Die Sprache der Flammen - Kathy Reichs - E-Book

Die Sprache der Flammen E-Book

Kathy Reichs

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Beschreibung

Wo Rauch ist, ist auch Feuer

Tempe Brennan hat als forensische Anthropologin schon Leichen in den verschiedensten Zuständen untersucht. Doch kaum etwas ist für sie so herausfordernd wie Großbrände und verkohlte Körper. Als sie nach Washington, D.C., gerufen wird, um die Opfer inmitten eines von Flammen zerstörten Gebäudes zu untersuchen, erwartet sie eine entsprechend grausige Szenerie. Die Hausruine befindet sich in einem Viertel mit bewegter Vergangenheit, die Eigentümer erweisen sich als zwielichtig. Schnell erhärtet sich der Verdacht, dass es sich um Brandstiftung handelt. Und dann geht ein weiteres Haus in Flammen auf …

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Seitenzahl: 370

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Eigentlich will Tempe Brennan endlich mal wieder ein gemütliches Wochenende mit ihrem Partner genießen. Doch dann bittet ihre Tochter Katy sie, ihre Expertise bei einem Hausbrand in Washington, D.C., einzubringen. Widerwillig ist die forensische Anthropologin nur wenig später in abgefackelten Gebäuderesten auf der Suche nach verkohlten Leichen. Die grausigen Überreste verbrannter Menschen zweifelsfrei zu identifizieren, gehört zu ihren schwierigeren Aufgaben.

Schon bald steht der Verdacht der Brandstiftung im Raum. Das ausgebrannte Gebäude befindet sich in Foggy Bottom, einem ehemaligen Gangster- und Schmugglerviertel. Die Eigentümer sind feindselig und selbst durchaus zwielichtig. Dann plötzlich geht ein weiteres Haus im Viertel in Flammen auf. Kann das Zufall sein? Während Tempe unter Hochdruck arbeitet, beschleicht sie das ungute Gefühl, dass jemand all ihre Schritte genau beobachtet. Doch was, wenn sie ihm zu nahe kommt?

Die Autorin

Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie, eine von nur knapp einhundert vom American Board of Forensic Anthropology zertifizierten forensischen Anthropolog*innen und unter anderem für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten und wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Die darauf basierende Serie BONES – DIEKNOCHENJÄGERIN wurde von Kathy Reichs mitkreiert und -produziert. Mehr von Kathy Reichs:

www.kathyreichs.com

Instagram@kathyreichs

x.com/kathyreichs

facebook.com/kathyreichsbooks

KATHY REICHS

DIE SPRACHE DER FLAMMEN

THRILLER

AUSDEMAMERIKANISCHENVONJENSPLASSMANN

Die Originalausgabe FIREANDBONES erschien erstmals 2024 bei Scribner, an Imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2024 by Temperance Brennan, L. P.

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Published by arrangement with the original publisher Scribner, a division of Simon & Schuster, Inc.

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

Umschlagabbildung: shutterstock/Nikolayev Alexey, Stephen Barnes/Hyprid Graphics/DisneylandWorld

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33092-7V001

All den tapferen Männern und Frauen, die ihr Leben zum Schutz unserer Häuser, Wälder und unserer Lieben riskieren – allen Feuerwehrleuten auf der ganzen Welt.

Das Recht zur Wahrheitssuche birgt zugleich eine Verpflichtung; nichts, was als wahr erkannt wurde, darf verschwiegen werden.

Albert Einstein

Prolog

Foggy BottomWashington, D.C.

Ein Jucken in der Nase.

Ein Kratzen im Hals.

Sie hustete.

Alte Gebäude sind nun mal muffig, sagte sie sich schlaftrunken.

Aber warum dieser beißende Geruch? Und was war das Bittere, das sie auf der Zunge schmeckte?

War ihr Bauchgefühl doch richtig gewesen? Hätte sie sofort die Flucht ergreifen sollen beim Anblick dieses albtraumhaften Gewirrs aus notdürftig abgetrennten Zimmern? Dieses Lochs, das sie für ihre fünfzig Dollar ergattert hatte?

Sie öffnete die Augen.

Sah in totale Finsternis.

Staub. Alles bloß Staub.

Ihr Hypothalamus zeigte sich wenig überzeugt von der Erklärung und forderte vorsichtshalber einen Schwung Adrenalin an.

Ihr olfaktorischer Cortex identifizierte das Kissen, das von den Köpfen all der schmuddeligen Gäste über die Jahre modrig und dumpf geworden war. Sie richtete sich auf, zog ihr Handy darunter hervor.

Der Bildschirm leuchtete auf, ließ ihre Hand und die ausgefranste Kante der schäbigen Polyesterdecke sichtbar werden. Viel mehr von ihrer Umgebung enthüllte der schwache Schimmer nicht.

Sie schwang die Beine über die Bettkante, setzte sich gerade hin, scrollte nach links und tippte auf die Taschenlampen-App. Ein forscher kleiner Lichtstrahl beschrieb Achterbahnen um sie herum.

Schatten sprangen in wilden Stufen und Winkeln vom spärlichen Mobiliar. Ein Schreibtisch, unter dessen einer Ecke eine uralte Tastatur klemmte, um ihn einigermaßen auszurichten. Eine messingfarbene Stehlampe mit Rostflecken. Eine Kleiderstange auf Rollen mit vier Drahtbügeln.

Nichts Besorgniserregendes.

Bis der schmale weiße Strahl auf der Tür landete.

Schwarzer Rauch quoll durch den Spalt zwischen Unterkante und Boden. Hinter dem Spalt züngelte es orange und gelb.

Flammen?

Sie wagte kaum zu atmen, lief auf Zehenspitzen über den Teppichboden und legte die Hand auf das Türblatt.

Das Holz war warm.

Sie berührte den Türknauf.

Heiß!

Sie benutzte den Saum ihres T-Shirts, um den Knauf zu drehen, und öffnete gerade so weit, dass sie hindurchlugen konnte. Im Nebenraum wirbelten Flammen ums Bett, fraßen an den Fenstervorhängen.

Ihr stockte der Atem.

Sie schlug die Tür zu.

Ogottogottogott!

Sie lauschte. Kein Alarm zu hören. Keine Sirenen.

Was tun? Was tun?

Sie begann zu rufen.

»Hilfe! Bitte! Ich bin hier!«

Nichts.

Sie schrie wieder und wieder, bis ihr Hals den Dienst versagte.

Sie rang nach Luft, horchte angestrengt nach irgendeinem Zeichen eines anderen menschlichen Wesens.

Nirgends Stimmen. Nirgends regte sich etwas.

Einen Fluchtversuch wagen? Irgendwie erschien ihr das falsch. Unmittelbar hinter der Tür brannte es lichterloh. Und sie hatte keine Ahnung, auf welchem Weg sie am ehesten aus dem Gebäude kam.

Mit hämmerndem Herzen nahm sie ihr Handy und gab mit zitternden Fingern die Zahlen ein. Vertippte sich. Versuchte es erneut.

Eine Frau meldete sich nach dem ersten Klingeln.

Neun-eins-eins. Welche Notlage liegt vor?

Das Haus, in dem ich bin, brennt!

Ma’am, bitte bewahren Sie Ruhe.

O Gott!

Nennen Sie mir Ihren genauen Standort.

Keine Ahnung, wie die Adresse lautet. Ich hab hier bloß ein Zimmer gemietet.

