Kalte, kalte Knochen - Kathy Reichs - E-Book

Kalte, kalte Knochen E-Book

Kathy Reichs

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Beschreibung

Manchmal ist der Weg in die Vergangenheit die einzige Chance, dich heute zu retten.

Der Winter hat North Carolina fest im Griff, und mit den sinkenden Temperaturen fällt auch die Verbrechensrate. Die forensische Anthropologin Tempe Brennan verbringt diese Atempause damit, sich um ihre heimgekehrte Tochter Katy zu kümmern. Eines Abends machen Mutter und Tochter auf der Veranda eine grausige Entdeckung. Ein Paket, darin: ein menschlicher Augapfel.

Erste Ermittlungen führen zu einem Kloster, wo ein weiterer makabrer Fund wartet. Kurz darauf muss Tempe eine mumifizierte Leiche in einem Nationalpark untersuchen, und ihre Furcht wächst. Zwischen den Fällen scheint kein Zusammenhang zu bestehen, nichts verbindet die Opfer, keine Handschrift die Gewalttaten. Doch ihr Instinkt sagt der Forensikerin, dass die Toten ein schreckliches Schicksal teilen. Und dass sie selbst in großer Gefahr schwebt ...

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Zum Buch

Der Winter hat North Carolina fest im Griff, und mit den sinkenden Temperaturen fällt auch die Verbrechensrate. Die forensische Anthropologin Tempe Brennan verbringt diese Atempause damit, sich um ihre heimgekehrte Tochter Katy zu kümmern. Eines Abends machen Mutter und Tochter auf der Veranda eine grausige Entdeckung. Ein Paket, darin: ein menschlicher Augapfel.

Erste Ermittlungen führen zu einem Kloster, wo ein weiterer makabrer Fund wartet. Kurz darauf muss Tempe eine mumifizierte Leiche in einem Nationalpark untersuchen, und ihre Furcht wächst. Zwischen den Fällen scheint kein Zusammenhang zu bestehen, nichts verbindet die Opfer, keine Handschrift die Gewalttaten. Doch ihr Instinkt sagt der Forensikerin, dass die Toten ein schreckliches Schicksal teilen. Und dass sie selbst in großer Gefahr schwebt …

Zur Autorin

Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie, eine von nur knapp einhundert vom American Board of Forensic Anthropology zertifizierten forensischen Anthropolog:innen und unter anderem für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten und wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Für den ersten Band ihrer Tempe-Brennan-Reihe wurde sie 1998 mit dem Arthur Ellis Award ausgezeichnet. Die darauf basierende Serie BONES – Die Knochenjägerin wurde von Kathy Reichs mitkreiert und -produziert.

Mehr von Kathy Reichs:

Web: KathyReichs.com

Twitter: @kathyreichs

Instagram: @kathyreichs

Lieferbare TitelDie KnochenjägerinDas Gesicht des BösenDer Code der Knochen

VONKATHYREICHSINDERTEMPE-BRENNAN-REIHEERSCHIENEN:Der Code der Knochen

Das Gesicht des Bösen

Die Sprache der Knochen

Knochen lügen nie

Totengeld

Knochenjagd

Fahr zur Hölle

Blut vergisst nicht

Das Grab ist erst der Anfang

Der Tod kommt wie gerufen

Knochen zu Asche

Hals über Kopf

Totgeglaubte leben länger

Totenmontag

Mit Haut und Haar

Knochenlese

Durch Mark und Bein

Lasst Knochen sprechen

Knochenarbeit

Tote lügen nicht

Kathy Reichs

Kalte, kalte Knochen

Ein neuer Fall für Tempe Brennan

Roman

Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr

Blessing

Originaltitel: Cold, Cold Bones

Originalverlag: Scribner, an Imprint of Simon & Schuster, Inc., New YorkDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Temperance Brennan, L.P.

Copyright © 2022 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-29723-7V001

www.blessing-verlag.de

Diese Geschichte ist für die bis jetzt vernachlässigten Schwestern

Sue Weber

Laurel Toelle

Renate Reichs

Dorthin zurückzugehen, wo man begonnen hat, ist nicht das Gleiche, wie nie zu gehen.

Terry Pratchett

1

Es fing mit einem Augapfel an.

Die Pupille war weit wie eine texanische Prärie, die Iris hatte die Farbe von ausgewaschenen Jeans. Purpurrote Gefäße überzogen die gelblich weiße Lederhaut wie ein Spinnennetz.

Davon später mehr.

Sonntag, 30. Januar

»Tu dir nicht weh.«

»Hab ihn.« Trotz der feuchten Kälte waren meine Handflächen schweißfeucht. Alles an mir war schweißfeucht.

Der Karton rutschte mir aus der Hand, als ich diese zwei Wörter sagte. Ponk!

»Verdammt.«

Mit einem verärgerten Seufzer stellte Katy eine Lampe ab, ein merkwürdiges Konstrukt mit einem langen, gebogenen Hals, wie aus Alice im Wunderland.

»Hast du gelesen, was obendrauf steht?« Da sie annahm, dass ich es nicht hatte, buchstabierte sie es für mich. »B.Ü.C.H.E.R. Was meinst du, was das heißt, Mom?« Wir waren jetzt schon seit Stunden beschäftigt und außer schweißfeucht auch noch erschöpft und die Sache gründlich leid. Und verdammt gereizt.

»Der Karton enthält Bücher«, antwortete ich kurz angebunden.

»Und was ist eine der allgemein bekannten Eigenschaften eines Kartons voller Bücher?« Die Lippen bewegten sich kaum.

Ich sagte nichts.

»Sie sind schwer!«

»Machen wir Mittagspause.«

»Ja, machen wir das.«

Wir sprangen von der Ladefläche des Transporters. Katy nahm die Lampe in die Hand und überquerte eine kleine Fläche wintertoten Rasens vor einem Backsteinbungalow im Stile der 1950er, dessen Vordertür weit offen stand. Ich folgte ihr nach drinnen, wie schon so oft an diesem Tag, und schloss die leuchtend rote Tür hinter mir.

Während Katy mit Alices merkwürdigem Leuchtmittel die Treppe hochstieg, ging ich den Gang weiter bis zur Küche. Die angesichts der angejahrten Außenansicht des Hauses erstaunlich modern war. Arbeitsflächen aus Marmor, eine Beleuchtung fast wie in einem OP, eingebaute Luxuskaffeemaschine, integrierte Hausbar, erstklassige Edelstahlgerätschaften.

Ich ging zu einem waggongroßen Subzero-Kühlschrank, holte zwei Dosen Vanillelimonade heraus und stellte sie neben eine weiße Tüte mit Fertigsandwiches. Ich legte eben Papierservietten als Dekor dazu, als Katy wieder auftauchte.

Als sie die Tüte sah, strahlte sie. »Bitte sag mir, dass du bei Rhino eingefallen bist.«

»Ich bin bei Rhino eingefallen«, sagte ich. »Hab dein Lieblingssandwich besorgt.«

»Das Stacked High?«

»Jawohl, Ma’am. Und ein Sicilian für mich. Kalt.«

Nachdem wir uns die Hände gewaschen hatten, wickelten wir unsere Sandwiches aus und rissen die Limodosen auf. Wir kauten geräuschvoll, als Katy fragte: »Wie geht’s deinem Rücken?«

»Bestens.« Obwohl meine Lendenwirbel sich nicht besonders über die Aktivitäten dieses Vormittags freuten.

»Du solltest die schweren Sachen wirklich mir überlassen.«

»Weil ich eine verkopfte Wissenschaftlerin bin und du eine taffe Kriegsveteranin?«

»War.«

»Halleluja.«

»Was? Warst du nicht einverstanden, dass ich meinem Land diene?«

»Mit deinem Dienst war ich einverstanden. Ich hasste nur, dass so viel davon in einem Kriegsgebiet stattfand.«

»Darum geht’s im Allgemeinen beim Dienst am Heimatland.«

Nach dem College folgte eine Periode der, ich will mal freundlich sein und sie »Unsicherheit« nennen, doch dann drehte meine naive und unbekümmerte Tochter sich um hundertachtzig Grad und folgte dem Ruf Uncle Sams. Fantastisch, dachte ich damals. Sie wird Orientierung finden. Und Selbstdisziplin. Da sie eine Frau ist, wird sie nicht in Gefahr geraten. Sicher, meine Haltung war sexistisch. Aber das war schließlich meine gut zwanzigjährige, goldhaarige Tochter, die da in einen Bus ins Ausbildungslager stieg.

Dann wurden die Gesetze so geändert, dass auch Frauen in die Schützengräben durften. Massenweise schulterten die Damen ihre M16 und marschierten davon, um neben ihren Waffenbrüdern zu kämpfen.

Nach der Grundausbildung wählte mein goldhaariges Kind ihr Einsatzgebiet, 11 B. Die Infanterie. Katys Zeit in Uniform brachte mir wieder militärischen Jargon und Abkürzungen näher, die ich nicht mehr gehört hatte, seit mein Ex-Mann Pete als Marine gedient hatte.

