach im Leben. Single zu sein, ist inzwischen eine Lebensform genauso, wie alleinerziehend zu sein. Und auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen und für viele ist das der selbstverständliche Preis für Beruf und Karriere. Mit Mobilität und Digitalisierung haben wir zusätzliche Freiheit gewonnen – aber mit der Freiheit auch Einsamkeit und neue Unsicherheit.

Kein Wunder, dass Familie hoch im Kurs steht. Viele sehnen sich nach einem Raum der wechselseitigen Fürsorge und Entlastung, nach Geborgenheit und Sicherheit. Wenn allerdings die äußeren Rahmenbedingungen mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt halten, geraten Familien in Zerreißproben. Auch das konnten viele während der Pandemie erleben. Plötzlich fehlten die Großeltern, die sonst einsprangen, wenn das labile Gleichgewicht des Alltags aus dem Tritt geriet. Oder die pflege- und hilfebedürftigen Eltern waren zu weit weg, um unter Coronabedingungen kurz nach ihnen zu schauen. Die studierenden Kinder im Ausland konnten nicht mehr kommen und sogar Paare blieben an den Grenzen getrennt.

Der Kampf um gemeinsame Zeit gehört neben der finanziellen Absicherung zu den größten Sorgen der Familien.7 Die Zeitrhythmen von Arbeit, Wirtschaft, Schule, Freizeit sind kaum noch kompatibel. Gemeinsame Mahlzeiten, freie Stunden am Wochenende, selbst Familienbesuche müssen angesichts der vielfältigen Anforderungen oft langfristig geplant werden. Dabei lebt Familie von Kontinuität, von Rhythmen und Ritualen, die die gemeinsame Identität prägen. Die »Inszenierung« der gemeinsamen Zeit spielt eine Rolle, die weit über das rationale Verstehen hinausgeht und alle Sinne anspricht: Die besondere Atmosphäre eines Sonntagsfrühstücks, die Fahrt in den Urlaub, der festliche Osterbrunch mit den bunt gefärbten Eiern, das Lichterfest mit Weihnachtsbaum und Krippe machen auch den Kleinen deutlich, dass wir gerade eine »andere Zeit« feiern. Genauso ist es mit runden Geburtstagen und schließlich mit den »Nachfeiern« bei einer Beerdigung, in denen Geschichte erfahrbar wird.

Was die Veränderung der Familienstrukturen für die Gestaltung von Familienfesten und -traditionen und damit für die religiöse Sozialisation bedeutet, wird erst allmählich sichtbar. Auch das war während der Coronakrise wie im Brennglas zu sehen. Lange geplante Familienfeste, Taufen, Hochzeiten und Konfirmationen mussten verschoben werden, Beerdigungen fanden im ganz kleinen Kreis statt und noch ist nicht klar, ob die alten Traditionen zurückkehren. Manchmal, wenn sich die Öffentlichkeit über die »Großhochzeiten« von Migrantenfamilien erregte8, tauchte wie im Spiegel die Sehnsucht nach diesem bunten Geflecht unseres Lebens auf. Wie in jeder Krise wurden aber auch neue Möglichkeiten entdeckt: Konfirmationen im eigenen Garten, Taufen am Fluss oder am Strand, Abendmahlsfeiern in der kleinen Hausgemeinde. Neue, sehr persönliche Rituale – religiöse und auch säkulare. Ein Spieleabend mit der ganzen Familie, eine Familienkonferenz mit den erwachsenen Kindern – digital, aber nach langen Jahren zum ersten Mal.

»Der moderne Individualismus steht meines Erachtens nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen. […] Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt«,

schreibt der Soziologe Richard Sennet in seinem Buch über Kooperation, in dem er darstellt, wie die Fliehkräfte des Marktes und die ökonomische Funktionalisierung nicht nur Familien in Zerreißproben bringen, sondern auch die Zusammenarbeit im Betrieb oder in Vereinen schwächen.9 Denn alle Gemeinschaften brauchen Kontinuität und Vertrauen. Umgekehrt entsteht hier das (Ur-) Vertrauen, das Gesellschaften auch in Krisen zusammenhält, ein Mehrwert, der ökonomisch nicht zu berechnen ist. Das große Gewicht von Berufskarrieren in unserer Erwerbsgesellschaft, die mangelnde Wertschätzung von Erziehungs- und Pflegearbeit, die wachsende Bedeutung von Bildungsabschlüssen implementieren die Fliehkräfte von Markt und Wettbewerb in die Familien.