Okay. Ich habe die Feuerwehr alarmiert. Ein Team wird gleich bei Ihnen eintreffen.

Ich werde sterben!

Nein, werden Sie nicht. Ich bleibe bei Ihnen, nicht auflegen! Haben Sie mich verstanden?

Ja.

Sie hustete.

Sind Sie verletzt, Ma’am?

Es wird immer schwerer, Luft zu kriegen.

Hat der Raum eine Feuerleiter?

Nein!

Ihre Augen fühlten sich an wie schwelende Kohlen. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Ein Fenster?

Nein!

Eine Tür?

Ja! Die ist ganz heiß!

Öffnen Sie nicht die Tür. Können Sie ein Handtuch oder einen Kissenbezug nass machen und sich übers Gesicht legen?

Hier drin ist kein Wasser.

Beißender schwarzer Qualm erfüllte nach und nach den Raum. Sie hustete, bis ihr Bauch schmerzte, schmeckte Blut im Mund.

Wie heißen Sie?

Was?

Wie ist Ihr Name?

Skylar.

Skylar, halten Sie sich bitte geduckt und bewegen Sie sich fort von der Tür.

Klang die Frau verärgert? Ihretwegen? War sie etwa selbst schuld an ihrer misslichen Lage?

Es tut mir leid. Ich hab das nicht gewollt.

Ihr wurde schlecht. Sie begann zu würgen.

Skylar. Gehen Sie fort von der Tür.

Übelkeit und blankes Entsetzen rissen sie mit. Sie konnte kaum noch etwas verstehen. Kaum noch denken.

Skylar! Gehen Sie da weg!

Der gebellte Befehl ließ sie zusammenfahren. Trieb sie an, in Aktion zu treten.

Sie schlug sich eine zitternde Hand vor den Mund und kroch zur rückwärtigen Ecke des Raumes, wo sie sich hinter das Schreibpult zwängte. Sie presste den Rücken gegen die Seitenwand und löste sich sofort wieder erschrocken davon, als sie die Hitze durch den dünnen Baumwollstoff spürte.

Sie schlang die Arme um die angezogenen Knie, rang keuchend nach Atem. Plötzlich musste sie sich zur Seite drehen, um sich zu übergeben. Sie schluckte schwer, um den bitteren Gallengeschmack aus dem Mund zu bekommen.

Wo war die Frau vom Notruf? Hatte man sie aufgegeben? Dem Tod überlassen?

Moment, wo war ihr Handy? Hatte sie es fallen lassen, als sie beim Befehlston der Frau zusammengefahren war? Hatte sie überhaupt ein Handy gehabt? Oder hatte sie es bloß geträumt?

Das Feuer knisterte und knackte auf der anderen Seite der Tür, die durch den dichten dunklen Rauch kaum noch auszumachen war. Gleichgültig, geradezu unbeteiligt registrierten ihre Ohren jetzt die Geräusche.

Jenseits ihres winzigen Zimmers brach etwas krachend zusammen. Neugierig züngelten die ersten Flammen durch den Spalt an der Türzarge, färbten ihren Körper in changierenden Bernsteintönen. Sie verfolgte, wie das am Knauf hängende Plastikschild sich krümmte, schwarz wurde und schmolz. Pst! Ruhe bitte!, appellierte es.

Wie hypnotisiert dachte sie: Ich werde sterben. Ich werde sterben. Ich werde sterben.

Das Mantra beruhigte sie ein wenig. Oder in ihrem Gehirn machte sich der Sauerstoffmangel bemerkbar.

Bilder jagten ihr durch den Kopf. Ihr Hund, Peaky. Ihre Schwester Mellie. Das Hochzeitskleid, das sie vor weniger als einem Jahr getragen hatte.

Hatte er sie gefunden?

Sie senkte die Lider.

Schwarze Punkte tanzten dahinter.

Sie legte die Stirn auf die angezogenen Knie.

Das Zimmer wich immer weiter zurück.

Die Punkte erstarrten zu dichtem Schwarz.

1

Charlotte, North Carolina

All die winzigen, abgenagten Teilchen stammten von einem Menschen. Das hatte ich sofort erkannt.

Aber war dieser Mensch Norbert Mirek gewesen?

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. 20 Uhr. Ich hätte schon vor Stunden Feierabend machen sollen. Doch ich war noch immer hier bei Norbert. Vermutlich Norbert.

Genauer gesagt, war ich in Autopsieraum vier. Dem Stinker. Wo man mich für gewöhnlich antraf.

Selbst die Spitzen-Lüftungsanlage änderte kaum etwas an dem Gestank, den das vor mir ausgebreitete Gemenge absonderte. Der mit Erde verkrustete Haufen Exkremente bestand aus Pflanzlichem, Haaren, Knochen und allerlei unidentifizierbaren Einschlüssen.

Die Knochenstücke trugen nichts zur olfaktorischen Belästigung bei. Sie hatten schon lange jede Verbindung mit zusammenhaltendem Weichteilgewebe verloren. Der Übeltäter war die Scheiße.

Als forensische Anthropologin habe ich es regelmäßig mit verwesten, verbrannten, mumifizierten, verstümmelten, zerstückelten und skelettierten menschlichen Überresten zu tun. Verfaultes Fleisch ekelt mich nicht. Aber in Scheiße zu wühlen, hatte noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gezählt. Der vorliegende Fall bestärkte diese Aversion einmal mehr.

Links von mir türmten sich noch ungeprüfte Kotberge, während beachtenswerte Fundstücke rechts auf einem blauen Plastiktuch ruhten. Auf einer Theke hinter mir stand eine Reihe weiterer Beutel.

Ein paar Hintergrundinformationen hatte ich dazu von Detective Skinny Slidell aus dem Morddezernat des CMPD erhalten. Slidell war zwar offiziell bereits verrentet, sprang jedoch angesichts von Budgetkürzungen und Personalmangel gelegentlich ein, um bei der Aufklärung eher unspektakulärer Fälle zu helfen.

Was stets ein besonderes Vergnügen war – Skinny besaß den Liebreiz einer Triefnase.

Norbert Mirek, Alter achtundsechzig, war Eigentümer von Lost Foot Pastures, gut sechzehn Hektar Wald- und Ackerfläche im ländlichen Teil von Mecklenburg County, North Carolina. Mirek lebte seit Jahrzehnten allein auf dem Anwesen. Seine einzige Gesellschaft bestand aus einem Rudel geretteter Hunde, das er frei herumlaufen ließ, insgesamt etwa dreißig.

Vor einem Jahr war Mirek spurlos verschwunden. Vor zwei Tagen war dann Halsey Banks, Mireks Neffe, in Lost Foot auf Truthahnjagd gewesen und hatte ein paar Kojoten bemerkt, die sich auf einem überwucherten Feld abseits der Straße sonderbar benahmen. Aus Neugier ging er hinüber und fand mehrere ausgeblichene Bruchstücke, die er für mögliche Knochen hielt. Außerdem eine Brille, von der er glaubte, dass es die seines Onkels war.

Daraufhin hatten Beamte des CMPD mit Leichenspürhunden das Gelände abgesucht und bergeweise Hundekot eingesammelt. Ein Teil davon lag jetzt auf dem Edelstahltisch, über den ich mich beugte.

Mireks Angehörige wollten Antworten. Die Anwälte von Mireks Angehörigen wollten Antworten.

Skinny drängelte.

Deshalb war ich noch im Labor.

