DIE SONNE, DER MOND & DIE ROLLING STONES - Rich Cohen - E-Book

DIE SONNE, DER MOND & DIE ROLLING STONES E-Book

Rich Cohen

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Beschreibung

Ist Rock die Erlösung? Gibt es einen Weg, in Würde alt zu werden?

Als junger Journalist erhält Rich Cohen in den Neunzigern einen Auftrag, der alles verändert. Er bekommt die einmalige Chance, die Rolling Stones auf ihren US-Touren zu begleiten. Unterwegs mit der Band, verfällt er rasch ihrer einzigartigen Faszination. Wird Teil des Epos »Rolling Stones«. Und schneller, als er sich umschauen kann, zum Insider, eingeweiht in die typischen Witze, die Kameradschaft, die bisweilen bissigen Umgangsformen, das harte Leben der größten Rockband aller Zeiten. Doch neben all den Drogen und Affären, den Auseinandersetzungen und zahllosen Wiedervereinigungen ist es die Musik, die bleibt. Dieses Buch ist der rigorose Blick eines Mannes, der ganz nah dran war und noch immer ist an der legendären Band, die Generationen prägte. Und zugleich eine bahnbrechende Kulturgeschichte. Ein Buch, so gut, so frech, so elegant – so anders, dass es sich liest wie ein Roman.

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Seitenzahl: 674

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Zum Buch

Als junger Journalist erhält Rich Cohen in den Neunzigern einen Auftrag, der alles verändert. Er bekommt die einmalige Chance, die Rolling Stones auf ihren US-Touren zu begleiten. Unterwegs mit der Band, verfällt er rasch ihrer einzigartigen Faszination. Wird Teil des Epos »Rolling Stones«. Und schneller, als er sich umschauen kann, zum Insider, eingeweiht in die typischen Witze, die Kameradschaft, die bisweilen bissigen Umgangsformen, das harte Leben der größten Rockband aller Zeiten. Doch neben all den Drogen und Affären, den Auseinandersetzungen und zahllosen Wiedervereinigungen ist es die Musik, die bleibt. Dieses Buch ist der rigorose Blick eines Mannes, der ganz nah dran war und noch immer ist an der legendären Band, die Generationen prägte. Und zugleich eine bahnbrechende Kulturgeschichte. Ein Buch, so gut, so frech, so elegant – so anders, dass es sich liest wie ein Roman.

Zum Autor

RICH COHEN schrieb als Redakteur für Vanity Fair und den Rolling Stone. Seine Texte erscheinen außerdem in allen großen Magazinen und Zeitungen wie dem New Yorker und der New York Times. Als Rolling-Stone-Reporter ging Rich Cohen erstmals 1994 mit den Stones auf Tournee – und hatte seitdem mehrfach Gelegenheit, seine persönlichen Kontakte nutzbringend einzusetzen. Der Autor mehrerer preisgekrönter US-Bestseller arbeitete zuletzt mit Mick Jagger und Martin Scorsese am Script für Vinyl – eine HBO-Serie über die Exzesse der Musikbranche, deren Boom-Jahre wohl nicht zufällig mit dem Aufstieg der Rolling Stones zusammenfallen.

RICH COHEN

DIE SONNE, DER MOND & DIE ROLLING STONES

Ein Leben im Schatten der größten Rockband der Welt

Aus dem amerikanischen Englisch von Bernd Gockel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Sun & the Moon & the Rolling Stones« bei Spiegel & Grau/Random House, New York.

1. AuflageCopyright © 2016 by Rich CohenCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Eric WhiteCoverillustration: John PascheSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16392-1V001Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für meine Frau Jessica. Danke für den Unterricht und die Gitarren

INHALT

1 LACHFALTEN

2DIE KUHGLOCKE UND DAS POSTER

3DER 8.28 NACH LONDON

4 JÄGER & SAMMLER

5 KRIEGSKINDER

6 »PFARRER EMPÖRT«

7 CHARLIE UND BILL

8 EDITH GROVE

9 GIORGIO!

10 MEET THE BEATLES

11 DER TEEN-TYCOON-SNOB

12 ON THE ROAD

13 FRUST IM SUPERDOME

14 WIR SCHREIBEN EINEN SONG

15 AMERIKA

16 SATISFACTION

17 REPORTAGEN

18 ACID

19 DIE RAZZIA

20 MAROKKO

21 DER PROZESS

22 DER TOD DES BRIAN JONES, TEIL EINS

23 SYMPATHY FOR THE DEVIL

24 DER PERFEKTE LAUF

25 DER TOD DES BRIAN JONES, TEIL ZWEI

26 TODESFUGE

27 DOWN UNDER

28 ROCK ’N’ ROLL CIRCUS

29 1969

30 TOD AUF DEM STAHLROSS

31 H

32 »WO IST MICK?«

33 DAS LETZTE GROSSE ALBUM

34 COMING DOWN AGAIN

35 HALL OF FAME

NACHWORT

DANK

ANMERKUNGEN

INTERVIEWLISTE

BIBLIOGRAFIE

BILDNACHWEIS

NAMENS- UND SACHREGISTER

»Ich frage dich. Ich weiß es nämlich nicht. Was ist das für ein Gefühl, in einer Welt aufzuwachsen, in der es die Stones immer schon gab? Die Sonne, der Mond und die Rolling Stones – damit bist du doch aufgewachsen.«

KEITH RICHARDS IM GESPRÄCH MIT RICH COHEN, 1994

1

LACHFALTEN

Wenn es passiert, geht’s gewöhnlich ruckzuck.

Ich saß auf dem Balkon meines Apartments im West Village und wartete – ohne dass mir mein Warten auch nur ansatzweise bewusst war. Im Sommer liegt eine undefinierbare Lähmung in der New Yorker Luft. Die leeren, leblosen Straßen vermitteln den Eindruck, als hätten Gott und die Welt das Weite gesucht, um in die Berge zu fahren oder zum Strand. Nur die Versager und Tunichtgute sind noch im Village unterwegs und schlurfen durch die Gassen mit den roten Backsteinhäusern.

Doch dann, ohne Vorwarnung, kamen die Rolling Stones – und entführten mich in eine andere Welt. Es erinnerte mich ein wenig an den Traum meiner Kindheit, in dem ich von zu Hause ausreiße und mich einem fahrenden Zirkus anschließe. Der Jahrmarkt. Die Attraktionen. Herkules, der stärkste Mann der Welt. Das Riesenrad, das sich unter dem matten Himmel von Kansas dreht.

1994 war ich immerhin schon sechsundzwanzig Jahre alt – und diesmal waren es auch nicht Zirkusleute, sondern die Stones, die durch Amerika tingelten. Der Rolling Stone, die »Bibel der Rockmusik«, wie sie damals genannt wurde, hatte mir den Auftrag erteilt, ihre US-Tour zu begleiten und darüber zu schreiben. Meine Apathie war wie weggeblasen.