In einer Nanosekunde, so erschien es mir jedenfalls, wurde Katy nach Afghanistan abkommandiert, um in einer Kampfbrigade zu dienen. Nicht so fantastisch. Viele ängstliche Tage und schlaflose Nächte. Aber alles lief gut, und zwölf Monate später kehrte sie nur mit einer kleinen Narbe auf einer Wange nach Hause zurück.

Das Leben in der Feldartillerie gefiel meiner Tochter. Als ihre Dienstzeit endete, verlängerte sie, zu meiner Bestürzung. Zu meiner noch größeren Bestürzung meldete sie sich für einen weiteren Einsatz im Nahen Osten. Hello darkness, my old friend.

All das war jetzt Vergangenheit. Das schlaflose Herumwerfen war vorüber. Na ja, größtenteils.

Im letzten Herbst hatte Katy beschlossen, ihre Stiefel und ihren Tarnanzug an den Nagel zu hängen und ins zivile Leben zurückzukehren. Sie wurde ehrenhaft entlassen und beschloss zu meiner Überraschung und Freude, sich in Charlotte niederzulassen. Zumindest für eine Weile. Warum? Das will sie mir nicht sagen.

Katy weigert sich auch, über ihre Zeit in der Army zu sprechen. Ihre Freunde. Ihren Dienst in Übersee. Die Narbe. Also halten wir es jetzt wie ihr früherer Arbeitgeber: Nichts fragen, nichts sagen.

Eine Weile aßen wir in kameradschaftlichem Schweigen. Katy durchbrach es.

»Arbeitet die verkopfte Wissenschaftlerin zurzeit an irgendwelchen krassen Knochen?«

»Ein paar.«

Katy wedelte mit den Fingern in einer Red-weiter-Geste. Sie waren mit glänzendem kreolischen Senf beschmiert.

»Letzte Woche brannte in Kannapolis eine Scheune ab. Als die Trümmer ausgekühlt waren, fand die Feuerwehr die Überreste von zwei Pferden und einem erwachsenen Mann, alle bis zur Unkenntlichkeit verkohlt.«

»Arschkarte für die Pferde.«

»Arschkarte für alle.«

»Lass mich raten. Farmer Fred war Raucher.«

»Die Leiche war nicht die des Besitzers.«

»Hast du den Kerl identifiziert?«

»Ich arbeite daran.«

»Die Pferde?«

»Chuckie und Cupcake.«

»Waren sie wertvoll?«

»Nein.«

»Komisch.«

»Noch komischer ist, dass der Mann ein Einschussloch zwischen den Augen hatte.«

»Wow. Da ist aber jemandem der Kragen geplatzt.«

Katy verstummte wieder, dachte wahrscheinlich über Einschusslöcher, vielleicht Pferde nach. Oder über kreolischen Senf.

Ich bin forensische Anthropologin. Ich erstelle Gutachten für Coroner und Medical Examiner, wenn sie Hilfe bei der Untersuchung von Leichen brauchen, die für eine normale Autopsie nicht geeignet sind – die Verwesten, die Zerstückelten, die Verbrannten, die Verstümmelten, die Mumifizierten und die Skelettierten. Ich helfe bei der Bergung jener, die das Pech hatten, nicht zu Hause oder in einem Krankenhausbett zu sterben. Ich dokumentiere die Leichenliegezeit und die Leichenbehandlung. Ich betrachte die Todesart, sei es Selbstmord, Mord, Unfall oder natürliche Ursachen.

Kein Elternteil, das Katy in ihrer Kindheit kennenlernte, übte so einen Job aus. Aber sie ging sehr gut damit um, dass ich anders war, und in ihrer Jugend fing sie an, Fragen zu stellen. Manche Dinge erzählte ich ihr, andere nicht. Viele andere.

Meiner Erfahrung nach unterteilt sich die Welt in zwei Lager: diejenigen, die von meiner Arbeit fasziniert sind, und diejenigen, die von ihr abgestoßen sind. Katy, noch nie ein zimperliches Wesen, ist schon immer im Lager Faszination gewesen.

Ich hob den Kopf. Katy schaute an mir vorbei, konzentriert auf einen Punkt irgendwo anders im Raum. Woanders in der Zeit? Ich fragte nicht, was sie dachte. Wartete, bis sie wieder zu reden anfing.

»Wie lautet der LB zu Monsieur le Détective?«

»LB?«

»Lagebericht.«

Meine Tochter fragte nach Lieutenant-Détective Andrew Ryan, ein früherer Mordermittler der Sûreté du Québec, mit dem ich seit einiger Zeit zusammenlebte. In Montreal und Charlotte. C’est compliqué.

»Ryan?«, fragte ich

»Nein. Inspector Clouseau«, sagte sie und verdrehte ihre sehr grünen Augen.

»Läuft gut.«

»Na, das klingt aber überzeugend.«

»Wirklich. Ryan war an Weihnachten da. Ihr beide habt euch knapp verpasst.«

»Er ist im Ruhestand, nicht? Und arbeitet jetzt als Privatermittler?«

»Ja.«

»Wo ist er gerade?«

»In Saint Martin wegen eines Falls.«

»So ein Pech.«

»Der Kerl kriegt schon Brandblasen, wenn er einen Strand nur sieht. Kanadische Haut, du weißt schon.«

»Er ist oft weg?«

»Ja.«

»Was privatermittelt er denn?«, fragte sie und zeichnete Anführungszeichen in die Luft.

»Hat mit einem auf Grund gelaufenen Segelboot und einem Versicherungsanspruch zu tun.«

»Klingt langweilig.«

»Das sind viele seiner Fälle.«

Ich biss noch einmal in mein Sandwich und tupfte mir Rotweinessig von der Front meines T-Shirts. Warf Katy einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte nach meinem Liebesleben gefragt. Also was soll’s?

»Und?« So zwanglos wie ein Sonntagsspaziergang auf der Strandpromenade. »Irgendeine Romanze in deinem Leben?«

Katy ließ etwas hören, das fast wie ein Wiehern klang. Ich weiß nie so genau, wie jemand klingt.

»Ro-manze? Hast du wirklich das Wort Ro-manze benutzt? Wie in: Habe ich einen Verehrer? Einen Schatz? Einen Beau?«

»Romanze sagt man doch noch.«

»Ja, wenn man über achtzig ist.«

»Was ist mit –«

»Lass gut sein.«

Katys veränderter Tonfall löste eine Warnung aus. Aber wir hatten doch nur herumgealbert. Oder?

Ich wollte eben das Thema wechseln, als Katys Augen sich auf eine Art verengten, die mir nicht gefiel.

»Ich war acht Jahre lang beim Militär, Mom. Ich war im Krieg. Ich habe Menschen mit abgerissenen Gliedmaßen gesehen, zerschmetterten Köpfen, Menschen, denen beim Verbluten die Eingeweide heraushingen. Ich habe kleine Kinder sterben sehen. Das Letzte, woran ich glaube, ist eine Romanze.«

»Ich wollte dich nicht aufregen«, sagte ich, auch wenn ich nicht genau wusste, ob ich es hatte. Aber ich schätze, Sie wissen, was ich meine. Meine Tochter kam ein wenig empfindlich nach Hause, und ich fasste sie mit Samthandschuhen an.

Katy lehnte sich zurück und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Tut mir leid. Bin einfach nur müde von diesem verdammten Umzug.«

»Schon erstaunlich, wie viel in einen so kleinen Transporter alles reinpasst.«

Katy streckte mir die Handfläche entgegen. Trotz des schmierigen gelben Überzugs klatschte ich sie ab.

»Schauen wir, dass wir fertig werden.«

»Dann los«, erwiderte ich.

Wir knüllten unsere Verpackungen zusammen, stopften sie in die Tüte und gingen den Gang entlang, als Katy fragte:

»Hast du je einen getroffen?«

Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. »Einen was?«

»Einen kalten Sizilianer?«

Mir fiel keine Antwort ein.

»Ich bin mit zweien ausgegangen«, sagte sie. »Und beide waren heißer als ein Steak auf dem Grill.«

Darauf ging ich nun wirklich nicht genauer ein.

Die restlichen Kartons und Haushaltsgegenstände fraßen noch über drei Stunden. Ein übergroßer Sessel schaffte es fast gar nicht ins Haus. Mit viel Fluchen und Bugsieren und ein wenig Hilfe eines schräg aussehenden Passanten schafften wir es schließlich, das Ding durch die Tür zu zwängen.

Da wir aussahen und rochen, als wären wir gerade aus irgendeiner unterirdischen Kammer geflohen, kam ein Essen im Restaurant nicht infrage. Und da Katy keine Ahnung hatte, wo Seife und Handtücher sich aktuell befanden, nahm sie meine Einladung auf eine Dusche und ein Abendessen bei mir zu Hause, im sogenannten Annex, an, bestand aber darauf, in ihrer neuen Unterkunft zu schlafen.