Allerdings fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren. Das lag nicht allein an der späten Uhrzeit. Oder an den organischen Düften, die mir in die Nase stiegen und Kleidung und Haare durchdrangen. Meine Gedanken wanderten ständig zum bevorstehenden langen Memorial-Day-Wochenende. Zu einem Rendezvous mit Ryan und entspannten drei Tagen in Savannah.

Wir hatten ein Zimmer in einem kleinen B & B namens The Tumble Inn gebucht. Ryan würde morgen mit dem Flieger in Charlotte landen. Ich wollte ihn am Flughafen abholen, und von dort würde es sofort weiter nach Georgia gehen. Vier Stunden Fahrt. Ein Kinderspiel.

Welcher Ryan, wollen Sie wissen?

Scharfsinnige Frage.

Andrew Ryan. Lieutenant-détective. Section de Crimes contre la Personne. Sûreté du Québec. Retraité.

Was übersetzt ungefähr heißt: Ryan war jahrzehntelang Cop in der kanadischen Provinz Quebec gewesen. Seit seinem Abschied vom Dienst arbeitete er als Privatermittler. So eine Art zweisprachiger, grenzübergreifender Philip Marlowe.

Außerdem ist Ryan mein langjähriger Partner, sowohl in beruflicher wie in privater Beziehung. Doch dazu später mehr.

Konzentrier dich, Brennan!

»Hey, Großer«, rief ich, warf meine Handtasche auf den Küchentresen und stellte den Pizzakarton daneben. »Sorry für die Verspätung.«

Kein Katzentier.

In weiser Vorausschau hatte ich Birdies Napf morgens vor meinem Aufbruch mit Trockenfutter gefüllt, da ich bereits mit einem langen Tag rechnete. Statt des üblichen Knöchelschmeichelns zur Begrüßung strafte mich der Vierbeiner jetzt dennoch mit Nichtbeachtung. Auf diese Weise brachte er zum Ausdruck, dass er das trockene Zeug wirklich gar nicht mochte. Und meine lange Abwesenheit ebenso wenig.

Womit Bird nicht unrecht hatte. Es war mittlerweile kurz vor zehn. Ich war fast vierzehn Stunden weg gewesen. Immerhin war es mir gelungen, mich durch den gesamten Kot zu arbeiten.

Einige der Knochenreste, die sich in den Exkrementen fanden, waren tatsächlich menschlicher Natur, sodass ich ein paar Proben zur DNA-Bestimmung einschicken konnte. Zusätzlich hatte ich noch Geschenktütchen für die Haar- und Stoffexperten beigelegt. Da ich für die Anfertigung eines vollständigen Berichts viel zu müde war, hatte ich anschließend nur noch einen ersten Entwurf auf Band gesprochen und war nach Hause gefahren.

Zu einem eingeschnappten Kater.

Dem zu allem Übel auch noch die Erkenntnis blühte, dass er die nächsten drei Tage bei der Nachbarin verbringen würde.

Sei’s drum.

Ich wollte jetzt nur noch eine heiße Dusche, die Pizza und dann ins Bett.

Alle drei Wünsche erfüllten sich. Ich war gerade im Tiefschlaf, als Ray Charles auf meinem Nachttisch zu singen begann. »Georgia on My Mind«. Mein aktueller Klingelton. Nicht schwer zu verstehen warum, was?

Mir gelang es in diesem Moment allerdings nicht. Mein Hirn hing noch groggy in den Seilen.

Ich griff blinzelnd nach dem Handy und schaute auf den Bildschirm.

Den Zahlen am oberen Rand zufolge war es 3:02 Uhr. Im Feld darunter stand Katys Nummer.

Um Himmels willen!

Meine ausgiebige Erfahrung mit Anrufen zu frühmorgendlicher Stunde hat mich gelehrt, dass sie nie Gutes bedeuten.

Starr vor böser Vorahnung hob ich ab. »Was ist los, Katy? Wo steckst du?«

»Mir geht’s gut. Chill erst mal.«

»Es ist mitten in der Nacht.«

»Ich ruf doch oft mitten in der Nacht an.«

Wohl wahr.

»Kannst du kurz auf Empfang schalten?«, sagte sie.

Ich setzte mich auf, rutschte gegen das Kopfteil und sammelte mich einen Moment. »How goes it, Katy Matey?«

»Ist dir klar, wie bescheuert sich das anhört?«

»Früher hat’s dir gefallen.«

»Da war ich sechs.«

»Na, wir sind aber schlecht gelaunt.«

»Ich bin nicht schlecht gelaunt.«

Erst der Kater, jetzt meine Tochter.

»Was gibt’s?« Um drei Uhr morgens? Das ließ ich weg.

»Morgen gibt’s Gips.«

»Und meine Sprüche klingen bescheuert?«

»Ich hab eine Bitte an dich.«

»Klar doch«, sagte ich, ganz automatisch.

»Gefallen wird’s dir nicht.«

Na wunderbar.

»Erinnerst du dich noch an Ivy Doyle?«

»Nein, tut mir leid.«

»Ivy ist Reporterin. Sie war meiner Einheit als zivile Kriegsberichterstatterin zugeteilt bei meinem zweiten Einsatz in Afghanistan. Inzwischen arbeitet sie für einen Fernsehsender in Washington, D.C.«

Eine Fernsehreporterin. Katy hatte recht. Mir gefiel die Sache schon jetzt nicht.

»Ich wollte dich bitten, ihr ein paar Fragen zu beantworten. Zu einem Brand, über den sie berichtet.«

»Du weißt, dass ich keine Interviews gebe.«

»Warum eigentlich?«

»Gespräche mit der Presse bringen nie was Gutes.« Ebenso wenig wie mitternächtliche Anrufe. Das ließ ich auch weg.

»Herrgott, Mom. Das ist dermaßen engstirnig.«

»Sagen wir einfach, gebranntes Kind scheut Feuer.«

»Im Wortsinn?«

»Sehr witzig.«

Ich hörte das zischende Öffnen einer Dose. Schluckgeräusche.

»Könntest du nicht einfach kurz mit ihr reden?«

»Liebling, ich …«

»Ich schulde Ivy was«, unterbrach sie mich. In Katys Stimme lag eine neue Schärfe. »Und zwar verdammt viel.«

Meine Tochter sprach nur selten über ihre Zeit in der Armee. Über die Kampfeinsätze, die sie miterlebt hatte. Die beiden Aufenthalte in Kriegsgebieten, die sie für immer verändert hatten. Die Albträume, die sie nachts noch immer heimsuchten.

»Ich würde dir das nicht zumuten, wenn es nicht wichtig wäre«, fuhr sie fort. Es war nicht zu überhören, wie schwer ihr die Bitte fiel. »Wichtig für mich.«

Ich wartete.

Katy sog hörbar die Luft ein. »Ivy hat mir das Leben gerettet.«

Ich verharrte reglos, vor meinem inneren Auge das Gesicht meiner Tochter. Das militärisch kurz geschorene blonde Haar. Die eindringlichen grünen Augen. Die Narbe auf der Wange.

Die Narbe, über die sie nie sprach.

»Möchtest du darüber reden?«

»Nein. Ich möchte, dass du Ivy hilfst. Für sie ist das enorm wichtig.«

»Warum?«

Ein Wimpernschlag Stille. »Das spielt keine Rolle«, sagte sie dann.

»Wie helfen?«, fragte ich seufzend. Schon halb in mein Schicksal ergeben.