In welchem Maße umgekehrt grundlegende Familienerfahrungen unseren Alltag in Beruf, Politik und Freizeit prägen, habe ich in einem Seminar über diakonische Kultur erlebt. Um ein Symbol für das Miteinander gebeten, brachten zwei Teilnehmende Fotos von großen Tischen mit: »Solange Zeit genug für Teambesprechungen ist, solange der persönliche Austausch gelingt, können wir auch den stressigen Alltag bewältigen«, sagte eine von ihnen. Die Coronakrise hat gezeigt, dass man mit Skype, Zoom und Co. gut Kontakt halten und in Webkonferenzen Sachfragen klären kann. Aber Konflikte zu klären oder neue Mitarbeiter*innen einzuarbeiten, ist digital deutlich schwieriger. Die mobile Arbeitswelt ist fluide – auf schnelle Wechsel eingestellt, bietet sie wenig Halt. Wer ausbrennt, hat dann anscheinend ein »persönliches Problem« – nur wo ist der Resonanzraum, die Gemeinschaft, die die Einzelnen trägt?

1.3 Fürsorge – das Beziehungsgeflecht des Miteinanders

Die Kommission für den Siebten Familienbericht der Bundesregierung hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass ein Care-Defizit droht, sollte es nicht gelingen, den absoluten Vorrang ökonomischen Denkens infrage zu stellen.10 Nicht nur die demografischen Folgen – Geburtenrückgang und die sogenannte Überalterung – sind bedrohlich, sondern auch das Schwinden der privaten und informellen Wohlfahrtsökonomie, die in Familie, Nachbarschaft und Gemeinden nach wie vor die Grundlage des professionellen Hilfesystems ist. Wer Beruf und Familie vereinbaren will und muss, ist heute auf ein breites und differenziertes Dienstleistungsangebot in den Quartieren angewiesen.

Was es für Familien bedeutet, wenn Kitas und Tagespflege plötzlich schließen, haben im Coronajahr (2020) viele erlebt. Dabei wurde die Spaltung zwischen mobilen Bildungsgewinner*innen und immobilen »Abgehängten« überdeutlich. Wer als Fachkraft im Homeoffice arbeiten und die eigene Zeit frei gestalten konnte, sah darin vielleicht auch eine Chance, das Familienleben neu zu gestalten. Verkäuferinnen aber und sogar Pflegekräfte mussten oft kürzertreten, wenn Kitas und Schulen geschlossen waren. Und wer selbst Probleme mit der IT oder der deutschen Sprache hatte, sah sich überfordert, als Haus- oder Nachhilfelehrer*in für die eigenen Kinder zu fungieren. Inzwischen ist jedem klar, dass erheblicher Nachholbedarf bei der Digitalisierung der Schulen besteht. Aber Digitalisierung kann nicht alle Probleme beheben. Neue Laptops integrieren die Zurückgelassenen nicht, Pflegeroboter beseitigen nicht den Fachkräftemangel auf dem Land und ein »SmartHome« ersetzt keine lebendige Nachbarschaft – trotz des verführerischen Slogans, das SmartHome sei »das Zuhause, das sich kümmert«.

»Kümmerer« und Sorgende Gemeinschaften sind deshalb zu einem Topthema der Sozialpolitik geworden. Darin gleicht unsere Situation der des 19. Jahrhunderts, als angesichts von Industrialisierung und Migration die Familien überlastet waren und Bindungen zerrissen. Im August 1840 gründeten hannoversche Bürgerinnen auf Initiative von Ida Arenhold den »Frauenverein für Armen- und Krankenpflege«. Inspiriert von Amalie Sieveking und Johann Hinrich Wichern in Hamburg wollte der Frauenverein der wachsenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten in der Industrialisierung begegnen. Die bürgerlichen Frauen gingen selbst in die Häuser, kümmerten sich um Lebensmittel und Brennmaterial, sorgten für die rechtzeitige Reparatur von Kleidern und Schuhen, achteten auf den Schulbesuch der Kinder und sorgten dafür, dass die Frauen Beschäftigung fanden – in Nähstuben, Strickvereinen, als Dienstboten. »Hilfe zur Selbsthilfe« war das tragende Prinzip – ganz ähnlich wie beim »Elberfelder System«11, in dem kommunale Koordinationsstellen das Ehrenamt in den Quartieren unterstützten.

Heute kehren die Modelle in vielfältiger Form zurück. Von den Tafeln bis zu den Nähstuben, den Werkstätten und Tauschbörsen. Gleichzeitig entstehen neue Formen zivilgesellschaftlicher Netze: Hospizgruppen, Frühfördernetze, Mehrgenerationenhäuser und Seniorenwohngemeinschaften. Die »Caring Communities« sind zum internationalen Leitbegriff geworden, wenn es darum geht, auf regionaler und lokaler Ebene Verantwortungsstrukturen neu zu beleben. Für Menschen mit Behinderung, Kinder aus Armutsfamilien und demenzkranke Ältere, für Sterbende und Geflüchtete. Es geht um ein neues gesellschaftliches Gegengewicht. Angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, angesichts der zunehmenden Individualisierung und der Zunahme überforderter Familien stehen die Sorgenden Gemeinschaften für wechselseitige Unterstützung und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung.