Ich verstand sie und versuchte nicht, sie davon abzubringen, erinnerte mich an meine erste Wohnung mit der Matratze auf dem Boden und dem Papasan-Sessel von der Heilsarmee. Sie würde also noch abschließen und dann in ihrem eigenen Auto folgen.

Lange vor der Einführung von Postleitzahlen liebten es die ehrbaren Bürger von Charlotte bereits, die Sektoren zu unterscheiden, die ihre Stadt ausmachten. Jeder Bezirk wurde mit einem Namen und einer Reihe von Geschichten ausgestattet. Plaza-Milkwood, Tyron Hills, Eastover, Dilworth, Cherry. Vielleicht hatte das nicht immer mit reiner Vernunft zu tun. Doch alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer überwinden. Während die Stadt wuchs und neue Erschließungsgebiete entstanden oder alte Viertel modernisiert wurden, versah man diese neuen Stadtteile ebenfalls mit eingängigen, maklerfreundlichen Namen. NoDa, South End, Piper Glen, Ballantyne.

Katys Haus lag in Elizabeth, einem älteren Viertel – ein Sammelsurium aus Bungalows mit ausladenden vorderen Veranden, riesigen Backsteinstadthäusern und hochpreisigen Eigentumswohnkomplexen, die nach dem Abriss des Reizenden, aber Altmodischen entstanden waren. Alte Kiefern, Weideneichen und Magnolien beschatten die hier und dort charmant von Wurzeln durchbrochenen Bürgersteige.

Aber Elizabeth ist kein reines Wohngebiet. Die Hauptstraße beherbergt das Visulite, das erste Kino der Stadt, das kürzlich zu einem Konzertsaal umgebaut worden ist. Sie bietet eine angemessen eklektische Sammlung von Restaurants, Bars, Boutiquen und Food Trucks, die sowohl von den Wohlhabenden als auch den Fast-gar-nichts-Habenden besucht werden.

Keine Beschreibung von Elizabeth kommt ohne die Worte trendy oder hip aus. Es ist diese Mischung aus Fußballtraining und Fahrgemeinschaften am Tag und Partys und Ausgelassenheit in der Nacht sowie die Lage nur knapp östlich des Zentrums, die erklärt, warum das Viertel für junge Fachkräfte so attraktiv ist.

Ich wohne in Myers Park, auch unweit des Stadtzentrums. Schattige Straßen durchziehen hier eine Mischung aus alten georgianischen Häusern und Bauten im Kolonialstil, die Schulter an Schulter mit pseudoitalienischen, neoklassizistischen und brutalistischen, auf zu kleinen Abrissgrundstücken aus dem Boden gestampften Monstrositäten stehen. Überall penibel gepflegte Rasenflächen.

In Myers Park liegt das Preisniveau nur leicht höher als in Elizabeth, aber die Einwohner neigen eher dem Konservativen zu. Mehr Anwälte und Banker, weniger Künstler und Dichter.

Die Fahrt dauerte zehn Minuten. Als ich in die Einfahrt zu Sharon Hall einbog, war es bereits dunkel.

Ein Wort über mein Zuhause, das sich etwas unkonventionell ausnimmt.

Sharon Hall ist ein Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das zu einem Eigentumswohnkomplex umgebaut wurde. Es liegt in Spuckdistanz zum Campus der Queens University. Mein kleines Nebengebäude nennt sich der »Annex«. Also Anbau, aber an was? Kein Mensch weiß das. Das winzige zweistöckige Gebäude erscheint auf keinem der Ursprungspläne des Anwesens. Dort ist das Haupthaus verzeichnet. Die Remise. Ein Kräutergarten und ein formaler. Kein Annex. Offensichtlich war das kleine Nebengebäude ein unbedeutender Nachtrag.

Einmal fragte ich eine Architekturhistorikerin am UNCC um Rat. Sie forschte nach, fand aber nichts Erhellendes. Backhaus? Werkzeugschuppen? Räucherhaus? Sie hatte noch andere Vorschläge, die ich alle wieder vergessen habe. Eigentlich ist es mir egal. Mit seinen etwa hundert Quadratmetern erfüllt es alle meine Bedürfnisse. Schlafzimmer und Bad oben. Küche, Esszimmer, Wohnzimmer und Arbeitszimmer unten.

Ich mietete den Annex, als meine Ehe mit Pete implodierte, und nach einer Weile kaufte ich ihn. Ich veränderte so gut wie nichts – bis letztes Jahr. Dann eine größere Renovierung. Die Ryan-Geschichte. Später.

Nachdem ich geparkt hatte, schloss ich die Wohnung auf und stellte meine Handtasche auf die Arbeitsfläche. Rief nach Birdie. Kein Kater. Da ich keine Lust auf feline Übellaunigkeit hatte, ging ich nach oben, zog mich aus und duschte sehr heiß und sehr lange. Als ich, nach Ziegenmilch und Chai-Duschgel duftend, wieder herausstieg, betrachtete der Kater mich vom Spiegeltisch aus, der Blick aus den gelben Augen vorwurfsvoll.

»Ich weiß. Ich war länger weg als erwartet. Aber es ging nicht anders.«

Keine Antwort.

»Du würdest nicht glauben, wie viel Zeug die hat.« Mein Gott, ich entschuldigte mich bei einer Katze.

»Wie auch immer«, sagte ich zu dem arrogant erhobenen Schwanz.

Ich zog eben einen Trainingsanzug an, als von unten eine Stimme hochrief. »Ich bin da.«

»Bin gleich unten.«

Katy stand mit angespanntem Gesicht in der Küche.

»Auf deiner Schwelle steht ein Karton.«

»Nein!«, sagte ich lachend. »Nicht noch ein Karton.«

Ich trat nach draußen und hob das Päckchen auf.

»Von wem ist es?« Katy klang merkwürdig.

»Keine Ahnung.«

»Steht da ein Absender?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hast du etwas erwartet?« Mit steifem Rücken hielt Katy Abstand von mir. Wegen des Dings in meiner Hand?

Weil ich befürchtete, dass das rätselhafte Paket die Quelle des Unbehagens meiner Tochter war, stellte ich es auf die Anrichte, holte ein Heineken aus dem Kühlschrank und gab es ihr.

»Cool bleiben«, sagte ich, weil ich nicht so recht wusste, welche dunkle Erinnerung da geweckt worden war. Und weil ich sie beruhigen wollte. »Ich kriege jede Menge Lieferungen. Und meistens habe ich ganz vergessen, was ich bestellt habe.«

Ich holte ein Tapetenmesser aus einer Schublade und zerschnitt Packpapier und Klebeband. Nachdem ich die Laschen aufgeklappt hatte, schaute ich hinein.

Mir stockte der Atem.

Meine Hand schnellte zum Mund.

2

Wie ein Käfer steckte das Ding auf einer Nadel, die mit der Unterlage fixiert war, und starrte mich an.

Katys Reaktion war ausdrucksstärker als meine.

»Heilige Scheiße!«

Langsam ließ ich meine Hand sinken.

Wir starrten beide in den Karton.

Sie haben’s erraten. Jetzt kommt der Augapfel ins Spiel.

Wenn ein Auge von seinem Besitzer getrennt ist, sieht es aus wie ein makabres Halloween-Requisit. Die Iris dieses Exemplars war blau, die Pupille geweitet und pechschwarz. Das Ganze schimmerte gläsern.

Der Muskel an der Rückseite des Augapfels hatte die Farbe von rotem Rindfleisch, die Äderchen, die die Außenseite durchzogen, waren von einem anämischen Rot. Das weiße Papiertuch, auf dem er lag, war an den Rändern türkis gemustert.

Farbenfroh. Das war meine erste Reaktion. Schon komisch, was das Gehirn einem im Schock für Sachen liefert.

Katy sprach meinen zweiten Gedanken aus.

»Sieht frisch aus.« Sie klang angespannt. Merkwürdig. Katy war noch nie empfindlich gewesen.

»Sehr«, stimmte ich zu.

»Könnte von einer Kuh sein«, schlug Katy nach einer kurzen Pause vor. »Körperteile von Kühen sind leicht zu bekommen.«

»Kühe haben braune Augen«, erwiderte ich abwesend, abgelenkt von einem anatomischen Detail.

Die kleine Kugel hatte einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Zentimetern. Zu klein für eine Kuh.

»Einige Tiere haben blaue Augen. Hunde, Katzen, Pferde, Schwäne, Eulen –« Katy brach ab, als ihr die Schlussfolgerungen bewusst wurden.

Mir fiel auf, dass die Pupille rund war, nicht oval.

Ich holte meinen Bergungskoffer aus der Abstellkammer und nahm eine Taschenlampe und Latexhandschuhe heraus. Ich richtete den Strahl auf die Pupille und betrachtete den Bereich direkt unter der Netzhaut, auf der Ebene der Aderhaut.