»In Washington steht ein Gebäude in Flammen. Details kenne ich nicht, aber es werden wohl Menschen vermisst, von denen befürchtet wird, dass sie darin eingeschlossen sind. Ivy ist mit der Berichterstattung beauftragt worden und würde sich gerne mit dir darüber unterhalten, wie bei der Untersuchung von Brandstellen vorgegangen wird, wenn es Todesopfer gegeben hat.«

»Warum ausgerechnet mit mir?«

»Du hast mal einen Artikel geschrieben, der sich – was für ein Zufall – um die Untersuchung von Brandstellen mit Todesopfern dreht. Sie hat ihn entdeckt, natürlich gewusst, dass du meine Mutter bist, und mich kontaktiert.«

Ich musste einen Moment nachdenken. Bingo.

Der Beitrag war vor über fünfzehn Jahren in einer obskuren Fachzeitschrift für Brandermittler erschienen. Ich war überrascht, dass er überhaupt noch zugänglich war.

»Wie ist sie denn auf diesen Geniestreich von mir gestoßen?«

»Mom. Im World Wide Web verschwindet nie was.«

Richtig. Doch Doyle hatte es immerhin geschafft, ihn auszugraben, was mir verriet, dass sie eine verbissene Schnüfflerin war.

»Ryan kommt morgen aus Montreal. Abends um halb sechs hole ich ihn am Flughafen ab, und dann fahren wir weg.«

»Ivy kann sich über Zoom mit dir unterhalten, wann immer es dir passt. Such dir eine Uhrzeit aus.«

»Warum riecht das so nach Hinterhalt?«

»Das Ganze wird dich fünf Minuten kosten.«

Abgesehen von dem Aufwand, den mich Frisur und Make-up kosten würden.

»Also schön. Morgen früh um acht.«

»Ivy schickt dir eine E-Mail mit dem Zoom-Link. Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du super bist?«

»Nein.«

»Du bist super.«

Fünf Stunden später saß ich mit Rouge auf den Wangen und halbwegs korrekt gebundenem Pferdeschwanz vor meinem Computer. Die linke Hälfte des Bildschirms zeigte das Gesicht einer gut Dreißigjährigen mit aquamarinfarbenen Augen, perfekten Zähnen, makellosem Teint, roten Haaren und einer herausfordernd asymmetrischen Nase. Eine Mischung, die es auch aufs Cover der Vogue hätte schaffen können.

Ivy Doyle charismatisch zu nennen, wäre ungefähr so sinnig gewesen, wie den Atlantik für feucht zu erklären. Selbst in digitaler Form besaß die Frau eine Ausstrahlung, die fast mit Händen greifbar war.

Warum war es ihr dann derart wichtig, mich zu interviewen?

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie sich hierzu bereit erklärt haben. Vielleicht hat Katy es ja bereits erwähnt, aber ich versuche dem Sender ein Format schmackhaft zu machen. Es nennt sich ID: Ivy Doyle ermittelt. Sie verstehen? Der Titel greift meine Initialen auf.«

»Clever.«

»Im Augenblick produziere ich ID noch als Podcast für den Sender. Aber ich will nicht für alle Zeiten Lokalreporterin und Podcasterin bleiben. Dieser Brand ist natürlich nicht die Story des Jahrhunderts, aber ein Exklusivinterview mit einer namhaften Wissenschaftlerin wird meine Visibilität sicherlich erhöhen. Und das kann im Fernsehgeschäft nie schaden.«

Namhafte Wissenschaftlerin?

Da ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, sagte ich gar nichts.

»Um Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch zu nehmen, erstelle ich später das Intro, in dem ich erkläre, dass das Gebäude seit den frühen Morgenstunden brennt und Bergungsmaßnahmen aufgenommen werden, sobald die Lage es erlaubt. Jetzt werde ich nur kurz Ihre fachliche Qualifikation skizzieren und dann mit meinen Fragen beginnen. Ist das so in Ordnung für Sie?«

»Fangen wir einfach an«, sagte ich, obwohl mir etwas unwohl war, weil ich diese Fragen nicht kannte.

Ivy drückte den Rücken durch und nickte, als sie das Zeichen erhielt, dass die Kamera lief. »Bei mir ist Dr. Temperance Brennan«, begann sie mit einer tieferen und ausdrucksvolleren Stimme als zuvor. »Sie ist beratende Anthropologin für die Rechtsmedizin von Mecklenburg County, North Carolina, sowie für das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale in Montreal, Kanada.« Doyle sprach den französischen Namen, den Reporter normalerweise arg verunstalteten, absolut fehlerfrei aus. »Als eine von allenfalls einer Handvoll Fachleute mit staatlicher Anerkennung vom American Board of Forensic Anthropology ist Dr. Brennan eine ausgewiesene Spezialistin, was die Bergung und Analyse verbrannter menschlicher Überreste betrifft. Vielen Dank, dass Sie bei uns sind, Dr. Brennan.«

»Ist mir ein Vergnügen.« Herrgott, ich klang wie ein Kellner im Ritz.

»Dr. Brennan, der Brand wütet nun seit zwei Uhr morgens, und wenigstens vier Personen gelten weiterhin als vermisst.« Ein Anflug von dramatischem Hauchen. »Das Gebäude ist fast hundert Jahre alt. Teile des Innern sind eingestürzt. Wie gehen Wissenschaftler in solchen Fällen vor?«

»Die Suche nach Opfern kann erst beginnen, wenn die Brandstelle ausreichend abgekühlt ist und die Freigabe zum Betreten der noch stehenden Gebäudeteile erteilt wurde. Sind diese Kriterien erfüllt, wird umgehend mit Suche und Bergung begonnen.«

»Ein langwieriger und schmerzvoller Prozess, könnte ich mir vorstellen. Welchen Schwierigkeiten werden sich diese Suchteams gegenübersehen?«

»Ein Problem könnten eingebrochene Böden darstellen.«

»Erklären Sie uns das bitte.«

»Auch wenn Mauern aus Beton oder Ziegelstein einen Brand überstanden haben, können Holzbalkendecken eingestürzt sein und unter ihnen liegende Stockwerke mitgerissen haben. Leichen von Brandopfern findet man daher häufig in der untersten Etage unter Unmengen von Schutt begraben. Das ist aber nicht immer der Fall.«

»Ermittler versuchen derzeit die Namen der vermissten Personen festzustellen. Menschen, von denen bekannt war, dass sie in dem Gebäude wohnten oder Zimmer gemietet hatten. Wie hilfreich wären diese Informationen?«

»Extrem hilfreich.«

Doyle wartete darauf, dass ich den Punkt näher ausführte. Vergeblich. »Sie sagten, die Bergung besteht vor allem darin, sich durch all die Schichten zu arbeiten.« Sie legte die Stirn in angemessen besorgte Falten. »Was werden Suchtrupps noch darunter finden?«

»Schwer zu sagen. Extreme Hitzeeinwirkung über einen langen Zeitraum in Verbindung mit dem gewaltigen Druck der herabgestürzten Gebäudeteile ist keine gute Kombination.«

Eine kurze Pause, dann wechselte Doyle das Thema. »Wenn eine Leiche dann bei Ihnen im Labor landet, welchen Ablauf nimmt die Untersuchung dort?«

»In dem Gerichtsbezirk, wo ich arbeite, wäre ein Pathologe oder eine Pathologin für die Untersuchung verantwortlich. Bei besonderen Umständen würde er oder sie eine anthropologische Fachmeinung einholen.«

»Besondere Umstände wie im Fall von Brandopfern?«

»Ja.«

»Weil die Toten nicht mehr vom Aussehen her wiedererkannt werden können.«

»Ja«, bestätigte ich ein wenig unbehaglich, angesichts eines solch grausigen Aspekts.