1.4 Wahlfamilien – Kirche als Gemeinschaftsagentur

Die Apostelgeschichte erzählt, dass schon die ersten christlichen Gemeinden Caring Communities waren. Güter wurden geteilt, Kranke besucht, für alle gemeinsam wurde der Tisch gedeckt (Apostelgeschichte 2,42 ff.). Diese sorgenden Gemeinschaften hatten hohe Anziehungskraft für Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Milieus – so wie im 19. Jahrhundert die Brüderhäuser und Diakonissenmutterhäuser. Auch dort lebte man Gemeinschaft, um Gemeinschaft zu stiften – auf Krankenstationen, in Wohnquartieren und Rettungshäusern. Gemeinschaft wächst in diesem Beziehungsgeflecht – zwischen Helfer*innen und Hilfebedürftigen wird Sinn erfahren, Menschsein erlebt und erlernt. Ganz wie in einer Familie. Die starke Orientierung der Kirche an der Kleinfamilie allerdings hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass es zu wenig Angebote für diejenigen gibt, die in anderen Lebensformen leben. Gerade Singles fühlen sich oft ausgeschlossen, Alleinerziehende fühlen sich nicht gemeint, weil sie der Norm nicht entsprechen.12 Die »uniformierten« Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts mit Diakonissenzölibat und Tracht sind darin leider kein Vorbild für unsere Zeit. Dabei begann die christliche Gemeinde mit Wahlfamilien – Christ*innen, die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst hatten und nun in den Gemeinden eine neue Familiaritas13 fanden. Füreinander waren sie Brüder und Schwestern, Mütter und Väter – so wie bis heute Menschen Wahlfamilien in Wohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäusern oder auch an Mittagstischen bilden.

Vor 35 Jahren hat der Sozialpsychiater Klaus Dörner mit seinem Konzept vom dritten Sozialraum für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden geworben. Ihm ging es um die die Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement. Kirchengemeinden, so seine Hoffnung, könnten wieder Caring Communities werden. Die Älteren, die die Gemeinden oft prägen, sind stärker ortsgebunden; sie engagieren sich in Vereinen – wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden –, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften, in der Kommunalpolitik. Sie haben oft starke Netzwerke am Ort, kennen Menschen aus ganz verschiedenen Zusammenhängen und können vielfältige Erfahrungen in ihr Engagement einbringen. Ich denke an ehrenamtliche Kirchenpädagog*innen, Menschen, die Friedhöfe erhalten, Ortsgeschichte schreiben und Besuchsdienste übernehmen, Lesepat*innen und Leihomas und -opas, an Stifter*innen – materiell wie immateriell gibt es ein reiches Erbe weiterzugeben. Angesichts des wachsenden Drucks, der in der Phase von Berufseinstieg, Karriere und Familiengründung auf den Jüngeren lastet, können die Älteren ihre Zeit und ihre Freiheit einbringen, um den fragilen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken. Die Zivilgesellschaft lebt von den 55–69-Jährigen. Als während des Frühjahrs-Lockdowns Tafeln und Schulen geschlossen wurden, wurden die Älteren jedoch gebeten, zu Hause zu bleiben, und manche fühlten sich einfach vergessen.

Andere engagierten sich mit neuen Ideen: »In der Kirchengemeinde haben wir zu Ostern eine Kerzenaktion für Alleinlebende durchgeführt mit einer Osterbotschaft dazu«, sagt Ilse G.: »Das hat offenbar viele positive Reaktionen hervorgerufen. Aber danach haben wir von der Gemeinde nichts mehr gehört. Das war arg.« Offenbar wird das Engagement der Älteren nicht angemessen gewürdigt. Dabei waren gerade die Älteren krisenerfahren genug, während der Pandemie auf neue Weise Gemeinschaft zu stiften. Vor den Altenzentren und auf Balkonen wurde musiziert. Und in vielen Gemeinden verteilten Ehrenamtliche Oster- und Adventsgrüße: Andachtspäckchen für daheim mit Kerze, Spruchkarte, Gebäck und einem Liedblatt.