Sah kein blaugrünes Funkeln.

In meinem Bauch bildete sich ein Knoten. Ich ignorierte ihn, beugte mich stattdessen tiefer über die Schachtel. Roch kein Konservierungsmittel. Keinen Hauch von Verwesung. Diese Extraktion war frisch.

Ich schluckte.

Katy ist ein Genie in der Interpretation meiner Körpersprache. War sie schon immer. Auch schon als kleines Mädchen ließ sie sich von meinen Ausflüchten und Ablenkungen nicht täuschen.

Katy spürte eine Veränderung von freundlich zu düster.

»Was?«, fragte sie mit scharfer, viel zu lauter Stimme.

»Ich glaube, er ist menschlich.«

»Warum?«

»Größe, Form der Pupille, Anzahl und Anordnung der Muskelansätze, Fehlen eines Tapetum lucidum.«

»Was ist das?«

»Du weißt doch, wie die Augen von manchen Tieren zu leuchten scheinen, wenn sie von einem Scheinwerfer erfasst werden. Das kommt vom Tapetum lucidum, einem Pigmentbereich auf der Rückseite des Augapfels. Das Tapetum lucidum verstärkt das Licht, das ins Auge dringt, und dadurch wird die Nachtsicht des Tiers verbessert.«

»Und dieser Kollege hier hat keins?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das ist völlig fugazi.«

Ich hatte keine Ahnung, was das Wort bedeutete, aber so, wie sie es sagte, konnte ich nur zustimmen.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Jetzt rufe ich den Medical Examiner.«

»Im Ernst?«

»Das ist die Vorschrift bei einem menschlichen Körperteil.«

»Es ist Sonntagabend.«

Gutes Argument.

Die gegenwärtige Medical Examiner des Mecklenburg County war ernannt worden, als ihre Vorgängerin, Dr. Margot Heavner, wegen standeswidrigen Verhaltens entlassen wurde. Fast ein Jahr lang hatte Heavner, die sich gern Dr. Edelstahl nennen ließ, mir das Leben zur Hölle gemacht. Aber davon fange ich besser nicht an.

Doch Heavner war Geschichte. Ihre Nachfolgerin, Dr. Samantha Nguyen, war kompetent und freundlich.

Trotzdem. Es war Wochenende.

Als ich nach dem Telefon griff, herrschte Katy mich an: »Ruf die Polizei.«

Ich schaute sie mit hochgezogenen Brauen an.

»Wer legt dir verdammt noch mal einen Augapfel auf die Türschwelle? Das könnte eine Drohung sein.«

Noch ein gutes Argument.

»Mein Gott, Mom. Wen hast du so auf die Palme gebracht?«

Zu viele Kandidaten.

In diesem Augenblick legte Birdie seinen Auftritt hin. Er strich mir um die Knöchel, die Augen voller Hoffnung auf einen Leckerbissen.

Ich ignorierte ihn.

»Was, wenn diese Person ermordet wurde?« Katy deutete mit dem Daumen auf die Schachtel.

»Ist das nicht ein bisschen melodramatisch?«

»Wirklich? Lebende lassen sich nicht so einfach einen Augapfel entfernen, ohne was dagegen zu tun.«

»Warum steigst du nicht unter die Dusche, während ich mich um das hier kümmere?«

Zehn Sekunden vergingen. Dann: »Von mir aus«, stimmte sie zu, allerdings in einem Ton, der wenig Zustimmung verströmte.

Nachdem Katy die Hintertür mit einer resoluten Drehung des Handgelenks verriegelt hatte, verschwand sie ins Esszimmer. Während ihre Schritte die Treppe hochstapften, setzte ich mich an den Tisch, zog die Handschuhe aus und wählte eine vertraute Nummer.

Nachdem ich mich durch eine Reihe Computeransagen getippt hatte, meldete sich schließlich eine menschliche Stimme. Eine, die ich seit mehr Jahren höre, als ich zugeben will.

Ich erklärte die Situation Joe Hawkins, dem Todesermittler, der die Anlieferungen in der Leichenhalle bearbeitete. Ein Job, den er schon hatte, bevor das Radio erfunden wurde.

»Ein Augenapfel in einer Schachtel.«

»Ja«, sagte ich.

»Auf Ihrer hinteren Schwelle.« Hawkins spricht in knappen Sätzen. Und im Tempo einer Schnecke, die durch Schlamm kriecht.

»Ja.«

Hinter mir hörte ich leises Pfotentapsen.

»Menschlich.«

»Wahrscheinlich.«

»Nur der eine?«

»Ist das wichtig?« Ich schaffte es nicht ganz, meine Verärgerung zu verbergen.

»Nein.«

Ein langes Schweigen kam durch die Leitung.

»Sind Sie noch dran?«, fragte ich, weil ich nicht genau wusste, ob wir getrennt worden waren.

»Was wollen Sie?«

»Schicken Sie jemand, der ihn abholt.«

Als ich hinter mir Rascheln hörte, drehte ich mich um.

Birdie war auf die Anrichte gesprungen und hatte die Schachtel umgeworfen. Der Augapfel rollte frei herum. Desinteressiert am Hauptpreis, krallte er sich die Papiertücher und verstreute sie mit Hingabe.

»Bird! Nein!«

Entsetzt legte ich auf und stürzte zur Anrichte, um den Kater auf den Boden zu heben.

Er hockte sich hin, streckte ein Bein hoch und fing an, seinen Unterleib zu lecken.

Ich zog eben wieder Handschuhe über, als Katy zurückkam.

Behutsam sammelte ich die Papiertücher wieder ein und stopfte sie in den Karton zurück. Ich griff eben nach dem Augapfel, als Katy »Stopp!« schrie.

Meine Hand erstarrte.

»Was ist das?« Sie deutete auf die linke Seite des Augapfels, zwischen den Teilen, die in die Welt sahen, und dem Gewebe, das die Kugel in ihrer Höhle befestigte.

Ich beugte mich zur Seite, um bessere Sicht zu haben.

Katy hatte recht. In der äußeren weißen Schicht des Augapfels war eine Unregelmäßigkeit. Ein Defekt? Eine Narbe?

Neugierig holte ich eine Lupe aus meinem Koffer und hob und senkte sie über der Anomalie. Schließlich hatte ich ein scharfes Bild vor mir.

Unter Vergrößerung zeigte sich ein Muster. Vielleicht?

»Sieht aus, als wäre die Lederhaut zerkratzt«, sagte ich.

»Wie zerkratzt?«

»Könnte eine Beschriftung sein. Aber wenn, ist sie unglaublich klein.« Ich reichte ihr die Lupe. »Vielleicht können deine Superheldenaugen das lesen?« Im Gegensatz zu mir ist meine Tochter mit einem unheimlich guten Sehvermögen gesegnet. Augenärzte staunen immer wieder. Und stufen sie in den höchsten Sehschärfekategorien ein.

»Mein Gott, ist ja echt winzig. Das muss mit irgendeiner Nadel gemacht worden sein.« Pause. »Das sind Ziffern. Drei. Fünf. Punkt. Zwei. Sechs. Eins. Sechs. Das Letzte ist ein Buchstabe, ein N.«

Ich holte mir Stift und Papier und schrieb mit, was sie entzifferte. Danach schauten wir erst die Zeichenreihe und dann uns an. Keine von uns hatte einen Vorschlag, was die Sequenz bedeuten könnte.

Katy arbeitete weiter mit der Lupe, als mein Handy klingelte. Ich sprang zum Tisch und ging dran. Es war Hawkins. Binnen einer Stunde würde ein Transporter hier sein.

Als ich zur Anrichte zurückkehrte, hatte Katy den Augapfel gedreht. Ich schimpfte sie nicht, weil sie ihn mit bloßen Fingern berührt hatte.

»Auf der rechten Seite steht noch mehr.«

Ich nahm wieder Stift und Papier zur Hand.

»Acht. Eins. Punkt. Null. Vier. Drei. Drei. W.«

Katys Kopf schnellte hoch.

»BVH!« Sie schlug sich mit der freien Hand auf die Stirn.

Anscheinend drückte meine Miene einen Mangel an Verständnis aus.

»Brett vorm Hirn«, übersetzte sie. »Ist offensichtlich. Das sind wahrscheinlich GPS-Koordinaten.«

Ich las laut vor, was ich geschrieben hatte. »Fünfunddreißig Punkt sechs-eins-sechs Nord. Einundachtzig Punkt null-vier-drei-drei West.«

»Das ist doch völlig abgedreht. Warum sollte jemand Koordinaten in einen Augapfel stechen?«

»Als Hinweis darauf, wo er herkommt?«

»Sag mir, dass das erst nach dem Tod des Besitzers passiert ist.«

»Auf jeden Fall nach der Entfernung des Augapfels.«

Ich ging nicht näher darauf ein. Und Katy verlangte es auch nicht.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Jetzt essen wir zu Abend und warten auf den ME-Transporter.«

»Keine Schwarzaugenbohnen.«

»Keine Chance.«

»Und du rufst die Polizei an.«

Sie hatte recht.