In den beiden nächsten Wochen ging’s kreuz und quer über den amerikanischen Kontinent. Ich stand in der Spelunke, in der sie ihren Warm-up-Gig spielten, betrank mich bei den Stadionkonzerten unter freiem Himmel, lungerte in Hotellobbys und Umkleideräumen herum, lehnte an einer Lautsprecherbox am Rand der Bühne, sah meine Heimat mit den Augen eines Rockstars, erlebte Flughäfen und Städte nur noch als Fata Morgana und lernte, dass die einzige Realität die Realität der nächsten Show ist. Ich saß neben Keith Richards im Stones-eigenen Flieger, alberte mit Mick Jagger herum (der mich zuerst aufzog, weil meine Haare zu lang waren – und dann noch mehr, als sie kurz waren), diskutierte mit Charlie Watts über New Orleans und den amerikanischen Bürgerkrieg, saß nachts allein im Hotelzimmer und hörte Jazz, trank Whisky mit Ron Wood und Bobby Keys, als sie die Nachricht erhielten, dass ihr Freund und Kollege Nicky Hopkins in Nashville gestorben war. Keys verzog das Gesicht, stürzte vier Fingerbreit Jack Daniel’s in sich hinein und hatte Tränen in den Augen.

Als wir in New York Station machten, waren wir nur einen Steinwurf von meinem Apartment entfernt, doch meilenweit von meinem alten Leben. Aus dem Sommer war Herbst geworden, Manhattan glitzerte, überall endlose Avenues. Ich verbrachte einen ganzen Tag in der Radio City Music Hall, wo die Stones für die MTV Video Music Awards probten. Der Auftritt sollte die Verkäufe ihres neuen Albums Voodoo Lounge ankurbeln, doch für die Musiker war es nur ein Stopp unter vielen. Ich verzichtete darauf, in meinem Apartment vorbeizuschauen oder Freunde zu treffen. Der Zirkus hatte in meiner Stadt haltgemacht, doch ich war inzwischen auf einem anderen Planeten heimisch geworden. Die Nähe zu all den Schwertschluckern, Hochseilartisten und menschlichen Mutanten hatte unweigerlich auf mich abgefärbt.

Ich zog es vor, backstage mit der Band abzuhängen. Ich verfolgte, wie Keith und Ron Wood ihre Akustikgitarren rausholten und Songs von Hank Williams spielten – oder wie Mick durchs menschenleere Auditorium lief und auf der Mundharmonika das aufputschende Intro von »Love Is Strong« blies. Auf dem Weg zu den Umkleideräumen hatte ich eine Begegnung, die sogar mein Tête-à-Tête mit Joe DiMaggio in den Schatten stellte (vor einem Spiel diverser Baseballlegenden wurde ich einmal Zeuge, wie er die Reporter anschnauzte: »Can’t you sons-of-bitches see I’m naked?«). Hinter dem Vorhang stolperten Jagger und ich über Bruce Springsteen, der uns etwas misstrauisch beäugte. Ich kannte den Blick noch vom Football-Team in der Highschool, wenn sich zwei rivalisierende Linebacker unter die Lupe nahmen. Mick und Bruce machten etwas Small Talk und tauschten sich über den anstehenden Gig aus. Mick stellte mich als seinen »guten Freund« vor. Als wir dann weiterzogen, zuckte er mit den Schultern, mimte den Lausbub auf dem Spielplatz und flüsterte konspirativ: »Well, you know, Bruce, he gives a very long concert.«

Nach dem Auftritt schmiss Virgin Records für die Stones eine Party. Im Four Seasons auf der 57th Street – um Mitternacht noch menschenleer – stapelten sich dann um zwei Uhr morgens die Rockstars, deren Poster früher unsere Jugendzimmer schmückten. Musik, Leder, Lidschatten, hochhackige Stiefel und Gin, so weit das Auge reichte. Micks Presseagent zog ihn zur Seite und meinte, dass Steven Tyler gerne ein Foto mit ihm machen würde – »nur zu zweit«.

»Und, was meinst du?«, fragte Jagger.

»Ich würde dankend ablehnen«, sagte der PR-Mann. »Tyler möchte, dass Aerosmith auf Augenhöhe mit den Stones wahrgenommen wird, aber mal ehrlich … Wir wissen beide doch, was Sache ist, Mick. Oder?«

Dann erzählte er von einem druckfrischen Artikel in der New York Post, in dem enthüllt wurde, dass die Band gerne auf das gerade angesagte »Body Waxing« zurückgreife. Autorin des Artikels war eine Journalistin, die im Lauf der Jahre regelmäßig über die Stones berichtete. »Sie hatte immer den direkten Zugang zur Band«, sagte der PR-Mann. »Schauen wir doch mal, wie dumm sie aus der Wäsche guckt, wenn sie plötzlich draußen steht.«

Ich erinnere mich noch an Micks Choreografen, der ein ungewöhnliches Interesse an mir zu entwickeln schien, mich in einer Ecke festnagelte und darauf bestand, »nach oben zu gehen und einen Joint zu rauchen«.

Kaum hatte ich mich aus dieser Situation befreit, fand ich mich im Kreise diverser Rock-’n’-Roll-Legenden wieder: Steve Winwood von Traffic, ihr Drummer Jim Capaldi, Ron Wood und Keith Richards. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Charakter, doch im Gesicht waren sie sich verblüffend ähnlich: zerknittert und verwittert, wie ein Stück mürbes altes Leder, das durch ständigen Missbrauch eine ganz eigene Art von Schönheit entwickelt hat. Ein älterer Typ, der Jagger aus der Nähe zu sehen bekam, sagte einmal: »Du hast ja mehr Falten als ich.« Worauf Jagger antwortete: »Alles nur Lachfalten.« Der Typ brach in schallendes Gelächter aus. »So viel Anlass zu lachen gibt es auf der ganzen Welt nicht«, sagte er.

Was natürlich ein krasser Irrtum ist. Jagger hatte allen Grund, sich köstlich zu amüsieren. Es war ein kosmischer Scherz, dass gerade diese Generation dem Schicksal ein Schnippchen schlug – einem Schicksal, das für sie eigentlich ein stumpfsinniges Leben in Fabriken oder Versicherungskonzernen vorgesehen hatte. Stattdessen stolzierten sie plötzlich wie mittelalterliche Prinzen über die Bühne und lebten ein Leben, das bislang nur dem ausschweifenden Adel vorbehalten war.

Jeder Mann in diesem Kreis war mit einem Charisma gesegnet, das sich gerade aus ihren Exzessen speiste. Sie hatten zu viel gezecht und zu wenig geschlafen, hatten bereits schlappe Hirnlappen und knorrige Finger – aber bei Gott: Sie konnten spielen. Sie waren die Letzten einer Generation großer Rockstars, die inzwischen ebenso vom Aussterben bedroht ist wie der Schneeleopard. Diejenigen, die überlebt haben, sind die kostbaren Relikte einer lang vergessenen Ära, in der Musik mehr zählte als alles andere – in der man tatsächlich noch glaubte, dass das nächste Album alle Probleme dieser Welt lösen könne. Die Männer hier vor mir waren die menschlichen Manifestationen dieses Glaubens – Helden, die die Revolution auf den Weg gebracht hatten und ihr bis zum bitteren Ende folgten.