Gemeinschaft im Social Distancing – wie ist das möglich? In den Kirchen wird die Frage am Beispiel des Abendmahls heftig diskutiert. Schließlich geht es dabei um leibliche Gemeinschaft – in der Gemeinde, mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus. Lässt sich diese sinnlich-leibliche Nähe am Laptop im eigenen Wohnzimmer erfahren? Vielleicht. In den Altenheimen, Krankenhäusern und Hospizen, in denen die Türen verschlossen waren, war oft nicht einmal das möglich. Dabei sind gerade sterbende oder demenzkranke Menschen auf Nähe und Umarmung angewiesen. Christus ist Fleisch geworden, sagt das Johannesevangelium (Joh 1,14). Die wohldurchdachten Begegnungszelte, Glasabtrennungen, Tablets sind da keine Antwort. Aber immerhin halten sie die Wunde offen, die unserer »berührungslosen Gesellschaft«14 erst jetzt bewusst wird. Vielleicht steckt darin eine Chance, wieder neu zu begreifen, was es heißt, dass wir verletzlich und angewiesen sind – angewiesen auf Gemeinschaft. Eigentlich berühre Religion ja immer die Verlorenheit des Menschen, seine Hilflosigkeit, meint Matthias Horx: »Aber in dieser Krise sind eher die Krankenschwestern die Engel, Mediziner oder Laborforscher die Götter und die Virologen die Deuter.«15 Es geht ans Eingemachte.

1.5 »Gemeinschaft der Schwestern und Brüder« – Traditionen zwischen Selbstkritik und Kraftquelle

»Wie wollen wir leben, um die Zerbrechlichkeit zu verringern, die wir erlebt haben? Wie können wir dauerhaft neue Formen des Zusammenlebens finden, in denen Individualität und Gemeinschaft möglich sind?«, fragt Matthias Horx.16 Lässt sich etwas aus den großen Traditionen der Gemeinschaftsdiakonie lernen? Dieses Buch geht in seinem mittleren Teil der Geschichte der Gemeindeschwestern und ihrer Quartiersarbeit nach, fragt nach den Traditionen des gemeinsamen Dienstes in den Schwestern- und auch den Bruderschaften und der Rolle sorgender Gemeinschaften in modernen Sozialunternehmen. Welchen Anteil haben die kirchlichen Träger an den aktuellen Problemen der Ökonomisierung und Vermarktlichung? Was kann Diakonie dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft den Wert der Gemeinschaft dauerhaft neu entdeckt? Und welche sozialpolitischen Veränderungen sind nötig, um weitere Spaltungen zu vermeiden und die Sorgekräfte zu stärken?

Die Erosion der traditionellen diakonischen Gemeinschaften ist eng mit der Geschichte von Frauenbewegung, Pflege und Sozialarbeit verknüpft. Neben Bildungsaufbrüchen und gesellschaftlichen Emanzipationsimpulsen gehörten auch die politische Indienstnahme während des Nationalsozialismus und die ökonomische Abwertung der »weiblich« konnotierten Care-Arbeit dazu. Die Schattenseiten, die damit verbunden waren, müssen unser Verständnis von Gemeinschaft grundlegend verändern – weg von einer funktionalen, auf Anpassung und »Gleichschaltung« ausgerichteten Definition von Gemeinschaft hin zu einer vielfältigen, offenen Gemeinschaft der Ungleichen, die sich gerade im Austausch mit dem »Anderen« immer neu erfindet. Weg von der sozialpatriarchalen Prägung der Gemeinschaftseinrichtungen hin zu einem offenen Miteinander mit Pflegebedürftigen, Bewohner*innen, Angehörigen und Ehrenamtlichen. Wie notwendig das ist, wurde bei der Schließung von Heimen in diesem Coronajahr deutlich wie selten: Selbstbestimmung als Voraussetzung für eine offene Gemeinschaft geriet unter die Räder. Kapitel 3 beschreibt noch einmal, wie das geschehen konnte, und zeigt zugleich, wie ein neues Verständnis von Sorgearbeit als Selbstsorge und Mitsorge Teams und Einrichtungen verändern kann. Die Interviews mit Gemeinschaftsmitgliedern machen deutlich, was das für die Entwicklung von Gemeinschaften bedeutet. Welche Impulse können von neuen Unternehmens- und Beratungskonzepten wie »Buurtzorg«17 oder dem »circle of seven«18 ausgehen?

Letztlich sind solche Beobachtungen mit der Frage verbunden, in welchem Maße Gemeinschaft machbar und gestaltbar oder eben unverfügbar ist. Die Frage rührt ans »Eingemachte« der Kirchen und ihrer Angebote. Wie kann es gelingen, Kirche als inklusive Gemeinschaft und Wahlfamilie der verschiedenen Generationen, als Tischgemeinschaft, Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft zu stärken? Welche Chancen bieten dabei die digitalen Medien? Und welche Rolle spielen die exklusiven Gemeinschaftssymbole der Kirchen –Taufe und Abendmahl, die uns leiblich erfahren lassen, dass wir Teil einer grenzüberschreitenden Gemeinschaft der Lebenden und Toten sind? Ist es möglich, Menschen in dieses Geheimnis einzuführen, ohne die Grenze zu schließen zwischen »innen« und »außen«, Mitgliedern und Suchenden? Wie also werden die alltäglichen Tischgemeinschaften durchlässig für den auferstandenen Christus? Wenn es wahr ist, dass die Gemeinschaft der Heiligen in den Brüchen unserer alltäglichen Gemeinschaften aufleuchtet, dann gilt es, auf diese Brüche zu achten und wachsam zu bleiben. Das Leuchten bleibt unverfügbar wie die Nordlichter, wir haben es nicht in der Hand, aber wir können damit rechnen.