»Von mir aus.« Ich ahmte ihren Ton von vorher nach. »Im Gefrierschrank ist Spaghettisauce, Nudeln sind in der Abstellkammer.«

Ich wollte eben eine weitere Nummer wählen, als das Ding in meiner Hand klingelte. Mein Blick schnellte zur Anruferkennung. Gemischte Gefühle.

Ich wappnete mich für den Anruf und ging dran.

»Klingt so, als hätten Sie eine fiebrige Samstagnacht«, sagte ich, weil ich im Hintergrund die hektische Stimme eines Sportkommentators hörte.

»Und habe ich Sie in einer Tanzpause im Roxbury erwischt?«

Erskine »Skinny« Slidell, jahrzehntelang Detective im Mecklenburg County Police Department, war vor Kurzem in Ruhestand gegangen und arbeitete jetzt als Privatdetektiv in einer grenzüberschreitenden Partnerschaft mit Ryan. Die Strategie war, dass Slidell, der kaum Englisch perfekt beherrschte, die Fälle in den Vereinigten Staaten bearbeiten würde, während Ryan, der komplett zweisprachig war, die internationalen Fälle übernahm. Bis jetzt funktionierte das Konzept. Das Geschäft lief stetig, auch wenn es nicht gerade boomte.

Aber im Gegensatz zu Ryan konnte Slidell nicht alle Bande kappen. Eine Bulle, seit er aus dem Mutterleib geplumpst war und, soweit bekannt, ohne jegliches Privatleben, arbeitete Skinny weiter freiwillig für die Abteilung Cold Cases. Außerdem hatte der Kerl, ebenfalls im Gegensatz zu Ryan, die Persönlichkeit einer Eiterbeule.

»Was haben Sie auf dem Herzen?«, fragte ich und ignorierte Slidells Retourkutsche auf meinen Disco-Eröffnungsspruch. Allerdings erstaunte es mich, dass Slidell das Roxbury kannte, eine hippe Disco aus den Neunzigerjahren.

»Hab da was, das ich Sie fragen will.«

»Okay«, antwortete ich neutral, um meine Überraschung zu verbergen.

Katy hatte einige Knöpfe an der Mikrowelle gedrückt und schaute jetzt zu mir. Ich formte den Namen »Slidell« mit den Lippen und zuckte die Achseln.

»Hab da einen Kerl, den ich beschatte«, setzte er an.

»Warum?«

»Nennen wir es eine Indiskretion. Habe gehört, es gibt da ein Ding, das ich auf sein Handy spielen könnte, ohne das Gerät tatsächlich in Händen zu halten. Wissen Sie was darüber?«

»Da brauchen Sie einen Techniker. Ich schicke Ihnen ein paar Namen.«

»Das wäre gut.«

Katy deutete zur Schachtel. Ich schüttelte den Kopf. Sie nickte.

»Ich hab da was, das ich Sie fragen will«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich es bereuen würde.

Slidell machte ein Geräusch in seiner Kehle. Was ich lieber als Zustimmung interpretierte.

Ich berichtete ihm von dem Augapfel, der winzigen Beschriftung.

Das Schweigen, das folgte, war so laut, dass es kreischte. Dann: »Wie reiten Sie sich nur immer wieder in so eine Scheiße, Brennan?«

Ich sagte nichts.

»Also ist das wie bei diesen Spinnern, die Paris auf ein Reiskorn gravieren?«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Könnte sein.«

»Sind Sie sicher, dass es ein menschliches Auge ist?«

»Ich glaube es zumindest.«

Wieder nur leere Luft.

Denn stellte Slidell dieselbe Frage, die schon Katy gestellt hatte. Ich hatte also Zeit gehabt, mir zu überlegen, wen ich geärgert hatte.

»Ich habe einen Nachbarn, der sauer auf mich ist.«

»Was haben Sie getan? Auf seine Stiefmütterchen gepinkelt?«

»Der Mann mag meine Schildkröte nicht«, erklärte ich eisig.

»Ich dachte, Sie hätten eine Katze.«

»Das ist Gartenkunst. Aus Beton. Er behauptet, dass sie seinem Jungen Angst macht, und will, dass ich sie entferne.«

»Holen Sie das verdammte Ding doch ins Haus.«

»Das will ich nicht.«

»Glauben Sie, der Mistkerl könnte bis an die Augäpfel sauer sein?«

»Ich bezweifle das.«

Ich konnte mir vorstellen, wie Slidell den Kopf schüttelte. Dann: »Ich ruf mal rein, damit sich jemand von der Truppe darum kümmert. Wahrscheinlich schieben sie es an den Frischling ab, ein vielleicht menschlicher Augapfel hat schließlich nicht gerade allerhöchste Priorität.«

»Wer ist der Frischling?«

»Henry. Eine echte Nummer.«

Drei Pieptöne, dann lauschte ich erneut leerer Luft.

»Skinny ist mal wieder in Bestform«, sagte Katy.

»Du hast alles gehört?«

»Du hast das Handy ja vom Ohr weggehalten. Glaubst du wirklich, dass dein Nachbar zu so was fähig ist?«

»Eigentlich nicht.«

»Hast du einen Laptop?«

»Hat eine Gans Daunen?«, erwiderte ich.

»Nur wenn sie im Bett liegt.«

»Und Tusch. Wir sind auf derselben Wellenlänge, oder? Wir lassen’s durchs GPS laufen und schauen, was sich ergibt.«

Während Katy Wasser aufsetzte, fuhr ich meinen Laptop hoch und gab die Koordinaten vom Augapfel in Google Earth ein. Die Weltkugel hatte eben aufgehört, sich zu drehen und heranzuzoomen, als sie zu mir kam und mir über die Schulter spähte.

Wir starrten beide den Bildschirm an.

»Was zum Teufel?« Katy gab unserem gemeinsamen Erstaunen Ausdruck.

3

Montag, 31. Januar

»Das ging schnell.« Der Junge sah aus wie frisch aus der Highschool. Die Haare waren blond und schlecht geschnitten, seine Wangen gesprenkelt mit beängstigend entzündeten Pickeln. Seine Uniform der Abbey-College-Campus-Polizei sah an seiner schmächtigen Gestalt aus wie von einem älteren Bruder übernommen. Einem großen und kräftigen.

»Tut mir leid?« Ich formulierte das als Frage.

»Ihr seid doch wegen dem Klohäuschen hier, ja?« Selbst gedämpft durch das blaue Hütchen über Nase und Mund, klang die Stimme des Jungen unerwartet voll.

Unwillkürlicher Gedanke. Anfangs fand ich es ziemlich bizarr, außerhalb des Autopsiesaals eine Maske aufzusetzen. Jetzt klatsche ich mir meine FFP2 vors Gesicht und bemerke kaum noch, dass andere ähnlich verkleidet sind.

Slidell saugte Luft ein, um zu sprechen. Das Papierrechteck vor seinem Gesicht bekam tiefe Dellen.

Da ich Mitleid mit dem Jungen hatte, übernahm ich. »Das Ding im Klo?«, sagte ich und hob am Ende wieder die Stimme, um eine Frage anzudeuten.

»Sie sind Cops, oder?«, fragte der Junge, während er zwischen Slidell und mir hin und her schaute. »Ich mein ja nur. Wir haben den Anruf eben erst bekommen.«

»Was für einen Anruf?«

»Dass wir uns ein altes Außenklo hinter MV anschauen sollen.«

»Wer hat angerufen?«

»Jemand von MV, nehm ich an.«

»Was ist MV?«

»MiraVia.«

»Und das ist?«

»Eine Unterkunft für Mädchen mit einem Braten in der Röhre.«

»Wie bitte?«, fragte ich mehr als eisig.

»Sie wissen schon. Sie werden schwanger, ohne auf den Ring am Finger zu warten.«

»Sind das Studentinnen?«

»Ja. Sind ein stiller Haufen, machen uns kaum Ärger. Seit ich hier bin, gab’s von dort nur einen einzigen anderen Anruf. Bewohnerinnen sagten, es hätte einen Einbruch gegeben. Offensichtlich war das so, deshalb haben wir’s an Ihre Truppe weitergegeben.«

»Haben Sie die heutige Anruferin nach dem Namen gefragt?«

»Nein.«

»Führen Sie kein Protokoll?«

»Doch. Aber ich wurde abgelenkt, weil was anderes los war.« Der Junge kniff nachdenklich die Brauen zusammen. Was für ihn eine ganz neue Erfahrung zu sein schien. »Ach ja. Ein Trottel ist mit seinem Auto vorne gegen die Begrenzungsmauer geknallt. Haben Sie den Schrotthaufen gesehen?«

»Was ist jetzt mit diesem Klo?« Slidell verlor die Geduld.

