Die Spur der toten Mädchen - Michael Connelly - E-Book

Die Spur der toten Mädchen E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Gabriel Williams, Bezirksstaatsanwalt des Los Angeles County, macht Mickey Haller ein unmoralisches Angebot: Er soll auf Seiten der Ankläger vor Gericht ziehen. Eigentlich ist Haller Strafverteidiger mit Leib und Seele, aber er ist eben auch chronisch pleite – und neugierig. Der Fall stellt sich als riesiges mediales und politisches Spektakel heraus: Jason Jessup, der vor vierundzwanzig Jahren verurteilt wurde, die zwölfjährige Melissa Landy entführt, vergewaltigt und ermordet zu haben, wurde vor einem Monat aus dem Gefängnis entlassen. Eine DNA- Probe von damals soll seine Unschuld bewiesen haben. Doch die Staatsanwaltschaft ist weiterhin davon überzeugt, dass Jessup die Tat begangen hat, und lässt ihn kurzerhand wieder einbuchten. Das Urteil der Öffentlichkeit ist längst gefallen: Man ist empört über das Vorgehen der Justiz. Alle Ermittler und Richter von damals sind tot, und nun soll Haller beweisen, was wirklich passiert ist. Und er sagt zu – unter der Bedingung, dass er sein Team selbst zusammenstellen darf. Ermitteln soll niemand Geringerer als sein Halbbruder Harry Bosch.

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Seitenzahl: 573

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Connelly

Die Spur der toten Mädchen

Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für Shannon Byrne

mit herzlichem Dank

Teil 1Der Perp Walk

1

Dienstag, 9. Februar, 13:43 Uhr

Das letzte Mal, als ich im Water Grill etwas gegessen hatte,hatte ich mit einem Mandanten am Tisch gesessen, der seine Frau und ihren Geliebten mit mehreren Schüssen ins Gesicht eiskalt und berechnend ermordet hatte. Er hatte mir das Mandat erteilt, damit ich ihn beim Prozess nicht nur verteidigte, sondern auch vollständig entlastete und in den Augen der Öffentlichkeit seinen guten Ruf wiederherstellte. Dieses Mal sah ich mich einem Mann gegenüber, bei dem ich noch vorsichtiger sein musste. Ich speiste mit District Attorney Gabriel Williams, dem Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles County.

Es war ein kühler Winternachmittag. Ich saß mit Williams und seinem loyalen Stabschef – sprich: politischem Berater – Joe Ridell am Tisch. Der Termin für das Essen war auf 13:30 Uhr gelegt worden, da um diese Zeit die meisten Rechtsanwälte längst wieder zurück im Criminal Court Building wären und das Treffen des DA mit einem Vertreter der Schattenseite nicht so schnell publik würde. Mit Letzterem war ich gemeint: Mickey Haller, Verteidiger der Verdammten.

Der Water Grill war ein gutes Lokal für ein Mittagessen in Downtown L.A. Vorzügliches Essen, angenehme Atmosphäre, zwischen den Tischen genügend Abstand für vertrauliche Gespräche und eine Weinkarte, die in Downtown ihresgleichen suchte. Es war die Sorte Restaurant, in dem man die Anzugjacke anbehielt und vom Kellner eine schwarze Serviette über den Schoß gebreitet bekam, damit man es nicht selbst tun musste. Die Herren von der Staatsanwaltschaft bestellten auf Kosten des Steuerzahlers Martinis, ich hielt mich an das kostenlose Wasser, das der Water Grill ausschenkte. Williams benötigte zwei Schluck Gin und eine Olive, bis er auf den Grund zu sprechen kam, aus dem wir uns vor aller Augen versteckten.