Da standen sie nun, lachten, tranken und erzählten sich schmutzige Witze. »Kennt ihr den von dem Pianisten, der seinem Produzenten neue Songs vorspielt?«, fragte Capaldi. »Also, er spielt zwei wundervolle Songs und sagt: ›Kennt ihr die schon? Der erste heißt Mein Schwanz Ist Lang und der zweite Mein Penis Ist Riesig.‹ Danach geht er auf die Toilette. Als er zurückkommt, sagt der Produzent: ›Kennst du den schon? Dein Hosenschlitz steht auf und dein Schwanz hängt raus.‹

›Ob ich den kenne?‹, sagt der Pianist. ›Den Song hab ich geschrieben!‹«

Richards biegt sich vor Lachen und kriegt sich überhaupt nicht mehr ein. »Ob ich den kenne? Den Song hab ich geschrieben!«

Noch während die Männer lachen, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte schon immer das dumpfe Gefühl, dass es diverse Leute auf diesem Planeten gibt, die deutlich mehr Spaß hatten als ich. Ich hatte schon immer den Eindruck, als müsse es rauschende Partys geben, von deren Existenz ich nur nichts wusste. Und da war sie, die Party! Direkt vor meinen Augen! Ich brauchte nicht mehr meine Mailbox nach Einladungen zu durchsuchen, ich musste mich nicht mehr in meinem Bekanntenkreis schlaumachen und fragen, wo ich denn hingehen solle. Ich war mitten auf der besten Party der ganzen Welt! Zum ersten Mal in meinem Leben war ich genau da, wo ich sein wollte.

»Was ist denn mit dir?«, sagte Capaldi. »Hast du auch einen Witz auf Lager?«

Ich verneinte und räumte ein, grundsätzlich eine Niete zu sein, wenn’s ums Erzählen von Witzen gehe.

Steve Winwood schaute mich an. Genau genommen fixierte er mich – so, als hätte er mich zum ersten Mal wahrgenommen. Winwood gehört natürlich dem englischen Rockadel an, hatte »Back in the High Life Again« und »Higher Love« geschrieben und war zuvor die treibende Kraft hinter der Spencer Davis Group, Blind Faith und Traffic gewesen. Er war sechsundvierzig Jahre alt, hatte zerzauste Haare und nadelscharfe Gesichtszüge. Als ich erwähnte, dass ich für den Rolling Stone arbeitete, nahmen seine ohnehin schon durchdringenden Augen einen bösartigen Ausdruck an. »Du bist ein Arschloch«, sagte er aus heiterem Himmel, »ein richtiges Arschloch. Seit Jahren hab ich drauf gewartet, dir das ins Gesicht sagen zu können – und jetzt kann’s endlich raus: Du bist ein richtiges Arschloch.«

»Hey, Stevie«, sagte ein verdutzter Ron Wood, »kennst du den Jungen überhaupt?«

»Zum Teufel, und wie ich den kenne! Dieses Arschloch hat jedes Soloalbum verrissen, das ich je aufgenommen habe. Du bist wohl der Meinung, dass es kein Leben nach Traffic gibt, oder?« Winwood kriegte sich überhaupt nicht mehr ein. »Sollte ich mich etwa in einen Sarg legen und abnibbeln, als sich die Band aufgelöst hat? Nun hör mal gut zu: Ich werd dir den Gefallen nicht tun. Nein, für dich werd ich nicht von der Bühne abtreten.«

Für einen Augenblick herrschte eine unangenehme Stille – bis alle in lautes Lachen ausbrachen. Es wurde sogar noch hemmungsloser gelacht als bei »Ob ich den kenne? Den Song hab ich geschrieben!«. »Jetzt komm mal runter, Stevie«, sagte Keith schließlich und legte die Hand auf meinen Arm. »Wir reden hier von 1974. Der arme Junge war damals sechs Jahre alt. Wie soll er da überhaupt Traffic kennen?«

Auch Ron Wood kam mir zu Hilfe: »Dir ist schon klar, dass Rolling Stone eine Zeitung ist und keine Person, Steve?«

Und just in diesem Moment hatte ich meine zweite Erleuchtung. Es war der Faktor Zeit, der mich von diesen Jungs, von dieser ganzen Generation, trennte. Ich hatte alles verpasst: 1964, 1969, 1972 – all die entscheidenden Jahre. Ich war zu spät gekommen. Alles Entscheidende war bereits passiert. Ich hatte mein ganzes Leben davon geträumt, Teil dieser Party zu sein, aber als ich endlich mein Ziel erreichte, traf ich auf alte Menschen. Die Ungnade der späten Geburt. Es ist eine Erfahrung, die jüngere Geschwister nur allzu gut kennen. Oder die Kinder betagter Eltern. Oder das dritte von dreien, das zwar kurz vor Torschluss auf die Party kommt, aber nur noch mitkriegt, wie die Kippen im letzten Cocktail schwimmen.

Es ist ein Gefühl, das meine Generation nachhaltig geprägt hat. Generation X. Wir sind zwischen die Mahlsteine der Geschichte geraten. Vor uns kamen die Babyboomer, die alle nur erdenklichen Ressourcen verpulverten und jede Menge Spaß hatten. Nach uns kamen die Millennials, die Kinder der Babyboomer, die aus der Welt einen virtuellen und unwirtlichen Ort machten. Die Boomer hauten nicht nur ihre eigene Jugend auf den Kopf, sondern unsere gleich mit. Sie hatten feste gebechert und frönten so sehr den Exzessen, dass für uns gar nichts mehr übrig blieb. Allein als Chronisten der geschlagenen Schlachten haben wir überhaupt noch eine Funktion.

Die Zeit trennte mich von den Stones, gab mir allerdings auch etwas Positives mit auf den Weg: eine Perspektive. Wer zuletzt kommt, hat zumindest die Möglichkeit, die gesamte Entwicklung zu verstehen. Rock ’n’ Roll war immer mehr als eine Million Garagenbands, mehr als Hitparaden und Plattenfirmen. Rock ’n’ Roll war eine Haltung, ein in sich geschlossener Kosmos. Die Stones waren die größte Band dieser Ära – und in gewisser Weise die einzige Band, die überhaupt zählte. Warum? Weil sie sowohl den Ausgangspunkt verkörperten als auch das Ziel – und insofern das Bauprinzip aller Rockbands vorwegnahmen. Erzählt man ihre Geschichte, erzählt man die ganze Geschichte der Rockmusik.

Aber man braucht eine Perspektive. Man muss das Ende kennen, um den Anfang zu verstehen. Die abendliche Dämmerung im Westen, der Morgenstern im Osten. Die Geschichte der Boomer, aus der Perspektive der Generation X erzählt. Die Stones als ein Zug, der durch die Landschaft rollt. Ich kann jeden Waggon genau erkennen, den ersten und den letzten, die Lokomotive und den Wagen mit dem Schlusslicht, das langsam in der Ferne verschwindet.

Ich hatte mehrfach Gelegenheit, die Band zu begleiten, erst als Schreiber für den RollingStone, zuletzt als Jaggers Drehbuchpartner. Wir arbeiteten mit Martin Scorsese an dem Script für Vinyl, eine HBO-Serie über einen fiktiven Schallplattenmogul, dessen Aufstieg und Fall genau diese Ära abdeckt. Ich bekam Anekdötchen aus erster Hand und konnte den größten Frontmann der Welt nach Herzenslust mit Fragen und Vorschlägen bombardieren – wobei Jagger immer dazu tendiert, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Er schreckt instinktiv vor der Versuchung zurück, Rock-’n’-Roll-Sänger als gottgleiche Wesen darzustellen. (In diesem Punkt scheint ihm John Lennons Schicksal wohl ein warnendes Beispiel gewesen zu sein.) Und doch lässt sich nicht leugnen, dass es die Stones waren, die einmal die Speerspitze der Avantgarde bildeten – was vielleicht auch der Grund ist, warum sich Jagger im Zweifelsfall lieber bedeckt hält: Wer das Schicksal herausfordert, sollte besser die Klappe halten.