»Worin würde dabei Ihre Aufgabe bestehen?«

»Ich würde bei der Identifizierung helfen.«

»Und wie?«

»Ich würde die Überreste untersuchen, um Alter, Geschlecht, Größe, Abstammung und das Vorhandensein medizinischer oder genetischer Anomalien zu bestimmen – beispielsweise irgendwelche an den Knochen ablesbaren Auffälligkeiten. Ich würde ein biologisches Profil erstellen, wie ich das nenne. Ein forensischer Zahnmediziner würde sich die Zähne ansehen und daraus ein Gebissschema ableiten.«

»Sie nehmen also an, dass diese bedauernswerten Menschen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind.«

»Ich nehme gar nichts an«, schoss ich schärfer als gewollt zurück. Oder vielleicht wollte ich es doch.

»Wie steht es mit Fingerabdrücken?«

Bilder verkohlter Leichen bombardierten mein Hirn. Ich sah versengte Haut vor mir. Pechschwarze, gekrümmte Arme und Beine. Entstellte oder fehlende Fingerglieder.

»Hoffen kann man natürlich immer, aber die Finger müssten dafür in einem Zustand sein, der einen Abdruck erlaubt, und selbst wenn das gelingt, müssten sich die Abdrücke in irgendeiner Datenbank befinden, damit es weiterhilft.«

»Natürlich. Wie ich gehört habe, wurden Familienmitglieder bereits aufgefordert, DNA-Proben zur Verfügung zu stellen. Ist es möglich, von einem verbrannten Skelett noch genetisches Material zu gewinnen?«

»Das ist möglich.« Da das Verfahren sehr komplex war, beließ ich es dabei.

»Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie eine solche Arbeit erledigen? Sind es in erster Linie die Opfer, die Ihnen vor Augen stehen?« Die knallroten Lippen ernst zusammengepresst.

»Ja. Vor Ort und in meinem Labor bleibe ich allerdings fokussiert. Absolut neutral. Mein Ziel ist es, jedes Opfer wieder mit seiner Familie zu vereinen, ganz egal, was noch von ihm übrig sein mag.«

»Was können Sie denen sagen, die jetzt verzweifelt auf Nachrichten über geliebte Menschen warten?«

»Mir ist klar, dass die Ungewissheit unerträglich hart sein muss. Aber eine sachgemäße Bergung und Identifizierung braucht nun mal Zeit. So grausam es ist, haben Sie etwas Geduld. Die Fachleute, die daran arbeiten, tun ihr Bestes.«

»Haben Sie vielen Dank, Dr. Brennan.«

»War mir ein … Gerne doch.«

Nachdem die Verbindung getrennt war, saß ich noch einen Moment da und ging meine Antworten durch. Ich kam zu dem Schluss, dass das Interview nicht besonders gut, aber auch nicht schlecht gelaufen war.

Allerdings hatte die Unterhaltung mit Ivy Doyle nichts an meiner Ansicht geändert, dass mediale Aufmerksamkeit nur Ärger nach sich zog.

Es sollte nur wenige Stunden dauern, bis sich diese Einschätzung bewahrheitete.

2

Mein Handy klingelte, als ich beim Packen war.

Die Nummer des Anrufers begann mit den Zahlen 202. Dem Area Code für Washington, D.C.

Normalerweise ignoriere ich unbekannte Nummern. Irgendetwas riet mir, eine Ausnahme zu machen.

Ich sah fragend zu Birdie.

Hätte ein Kater mit den Schultern zucken können, dann hätte er das jetzt zweifellos getan.

Ich warf einen Badeanzug in den kleinen Rollkoffer und tippte auf das grüne Feld.

»Temperance Brennan.«

»Dr. Brennan. Ich bin so froh, Sie zu erreichen. Ich bin’s, Jada Thacker.« Die Stimme einer Frau, einer hörbar nervösen Frau.

»Ja?«

»Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Wir sind uns vor Jahren auf einem Kongress der American Academy of Forensic Sciences in Seattle begegnet. Ich hatte gerade mein Medizinstudium abgeschlossen und war im Begriff, eine Facharztausbildung in der Pathologie zu beginnen.«

»Natürlich.« Nicht den geringsten Schimmer.

»Ich habe Sie nach Ihrer Meinung zu einem praktischen Kurs in forensischer Archäologie gefragt, den ich belegen wollte.«

Eine vage Erinnerung begann Gestalt anzunehmen. Eine sehr groß gewachsene junge Frau mit riesigen Ohrringen und Haar, so schwarz glänzend wie Krähenfedern.

Und mit viel zu viel übersprudelndem Enthusiasmus für die späte Uhrzeit.

Jetzt klang diese Frau erschöpft und verunsichert.

»Was kann ich für Sie tun, Dr. Thacker?«

»Ich habe gerade das Interview gesehen, das Sie WTTG gegeben haben. Von Ivy Doyle habe ich auch Ihre Kontaktdaten. Der Reporterin. Ich hoffe, das war in Ordnung.«

»Ah ja.« War es nicht.

»Ich komme direkt zur Sache. Aufgrund von Zeugenaussagen gehen wir davon aus, dass in diesem Brand Menschen ums Leben gekommen sind. Ich bin interimsmäßig Medical Examiner im District of Columbia und daher für die Untersuchung dieser Todesfälle zuständig. Wie Sie so treffend in Ihrem Gespräch mit Miss Doyle zum Ausdruck brachten, erfordert die korrekte Erfassung einer solchen Brandstelle ganz spezielle fachliche Fähigkeiten. In meinem Team verfügt niemand über diese Fähigkeiten.«

Nein. Unter gar keinen Umständen.

»Natürlich habe ich in meinem Team Leute, die grundlegende Bergungstechniken beherrschen. Die meisten haben Erfahrung mit Brandorten. Aber in diesem Fall bräuchten sie fachliche Anleitung und Absicherung. Die leitende Hand von jemandem, der über enormes Fachwissen und ein immenses Know-how verfügt.«

»Gibt es in D.C. denn keinen amtlich zugelassenen Anthropologen?«, fragte ich, ohne auf die Lobhudelei einzugehen.

»Gewöhnlich ziehe ich Gene Raynor zurate. Aber Dr. Raynor ist in Portugal und damit nicht greifbar.«

»Gibt es denn sonst niemanden?«

»Ich möchte Sie.«

Ich versteifte mich instinktiv. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass mir innerhalb von vierundzwanzig Stunden schon die zweite willensstarke junge Frau etwas einreden wollte.

»Ich brauche wirklich Ihre Hilfe, Dr. Brennan. Ich bin es den Opfern und deren Angehörigen schuldig, dass hier keine Fehler gemacht werden.«

»Es tut mir leid, Dr. Thacker. Ich bin für die nächsten Tage fest verplant. Aber ich bin gerne bereit, Ihnen die Adresse …«

»Das Folgende sind vertrauliche Informationen. Was ich Ihnen jetzt sage, muss also unbedingt zwischen uns bleiben.«

Vertrauliche Informationen waren das Letzte, wonach mir der Sinn stand.