»Mickey, ich hätte da einen Vorschlag für Sie.«

Ich nickte. So viel hatte Ridell bereits durchblicken lassen, als er mich am Morgen angerufen hatte, um den Termin für das Essen zu vereinbaren. Ich hatte zugesagt und mich dann meinerseits ans Telefon gehängt, um so vielleicht an ein paar Insiderinformationen zu kommen, was dieser Vorschlag beinhalten könnte. Aber nicht einmal meine Ex-Frau, die in der Bezirksstaatsanwaltschaft arbeitete, wusste, was dahinterstecken könnte.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte ich. »Es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass einem der DA persönlich einen Vorschlag macht. Mir ist natürlich klar, dass es dabei nicht um einen meiner Mandanten gehen kann – sie verdienten wohl kaum die Aufmerksamkeit eines Mannes in Ihrer Position. Außerdem habe ich im Moment sowieso nicht viele Fälle. Die Auftragslage ist gerade etwas flau.«

»Sie haben völlig recht«, erklärte Williams. »Es geht hier nicht um einen Ihrer Mandanten. Ich hätte gern, dass Sie einen Fall für mich übernehmen.«

Ich nickte wieder. Jetzt verstand ich. Alle hassen sie den Strafverteidiger, bis sie den Strafverteidiger brauchen. Mir war zwar nicht bekannt, ob Williams Kinder hatte, aber eigentlich müsste er darauf hingewiesen worden sein, dass ich keine Jugendlichen verteidigte. Deshalb nahm ich an, dass es seine Frau betraf. Ein Ladendiebstahl vielleicht oder Alkohol am Steuer oder sonst etwas, was nicht an die Öffentlichkeit dringen sollte.

»Wer wurde denn einkassiert?«, fragte ich.

Williams sah Ridell an, und beide lächelten wissend.

»Nein, nicht, was Sie denken«, sagte Williams. »Mein Vorschlag ist folgender: Ich würde Sie gern anheuern, Mickey. Ich möchte, dass Sie für die Staatsanwaltschaft arbeiten.«

Mir waren alle möglichen Ideen durch den Kopf gegangen, seit ich Ridells Anruf erhalten hatte, aber eine war mit Sicherheit nicht darunter gewesen: dass ich einen Job als Ankläger angeboten bekommen könnte. Ich war seit mehr als zwanzig Jahren eingetragenes Mitglied der Strafverteidigerkammer. In dieser Zeit hatte ich ein Misstrauen gegen Staatsanwälte und Polizisten entwickelt, das vielleicht nicht so tief saß wie das der Gangmitglieder unten in Nickerson Gardens, sich aber dennoch in einem Rahmen bewegte, der mich schwerlich auf ihre Seite hätten wechseln lassen. Es war ganz einfach so: Sie wollten nichts von mir, und ich wollte nichts von ihnen. Sah man einmal von der erwähnten Ex-Frau und einem Halbbruder ab, der beim LAPD war, traute ich keinem von ihnen über den Weg. Ganz besonders nicht Williams. Er war in erster Linie Politiker und erst in zweiter Staatsanwalt. Das machte ihn noch gefährlicher. Zwar hatte er zu Beginn seiner Juristenlaufbahn kurz als Staatsanwalt gearbeitet, war dann jedoch zwanzig Jahre als Bürgerrechtsanwalt tätig gewesen, bevor er als krasser Außenseiter für den Posten des District Attorney kandidiert hatte und auf einer Welle der Abneigung gegen alles, was nach Polizei und Strafjustiz roch, ins Amt gespült worden war. Entsprechende Vorsicht ließ ich bei dem noblen Mittagessen walten, sobald mir die Serviette in den Schoß gelegt wurde.

»Ich für Sie arbeiten?«, fragte ich. »Und als was?«

»Als Sonderankläger. Eine einmalige Sache. Ich möchte, dass Sie den Fall Jason Jessup übernehmen.«

Ich sah Williams lange an. Zuerst dachte ich, ich müsse schallend loslachen. Das konnte nur ein geschickt eingefädelter Streich sein. Doch mir wurde schnell klar, dass das nicht sein konnte. Diese Leute luden einen nicht in den Water Grill ein, nur um einem einen Streich zu spielen.

»Sie wollen, dass ich gegen Jessup die Anklage vertrete? Meines Wissens gibt es da nicht groß was anzuklagen. Dieser Fall ist wie eine Ente ohne Flügel. Man muss sie nur noch abschießen und essen.«

Williams schüttelte den Kopf, als wollte er nicht mich, sondern sich selbst von etwas überzeugen.