Das Coronajahr hat die Kirchen herausgefordert, zu klären, wie die Schätze aus Evangelium und Tradition helfen können, aus der Vereinzelung herauszufinden. Der Weg, auf den das Buch einlädt, geht von den Alltagserfahrungen in Familien und Quartieren, an Schulen und Arbeitsplätzen aus, wo während der Coronakrise die Bedeutung von Gemeinschaft erkennbar wurde. Über die Tradition der Gemeinschaftsdiakonie und die aktuellen Probleme und Herausforderungen in der Pflege führt er zu einem kritischen Blick auf das historische und sozialpolitische Framing unserer Gemeinschaftsbilder und fragt schließlich, was Kirche und Diakonie heute zum Gemeinwesen beitragen können. Gelungene Beispiele und Interviews mit »Pionier*innen« sollen Mut machen, überholte Muster hinter sich zu lassen. Wir brauchen Menschen, die anderen zeigen, wie wir in den Brüchen unseres Lebens die Augen für das Ganze offenhalten können.

1 Weiguny, Bettina (2020): Wie steht’s ums Glück? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.03.2020. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wie-steht-s-ums-glueck-in-corona-zeiten-16690523.html (Zugriff am 11.12.2020).

2 Vgl. https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/Bilder/L75-Einpersonenhaushalten-Alter-West-Ost-ab-1950.html (Zugriff am 05.01.2021).

3 Mahne, Katharina/Huxhold, Oliver (2016): Nähe auf Distanz. Bleiben die Beziehungen zwischen älteren Eltern und ihren erwachsenen Kindern trotz wachsender Wohnentfernungen gut? In: Mahne, Katharina/Wolff, Julia K./Simonson, Julia/Tesch-Römer, Clemens (Hg.): Altern im Wandel. Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS) (S. 215–230). Wiesbaden, S. 223. https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-658-12502-8#toc (Zugriff am 05.01.2021).

4 Hahn, Marten (2019): Spaß auf Rezept. Soziale Medikation in Großbritannien, Deutschlandfunk, 27.12.2019. https://www.deutschlandfunk.de/soziale-medikation-in-grossbritannien-spass-auf-rezept.795.de.html?dram:article_id=455906 (Zugriff am 16.12.2020).

5 Vorauswertung der NAKO-Gesundheitsstudie, vgl. Steppat, Timo (2020): Deutsche deutlich depressiver im Frühjahrs-Lockdown. Studienleiter im Interview. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.10.2020. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/wie-es-um-die-psychische-gesundheit-der-deutschen-steht-17017842.html (Zugriff am 14.12.2020).

7 Schneider, Regine/Largo, Remo H. (2020): Zusammenleben – Die Sehnsucht nach Gemeinschaft. MDR Kultur Spezial, 11.08.2020. https://www.mdr.de/kultur/radio/ipg/sendung-581612.html (Zugriff am 05.01.2021).

8 Vgl. Korfmann, Matthias (2020): Corona. Wie konnte die Groß-Hochzeit unbemerkt bleiben? WAZ, 24.09.2020. https://www.waz.de/politik/landespolitik/corona-wie-konnte-die-gross-hochzeit-unbemerkt-bleiben-id230487408.html (Zugriff am 05.01.2021).

9 Sennet, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin, S. 374.

10 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2012): Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik. Achter Familienbericht. Berlin, S. 68. https://www.bmfsfj.de/blob/93196/b8a3571f0b33e9d4152d410c1a7db6ee/8--familienbericht-data.pdf (Zugriff am 05.01.2021).

11 Deimling, Gerhard (2003): 150 Jahre Elberfelder System. Ein Nachruf. Geschichte im Wuppertal, 12, S. 46–57.

12 Künkler, Tobias/Faix, Tobias/Weddigen, Johanna (2019): Christliche Singles. Wie sie leben, glauben und lieben. Holzgerlingen.

13 Familienbeziehungen, die nicht über »Blutsverwandtschaft«, sondern über Wahlverwandtschaft begründet sind. Von Familiaritas spricht man auch bei den »Laiengemeinschaften«, die sich mit einer gewissen Verbindlichkeit rund um Klostergemeinschaften sammeln – ohne den strengen Gelübden der Ordensgemeinschaft zu unterliegen.