»Die Ermittlungsbehörden vermuten, dass das Gebäude als illegales Airbnb benutzt wurde.«

»Ohne Zulassung?«

»Ja. Zeugenaussagen zufolge waren das erste und zweite Stockwerk in ein regelrechtes Labyrinth von Einzelzimmern unterteilt, viele davon ohne Fenster, alle ohne Fluchtweg. Einer der längerfristigen Mieter meint, dass mindestens vier Menschen in den oberen Stockwerken schliefen, als das Feuer ausbrach.«

»Warum ist der Laden nie geschlossen worden?«

»Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass die armen Teufel, die in diesem Gebäude hockten, nicht die geringste Chance hatten.«

Eine neue Flut von Bildern bestürmte mich, alle so lebendig, als würde es gerade passieren. Mir passieren. Das alte Reihenhaus in Pointe-Saint-Charles. Der beißende Rauch. Der qualmend brennende, mit Benzin durchtränkte Teppich. Die gierigen Flammen, die nach dem vielen alten Holz züngelten …

Thackers Stimme riss mich in die Gegenwart zurück. »… erste Namen in Erfahrung gebracht. Eine der vermutlich zu Tode gekommenen Personen ist eine neunzehnjährige Kanadierin namens Skylar Reese Hill. Ich habe die Aufzeichnung des Anrufs gehört, den Hill noch bei 911 machen konnte. Das Grauen in der Stimme der jungen Frau lässt einen nicht mehr los.«

»Hill zählt zu den Vermissten?«

»Ja. Und ihr Ehemann verlangt nach Antworten, und zwar in keinem höflichen Ton.«

Ich scherte mich herzlich wenig um einen Ehemann, der urplötzlich starke Besorgnis demonstrierte – womöglich nur, weil er eine Chance auf Geld witterte. Was mich allerdings berührte, war der Tod eines neunzehnjährigen Mädchens, das verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatte.

Thacker ließ einen Moment der Stille eintreten, um ihren nächsten Worten besonderes Gewicht zu verleihen. »Ich bitte Sie inständig, Dr. Brennan. Horchen Sie in sich hinein und helfen Sie mir. Helfen Sie diesen Menschen.«

Mein Blick wanderte zu dem halb gefüllten Koffer. Zu den Sommerkleidern und Sandalen, die bereits danebenlagen. Während ich in Gedanken schon Juleps schlürfte und Pecan Pie naschte, waren Unschuldige in diesem Inferno ums Leben gekommen.

ScheißeScheißeScheißeverfluchte!

»In Ordnung.«

»Ehrlich? Sie kommen?«

»Ja.« Auch wenn es alles andere als in Ordnung war. Nicht einmal derselben Galaxie angehörte.

»Haben Sie vielen, vielen Dank.« Da war das aufgeregte Schnattern wieder, das ich in Erinnerung hatte. »Wie schnell können Sie denn los?«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. 9:17 Uhr. Ich musste umpacken, Birdie besänftigen und zu meiner Nachbarin bringen und zum Flughafen fahren.

»Um elf.«

»Ich buche schnell Hotel und Flug für Sie und melde mich dann sofort wieder.«

Sofort wieder war fast eine Stunde später. Alles Schnatterhafte war verflogen und von einem hochgradig bekümmerten Ton abgelöst worden. »Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat. Meine Sekretärin, mein Assistent und ich waren die ganze Zeit am Telefon. Neben dem üblichen Touristeneinfall zum Memorial-Day-Wochenende findet in D.C. gerade die WorldPride 2025 statt, bei der es am Wochenende irgendein Riesenevent gibt. Die Stadt wird ein einziges Tollhaus sein. Die gute Nachricht ist, dass ich ein Zimmer im Hyatt Place organisieren konnte. Ein Hotel, das direkt gegenüber von unserem Büro liegt.

Die schlechte Nachricht ist, dass einfach kein Platz auf einem Direktflug von Charlotte nach Washington zu bekommen ist. Ich könnte Ihnen eine Verbindung anbieten, bei der Sie um sieben hier wären, aber Sie müssten umsteigen und hätten einen längeren Aufenthalt in Philadelphia.«

Meine Güte. Was noch alles?

»Ich fahre«, sagte ich.

»Sind Sie sicher?«

»Dauert ja nur sechs Stunden.« In die völlig falsche Richtung.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Schicken Sie mir doch eine Stunde vor Ihrer Ankunft eine Nachricht. Dann arrangiere ich ein Treffen in meinem Büro. Der Brandermittler wird begeistert sein, Sie dabeizuhaben.«

Würde er nicht.

Ich habe nichts gegen lange Autofahrten. Lange Reisen quer durchs Land wecken den Pioniergeist in mir. Auch wenn ich nicht im Planwagen gen Westen zog. Oder mir einen Weg durch wilde, unerforschte Gebiete bahnen musste.

Obschon ich die Strecke nach D.C. gut kannte, gefiel es mir noch immer, jedes vorbeifliegende Ausfahrtschild zu lesen. Mooresville. Greensboro. Richmond. Fredericksburg.

Ich spielte im Kopf durch, wie ein Leben in diesen Städten wohl aussah. Theateraufführungen in der Schule. Konkurrenzkämpfe im Büro. Dramen in der Nachbarschaft.

Die Sogkraft des endlos langen Highways. Unbekannte Menschen. Unbekannte Orte.

In den Boomzeiten des CB-Funks hatte auch mein Vater sich so ein Gerät gekauft. Wenn ich mir mal die Familienkutsche schnappen konnte, warf ich das Ding immer an und quatschte mit Thunderman, Big El oder K-Bone und bildete mir ein, sie würden nicht merken, dass ich noch ein Kind war. Breaker! Keiner da? Mein eigener Nickname lautete Scooter.

Schließlich verpetzte mich meine Schwester Harry, und Mama bereitete meinem Truckerleben ein schnelles und entschiedenes Ende.

Der Tag heute war warm und schwül. Fette düstere Wolken wälzten sich tief über den Himmel. Je weiter nördlich ich kam, desto stärker sah es nach Regen aus. Ich hoffte, das Gewitter würde wenigstens noch warten, bis ich mein Hotel erreicht hatte.

Direkt nach meinem Gespräch mit Thacker hatte ich Ryan angerufen. Das Telefonat war nicht gut verlaufen. Er hatte zwar versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich konnte den Ärger in seiner Stimme hören. Den Frust. Wie er zu Recht anmerkte, war es bereits das zweite Mal in diesem Frühjahr, dass ich gemeinsame Pläne platzen ließ.

Find dich damit ab, Junge. Mich nervte es doch genauso.

Die hektische Übergabe des Katers war ähnlich unangenehm gewesen. Kaum hatte sich die Tür seines Korbs geöffnet, war Birdie unter das Sofa meiner Nachbarin geschossen und hatte zu jammern begonnen, als würde er gerade kastriert.

Für dich derselbe Rat, Bird. Ich war schließlich nicht auf dem Weg in ein dämliches Spa.

Von Zeit zu Zeit rauschte ein Vierzigtonner mit überhöhter Geschwindigkeit vorbei. Die verschwommene schwarze oder rote Wand brachte meinen Mazda ins Wanken und riss mich aus den Grübeleien. Ich hatte mir in einem dieser Yeti-Thermobecher Kaffee mitgenommen und gönnte mir bei jedem Vorbeidonnern einen Schluck, sodass ich schon bald vor Koffein schwebte.

Zu Anfang ließ ich ein Hörbuch laufen. Als das zu Ende war, schaltete ich National Public Radio ein und musste mehrmals die Frequenz wechseln, weil ich aus dem Sendegebiet der jeweiligen NPR-Station geriet.