»Die Scheiße ist mir zu hoch.« Dümmliches Grinsen. »Kapiert?«

»Lustig. Weißt du, was nicht lustig ist? Du vergeudest meine Zeit.«

Der Junge hob die Hand, um sich die Wange zu kratzen. Eindeutig eine schlechte Idee.

»Bring uns zu diesem Klo«, verlangte Slidell.

»Ich muss erst –«

»Jetzt!«

Der Junge schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte. »Haben Sie ein eigenes Fahrzeug?«

»Nein, du Genie. Wir haben uns hierher beamen lassen.«

»Wie heißen Sie?«, fragte ich und lächelte freundlich.

»George«, erwiderte er, verdrossen wegen Slidells Anpfiff. Oder weil Slidell es nicht schaffte, ihn als Bruder in Blau zu behandeln.

»Sie fahren voraus, George«, sagte ich. »Wir folgen Ihnen.«

George zog eine abgeschabte Lederjacke an und setzte eine viel zu große Uniformmütze auf, mit der er aussah, als wäre er gerade aus einer Sitcom der Fünfzigerjahre entlaufen. Ich wartete nur noch auf die eingespielten Lacher aus der Dose.

Draußen rutschte George hinter das Steuer eines Golfkarrens mit dem Schulemblem auf der vorderen Abdeckung. Wir stiegen wieder in Slidells Toyota 4Runner.

Während der frühmorgendlichen Fahrt nach Westen auf der I-85 und der Belmont Mt. Holly Road war Slidell untypisch still gewesen. Dankbar und doch neugierig, nahm ich seinen Hinweis auf und konzentrierte mich darauf, auf meinem Handy E-Mails zu beantworten und größtenteils zu löschen. Ich tauschte eine Reihe von Nachrichten mit Katy zu den Freuden des Auspackens aus.

Als ich am Abend davor Slidell von meiner Absicht berichtet hatte, die in das Auge eingeritzten GPS-Koordinaten zu überprüfen, hatte er seine gewohnte Salve von Protesten abgefeuert. Eine typische Skinny-Darbietung. Doch als er begriff, dass ich mich nicht davon abbringen ließ, bestand er darauf, mich zu begleiten.

Ich war mir Slidells Motivation nicht ganz sicher. Flaute im Schnüfflergeschäft? Schlechtes Gewissen wegen des Auges? Vielleicht brach einfach Skinnys Paternalismus wieder durch.

Ich muss gestehen: Ich war froh, dass Slidell bei mir war. Ich wusste nicht so recht, wohin die Koordinaten mich führen würden. Oder was ich dort finden würde. Ich war mit Skinny einer Meinung. Ein menschlicher Augapfel verhieß nichts Gutes. Ein vielleicht menschlicher Augapfel.

Der Himmel war trüb und bewölkt, die Luft kalt wie eben Ende Januar. Ich hatte Handschuhe dabei und trug warme Stiefel und einen Parka. Trotzdem hoffte ich, dass wir nicht lange draußen sein mussten.

Ich betrachtete die Aussicht, während wir eine kleine Umlaufstraße entlangfuhren. Ich wusste nur wenig über die Belmont Abbey, und das meiste davon hatte ich vergangene Nacht übers Internet erfahren. Darunter das Folgende:

Der knapp dreihundert Hektar große Campus enthält ein Benediktinerkloster, Heimat von fünfundzwanzig Männern, die dem Gebet, der Arbeit und der Tugendhaftigkeit verpflichtet sind. Außerdem ein katholisches geisteswissenschaftliches College, Heimat von etwa siebzehnhundert Student:innen, die vermutlich ähnlichem Streben verpflichtet sind. Vielleicht nicht in derselben Reihenfolge.

Der Komplex war beeindruckend, das Kloster Baujahr 1876. Die Basilika. Die Studentenwohnheime und akademischen Verwaltungsgebäude. Der Großteil der Architektur entsprach der originalen neugotischen Vision.

Die Straße, die zweifellos nach irgendeinem gnädigerweise toten Abt benannt war, verlief zwischen Tenniscourts und einem Fußballplatz, der jede Ivy-League-Uni stolz gemacht hätte. Direkt hinter den Sportanlagen bog George rechts ab. Slidell ebenfalls.

Direkt vor uns lag ein langes, einstöckiges Backsteingebäude, dessen Front sich zu vier Spitzgiebeln verjüngte. George steuerte einen Parkplatz auf der Rückseite des Gebäudes an und stellte den Karren dort ab. Slidell parkte seinen SUV daneben.

Wir alle stiegen aus. George blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Kurz schaute er sich um, dann deutete er mit dürrem Arm auf ein stark bewaldetes Gelände hinter dem Gebäude, das, wie ich annahm, MiraVia war.

George sprach in ein Funkgerät, das aussah wie etwas aus dem Pilotfilm zu Starsky and Hutch. Erhielt eine Antwort voller statischem Rauschen. Dann setzte er sich wortlos in Bewegung.

Ich schulterte meinen Rucksack und folgte ihm. Hinter mir hörte ich Slidell murmeln. Zum Glück war er nicht so nahe, dass ich ihn verstand.

George ging zu einer kaum erkennbaren Ausdünnung in der Vegetation am Rand des Asphalts. Der Bereich war so überwuchert, dass ein Ortsunkundiger die Mündung des Pfads kaum erkannt hätte.

Während ich niedrig hängende Äste beiseiteschob und ab und zu die Gurte meines Rucksacks neu anpasste, folgte ich George den Pfad entlang. Hinter mir hörte ich schwere Schritte, das Brechen von Zweigen und das Rascheln toten Laubs.

Das Außenklo lag zu Fuß fünf Minuten vom Parkplatz entfernt, so tief im Wald, dass das dichte Gewirr der Äste sogar im Winter fast alles Sonnenlicht abhielt. Da der Boden permanent im Schatten lag, war er feucht und ohne jeden Bewuchs.

Ich atmete einmal tief durch. Die Luft roch nach Schimmel, Fäulnis und organischem Material. Trotz der Kälte war ich froh, dass wir Winter hatten. Die meisten Insekten waren tot oder hatten sich verkrochen, um auf den Frühling zu warten.

George blieb diskret ein Stück zurück, die Arme verschränkt, das Gesicht gerötet von der windigen Fahrt. Was eigentlich eine Verbesserung war. Die Farbe arbeitete als Tarnung für den Krieg, der auf seinen Wangen wütete.

Slidell kam zu mir und stand mit gespreizten Füßen da, die rechte Hand aufgestützt an der Hüfte seines aufgeknöpften braunen Mantels. Unterhalb des Kragenumschlags war das Futter aufgerissen. Ich würde nicht sagen, dass der Mann keuchte, aber er atmete schwer.

Das Außenklo sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Gezimmert aus Brettern, die von Jahrzehnten des Regens und des Winds verwittert waren, war die winzige Hütte gerade groß genug für einen einzigen Benutzer, das Dach flach und nach vorne geneigt. Der Verschlag hatte seine Glanzzeit eindeutig hinter sich und war offensichtlich schon vor Langem aufgegeben worden, eine alles andere als vertrauenerweckende, windschiefe Konstruktion.

Die Neigung von Slidells Schulter verriet mir, dass er in den Polizistenmodus geschaltet hatte. Nachdem er das Klo begutachtet hatte, drehte er sich einmal um die eigene Achse, den Blick hellwach, die Hand an der Waffe.

Das Wäldchen war still bis auf das gelegentliche Schaben von Ästen im Wind. Hin und wieder tat ein Vogel seine Meinung kund, vielleicht ein Kommentar zu dem Drama, das sich unter ihm auf der Erde entwickelte.

Ich klickte die GPS-App auf meinem Handy an. Sie bestätigte mir, dass wir die genauen Koordinaten gefunden hatten. Ich nickte Skinny zu.

Slidell bedeutete George und mir zurückzubleiben, machte dann einen Schritt auf das Klo zu und musterte sorgfältig den Spalt, der die Tür umgab, die Klinke und die Angeln. Ich wusste, was er dachte. Ich war an diesen Ort gelockt worden. Konnte der Verschlag eine Sprengfalle sein?

Nachdem Slidell weder Drähte noch sonstige Hinweise auf eine Sprengladung entdeckt hatte, nahm er einen Stein zur Hand, trat zurück und warf ihn gegen die Tür. Nichts.

Dann drehte er sich um und sagte zu mir: »Dann mal los.«

Ich schoss Fotos vom Klohäuschen und der Umgebung. Umkreiste es. Fotografierte weiter. Wie Slidell hielt auch ich Ausschau nach irgendetwas Verdächtigem.

Allmählich kamen mir Bedenken. Ich hoffte, ich hatte Skinny nicht für »nichts und wieder nichts« hierhergeschleift, wie er es nennen würde.

Doch meine Gedanken waren widersprüchlich. Wäre es mir wirklich lieber, wenn wir noch ein grausiges Souvenir finden würden? Einen Zettel mit der Botschaft Reingelegt!? Oder auch rein gar nichts?