Was als Magazinreportage begann, entwickelte sich jedenfalls schnell zu etwas Größerem – zu einer epischen Saga, in der ein paar Musiker die Sehnsüchte einer ganzen Generation repräsentierten. Ich begann damit, nach Zeitzeugen zu suchen, die Wissenslücken stopfen konnten, Unerklärliches erklärten und Theorien mit Leben füllten. Ich sprach mit Freunden und Kollegen der Band, mit Konkurrenten, Vorläufern, Produzenten und Toningenieuren, mit Drogenkumpanen, persönlichen Assistenten und Schallplattenfürsten, mit weiblichen Bekanntschaften der flüchtigen Art und denen, die eher der Definition einer Ehefrau entsprachen. Ich las Memoiren und Biografien, von denen es bereits Dutzende, ja Hunderte gibt. (Für diejenigen, die mit den Stones zu tun hatten – und sei es nur für kurze Zeit –, war es gewöhnlich die elektrisierendste Erfahrung, die sie in ihrem Leben machten.) Ich studierte die Filmdokumente und holte die alten Platten wieder raus. Ich schaute mir die Fotos an – schließlich gehörten die Stones zu den meistfotografierten Menschen des 20. Jahrhunderts. Ich besuchte Orte, die von Bedeutung waren in ihrer Geschichte – die Häuser in Dartford, wo Mick und Keith aufwuchsen; das Pub, in dem sie zum ersten Mal auftraten; die Wohnung, in der sie einen kalten Winter lang hausten; den Club in Richmond, der ihre Karriere beflügeln sollte; die noblen Apartments und Häuser, die sie mit den frisch erworbenen Reichtümern kauften; die Olympic Studios in Barnes, Chess Records in Chicago, den Altamont Speedway und den Joshua-Tree-Nationalpark; die Villa in Frankreich, wo sie ihr größtes Album aufnahmen; die Klinik in der Schweiz, wo Keith seinen Heroinentzug machte.

Bei all diesen Besuchen hatte ich ein paar Fragen im Hinterkopf: Warum war ihre Musik überhaupt so wichtig? Warum ist der Soap-Opera-Aspekt ihres privaten Lebens noch immer so faszinierend? Ist Rock die Erlösung? Ist Rock so etwas wie eine Religion – und wenn ja: Wird sie wie der Kult des Zarathustra wieder spurlos verschwinden? Sollten wir das Leben zelebrieren oder lieber eine dahinterliegende Wahrheit? Gibt es einen Weg, in Würde alt zu werden?

Als ich die Stones auf jener Party anno 1994 kennenlernte, wirkten sie auf mich dekadent. Sie waren ein »Oldies Act« – ein Begriff, der weniger über das biologische Alter als über ihre mentale Frische verriet. Die Stones waren berechenbar geworden. Der frühere Innovationsgeist war immer gleichen Wiederholungen gewichen. Sie machten das, was sie machten, weil sie’s immer schon so gemacht haben. Am Anfang hatten sie farbige Bluesmusiker kopiert, am Ende nur noch sich selbst. Und doch: Sogar bei ihren müdesten Shows vor dem blasiertesten Publikum konnte man noch immer für kurze Momente spüren, was sie einmal gewesen waren – eine Revolution mit zehn Händen, vier Akkorden und einem Groove.

2

DIE KUHGLOCKE UND DAS POSTER

Als ich zehn Jahre alt war, durfte mein Bruder in den Himmel aufsteigen. In diesem Fall war der Himmel das Dachgeschoss im ersten Stock, das mit seinen dicken Teppichböden und Zedernholzwänden den Prototyp einer sturmfreien Bude darstellte. Es gab keine Sperrstunde mehr, keine Vorschriften, keine neugierigen Eltern. Auch wenn ich den Raum nicht betreten durfte, so stand ich doch dann und wann am Fuß der Treppe und lauschte der Musik, die in heftigen Wellen aus den Lautsprechern herunterstürzte. Bässe und Hochtöner, Verstärker, Vorverstärker, Plattenspieler – alles war in diesem Hi-Fi-Wunderland vorhanden. Einmal, als mein Vater nach oben ging, um die Reste väterlicher Autorität walten zu lassen, schlich ich in seinem Windschatten mit und betrachtete ehrfürchtig die Stereoanlage.

Nur ein einziges Mal, im Hi-Fi-Laden unseres Einkaufszentrums, hatte ich vorher sein Equipment sehen dürfen. Wenn man den Laden betrat, landete man zunächst in einem Raum, in dem die Billigmarken und der Micky-Maus-Nippes angeboten wurden. Dann, hinter einer Glasscheibe, kam das Allerheiligste mit den erlesenen Audioprodukten, deren Namen nur die echten Connaisseure in ihrem Repertoire hatten. Innerhalb dieses Raumes gab es ein weiteres Zimmer, das sogenannte »Listening Egg«. Der potenzielle Käufer saß dort vor einer beeindruckenden Lautsprecherwand und machte eine allerletzte Hörprobe, bevor er sich für ein Boxenpaar entschied. An besagtem Nachmittag durfte ich auch einmal dort Platz nehmen und die Lautsprecher in Ohrenschein nehmen, die bald meinem Bruder gehören würden. Als Kostprobe hatte der Verkäufer einen Song ausgesucht, der ideal geeignet sei, um »diesem Equipment auch wirklich gerecht zu werden«. Als »Life’s Been Good« von Joe Walsh aus den Boxen dröhnte, hatte ich den Eindruck, als wanderte das psychedelische Gitarrensolo wie ein Virus durch meinen ganzen Körper.

Danach konnte ich die Stereoanlage meines Bruders nur noch aus der Ferne genießen – was sich meist auf das Dröhnen des Basses reduzierte oder auf das Röhren eines Rockgottes, der gerade eine Powerballade zum Schmelzen brachte. Eines Tages aber hörte ich einen Rhythmus, der etwas in mir berührte, von dessen Existenz ich bislang nicht einmal wusste. Ich lag im Bett, als ich eine Kuhglocke und eine quengelnde Gitarre vernahm. Wie in Trance stand ich auf, ging zur Treppe und öffnete die Tür, die nach oben führte. Oben angekommen, ließ ich das Spektakel auf mich wirken: leere Bierdosen auf dem Couchtisch, eine Platte, die sich auf dem Plattenspieler drehte, der Verstärker, dessen Dioden glühten. Mein Bruder saß in einem Sessel, hatte den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen. Hinter ihm hing ein Poster an der Wand. Instinktiv wusste ich, dass die Typen darauf für das »Honky Tonk Women« verantwortlich sein mussten, das gerade aus den Lautsprechern dröhnte. Für einen Augenblick hatte ich sogar den Eindruck, als würde die Band hier live und leibhaftig spielen – als käme die Musik direkt aus dem Poster.