14 Thadden, Elisabeth von (2018): Die berührungslose Gesellschaft. München.

15 Horx, Matthias (2020): Die Zukunft nach Corona. Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert. Berlin, S. 19.

16 Horx 2020, S. 66.

17 Buurtzorg (o. J.): The Buurtzorg Model. https://www.buurtzorg.com/about-us/buurtzorgmodel/ (Zugriff am 14.12.2020).

18 Scharmer, C. Otto (2008): Theorie U. Von der Zukunft her führen. Precensing als soziale Technik. Heidelberg. S. 162.

2Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

2.1 Zusammenhalt gegen Fliehkräfte – die digitale Single-Gesellschaft

»Was wärst du lieber: arm mit vielen Freunden oder reich und allein?« Das hat kürzlich ein Elfjähriger seinen Stiefvater gefragt. »Keine Frage«, sagte der: »Freunde sind das Wichtigste; denn Einsamkeit ist schlimmer als Armut.« Aber für den Elfjährigen war das durchaus eine Frage. Der Journalist, der die Geschichte mit seinem Stiefsohn im britischen »Guardian«19 erzählte, war merklich irritiert. Der Junge wollte nämlich lieber reich sein. Freunde, meinte er, wären doch leicht zu finden – auf YouTube, Facebook und Co. Der Artikel ging der Frage nach, wie die Mediengesellschaft unsere Beziehungen verändert. Tatsächlich sagt ein Viertel der Jugendlichen20, sie fühlten sich dank des Internets nie allein21 – bei den Älteren sagen das nur 6 Prozent. Die eigenen Gefühle auch über elektronische Medien mitzuteilen, ist für die »Digital Natives« normal. Es ist jederzeit möglich, sich mit anderen auszutauschen. Zugleich aber geben 17 Prozent der Deutschen an, dass sie sich regelmäßig einsam fühlen.22

Die Lebenswelten differenzieren sich immer mehr aus, die gesellschaftlichen Gräben vertiefen sich, die Fliehkräfte, die die Globalisierung antreibt, sind kaum noch zu zügeln. Nicht wenige würden sagen, dass dazu die Phase des Neoliberalismus beigetragen hat, in der staatliche Regulierung zurückgenommen wurde, um die Dynamik der Märkte zu entfachen. Andere sehen einen Grund in der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt, der Emanzipation von Minderheiten, der zunehmenden Individualisierung, die zu einer »Gesellschaft der Singularitäten«23 geführt habe. Aus dem begründeten Respekt für die sozialen Bürgerrechte aller sei blanker Egoismus geworden, der Institutionen und Regeln des Zusammenlebens nicht mehr respektiert. Stehen wir also am Ende des Neoliberalismus mit seiner Polarisierung zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen, den Hochqualifizierten in der Wissensökonomie und den Niedrigqualifizierten im Dienstleistungssektor, zwischen Metropolen und schrumpfenden Regionen, wie der Soziologe Andreas Reckwitz meint? Gefragt sei eine bessere öffentliche Infrastruktur, eine Verringerung der Schere zwischen Arm und Reich, kurz: eine »Rekonstruktion des Allgemeinen im Sozioökonomischen wie im Kulturellen«.24

In manchem gleicht unsere Situation der des 19. Jahrhunderts, als sich die westliche Gesellschaftsordnung vor dem Hintergrund der Industrialisierung rasant wandelte. Der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi, der dies 1944 am Beispiel Englands untersuchte, sprach von der »Großen Transformation«.25 Mit dem Beginn des Industriezeitalters kam es zu tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen – zur Herausbildung von Marktwirtschaften und Nationalstaaten. Auch in Deutschland brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, alleingelassene und verwahrloste Kinder und Kranke, Wohnungsnot und in der Folge oft Kriminalität. Es dauerte Jahrzehnte, bis am Ende des 19. Jahrhunderts die sozialen Sicherungssysteme entstanden, die den deutschen Sozialstaat heute noch konturieren. Vom Vormärz bis zu Bismarck gab es heftige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Aber es gab eben auch Bürger*innen, die neue gemeinschaftliche Initiativen entwickelten – wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Amalie Sieveking oder Theodor und Friederike Fliedner. Sie gründeten Vereine, schufen Genossenschaften, Gemeinschaften und Wahlfamilien, organisierten Kindergärten und Pflegeeinrichtungen, dazu neue Berufe und Ausbildungsgänge sowie Quartierskonzepte für die Städte. Das alles hat dazu geführt, dass sich in der Inneren Mission, wie die Dachorganisationen der Diakonie in Deutschland bis in die Nachkriegszeit genannt wurden, und bei der Caritas wie auch in der Arbeiterbewegung neue Netzwerke bildeten, auf denen die Politik weiter aufbauen konnte.