»Nächsten Dienstag jährt sich der Mord wieder einmal«, sagte er. »Ich werde bekannt geben, dass wir beabsichtigen, den Fall neu aufzurollen. Und ich würde es begrüßen, wenn Sie bei der Pressekonferenz an meiner Seite stünden.«

Ich lehnte mich zurück und sah die beiden an. Ich habe einen nicht unerheblichen Teil meines Lebens damit zugebracht, mich in Gerichtssälen umzuschauen und das Mienenspiel von Geschworenen, Richtern, Zeugen und Staatsanwälten zu ergründen. Ich glaube darin inzwischen ziemlich gut zu sein. Aber in diesem Moment war ich nicht in der Lage, Williams oder seinen Begleiter auch nur annähernd zu durchschauen, obwohl sie mir, nur einen Meter entfernt, am Tisch gegenübersaßen.

Jason Jessup war ein Kindermörder, der beinahe vierundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht hatte, bis einen Monat zuvor der California Supreme Court das Urteil gegen ihn revidiert und den Fall an das Los Angeles County zurückverwiesen hatte, damit es ihn entweder neu verhandelte oder die Anklage fallenließ. Die Aufhebung des Urteils war nach einem zwanzig Jahre währenden Rechtsstreit erfolgt, der hauptsächlich aus Jessups Zelle und unter seiner Federführung betrieben worden war. Auch wenn der selbst ernannte Anwalt bei den Gerichten mit seinen zahllosen Einsprüchen, Anträgen, Beschwerden und sonstigen juristischen Winkelzügen auf Granit gebissen hatte, war es ihm irgendwann gelungen, die Aufmerksamkeit einer Anwaltsorganisation auf sich zu lenken, die sich Genetic Justice Project nennt. Sie nahmen sich seines Falls an und erwirkten schließlich mittels einer richterlichen Verfügung, dass die Spermaspuren auf dem Kleid des Mädchens, wegen dessen Ermordung Jessup verurteilt worden war, einem Gentest unterzogen wurden.

Jessup war verurteilt worden, bevor DNA-Analysen bei Strafprozessen Beweiskraft hatten. Der viele Jahre später durchgeführte Gentest ergab, dass das auf dem Kleid des ermordeten Mädchens gefundene Sperma nicht von Jessup stammte, sondern von einer unbekannten Person. Obwohl die Gerichte Anfechtungen von Jessups Verurteilung immer wieder hatten abweisen können, ließ diese neue Erkenntnis die Waage zugunsten Jessups ausschlagen. Angesichts der DNA-Tests und anderer Unstimmigkeiten in der Beweisführung und in den Prozessakten revidierte der Oberste Gerichtshof des Staates Kalifornien das Urteil schließlich.

Das war mehr oder weniger alles, was ich über den Fall Jessup wusste, und dieses Wissen stützte sich größtenteils auf Zeitungsmeldungen und Gerichtsklatsch. Auch wenn ich nicht den vollständigen Gerichtsbeschluss kannte, hatte ich Teile davon in der Los Angeles Times gelesen und wusste daher, dass diese folgenschwere Entscheidung sowohl Jessups hartnäckig vorgebrachten Unschuldsbeteuerungen sowie verschiedenen Anzeichen von polizeilichem und staatsanwaltlichem Fehlverhalten Rechnung trug. Ich könnte nicht behaupten, dass es mich als Strafverteidiger nicht mit einer gewissen Genugtuung erfüllte, dass die Staatsanwaltschaft wegen dieser Entscheidung seitens der Medien unter massiven Beschuss geriet. Nennen Sie es meinetwegen die Schadenfreude eines Underdogs. Da spielte es auch nicht wirklich eine Rolle, dass es nicht mein Fall war und die gegenwärtige Staatsanwaltschaft nichts mit der aus dem Jahr 1986 zu tun hatte; in der Regel haben Strafverteidiger so wenige Erfolgserlebnisse, dass sie immer eine Art kollektiver Freude empfinden, wenn es anderen gelingt, dem Establishment eins auszuwischen und einen Sieg zu erringen.