Meine Zweifel beiseiteschiebend, wühlte ich in meinem Rucksack, streifte mir Handschuhe und Maske über und schaltete meine Taschenlampe an. Nach einem Schritt vorwärts zog ich behutsam am verrotteten Griff der Klotür.

Ein Kreischen zerriss die Luft.

Mein Herz schlug bis zum Hals.

Hinter mir hörte ich das schnelle Schlurfen von Slidells Schuhen. Spürte ihn in meinem Rücken.

»Nur eine verrostete Angel«, sagte ich ruhiger, als ich mich fühlte.

»Schauen wir, was in diesem gottverdammten Scheißhaus ist, damit wir wieder von hier wegkommen.«

Ohne weiter auf das schrille Kreischen zu achten, zog ich die Tür so weit wie möglich auf. Slidell griff mit fleischiger Hand nach dem Holz, um sie offen zu halten.

Das Innere des Schuppens wurde nur von den diffusen Strahlen erhellt, die durch die Ritzen zwischen den grob zusammengenagelten Brettern fielen. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe herum. Der Kegel kroch über eine Holzbank an der Rückseite, in der ein Loch klaffte. Ein kaputter Toilettensitz lehnte am Sockel, und ein Rollenhalter ohne Papier ragte aus der Wand.

Spinnweben überspannten die Ecken des Schuppens und hingen in Schwaden von der schrägen Decke. Sprödes Laub und vergilbte Zeitungen lagen in Häufchen am Boden vor den Wänden. Nach Klohäuschen-Standards bekam dieses hier null Punkte für Ambiente.

Ich klopfte mit dem Stiel der Taschenlampe auf das Äußere der Hütte. Und dann noch einmal. Keine kleinen, haarigen Wesen kamen erschrocken herausgehuscht.

Noch ein tiefer Atemzug, dann betrat ich das Klo. Trotz der Kälte registrierte meine Nase einen penetranten Geruch. Vertraut. Stark.

Oh nein, protestierte eine Stimme im primitiven Teil meines Gehirns.

Oh doch, entgegnete mein Geruchssinn.

Mit wachsendem Grauen beugte ich mich vor und richtete meinen Strahl ins Herz der Bestie.

Mein Magen zog sich zusammen.

Über die Jahre hatte das Klo anscheinend als Ablage für Müll gedient, der für die normale Entsorgung ungeeignet war. Der Haufen in der Grube wölbte sich gute eineinhalb Meter unterhalb des Lochs in der Holzbank. Ich sah einen Toaster hervorragen, ein Stück Gartenschlauch und einen sehr schlecht behandelten Regenschirm. Über den Rest der Füllung dachte ich lieber nicht genauer nach.

Der Gegenstand, der vermutlich meinen Magenkrampf verursacht hatte, lag ganz oben auf dem Haufen, gleißend weiß im kleinen Oval des Lichtstrahls. Das Objekt war kugelförmig, die Oberfläche glänzend, zerknittert und mit einem Logo versehen.

Ich starrte das Ding an, als ich den Schuppen schwanken spürte und das Poltern vom Slidells Stiefeln auf dem Boden hörte. Die Gerüche nach Tabakrauch und Schweiß, die der Mantel verströmte, mischten sich mit jenen, die schon jetzt die Luft verpesteten.

Ich bewegte mich zur Seite. Slidell trat vor und spähte durch das Loch.

»Verdammt noch mal.«

»Ich hätte gewettet, Sie würden Scheiße sagen.«

»Was? Ist jetzt jeder ein Comedian?«

»Kommen Sie da ran?«

»Also der war wirklich gut.«

Slidell ging wieder hinaus, ohne sich umzudrehen. Ich hörte ihn einen Befehl brüllen, dann tauchte er wieder in der Tür auf.

»Das junge Genie sucht was, mit dem man da runterkommt.«

Das junge Genie brauchte fast vierzig Minuten. In seiner Abwesenheit schoss ich Fotos und machte mir Notizen. Slidell hatte seinen Hintern an eine riesige Kiefer gelehnt, schaute abwechselnd auf sein Handy und pulte zwischen seinen Backenzähnen.

George kam mit einer langen Holzstange zurück, auf deren Spitze ein kleiner Messinghaken steckte.

Rückblende. Eine Nonne in der St. Margaret’s Elementary, die so ein Ding in die Höhe streckte, um den oberen Teil eines sehr hohen, sehr alten Fensters zu öffnen.

Schon komisch, wohin einen das Hirn manchmal führt.

Aber George hatte seinen Plan nicht ganz durchdacht. Die Stange passte unmöglich in den Schuppen. Glauben Sie mir, wir haben es versucht.

Fluchend und so rot im Gesicht, dass ich schon einen Herzanfall befürchtete, ging Slidell zum SUV zurück, zog seinen übel riechenden Mantel aus und öffnete die Heckklappe. Nach einigem wütenden Herumsuchen kam er mit einer kleinen Handsäge zurück.

»Schneid den gottverdammten Stiel ab!« Er streckte dem jungen Genie das Werkzeug hin.

Ganz offensichtlich war George kein Heimwerker. Der Vorgang kostete ihn ganze sieben Minuten.

»Gut. Ich versuche mal, das Ding an den Haken zu kriegen«, sagte ich zu George, weil ich nicht wollte, dass sich Slidells verschwitzte Masse mit mir in den kleinen Raum zwängte. »Sie leuchten mir.«

Mit einer Miene, als hätte ich gesagt, er werde in einer Leprakolonie gebraucht, zog George sein Maglite aus dem Gürtel und betrat den Verschlag. Ich folgte ihm mit der abgesägten Stange.

Während George unterwegs gewesen war, hatte ich mir meine Fotos angeschaut. Im Daumen-Zeigefinger-Zoom hatten sich die verknoteten Henkel einer Apotheken- oder Einkaufstüte aus Plastik gezeigt. Ich hatte vor, mit dem Haken eine oder beide dieser Schlaufen zu fassen.

Ein tiefer Atemzug. Unter diesen Umständen eher unvernünftig.

Ich ging zu der Bank und steckte die Stange in das Loch. Georges Taschenlampentalente waren erste Sahne. Ich fand die Henkel ziemlich schnell und bewegte den Haken hin und her, prüfte immer wieder, ob ich Widerstand spürte. Stück für Stück veränderte ich den Winkel der Stange. Die Tüte war schwerer, als ich erwartet hatte.

Oder doch nicht?

Ein menschlicher Kopf wiegt ungefähr zehn Pfund.

Zentimeter für Zentimeter hievte ich die Tüte auf die Öffnung zu. Ich kam mir vor wie eine Anglerin, die einen Fisch einholt.

Eine ungeschickte Anglerin. Meine Finger waren steif von der Kälte, und auf halber Höhe spürte ich, wie die Stange sich in meinem Griff drehte. Die Tüte schwankte wild.

»Scheiße!«

George erschrak, und der Lichtstrahl zuckte.

Ich verstärkte meinen Griff. Die Tüte blieb am Haken.

»Tut mir leid«, sagte ich.

Das Licht beruhigte sich wieder.

Als die Tüte schließlich auf einer Höhe mit dem Loch war, legte George die Taschenlampe ab und zog den Fund mit beiden Händen auf die Bank.

Gut gemacht, junges Genie.

»Scheiße, das stinkt.«

»Tut es«, stimmte ich ihm zu.

»Das ist eine Target-Tüte«, bemerkte George, während er sich die Hände an der Hose abwischte. »Ich kann die rote Zielscheibe sehen.«

Wieder stimmte ich ihm zu. »Um anständige Fotos zu kriegen, brauche ich besseres Licht.«

»Okay.« Diesmal kam mir das junge Genie nicht zu Hilfe.

Ich nahm die Tüte zwischen beide Hände, wie George es getan hatte.

Mein Gott, wie die stank.

Vorsichtig, um nicht zu stolpern, trug ich die Tüte nach draußen und stellte sie auf den Boden.

Vier Augen sahen mir zu, wie ich Handschuhe wechselte, eine Fallakte anlegte und noch mehr Fotos schoss. Danach holte Slidell ein Schweizer Taschenmesser hervor, klappte die Klinge auf und gab es mir.

Ich kniete mich neben die Tüte.

Mit pochendem Herzen zerschnitt ich das Plastik.

4

Der Gestank war so heftig, dass es einen Frischling umgehauen hätte.

Und das tat er auch. Oder vielleicht war es der Anblick.

George schlug mit einem Geräusch auf, als würde eine Hantel auf eine Matte knallen. Sein Maglite rollte mit leisem Klicken durch den Schlamm. Blieb zwischen den Wurzeln einer Eiche hängen und leuchtete tapfer weiter.

»Himmel nochmal, den Vollpfosten hat’s ausgeknipst.«

Ohne auf Slidells gefühllose Bemerkung zu achten, eilte ich zu George und prüfte Halsschlagader und Atmung.

»Nehmen Sie sein rechtes Bein«, befahl ich, während ich George auf den Rücken drehte.