Heute scheint sich der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem viele von uns aufgewachsen sind, wieder aufzulösen. Jana Simons Buch »Unter Druck«26 beschreibt die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen aus der Perspektive ganz verschiedener Menschen vom Staatssekretär bis zur Krankenschwester. »Etwas kommt in allen Gesprächen sehr häufig vor«, schreibt die Autorin: »Angst, Angst vor der Zukunft, vor Verlust, Abstieg, Armut, Alter, Krankheit, politischer Spaltung und Instabilität der Welt.«27 »Die Konzerne trainieren dich, immer effizienter, immer mehr zu arbeiten. […] Krank werden geht eigentlich nicht«28, sagt Jörn Reichenbach, ein Ingenieur, der wegen eines Magengeschwürs zusammengebrochen und länger ausgefallen ist. Wie im Scherz empfiehlt er seiner Frau Katrin, ihn vor ein Auto zu stoßen, wenn sich Pflegebedürftigkeit abzeichnet. Die Gewissheit, bei Schwäche und Krankheit Solidarität zu erfahren, ist vielen verloren gegangen. Die Angst, nicht mehr versorgt zu sein, wenn man selbst nicht für sich sorgen kann, gehört zu den größten Ängsten der Deutschen. Es sei schlimm, in Deutschland alt und krank zu sein, schreibt Simon – und noch schlimmer, dabei einsam zu sein.29

Individualisierung und Mobilitätsanforderungen haben Bindungen, Traditionen, Rituale gelockert. Kirchen und Gewerkschaften verlieren Mitglieder, Nachbarschaften verändern sich im Zuge von Mobilität und Migration. Schulen wie Pflegeeinrichtungen müssen mit kultureller Diversität umgehen. Die Erosion des Zusammenhalts haben viele in den letzten Jahren als größtes gesellschaftliches Problem identifiziert. Es scheint, als hätte die Coronakrise diese Sorge für alle erkennbar gemacht. Überlastete Familien, zurückgelassene, bildungsferne Schüler*innen, Pflegende am Rande ihrer Kräfte, überforderte Einrichtungen und Dienste in der Altenhilfe – die Diskussion um systemrelevante Berufe zeigte, dass die lebenswichtigen Sorgeberufe seit Langem zu wenig Achtung erfahren. Daran änderte auch das kurzzeitige Klatschen auf den Balkonen nichts.

Zugleich aber wuchs die Sehnsucht nach Gemeinschaft. »Es ist eine Herausforderung – aber als Gemeinschaft sind wir nicht allein« titelte das ZDF in der »Werbepause« beim ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020. Und Nachrichtensprecher schlossen mit »Passen Sie gut auf sich und andere auf« oder Ähnlichem. Das rüttelte auf, weil es etwas Grundsätzliches ansprach: die gesellschaftliche Erosion, die wachsende Einsamkeit. Nach den ersten Wochen mit optimistischen Slogans und Feuilletonbeiträgen, die eine neue, achtsame Welt nach Corona beschrieben, waren dann aber viele überzeugt, dass es weitergehen würde wie bisher – schließlich war die Coronakrise nicht die erste, sondern mindestens die vierte große Krise seit 2001, als in New York die Twin Towers einstürzten. Die Finanzkrise 2008 und die Flüchtlingskrise 2015 machten die Probleme der Globalisierung, der Digitalisierung und der Migration für alle erkennbar. So gesehen ist die Pandemie nur eine weitere Erschütterung in der großen Transformation unserer Zeit. Matthias Horx allerdings sieht darin eine »Tiefenkrise«, die – ähnlich wie der Mauerfall von 1989 – das individuelle wie das kollektive Sein auf allen Ebenen betrifft; in gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen, Deutungsmustern.30 Und für Olaf Scholz sind die Erfahrungen der Pandemie der »Ausgangspunkt […] für ein neues Zeitalter der Solidarität«31. »Größenwahnsinnig ist, wer alles allein meint stemmen zu können.«32

Ganz sicher ist die Coronakrise ein Wendepunkt. Aber sie könnte ihre Wirkung nicht entfalten, wenn nicht vieles vorher schon brüchig oder fragwürdig gewesen wäre. »Krisen haben dann tiefe Wirkungen, wenn sie auf eine Kultur treffen, die bereits in Schwingung versetzt und deren innere Konsistenz fragwürdig geworden ist«, meint Matthias Horx. Dann – und nur dann – erzeugen sie eine Abweichung im historischen Pfad. Vielleicht hat das Neue längst vorher begonnen – mit der zunehmenden Individualisierung wie mit der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Mit den sogenannten »Co-Kulturen« vom Co-Working über Co-Gardening bis zu den Wohngemeinschaften und den neuen Genossenschaften.