Sie sah genau so aus, wie eine Band aussehen sollte. Die Stones in Paris, circa 1976. Mick Jagger, vorne im Bild, dirigierte seine Truppe, als wären sie auf einem nächtlichen Raubzug. Auf der Bühne flattert er wie ein Kolibri und gibt einem gar nicht erst die Gelegenheit, ihn genauer zu studieren. Hier auf dem Poster hingegen wirkte er wie ein präpariertes Prachtexemplar, das man in einen Schaukasten genagelt hat. Jagger sah grotesk aus, aber irgendwie auch faszinierend attraktiv. Er hatte die überproportionierten Gesichtszüge eines Jugendlichen, der sich weigert, in sein volljähriges Ich hineinzuwachsen. Keith Richards stand neben ihm, trug eine gestreifte Hose und ein hauchdünnes Hemd, das bis zum vierten Knopf offen stand. Er hatte lange schwarze Wimpern und blickte auf seine Gitarre hinunter. Bill Wyman, der Bassist, stand neben Drummer Charlie Watts, der spitzbübisch in die Kamera grinste. Die ganze Band drängte sich in einen engen Raum – wie die Riemen und Kurbelwellen einer kompakten Maschine. Es war eine echte Gemeinschaft – das war es, was mich wirklich an dieser Band faszinierte. Es waren nicht die ausverkauften Tourneen oder die Charthits, die mich beeindruckten, sondern es war die Tatsache, dass ich es hier mit einer Handvoll Jungs zu tun hatte, die lustvoll auf den Putz hauten. Etwas Geileres konnte ich mir gar nicht vorstellen. Schule, Eltern, der Ernst des Lebens – alles hatte seinen Schrecken verloren. Hier waren ein paar Typen, die sich als Teenager zusammengetan hatten und ungerührt weitermachten, ohne je einen Blick in den Rückspiegel zu werfen.

Meine Träumereien fanden ein jähes Ende, als mich mein Bruder aus dem Zimmer jagte. Doch es war zu spät: Der Virus hatte sich in meinem Blut eingenistet.

Zuvor hatte Musik allenfalls eine Nebenrolle in meinem Leben gespielt. Wenn sie von schrägen Sonderlingen präsentiert wurde, schaute ich vielleicht mal hin, nahm sie ansonsten aber gar nicht erst wahr. Musik war mein Vater, der in unserem Straßenkreuzer einen Sinatra-Klassiker wie »Nice ’n’ Easy« oder »Come Fly With Me« schmetterte. Noch mit acht Jahren war ich felsenfest davon überzeugt, dass »My Way« die amerikanische Nationalhymne sei. Schließlich sagt Sinatra auf dem Livealbum The Main Event, dass er nun seine Nationalhymne singen werde. »Aufstehen müssen Sie dafür aber ausnahmsweise nicht.«

»Rhinestone Cowboy« war der erste Song, der mich wirklich packte. Ich hatte die Glen-Campbell-Nummer im Radio gehört und sparte, um mir die Single kaufen zu können. Es war trotziges Selbstmitleid pur – das akustische Äquivalent zum billigen Schmuck eines Ramschladens. Wann immer man mir Unrecht angetan hatte, schloss ich mich schmollend in meinem Zimmer ein und gönnte mir eine heilende Dosis der Rhinestone-Therapie: »I’ve been walkin’ these streets so long, singin’ the same old song. I know every crack in these dirty sidewalks of Broadway …«

Wie jeder andere fand auch ich meinen Weg zu den Beatles. Es war um 1977 oder ’78 herum – also schon Jahre nach ihrer Trennung. Man brauchte folglich auch keine Angst mehr zu haben, dass ihnen je einmal eine peinliche Platte rausrutschen würde. Alles war bereits unter Dach und Fach. Ich erinnere mich noch, wie mein Vater einmal »Here Comes The Sun« niedermachte. »Wenn uns die Sonne wirklich mal auf die Pelle rücken würde«, sagte er, »wären wir innerhalb einer Sekunde verglüht.« Irgendwie waren die Beatles aber auch uncool, weil sie immer auf Nummer sicher zu gehen schienen. Die Beatles standen für runde Omabrillen und das unvermeidliche Peace-Zeichen.

Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich bereits meine erste Expedition in den örtlichen Plattenladen unternommen. Es war ein kleiner Familienbetrieb, der von einem knarzigen alten Mann namens Wally King geleitet wurde. Wally stand schon hinter dem Tresen, als noch Notenblätter der primäre Umsatzträger waren. Seit Ewigkeiten bot er in seinem Laden auch ein besonderes Bonbon an: Wer für mehr als sieben Dollar einkaufte, bekam kostenlos eine Maultrommel dazu – das vorsintflutliche Messinginstrument, das man zwischen den Zähnen hält und zupft.

Mein erster Besuch im Plattenladen entpuppte sich allerdings als existenzielle Prüfung. Seit Monaten hatte ich meinen Bruder bestürmt, mich in seine musikalischen Geheimnisse einzuweihen. Ich wollte nun mal lieber mit den älteren Jungs abhängen und über Musik schwadronieren. Eines Tages gab er mir eine Chance. Er drückte mir einen Zehndollarschein in die Hand und sagte: »Geh zu Wally King, und besorg mir das neue Kansas-Album – das mit ›Dust in the Wind‹. Wir können es dann zusammen in meinem Zimmer anhören.«

Nachdem ich die Plattenkisten zwanzig Minuten lang vergeblich durchforstet hatte, bat ich den alten Mann um Hilfe. Er holte unter dem Tresen einen dicken Wälzer heraus und fing an zu blättern. Er fand das gesuchte Kansas-Album mit dem Cover, auf dem ein Boot einen Wasserfall hinunterschießt. »Die Platte ist gerade vergriffen«, sagte Wally, »aber ich hab hier was, das dich auch interessieren könnte.« Er fischte ein Album aus einer Kiste und hielt es neben die Abbildung des Kansas-Covers. »Das hier hat auch einen Wasserfall«, sagte er. »Schau’s dir nur an. Sie sind fast identisch. Dein Bruder wird kaum einen Unterschied feststellen können.«

»Von wem ist es denn?«

»Von einem Burschen namens Slim Whitman«, sagte Wally. »Er hat die ganze Welt bereist, singt zu seiner Gitarre und spielt wundervolle Countrylieder. Und wenn man einmal drüber nachdenkt, kann es für einen Sänger eigentlich kein besseres Leben geben. Es ist für jeden Sänger die Erfüllung. Und auf all seinen Reisen hat er mit Sicherheit auch Kansas besucht – vermutlich sogar Dutzende Male. Du siehst also, dass die Geschichte dieser ›Dust in the Wind‹-Jungs in gewisser Weise ein Teil der Geschichte ist, die uns der große Slim Whitman erzählt. Wie schon gesagt: Dein Bruder wird sich schwertun, überhaupt einen Unterschied festzustellen.«

Als ich meinem Bruder das Album in die Hand drückte, schaute er es entgeistert an und seufzte nur. Wäre mein Bruder mein Vater gewesen, hätte er mich abschätzig einen Schmock genannt. Stattdessen gab er mir das Album zurück und sagte: »Du schuldest mir fünf Dollar.« Es war meine erste Lektion in der Beurteilung von Musik: Es gibt die richtige und die falsche Musik, es gibt einen Song, der so perfekt ist wie das Abendrot vor dem Sonnenuntergang – und den Abtörner, der so nervig ist wie ein verregneter Dienstagnachmittag.