Ich fahre nicht unbedingt langsam. Ryan meint sogar, ich hätte einen Bleifuß. So abgegriffen der Ausdruck auch sein mochte, in meinem Fall traf er tatsächlich zu.

Ich bog vom I-85 auf den I-95 und kam zügig voran. Näherte mich bereits Stafford und war vielleicht noch eine Stunde von der Hauptstadt entfernt, als zwei Dinge passierten.

Das Gewitter brach los.

Und der Verkehr kam zum Stillstand.

Beim Anblick des Meers an roten Rücklichtern vor mir bremste ich ab und hielt.

Wartete.

Nichts regte sich.

Ich wartete weiter.

Fluchte.

Ich bin auch nicht besonders geduldig am Steuer.

Genervt schob ich die Automatik auf Parken, lehnte mich zurück und fügte mich in mein Schicksal. Der Regen drosch gegen die Windschutzscheibe, hämmerte als unzählige winzige Kugeln auf Dach und Motorhaube. Der Wind peitschte die Wassermassen in Böen umher und erlaubte mitunter kurze Ausblicke auf die Welt jenseits meiner kleinen Bubble. In diesen winzigen Unterbrechungen wurden andere Fahrzeuge sichtbar und nahmen für einen Moment deutlichere Gestalt an, bevor sie sofort wieder im grauen Nichts verschwanden.

Wie die meisten Gewitter zog auch dieses rasch vorbei, und der Verkehr setzte sich kriechend langsam in Bewegung. In Drei-Meter-Schüben. Gas geben. Bremsen. Gas geben. Bremsen. So ruckelte ich die nächste Stunde vorwärts.

Ich gestehe unumwunden, dass ich ein aufbrausendes Temperament besitze. Immer schon besessen habe. Meine Großmutter führte diese Charakterschwäche auf meine irischen Gene zurück. Aber Grandma schob sowieso alles, Gutes wie Schlechtes, auf die gälische DNA.

Als Kind fiel es mir schwer, mein Temperament unter Kontrolle zu halten. Es dauerte zwar etwas, bis der Triggerpunkt bei mir erreicht war, aber wenn es passierte, giftete ich alles und jeden in Reichweite an.

Im Erwachsenenalter habe ich mir dann Techniken angeeignet, mit denen ich mich im letzten Moment, bevor ich explodiere und ausraste, noch abfangen kann. Manchmal zähle ich einfach. Oder ich mache Yoga-Atmung. Oder ich gehe im Kopf den Text irgendeines Songs durch.

Die geplatzten Pläne für Savannah. Der eingeschnappte Kater. Die lange Fahrt. Der gnadenlose Verkehr. Die grausige Aufgabe, die vor mir lag.

Da ich allein im Wagen war, versuchte ich erst gar nicht, mich zurückzuhalten. Ich ließ meiner Enttäuschung und Frustration freie Bahn, fluchte lauthals und wünschte den nicht erkennbaren Fahrern in den Autos ringsherum die Pest an den Hals.

Der Tobsuchtsanfall so ganz für mich allein half. Er befreite zwar nicht die verstopfte Arterie namens I-395, besänftigte aber immerhin mein zum Zerreißen gespanntes Nervenkostüm. Nachdem der private Ausbruch komplett verebbt war, bat ich mein Handy, Thackers Nummer anzuwählen. Sie meldete sich beim ersten Klingeln.

Ich teilte ihr mit, dass mein Navi die restliche Fahrzeit auf vierzig Minuten schätzte. Sie bedauerte die miserable Verkehrssituation und sagte, sie würde mich im Hotel treffen.

Mit den übereinandergestapelten Fensterzeilen und dem beleuchteten Schriftzug, der über den gläsernen Eingangstüren ein Stück vorsprang, unterschied sich das Hyatt Place in nichts von Hunderten anderen Hotelhochhäusern in Amerika. Eine Ecke des Gebäudes bestand völlig aus Glas und Stahl. Auf dem Dach wehten Flaggen an Fahnenstangen. Horizontal und vertikal verkündeten riesige Buchstaben die Hotelmarke.

Es war schon fast sieben, als ich vor dem Eingang hielt. Ein Portier mit schokoladenfarbener Haut und gelben Raucherzähnen erkundigte sich nach meinen Wünschen. Auf seinem Namensschild stand T. Valentine.

Ich erzählte T. Valentine, dass ich einchecken würde. Er nahm meinen Wagenschlüssel in Empfang und bot an, mir mit dem Gepäck zu helfen. Ich dankte ihm und meinte, dass ich meinen kleinen Koffer lieber alleine zog.

Die Lobby war weitläufig und von der Inneneinrichtung her etwas, das der Designer vermutlich als kubistische Moderne bezeichnet hatte. Rechtwinklige Sofas und Pulte. Quadratische Hocker. Rechteckige Streifen auf dem Teppichboden. Viel Grau und Gelb.

Ich schaute mich um. Konnte nirgends jemanden entdecken, der für mich wie Jada Thacker aussah.

Warum überraschte es mich eigentlich, dass die Frau nicht da war? Bislang war auch sonst nichts gelaufen wie erwartet.

Ich wandte mich an einen Mitarbeiter, einen Asiaten, der so klein war, dass sein Kinn knapp über den Thekenrand der Rezeption ragte. Auf seinem Schild stand H. Cho.

Ich teilte H. Cho mit, dass ein Zimmer auf meinen Namen reserviert wäre. Mit strahlendem Lächeln bat er mich um meinen Ausweis.

Nach einem kurzen vergleichenden Blick auf meinen Führerschein und mich gab H. Cho meinen Namen in den Computer ein. Sein Lächeln blieb unverändert, während er den Bildschirm studierte. Es geriet ins Wanken, als seine Finger erneut über die Tastatur huschten.

»Es tut mir leid, Ma’am. Könnte die Reservierung unter einem anderen Namen erfolgt sein?«

»Vielleicht Jada Thacker?«

Erneutes Tippen.

»Nein.«

Eine achtstündige Fahrt, für die eigentlich sechs hätten genügen müssen. Kein Kurzurlaub mit Ryan. Keine Thacker. Kein Zimmer.

Der Stolperdraht in meinem Hirn spannte sich gefährlich.

Ich atmete tief ein.

H. Cho war nicht schuld daran.

Ich öffnete den Mund, um mein Missvergnügen zum Ausdruck zu bringen.

»Dr. Brennan«, erklang es atemlos hinter mir.

Ich drehte mich um.

Die Person, die auf mich zueilte, war nicht die, mit der ich gerechnet hatte.

3

Die Frau sah aus wie ein Model für die Fashion Week in Paris. Bei einer Körpergröße von geschätzten eins dreiundachtzig wog sie deutlich unter siebzig Kilo. Die hohen Wangenknochen traten markant hervor, und das kurze schwarze Haar war straff nach hinten gegelt.

»Dr. Brennan«, sagte Miss Fashion Week mit ausgestreckter Hand. »Ich bin Jada Thacker.«

Wir schüttelten einander die Hände, und ich hoffte, dass man mir die Überraschung nicht anmerkte.

Offensichtlich doch.

»Ich weiß«, erklärte Thacker mit breitem Grinsen. »Ich habe einige Pfunde verloren seit unserer letzten Begegnung in Seattle.«

»Ganz schön lange her.« Etwas Geistreicheres brachte ich in meiner Verblüffung nicht zustande.