Die Revision des Urteils durch den Supreme Court war in der vergangenen Woche bekannt gegeben worden, und zeitgleich damit hatte eine Sechzigtagefrist zu laufen begonnen, während deren der District Attorney entweder ein neues Verfahren eröffnen oder Jessup aus der Haft entlassen musste. Seit diesem Gerichtsentscheid schien kein Tag vergangen zu sein, an dem die Medien nicht über Jessup berichtet hatten. Er gab in San Quentin, telefonisch und persönlich, mehrere Interviews, in denen er seine Unschuld beteuerte und schwere Vorwürfe gegen die Polizisten und Staatsanwälte erhob, die ihn dorthin gebracht hatten. In seiner Not hatte er sich der Unterstützung mehrerer Hollywoodstars und Sportgrößen versichern können und bereits eine Zivilklage gegen Stadt und County angestrengt, in der er für die vielen Jahre, die er zu Unrecht inhaftiert gewesen war, Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe stellte. In Zeiten eines nie zum Stillstand kommenden Medienzirkus verfügte er über ein kontinuierliches Forum, das er dazu nutzte, sich zum Volkshelden hochzustilisieren. Wenn er schließlich das Gefängnis verließe, wäre er eine Berühmtheit.

Angesichts des wenigen, was ich über die Einzelheiten des Falls wusste, war ich zu der Auffassung gelangt, dass der Mann unschuldig war und fast ein Vierteljahrhundert lang Schreckliches hatte durchmachen müssen und deshalb jeden Cent an Entschädigung verdiente, den er erstreiten konnte. Ich wusste zudem genügend über den Fall, um mir darüber im Klaren zu sein, dass die Anklage angesichts des zu Jessups Gunsten ausgefallenen Gentests bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens auf verlorenem Posten stünde, weshalb sehr unwahrscheinlich war, dass die Idee, sich auf ein derartiges politisches Selbstmordkommando einzulassen, auf Williams’ und Ridells Mist gewachsen war.

Es sei denn …

»Was wissen Sie, was ich nicht weiß?«, fragte ich. »Und was auch die Los Angeles Times nicht weiß?«

Williams lächelte selbstgefällig und beugte sich über den Tisch, um mir die Antwort zu geben.

»Alles, was Jessup mithilfe des Genetic Justice Project nachweisen konnte, war, dass seine DNA nicht auf dem Kleid des Opfers war. Als Antragsteller obliegt es ihm nicht, nachzuweisen, von wem es stammt.«

»Deshalb haben Sie es durch die Datenbanken laufen lassen.« Williams nickte. »Haben wir. Und einen Treffer erzielt.«

Mehr rückte er nicht heraus.

»Und? Von wem war’s?«

»Das werde ich Ihnen erst verraten, wenn Sie bei uns einsteigen. Andernfalls muss ich diese Information vertraulich behandeln. Aber ich will Ihnen zumindest schon so viel sagen, dass ich glaube, unsere Erkenntnisse werden in einer Prozessstrategie resultieren, die wahrscheinlich die DNA-Problematik neutralisieren kann und zugleich den Rest der Beweisführung – und die Beweislage – mehr oder weniger intakt lässt. Die DNA war schon für die erste Verurteilung nicht nötig. Und wir werden sie auch jetzt nicht brauchen. Wie schon 1986 sind wir der Auffassung, dass Jessup die Tat begangen hat, und ich würde mich einer groben Pflichtverletzung schuldig machen, wenn ich nicht erneut Anklage gegen ihn erhöbe, und zwar ungeachtet der Chancen für eine erneute Verurteilung, der möglichen politischen Konsequenzen und der Wahrnehmung des Falls in der Öffentlichkeit.«

Sprach’s, als blickte er in die Kameras und nicht auf mich.