Gemeinschaften entstehen oft informell in der Nachbarschaft oder auf Facebook, Instagram und Co., aber auch in einem Projekt oder im Verband. Hundebesitzer*innen treffen sich im Stadtgarten, andere engagieren sich im Chor, beim Elternstammtisch oder einem Gartenprojekt in der Kita. Gemeinsame Gemüsegärten entstehen am Stadtrand (z. B. »meine-ernte.de«), in der Nachbarschaft werden Werkzeuge ausgetauscht, die »Sharing Economy« wird attraktiver. In einer Trendstudie über die neue »Wir-Kultur« sehen die Autor*innen des Zukunftsinstituts ein Zeitalter unterschiedlicher Gemeinschaftsformen herankommen, in denen kurz- oder langfristig Verlässlichkeit entsteht – in Win-win-Situationen mit effektivem Tauschen und Teilen, beim Engagement in der Nachbarschaft, aber auch in Mehrgenerationenhäusern und Dorfläden.33

2020 erschien, nach der Gründungsurkunde 2013, »Das zweite konvivialistische Manifest«, in dem über 300 Intellektuelle aus 33 Ländern für neue Formen des Zusammenlebens und eine »post-neoliberale Welt« plädieren.34 Der Begriff »Konvivialismus« zielt auf eine neue Philosophie des Zusammenlebens: Gesellschaft könne nicht allein auf Marktbeziehungen beruhen, betonen die Autor*innen. Eine legitime Politik müsse sich auf die Prinzipien einer gemeinsamen Menschheit, einer gemeinsamen Sozialität verbunden mit Individuation und Konfliktbeherrschung berufen. Das im Jahr der Pandemie erschienene zweite Manifest führt nun zwei weitere grundlegende Prinzipien ein: Jegliche Form menschlicher Hybris ist abzulehnen; das Prinzip der gemeinsamen Natürlichkeit von Mensch und Natur ist zu achten. Weil die Coronapandemie allen vor Augen geführt hat, wie »interdependent unsere Welt ist«35, gebe es Hoffnung, dass aus dem Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit Solidarität erwächst, so das Manifest.

2.2 Gemeinschaft am Küchentisch – Sorge hält die Welt zusammen

Noch lese ich regelmäßig die »Gemeindethemen«, den Gemeindebrief meiner ersten Kirchengemeinde, die ich vor 30 Jahren verlassen habe. In den ersten Jahren nach meinem Wechsel konnte ich beobachten, wie meine ehemaligen Konfirmand*innen heirateten und ihre Kinder tauften. Bei den Getauften, die jetzt dort aufgelistet sind, kenne ich inzwischen nur noch wenige Namen, bei den Verstorbenen schon mehr, am meisten noch immer bei den Engagierten. In der Gemeinde, in der ich heute wohne, ist das nicht anders: Den »harten Kern« der Engagierten kenne ich seit Jahren. Wer ehrenamtlich engagiert ist, hat meist tiefe Wurzeln am Ort. Aber dass Familien, möglicherweise sogar mit mehreren Generationen, an einem Ort wohnen, ist schon nicht mehr üblich. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum Kirchenvorstände oft das Gefühl haben, sie fänden keine Ehrenamtlichen mehr: Sie suchen bei denen, die immer schon da waren, und nicht bei den Zugezogenen, die Anschluss und einen Platz für ihr Engagement suchen.

Aber das Potenzial derer, die man schon kennt, wird kleiner. Vor allem auf dem Land und am Stadtrand pendeln mehrheitlich Väter in die Metropolen zur Arbeit. Häufig sind es dann die Mütter, die bleiben und ganz ähnlich wie Alleinerziehende alle Belastungen allein bewältigen müssen. Aber auch die Älteren, weniger beweglichen, bleiben. Häufig haben sie Wohneigentum, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt … Die »multilokale Mehrgenerationenfamilie«36, zu der auch Patchworkfamilien und Singles gehören, bleibt einander verbunden. Aber um sich zu treffen und einander zu unterstützen, muss sie sehr viel mehr Zeit aufwenden als die Großfamilien früherer Generationen.

Nach einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt es in Deutschland 16,8 Millionen Singles zwischen 18 und 65 Jahren – das sind immerhin 30 Prozent der Frauen und Männer im mittleren Alter. Verglichen mit einer Parship-Studie von 2005, die von 11,2 Millionen zwischen 18 und 69 Jahren ohne Partnerschaft ausging, ist der Anteil also deutlich gestiegen.37 Auch wenn Einsamkeit kein spezifisches Problem von Singles ist. »Du kannst einsam sein, und doch fühlst du dich eins mit allen. Du kannst dich isoliert fühlen, auch wenn du mit vielen zusammen bist«, sagt Doris Zölls vom Benediktushof.38. Und doch: Während der Coronakrise litten die Alleinlebenden besonders, weil die Möglichkeiten, mit anderen zusammenzukommen, fehlten.