Nach diesem Reinfall machte ich erst mal meine Hausaufgaben, las einschlägige Literatur und stürzte mich mit Begeisterung in die schöne neue Konsumwelt. Das erste amtliche Album, das ich erwarb, war SmashHits von Jimi Hendrix. Ich legte es auf den Stapel meiner Kinderplatten – wie einen Hundertdollarschein auf einen Haufen von Eindollarscheinen. Für eine Weile schwankte ich zwischen Kindheit und Jugend, doch als ich dann »Honky Tonk Women« hörte, war’s endgültig um mich geschehen. Die Kuhglocke, die den Song einleitete, klang für mich wie der Ruf eines Muezzins, der mir das Tor in ein neues Leben öffnete. Ich entdeckte die neue Religion namens Rock ’n’ Roll und kannte jahrelang nur einen Gott – die Rolling Stones. Ihre Musik suggerierte eine aufregende und gefährliche Welt – eine Welt mit Drogen, Alkohol und all den anderen Sünden, die ich nun zügig entdecken wollte.

Meine Sammlung begann mit England’sNewestHitMakers, dem ersten Stones-Album, das in den USA veröffentlicht wurde. Das Cover war auf das Nötigste reduziert: fünf Köpfe – Mick, Keith, Charlie, Bill und der wunderschöne, blonde Brian Jones. (Wann immer man einen Flachskopf unter Brünetten entdeckt, sollte man umgehend für ihn beten: Der Blonde ist stets dem Untergang geweiht.) Man hört hier wirklich noch die frühen Stones, die fast ausschließlich Coverversionen spielten: »Not Fade Away«, »I Just Want To Make Love to You«, »I’m a King Bee«. Die Energie machte den Unterschied, die E-Gitarrenläufe von Brian Jones, der dräuend drängelnde Rhythmus von Keith Richards. Die besten Songs schnurrten wie ein Motor, wie eine Maschine in tiefster Nacht. »Honest I Do«, »Little By Little«, »Carol«. Wenn ich sie hörte, mutierte ich zu einem zornigen jungen Mann.

Ich wollte mehr. Es wurde eine Routine, die mir in Fleisch und Blut überging: fünf Dollar zusammenkratzen, Wally King besuchen, ein weiteres Stones-Album kaufen. Nachdem ich die Grenzen von Wallys Repertoire erreicht hatte, setzte ich meine Expeditionen in der Umgebung fort – zunächst an der North Shore von Chicago, schließlich auch in der City. Als ich im zehnten Schuljahr war, stellten Plattenläden die Fixpunkte meiner inneren Stadtpläne dar: Record City in Skokie etwa oder Vintage Vinyl in Evanston. An vinyltechnisch besonders wichtigen Tagen erzählte ich meinen Eltern, dass ich meinen Freund Mark besuchen würde, nahm aber tatsächlich den Bus in die City. Ich setzte mich an ein Fenster hinten im Bus und verfolgte, wie die vorstädtischen Grünflächen dem kahlen Beton wichen. In Evanston bestieg ich die »L«-Linie, Chicagos Hochbahn, die sich an den Asphaltdächern und Apartmentkästen der Innenstadt entlangschlängelte. An der Loyola University stieg ich aus, ging einen Block zu Fuß, stieg eine Treppe hoch und öffnete eine unbeschriftete Tür, die zu Zeiten der Prohibition vielleicht in ein Speakeasy geführt hätte.

Nachdem ich den legalen Teil des Stones-Katalogs abgegrast hatte, war Round Records der neue Mittelpunkt meines Lebens geworden. Hier gab es alle Platten, die ein Bootlegger-Herz begehrte. Einige waren aufwendige Produktionen mit professionellem Cover und Liner Notes, andere stammten von amateurhaften Bandmitschnitten, die irgendein Typ in der 15. Reihe gemacht hatte. Oft genug konnte man sogar hören, wie sich die Zuschauer zwischen zwei Songs unterhalten. Derartige Bootlegs waren in der Regel wertlos, aber selbst hier stolperte man ab und zu über einen Song, den die Band kaum gespielt hatte. Es war ein seltener Fund, über den man sich wie ein Schneekönig freute. Je rarer das Fundstück, desto größer die Befriedigung.

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das die heutigen User von Napster, YouTube, Google oder Sonos schon gar nicht mehr kennen. Heute ist jede Rarität nur einen Mausklick entfernt. Was sind die Millennials doch bloß für arme Schweine! Sie werden nie das Glücksgefühl erleben, auf den Mitschnitt eines Konzertes zu stoßen, das die Stones 1964 auf Eel Pie Island gaben, nie die längst vergessene Kunst des Mixtapes beherrschen, nie verstehen, warum man endlose Stunden damit verbrachte, Lieblingssongs in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Wer wirklich auf die Stones abfährt, beschränkt sich nicht allein auf das Hören. Man will die Musik leben, will sie in seinen Alltag holen. Je nach Temperament möchte man Mick oder Charlie sein, Keith oder Bill. Was war es herrlich, mit Jagger-Moves durch den Flur der Schule zu wackeln! Oder seine präpubertären Verklemmungen zu überspielen, indem man die Nonchalance eines Keith Richards an den Tag legte!

Was mir und meinen Freunden sogar den Weg in die Talentshow der Junior Highschool ebnete: Um ’81/’82 herum kleideten wir uns nicht nur wie die Stones, sondern traten als Stones-Klone sogar in der Aula auf. Wir hatten ein ganzes Jahr darauf verwendet, eine einzige Nummer einzustudieren. Ich trug das Nietenhemd meiner Schwester und machte auf Keith. In der Mitte des Ganges zündete ich mir eine Zigarette an, paffte einmal und schnippte die Kippe lässig ins Auditorium.

Im selben Jahr durfte ich die echten Stones dann auch live erleben, und zwar im Rosemont Horizon in der Nähe des Flughafens. Sie waren damals auf Tour, um Tattoo You zu promoten. Es war mein erstes Konzert überhaupt – und ich konnte mir keine bessere Premiere vorstellen. Ich erinnere mich, wie jedes Mal ein erwartungsfroher Aufschrei durch die Halle ging, wenn ein Roadie über die verdunkelte Bühne huschte. Oder wie die Wolke aus Zigarettenqualm über den Köpfen der Zuschauer hing. Die Atmosphäre war so geladen, als würden wir gleich die Schlacht von Austerlitz erleben. Ich werde diese Eindrücke nie vergessen. Bill Wyman startete mit dem Bass-Riff von »Under My Thumb«, dem Keith ein knackiges Lick hinterherschickte. Mick tanzte in einem Fußballtrikot auf die Bühne. »Let’s Spend the Night Together«, »Shattered«, »Start Me Up« – ein Highlight jagte das nächste. An einem Punkt der Show kurvte Mick auf einem hydraulischen Kran über die Menge. Die Hände streckten sich nach oben wie die Tentakel einer Seeanemone.

Jagger auf der Bühne ist unvergleichbar. Er stolziert sein Revier auf und ab und wackelt sich mit dem Arsch in die gefährliche Grauzone zwischen Männlein und Weiblein. Wer als hormongeschüttelter Jugendlicher erstmals damit konfrontiert wird, empfindet eine Mischung aus Erregung und Verunsicherung, vielleicht auch ein wenig Scham.