»Warum übernehmen Sie dann die Anklage nicht selbst?«, fragte ich. »Warum kommen Sie damit zu mir? Sie haben in Ihrer Behörde dreihundert fähige Anwälte. Mir fällt zum Beispiel spontan jemand in der Dienststelle Van Nuys ein, der diesen Fall mit Handkuss übernähme. Warum ausgerechnet ich?«

»Weil in diesem Fall die Anklage nicht von einem Angehörigen der Staatsanwaltschaft vertreten werden darf. Sie haben doch sicher von den Anschuldigungen gegen uns gehört oder gelesen. Dieser Fall ist von Anfang an mit einem Makel behaftet, und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass kein einziger Staatsanwalt mehr für mich arbeitet, der damals schon bei uns war. Daher muss ich notgedrungen auf jemanden zurückgreifen, der nicht meiner Behörde angehört. In dieser Sache kann uns nur ein absolut neutraler und unabhängiger Anwalt vertreten, jemand, der …« –

»Für genau solche Fälle gibt es doch den Attorney General«, entgegnete ich. »Warum gehen Sie nicht zu ihm, wenn Sie einen unabhängigen Anwalt brauchen.«

Das war natürlich ein schlechter Witz, und jeder am Tisch wusste es. Unter gar keinen Umständen würde Gabriel Williams den Attorney General von Kalifornien bitten, sich in das Verfahren einzuschalten. Damit begäbe er sich ins Reich der Politik, und diese Grenze zu überschreiten war absolut tabu. In Kalifornien wurde der Attorney General direkt vom Volk gewählt, und jeder, der in den politischen Kreisen der Stadt Rang und Namen hatte, ging davon aus, dass Williams diesen Posten auf seinem Weg in die Residenz des Gouverneurs oder in ein anderes politisches Amt als nächsten anstreben würde. Auf gar keinen Fall würde Williams einem potenziellen politischen Rivalen einen Fall zuspielen, den dieser, mochte er auch noch so lange zurückliegen, gegen ihn verwenden konnte. Ob nun in der Politik, vor Gericht oder im Leben grundsätzlich: Man gibt seinem Gegenspieler nicht den Prügel in die Hand, mit dem er einen niederknüppeln kann.

»Wir werden damit nicht zum AG gehen«, erklärte Williams nüchtern. »Und genau deshalb will ich Sie für diesen Fall haben, Mickey. Sie sind ein bekannter und angesehener Strafverteidiger. Ich glaube, Ihnen wird die Öffentlichkeit abnehmen, dass Sie in dieser Angelegenheit unabhängig sind, und deshalb wird sie auch keine Zweifel an der Korrektheit des Verfahrens anmelden, wenn Sie eine erneute Verurteilung erwirken.«

Während ich noch Williams ansah, kam ein Kellner an unseren Tisch, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Ohne den Blickkontakt mit mir abreißen zu lassen, beschied ihm Williams, er solle sich entfernen.

»Ich habe mich noch nicht näher mit der ganzen Geschichte befasst«, sagte ich. »Wer ist überhaupt Jessups Verteidiger? Ich würde nicht gern gegen einen Kollegen antreten, den ich gut kenne.«

»Im Moment hat er nur den GJP-Anwalt und den Prozessanwalt, der ihn in der Zivilklage vertritt. Um einen Strafverteidiger hat er sich bisher noch gar nicht bemüht, weil er, offen gestanden, damit rechnet, dass wir die Sache fallen lassen werden.«

Ich nickte. Damit war fürs Erste eine weitere Hürde aus dem Weg geräumt.

»Aber da wird er sich noch wundern«, fuhr Williams fort.