»Entschuldigen Sie die Verspätung. Es kam noch was dazwischen, als ich das Büro verlassen wollte.«

»Klar doch.«

»Hier alles in Ordnung?«

»Um ehrlich zu sein, nein. Der Gentleman hier kann leider meine Reservierung nicht finden.«

»Worin besteht denn das Problem?«

H. Cho war der Unterhaltung zwischen uns interessiert gefolgt und wurde nun, da die Aufmerksamkeit sich ihm zuwandte, sofort wieder munter.

»Wir sind vollkommen ausgebucht, Ma’am. Der Name der Dame findet sich nicht im System.«

»Frau Doktor Brennan hier ist extra nach D.C. gekommen, um bei der Opferbergung im Brandfall Foggy Bottom zu helfen. Sie hat gerade eine äußerst lange Autofahrt hinter sich und wäre bestimmt froh, sich ein wenig frisch machen zu können. Gewiss wird sich hier doch schnell eine Lösung finden lassen.«

H. Cho hob die Handflächen zu einer Was-soll-ich-machen-Geste.

»Bitte nehmen Sie doch kurz Platz, während ich die Sache kläre«, sagte Thacker zu mir. Ihr Lächeln wirkte nun ein wenig angespannt.

Ich nickte, ging zu einem der gelben Sofas, stellte den Rollkoffer dicht neben meine Knie und schaute mich um.

Die Lobby füllte sich langsam mit Gästen. Oder vielleicht hatte ich sie bei meiner Ankunft auch bloß nicht bemerkt.

Mir gegenüber studierte ein Paar in identischen Stars-and-Stripes-Sweatshirts eine Touristenbroschüre, schien sich aber auf nichts einigen zu können. Rechts von ihnen hing ein Teenager schlaff in einem Sessel und zeichnete mit der Fingerspitze Muster auf die Armlehne.

Ein älterer Mann in regenbogenfarbenem Blazer und roter Fliege trat durch den Eingang und steuerte die Fahrstühle an. Die nächsten Aufzugtüren öffneten sich, und eine fünfköpfige Familie stürmte heraus. Mit seinem gebeugten Rücken machte der Vater keinen sonderlich glücklichen Eindruck.

Ich sah gerade noch einmal auf meine Uhr, als ein Schatten auf meinen Arm fiel. Ich schaute hoch. Thacker stand direkt vor mir, einen Zimmerschlüssel schwenkend.

»Für eine Nacht ist alles geregelt.«

»Eine Nacht?«

»Keine Bange. Wir klären das schon. Haben Sie Hunger?«

»Ja.« Hunger war gar kein Ausdruck für die wütenden Signale, die mein Magen aussandte.

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen zwanzig Minuten gebe, sich einzurichten? In der Zeit bestelle ich uns was zu essen und schreibe dem stellvertretenden Leiter der Feuerwehr, dass wir uns in meinem Büro treffen.«

»Klingt nach einem Plan.«

»Was hätten Sie denn gern?«

»Alles, was der Chinese zu bieten hat.«

Das Institut des Chief Medical Examiner von D.C., das OCME, befindet sich im Consolidated Forensic Laboratory. Gemeinsam untergebracht ist es im CFL mit dem Department of Forensic Sciences und dem Metropolitan Police Department. Sonderbare Bettgenossen. Nerds und Cops unter einem Dach.

Dieses Dach überspannte einen modernen fünfgeschossigen Riesenklotz an der Kreuzung 4th und E Street in Southwest Washington. Unmengen von Beton, Stahl und Glas, dazu eine fast komplett mit Solarpaneelen verkleidete Seite. Eine städtebauliche Augenweide. Und zum Glück nur wenige Schritte vom Hotel entfernt.

Thacker zog ihre Security Card durch das Lesegerät und führte mich durch die Eingangshalle, die mit ihren glänzenden schwarz-weiß gesprenkelten Bodenfliesen eindrucksvoll nach Operationssaal aussah. Um acht Uhr abends, unmittelbar vor einem langen Wochenende, war der riesige Raum weitgehend verwaist.

Ich trug mich ins Besucherbuch ein, wies mich aus und erhielt von einer gelangweilt wirkenden Empfangsdame einen Pass, auf dem in fetten Druckbuchstaben BESUCHER: Nur mit Begleitung stand. Offenbar konnte mir unbegleitet nicht getraut werden.

Untermalt vom Klackern ihrer Fünfzehn-Zentimeter-Stilettos gingen Thacker und ich zu den Fahrstühlen. Sie drückte auf einen Knopf und erklärte mir, dass ihre Abteilung einen Teil der Lobby zwar für Essenspausen nutzte, ansonsten jedoch vorwiegend im vierten und fünften Stockwerk untergebracht war.

Wir bestiegen schweigend den nächsten eintreffenden Aufzug und starrten während der Fahrt wie gebannt die aufleuchtenden Etagenzahlen an – ein immer wieder beliebtes Spiel. Vor uns musste jemand in Brut gebadet haben. Die kleine Kabine stank jedenfalls intensiv nach dem Parfüm.

Im Vierten stiegen wir aus und folgten einem langen Flur, in dem ein behördenmäßig grau in grau gemusterter Teppichboden die Stöckelabsätze von Thacker dämpfte. Wie im Erdgeschoss bemerkte ich auch hier bis auf die Frau am Empfang keine Menschenseele.

Thacker nahm ihre Einführung wieder auf und erklärte mir, dass in der Etage darüber die Verwaltung saß und auf diesem Stockwerk die Todesfälle bearbeitet wurden. Hier befanden sich das toxikologische Labor und mehrere Autopsieräume. Sie schlug vor, diesen Teil erst einmal auszulassen, da ich ihn demnächst sowieso sehen würde. Ich stimmte zu.

Die Büros, an denen wir vorbeikamen, waren durch halbhohe orangefarbene Wände und Glasscheiben darüber voneinander getrennt. Den Schildern zufolge arbeiteten hinter diesen Türen Pathologen, Anthropologen, rechtsmedizinische Ermittler und Spezialisten zur forensischen Identifikation. Die Zusammenstellung war mir so vertraut wie die Finger an meiner Hand.

Thackers eigenes Reich war weder klein noch groß, aber immerhin hübscher als die meisten Amtszimmer, die ich aus dem Regierungsviertel kannte. Direkt gegenüber der Tür ragte ein L-förmiger Schreibtisch in den Raum und bog sich dann an einer Wand entlang, wo Hängeschränke im selben Holzdesign angebracht waren. Im Knick des L stand ein Computer.

Jeder weitere Quadratzentimeter Ablagefläche zeugte von dem endlosen bürokratischen Aufwand, der mit der Regelung von Todesfällen nun einmal verbunden ist. Berge an ausgedruckten Seiten, bei denen es sich vermutlich um Aufnahmelisten, Korrespondenzen, Laborergebnisse und Berichte handelte. Oder um Krankenakten Verstorbener, die von Kliniken und Krankenhäusern eingeschickt worden waren. CDs mit gespeicherten Röntgenbildern. Braune Aktenmappen, einige dick, andere bemerkenswert dünn.

Bodentiefe Fenster bildeten die rückwärtige Wand. Jenseits der Pflanzen auf den massiven Fensterbänken und der beweglichen Solarpaneele draußen konnte ich den I-395 ausmachen. Glitzernde Bänder aus roten Rücklampen und weißen Scheinwerfern strömten in gegensätzliche Richtungen.

Hinter dem in den Raum ragenden Arm des Schreibtischs stand ein der NASA