Ich konnte jedenfalls nicht glauben, dass Mick und Keith und Charlie und Bill und Woody da wirklich direkt vor mir standen, dass sie denselben Raum mit mir teilten. Von der Schallplatte zum Livekonzert, von der Fantasie in die Realität – ich hatte an einem Tag einen gewaltigen Sprung gemacht. Wie von einem unsichtbaren Zauberstab berührt, mutiert das vereinsamte Kind zu einem schwitzenden Körper in der Menge – getragen von einer Welle kollektiver Energie, wie sie von einer großartigen Band nun mal ausgeht.

Auch wenn die Songs vertraut waren, so strahlten sie live doch eine neue, dreckige Qualität aus. Es störte nicht, wenn ein Akkord in die Hose ging oder sich offensichtliche Ausrutscher in die Performance schlichen – die Band quittierte es mit einem Grinsen und spielte ungerührt weiter. Es war wie ein Spielzeug, das man schon lange besitzt, nun aber erstmals aus seiner Verpackung nimmt. Die Zeit für eine weitere Erleuchtung war gekommen: Ich lernte, dass das Perfekte keineswegs perfekt ist. Mehr noch: dass Rock ’n’ Roll vom Chaos lebt. Mir waren die Stones jedenfalls immer am liebsten, wenn Jagger an seinem Mikro klebte und die anderen Jungs so kompakt hinter ihm standen, als posierten sie für das Poster im Schlafzimmer meines Bruders. Auf diesem Poster nämlich waren sie keine Band, sondern eine verschworene Gang – ein Haufen räudiger Hunde.

Denn in diesem Punkt funktionieren die Stones wie die meisten anderen großen Gruppen: Alles steht und fällt mit der Freundschaft.

3

DER 8.28 NACH LONDON

Eine Episode, ohne die der Rock ’n’ Roll nicht vorstellbar wäre.

17. Oktober 1961. Mick Jagger steht auf dem Bahnsteig des Londoner Vororts Dartford und wartet auf den Regionalzug um 8 Uhr 28, der ihn in die City bringen soll. Er ist achtzehn Jahre alt, frischgebackener Student an der London School of Economics und spät dran, um noch eine Vorlesung über die Geschichte der Finanzmärkte zu erwischen. Keith Richards, der sich am Sidcup Art College eingeschrieben hat, kann sich nicht mehr erinnern, wohin er an jenem Morgen wollte. Aus Kindertagen in Dartford – einem ungemütlichen Vorort, der primär für seine Irrenanstalt und eine Feuerwerksfabrik bekannt ist – waren sich die beiden ein Begriff, hatten sich zwischenzeitlich aber aus den Augen verloren. Keith erkannte Mick zuerst. Er hatte das Flair des künftigen Geschäftsmanns, trug aber einen Stapel Schallplatten unterm Arm. Es war damals schon ungewöhnlich, einen Typen mit einem Album zu sehen – von einem ganzen Stapel ganz zu schweigen. Keith ging zu ihm rüber: »Was hast’n da?« Er erzählte später, dass er an diesem Tag erstmals ein Muddy-Waters-Album zu sehen bekommen habe. Zuvor war der Bluesmann für ihn eine unwirkliche Legende gewesen, über die man nur hinter vorgehaltener Hand flüsterte – so wie die Indianer einst von einem großen Fluss erzählten, der hinter dem Horizont liegt. Mick hatte auch Platten von Little Walter und Chuck Berry dabei, die alle vom selben Label stammten: Chess Records. Der Name weckte Assoziationen an das ferne Chicago – jene seltsame Stadt, in der die Farmarbeiter vom Mississippi landeten, um dann in den musikalischen Strom der Großstadt gezogen zu werden. Als der Zug Dartford verließ, saßen Mick und Keith einträchtig nebeneinander und fachsimpelten, bis sie in London ankamen.

Doch da es nun mal eine Legende ist, gehen bei den Details die Meinungen etwas auseinander. In der einen Version trägt Keith ein Halstuch und Mick einen Blazer. In einer zweiten hat Keith einen Trenchcoat an, der so lang ist, dass er damit den Bahnsteig von Dartford fegt. In einer dritten trägt er eine Gitarre. Micks Vinyl-Schätze lassen sich ebenfalls nicht mehr verifizieren. Mal ist es Chuck Berrys Rockin’ At The Hops und Muddy Waters At Newport, dann wieder The Best Of Muddy Waters und Chucks One Dozen Berrys. Aber beim wichtigsten Detail sind sich alle einig: Es handelte sich um Chess Records, weil Chess sich nun einmal für die Art von elektrischem Blues starkmachte, die Mick und Keith liebten. (Ein paar Monate zuvor hatte sich Jagger sogar schriftlich mit dem Label in Verbindung gesetzt.) Man kann die Bahnsteig-Episode wörtlich nehmen (Mick war spät dran, um zur Vorlesung zu kommen), man kann sie aber auch so symbolschwanger interpretieren wie ein Pfarrer, der sich in seine Bibel vertieft: Auch wenn sie’s damals noch nicht wussten, waren Jagger und Richards auf dem Sprung in die Metropole – sprich: zum großen Erfolg. Und sie fuhren gemeinsam. Es passt auch perfekt, dass sie sich an einem Bahnsteig trafen, da der Zug im Blues nun einmal ein bedeutungsvolles Symbol ist. Der Zug als Fluchtweg und Ziel, der Zug, der die ehemaligen Sklaven aus dem Mississippi-Delta zu den Lichtern der Großstadt brachte, der Zug als Symbol von Freiheit und Macht. Wenn man sich die alten Bluesklassiker anhört, wird man fast immer auch das rhythmische Rattern der Räder hören.

In allen Versionen ist es Mick, der die Schallplatten besitzt, während Keith nur eine billige Gitarre in der Hand hält. Platten symbolisierten Macht. Mick hatte sie, Keith nicht. Keith spielte aus den gleichen Gründen Gitarre wie Chuck Berry: Er liebte die Musik – und hatte letztlich auch gar keine andere Wahl. Mick stand die Welt offen. Er war auf dem Weg zu einem erfolgreichen, komfortablen Leben. Was auch der Grund ist, warum Keith immer seine Zweifel hatte, ob sich Mick wirklich mit Haut und Haaren der Band verschrieben hatte. Mick liebte den Blues, wie ein verwöhnter Junge den Blues liebt. Es war ein Hobby. Keith verzehrte sich nach ihm wie ein Sterbenskranker, der verzweifelt nach Penizillin schreit. Für ihn war es vermutlich die einzige Chance, die das Leben ihm bot.

Es war ein magischer Moment in der Geschichte des Rock ’n’ Roll; manche behaupten gar, dass es keine weiteren Höhepunkte mehr gab. Mit »Heartbreak Hotel« hatte Elvis 1956 den Stein ins Rollen gebracht. Praktisch jeder englische Rockmusiker der Sechziger- und Siebzigerjahre erinnert sich daran, dass er spätabends im Bett lag und auf dem Soldatensender AFN verfolgte, wie der King die Welt in Brand setzte. Wobei nicht mal die Botschaft zählte, sondern vor allem sein Style: die radikal reduzierte Produktion, das Zittern in der Stimme, die blechern klingende Gitarre. Die bewusst eingesetzten Leerräume zwischen den Noten schienen die endlosen Weiten der Neuen Welt heraufzubeschwören. Das Resultat war so beeindruckend, dass die englischen Showbiz-Zampanos umgehend ein paar Elvis-Kopien aus dem Zylinder zogen. Tommy Steele, Adam Faith und andere britische Presleys surften auf einer Welle, die alles verklärte, was irgendwie amerikanisch war – nicht nur die Musik, sondern auch Klamotten oder die neue Lässigkeit in der Sprache.