»Wir werden ihn nach Los Angeles holen und ihm erneut den Prozess machen. Er war’s, Mickey, und das ist eigentlich alles, was Sie wissen müssen. Da ist ein kleines Mädchen, das nach wie vor tot ist, und das ist alles, was der Ankläger in diesem Fall wissen muss. Übernehmen Sie den Fall. Tun Sie etwas für die Allgemeinheit und für sich. Wer weiß, vielleicht finden Sie ja sogar Gefallen an dieser neuen Tätigkeit und entschließen sich dabeizubleiben. Und sollte dem so sein, würde es an uns gewiss nicht scheitern.«

Ich senkte den Blick auf das Leinentischtuch und dachte über seine letzten Worte nach. Unwillkürlich stieg kurz das Bild meiner Tochter vor mir auf, wie sie mir im Gerichtssaal zusah, wie ich für das Volk in die Schranken trat und nicht für die Angeklagten. Williams merkte nicht, dass ich bereits eine Entscheidung getroffen hatte, und fuhr fort:

»Selbstverständlich kann ich Ihnen nicht Ihren üblichen Satz zahlen, aber wenn Sie diesen Fall übernehmen, tun Sie dies, glaube ich, ohnehin nicht des Geldes wegen. Ich kann Ihnen ein Büro und eine Sekretärin zur Verfügung stellen. Und Sie können alles haben, was Sie an wissenschaftlichen und technischen Hilfsmitteln benötigen. Das Beste vom …«

»Ich will kein Büro in der Staatsanwaltschaft. Was das angeht, möchte ich vollkommen unabhängig bleiben. Ich muss mein eigener Herr sein. Deshalb auch keine gemeinsamen Mittagessen mehr. Wir geben die Sache bekannt, und danach lassen Sie mich in Ruhe. Ich entscheide ganz allein, wie ich die Sache anpacke.«

»Meinetwegen. Solange Sie darin keine Beweismittel aufbewahren, können Sie gern Ihre Privatkanzlei benutzen. Und Sie treffen natürlich Ihre Entscheidungen eigenständig.«

»Und wenn ich es mache, möchte ich mir selbst meinen Vize aussuchen – und einen eigenen Ermittler aus den Reihen des LAPD. Leute, denen ich trauen kann.«

»Wollen Sie als Vize jemanden aus meiner Behörde oder von außerhalb?«

»Ich hätte gern jemanden aus der Staatsanwaltschaft.«

»Wenn ich die Sache richtig sehe, denken Sie dabei an Ihre Ex-Frau.«

»Richtig – falls sie dazu bereit ist. Und wenn es uns gelingt, eine zweite Verurteilung zu erwirken, sorgen Sie dafür, dass sie von Van Nuys nach Downtown zur Abteilung Kapitalverbrechen versetzt wird, wo sie ohnehin längst hingehört.«

»Das ist leichter gesagt als …«

»Das ist meine Bedingung. Wenn Sie dazu nicht bereit sind …« Williams warf Ridell einen kurzen Blick zu, und ich sah, wie der vermeintliche Statist kaum merklich zustimmend nickte.

»Also gut.« Williams wandte sich wieder mir zu. »Dann wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Gewinnen Sie, ist sie dabei. Abgemacht.«

Er streckte die Hand über den Tisch, und ich schüttelte sie. Er lächelte, ich nicht.

»Mickey Haller für das Volk«, sagte er. »Hört sich irgendwie gut an.«

Für das Volk. Es hätte mich mit Stolz erfüllen sollen, mir das Gefühl verleihen, an etwas Edlem und Gutem beteiligt zu sein. Aber ich hatte nur die ungute Ahnung, eine Art innerer Grenze überschritten zu haben.

»Ja, großartig«, sagte ich.

2

Freitag, 12. Februar, 10:00 Uhr

Harry Bosch meldete sich am Empfang der Bezirksstaatsanwaltschaft im neunzehnten Stock des Criminal Courts Building. Er nannte seinen Namen und sagte, er habe um zehn Uhr einen Termin bei District Attorney Gabriel Williams.

»Die Besprechung ist in Konferenzzimmer A«, erklärte ihm die Empfangsdame nach einem Blick auf ihren Monitor.