»Auf keinen Fall.« Slidell machte ein Gesicht, als hätte ich ihm befohlen, den Boden einer Arrestzelle zu lecken.

»Tun Sie’s einfach.«

Er tat es. Widerwillig. Zusammen hoben wir Georges Beine über Herzhöhe an. Nach acht Sekunden öffnete der Junge die Augen wieder. Slidell ließ das Bein fallen, als hätte er sich verbrüht.

Mit knackenden Knien stand Slidell wieder auf und trat zurück. Gnädigerweise sagte er nichts.

»Alles okay?«, fragte ich.

»Ich glaube, eine Spinne hat mich gebissen«, antwortete George und griff nach seiner Kappe.

»Wahrscheinlich«, erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass da keine Spinne gewesen war.

»Warum erholen Sie sich nicht ein bisschen? Detective Slidell und ich kümmern uns um das hier.«

Nickend stand George auf und trollte sich in eine Entfernung, die er für geruchsfrei hielt.

Slidell und ich widmeten uns wieder der Tüte und ihrem grausigen Inhalt.

Nachdem die Henkel der Tüte aufgeknotet und die Plastikseiten aufgeklappt waren, schlug uns überwältigender Verwesungsgeruch entgegen.

Ich schaute Skinny an.

Er zog sein Handy heraus und drückte einen Kurzwahlknopf.

»Morddezernat«, bellte er.

Um halb vier stand ich in einem Autopsiesaal. Der Kopf, der jetzt die Fallnummer MCME 213-22 trug, lag, gestützt von zwei Gummipolstern, auf einem Edelstahltisch, die Plastiktüte etikettiert und für den Transport eingepackt auf einer Arbeitsfläche. Der Augapfel von meiner Hintertür wartete in einem nahen Kühlfach. Er hatte die Fallnummer MCME 210-22 bekommen.

Die Stunde Wartezeit, bis die Spurensicherung am Fundort eintraf, hatten Slidell und ich genutzt, um die unmittelbare Umgebung abzusuchen. Aber nichts Interessantes gefunden. Nach der Ankunft des Teams waren wir aufgebrochen. Nguyen hatte mich autorisiert, die Überreste ins MCME zu bringen, deshalb hatten wir die Tüte hinten in den 4Runner gepackt und waren nach Charlotte gefahren.

Während seiner gesamten Dienstzeit beim CMPD hatten Slidells Fahrzeuge immer ausgesehen und gerochen wie Müllcontainer. Da er jetzt seinen eigenen SUV fuhr, bestand Skinny darauf, dass alle vier Fenster heruntergelassen waren. Die Fahrt war frostig gewesen. In mehrfacher Hinsicht.

Ich hatte mir eben die Röntgenbilder angesehen, als ich einen Anruf vom Empfang erhielt. Ein Detective namens Henry wünsche mich zu sehen. Ich bat Mrs. Flowers, ihm einen Besucherausweis zu geben und ihn in mein Büro zu schicken.

Slidell hatte recht behalten in Bezug auf die Priorisierung. Der Fall war dem Frischling zugewiesen worden, von dem er in den höchsten Tönen gesprochen hatte.

Ich warf eine blaue Plastikplane über die Überreste, zog die Schutzkleidung aus und wusch mich. Dann verließ ich die biologische Abteilung durch den Vorraum und überquerte die Lobby auf die andere Seite des Gebäudes.

Detective Henry sah nicht so aus, wie ich erwartet hatte. Sie war mindestens eins achtzig groß, blond und blauäugig und sehr muskulös.

Ja. Sie.

Henry saß auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Wandte den Kopf zu mir, als ich durch die Tür kam.

»Temperance Brennan«, sagte ich lächelnd und streckte die Hand aus.

»Donna Henry.« Ihr Händedruck spielte in der Schraubstock-Liga.

Ich ging um den Schreibtisch herum und setzte mich.

Erster Eindruck. Detective Henry verbrachte viel Zeit im Fitnessstudio. Und gab viel Geld für Kleidung aus. Sie trug knöchelhohe Stiefel, eng anliegende, schwarze Jeans und einen Blazer von Alexander McQueen über einer cremefarbenen Seidenbluse. Schal und Daunenjacke von Burberry lagen auf ihrem Schoß.

Zweiter Eindruck. Detective Henry hatte viel zu viel Zeit in der Sonne verbracht. Oder brauchte einen höheren Lichtschutzfaktor. Ihr Gesicht war gebräunt. Das sah gut aus. Die Haut war faltiger, als sie es in ihrem Alter sein sollte. Das sah nicht gut aus. Ich schätzte sie auf um die dreißig.

Henry lächelte, blieb aber sitzen und wartete, dass ich etwas sagte.

»Soweit ich weiß, sind Sie erst seit Kurzem beim Mord/ATW.« Ich meinte das CMPD-Dezernat, das Morde und Angriffe mit einer tödlichen Waffe untersucht.

Henry nickte.

»Warum wollten Sie Gewaltverbrechen bearbeiten?«, fragte ich, um das Gespräch freundlich zu beginnen.

»Will das nicht jeder?«

Nein.

»Wo waren Sie davor?«

»Häusliche Gewalt.«

»Und davor?« Mein Gott. Das klang ja fast wie ein Bewerbungsgespräch.

»Ich bin jetzt seit ungefähr drei Jahren in Charlotte. Davor lebte ich in L.A. Dort bin ich auch aufgewachsen. Aber inzwischen kann ich diese ganze südkalifornische Stimmung nicht mehr ausstehen. Bis auf den Ozean natürlich. Der war schon klasse.«

»Sie waren Detective beim LAPD?«

»Ja.«

»Warum sind Sie weggegangen?«

»Wer kann in L.A. schon vom Gehalt einer Polizistin leben? Außerdem hatte ich schon ewig auf eine Versetzung ins Raub- und Morddezernat gewartet. Wie auch alle anderen in dem Job. Na jedenfalls, meine Ehe ist in die Brüche gegangen, und ich habe eine Cousine, die in Myrtle Beach lebt. Durch sie habe ich gehört, dass Charlotte Leute suchte, ich habe mich beworben – und hier bin ich.«

Zuerst L.A., dann drei Jahre hier. Und Slidell betrachtete sie immer noch als Frischling.

»Leben Sie gerne in Charlotte?«

»Ja. Anstelle eines Studioapartments habe ich jetzt ein ganzes Haus für mich. Einen ganzen verdammten Block.« Sie breitete die Arme aus.

»Was haben Sie da?« Ich nickte zu einem braunen Umschlag, der oben auf ihrem Burberry lag.

Auf der frostigen Fahrt von der Belmont Abbey hatte ich auf Slidells Drängen hin widerwillig meinen ersten Eindruck zu unserem Klofund preisgegeben. Weiblich. Weiß. Erwachsen. Leichenliegezeit (auch Post-Mortem Interval, PMI) wahrscheinlich weniger als zwei Jahre. Wegen des Plastikbeutels und der geschützten Umgebung in dem dauerschattigen Klohäuschen war eine genaue PMI-Schätzung unmöglich.

Sie können sich Slidells Entzücken über diese Angaben vorstellen. Trotzdem hatte er sie an Henry weitergegeben.

»Ich habe mit Ihrer Todeszeitschätzung und dem biologischen Profil eine Suche gestartet. Habe einige Kandidaten gefunden.«

Henry zog einen Ausdruck aus dem Umschlag und überflog drei Datensätze.

»Eve Lott, Alter achtunddreißig. Vermisst gemeldet am 23. Februar 2020. Lucille McFarland, Alter dreiundvierzig. Vermisst gemeldet am 16. Juni 2021. Ariadne Bruce, Alter vierundvierzig. Vermisst gemeldet am 18. Dezember 2021.

Henry schaute mich erwartungsvoll an. »Wollen Sie den BG der drei?«

»BG?«

»Den Background.«

»Nicht jetzt.« Okay, Frischling. Mal sehen, wie du dich machst. »Sollen wir uns die Überreste ansehen, Detective?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stand ich auf, um auf die »saubere« Seite der Einrichtung zurückzukehren. Henry folgte mir mit nicht sehr begeisterter Miene.

Im Autopsiesaal gab ich Handschuhe, Maske und Schürze aus, und wir zogen uns beide die Schutzkleidung an. Ich trat an den Tisch und schlug die Plane zurück.

Zwischen den Stützkissen hervor starrte uns ein menschliches Gesicht an. Oder das, was von einem menschlichen Gesicht noch übrig war. Die Verwesung hatte die Züge in eine Todesmaske verwandelt, die nur noch wenig Ähnlichkeit mit der Person hatte, die im Leben von diesen Zügen charakterisiert worden war.

Ich spürte, wie Henry sich neben mir verkrampfte. Aber sie schrak nicht zurück. Kippte auch nicht um wie George. Glauben Sie mir, ich habe schon altgediente Polizisten auf den Fliesen gesehen.