Was natürlich unweigerlich die Frage aufwirft: warum eigentlich? Warum konnte amerikanische Unterklassenmusik, die so spezifisch auf die amerikanische Realität zugeschnitten war, die einer verbotenen Verbindung aus Weiß und Schwarz entsprang und alte Countrytraditionen mit dem Delta Blues verband, die die amerikanische Geschichte von den Sklavenschiffen über den Bürgerkrieg bis zur großen Migration in die Industriemetropolen des Mittleren Westens behandelte – wie konnte diese Musik in England auf so fruchtbaren Boden fallen?

Wenn man Zeitgenossen befragt, die damals zehn oder fünfzehn Jahre alt waren, so hört man immer das Gleiche. Sie malen ein Bild von England, das zwar den Krieg gewonnen hat, aber trotzdem am Boden zerstört war. Ganze Häuserblocks lagen in Schutt und Asche, riesige Geröllhalden türmten sich auf den Straßen. Das Land war pleite, das Empire nur noch ein Scherbenhaufen. Indien gehörte der Vergangenheit an, Mandalay ebenso. England war eine triste Insel, die wieder mit sich selbst zurechtkommen musste. Die Lebensmittelrationierungen gingen nicht mit dem Krieg zu Ende, sondern währten bis weit in die Fünfzigerjahre. Auf der ersten US-Tour der Beatles fragte ein Reporter George Harrison, ob es in seinem Elternhaus einen Plattenspieler gegeben habe. »Einen Plattenspieler?«, fragte ein ungläubiger Harrison. »Wir hatten nicht einmal Zucker.« Keith erzählte später einmal die Geschichte, wie er bei einem frühen Gig in München das deutsche Publikum angemacht habe: »Ihr seid schuld, dass wir so schlechte Zähne haben«, pöbelte er. »Es gab in England jahrelang keine Apfelsinen.«

Unrat, Verwesung, graue Umrisse auf bröckelnden Wänden – Engländern, die in der Nachkriegszeit groß wurden, erscheint ihre Jugend oft wie ein Schwarz-Weiß-Film. Es gab keine Vitalität, keine Wärme. Wohingegen der Rock ’n’ Roll dann wie Technicolor über die Insel kam. Kaugummipink! Babyblau! Niemandem bedeutete die Musik mehr als dieser ersten Generation. Für sie war Rock ’n’ Roll Farbe und Leben, die Hoffnung auf ein wenig Spaß, die Flucht vor der Vergangenheit – Amerika, wie man es sich nur mit einer traurigen Kindheit erträumen konnte. »Dieser unsägliche Krieg hatte definitiv seine Spuren hinterlassen«, sagte mir der Fotograf Ethan Russell, der die Stones in den Sechzigern ablichtete. »Die westliche Zivilisation war ein Trümmerhaufen, England lag am Boden. Keith Richards war ein Kind, das in einem desolaten Haus in einer ausgebombten Straße aufwuchs. Aber er hatte Chuck Berry für sich entdeckt. Eins meiner Lieblingsfotos zeigt Keith, wie er auf dieser Straße Chuck Berry und seinen Entengang imitiert. Er ist gerade mal vierzehn Jahre alt, aber bereits voll auf dem Trip.«

Als sich Keith und Mick auf dem Bahnhof begegneten, hatte sich die erste Rock-’n’-Roll-Welle bereits im Sande verlaufen. Was teilweise durchaus auf einen natürlichen Zyklus zurückzuführen war. »Es ist nun mal ein fünfjähriger Kreislauf«, erklärte mir einmal Neil Sedaka. »Die Everly Brothers hatten ihre fünf Jahre, Connie Francis hatte fünf, Fats Domino und Brenda Lee hatten fünf. Alle Künstler, die in den Fünfzigern die Speerspitze bildeten, waren Schnee von gestern, als die Beatles und Stones auftauchten.« Zum Teil ging der Karriereknick aber auch auf eine Abfolge unglücklicher Umstände und Pannen zurück. Elvis wurde 1958 eingezogen – und war nicht mehr derselbe, als er 1960 die Army verließ. Der Dienst am Vaterland hatte ihm die Zähne gezogen und seine elektrisierende Energie weich gespült. Jerry Lee Lewis’ Karriere schien zu Ende, als er seine dreizehnjährige Cousine heiratete, Chuck Berry kam hinter Gitter, weil er gegen den »Mann Act« verstieß, der es untersagt, Minderjährige zu »unmoralischen Zwecken« in einen anderen Bundesstaat zu bringen. Little Richard, der exaltierteste der frühen Stars, hatte eine Vision, die ihn um sein ewiges Leben bangen ließ. »Wer mit dem Herrn leben will, kann kein Rock ’n’ Roller sein«, erklärte er seine Wandlung vom Saulus zum Paulus. »Gott mag so was nicht.« Es war auf einem Flug nach Australien passiert: Ein Propellermotor fing Feuer – und Little Richard ging auf die Knie (natürlich ohne dabei seine lila Hose und das pinke Einstecktuch zu zerknittern). Sollte ihm der Tod noch einmal erspart bleiben, versprach er dem lieben Gott, würde er sein Leben fortan der Bibel widmen. Ein paar Tage später warf er seine güldenen Ringe in den Hafen von Sydney, kehrte nach Alabama zurück und trat der Seventh Day Adventist Church bei.

Als wir das Jahr 1963 schrieben, hatte sich anspruchslose Bubblegum-Musik in den Charts breitgemacht – »Hey Paula« von Paul & Paula etwa oder »I’m Leaving It Up To You« von Dale & Grace. Als Antwort darauf entdeckten in dieser Zeit viele Briten den Blues. Der Blues war ein Zufluchtsort, an dem man vor den Irrungen des Radioprogramms geschützt war. Blues war echt. Jungs wie Jagger und Richards stürzten sich aus dem gleichen Grund auf den Blues, wie sich die Kids meiner Generation auf Public Enemy oder NWA stürzten. Es ging um Authentizität.

Am Anfang hörten sie alles, was sie auftreiben konnten, doch schnell kristallisierten sich ihre Favoriten heraus: Muddy Waters, Chuck Berry, Jimmy Reed. Der Delta Blues mauserte sich zu einer Obsession, die fast schon religiöse Züge annahm. Keine Frage: Im Falle der Stones war es eine Religion – was sich aber durchaus als glückliche Fügung herausstellen sollte. Jeder Künstler braucht einen Glauben – egal, ob es sich dabei um Kommunismus oder Rastafarianismus handelt. Was zählt, ist das Fundament, auf dem der Glaube baut. Erst dadurch erhält ein Werk Kohärenz und Gestalt. Der Glaube existiert, selbst wenn man von seiner Existenz nichts bemerkt. Im Lauf ihrer langen Karriere lieferten die Stones so manch scheußliche Platte ab. Am Ende war es immer der Blues, an dem sie sich aus dem Sumpf zogen.

ENDE DER LESEPROBE