»Hinter der Tür sofort rechts, bis ans Ende des Flurs, dann wieder rechts, und dann ist Konferenzzimmer A auf der linken Seite. Es steht an der Tür. Sie erwarten Sie bereits.«

Die Tür in der holzvertäfelten Wand hinter ihr ging mit einem leisen Summton auf, und Bosch wunderte sich, dass sie ihn erwarteten, als er den Gang dahinter betrat. Seit er am vorigen Nachmittag von der Sekretärin des District Attorney einen Anruf erhalten hatte, war es ihm nicht gelungen, herauszufinden, worum es ging. Ein gewisses Maß an Geheimhaltung gehörte beim DA natürlich dazu, aber irgendetwas sickerte normalerweise immer durch. Bis vor einer Minute hatte er nicht einmal gewusst, dass an der Besprechung mehrere Personen teilnehmen würden.

Bosch folgte den Richtungsangaben und kam zu einer Tür mit der Aufschrift KONFERENZZIMMER A. Er klopfte einmal und hörte eine Frauenstimme »Herein!« sagen.

Er betrat den Raum und sah eine Frau, die allein an einem Tisch mit acht Stühlen saß. Vor ihr lagen verschiedene Dokumente, Akten und Fotos sowie ein Laptop. Sie kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen. Sie sah gut aus, und ihr Gesicht war von lockigem dunklem Haar eingefasst. Als er das Zimmer betrat, folgte ihm ihr Blick mit wachen Augen und einem sympathischen, etwas eigenartigen Lächeln. So, als wüsste sie etwas, was er nicht wusste. Sie trug ein strenges marineblaues Kostüm, das Standardoutfit aller Staatsanwältinnen. Harry wusste zwar nicht, wie er sie einordnen sollte, aber er nahm an, sie war ein Deputy District Attorney, eine stellvertretende Bezirksstaatsanwältin.

»Detective Bosch?«

»Ja, der bin ich.«

»Kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.«

Bosch zog einen Stuhl heraus und setzte sich ihr gegenüber. Auf dem Tisch lag ein Tatortfoto von einer Kinderleiche in einem offenen Müllcontainer. Es war ein barfüßiges Mädchen in einem langärmeligen blauen Kleid, das auf einem Haufen Bauschutt und anderem Müll lag. Der weiße Rand des Fotos war vergilbt. Es war ein alter Abzug.

Die Frau schob einen Ordner über das Foto und reichte Bosch die Hand.

»Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind«, sagte sie. »Ich bin Maggie McPherson.«

Bosch hatte den Namen schon einmal gehört, konnte sich aber nicht erinnern, in welchem Zusammenhang.

»Ich bin stellvertretende Bezirksstaatsanwältin«, fuhr sie fort, »und bin Vize des Hauptanklägers im Fall Jason Jessup. Hauptankläger ist …«

»Jason Jessup?« Bosch sah sie erstaunt an. »Er kommt noch mal vor Gericht?«

»Ja, so ist es. Wir werden es nächste Woche bekannt geben, und ich muss Sie bitten, es bis dahin für sich zu behalten. Es tut mir leid, dass sich der Hauptankläger zu unserer Besprechung verspä…«

In diesem Moment ging die Tür auf, und Bosch drehte sich um. Mickey Haller kam herein. Bosch machte große Augen. Nicht, weil er Haller nicht erkannte. Sie waren Halbbrüder, und vom Sehen kannte ihn Bosch sehr gut. Aber Haller im Büro des District Attorney anzutreffen erschien ihm im ersten Moment sehr ungewöhnlich. Haller war Strafverteidiger. Er passte etwa so gut in das Büro des DA wie eine Katze in einen Hundezwinger.

»Ich weiß«, sagte Haller. »Jetzt denkst du, wie soll das denn zusammengehen?«

Lächelnd ging Haller auf McPhersons Seite des Tischs und zog sich einen Stuhl heraus. In diesem Moment fiel Bosch ein, woher er McPhersons Namen kannte.

»Ihr beide …«, setzte er an, »ihr wart mal verheiratet, stimmt’s?«

»Richtig«, antwortete Haller. »Acht wundervolle Jahre.«

»Und jetzt? Klagt sie Jessup an, und du verteidigst ihn? Besteht da kein Interessenkonflikt?«

Hallers Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen.

»Ein Interessenkonflikt bestünde nur, wenn wir gegeneinander anträten, Harry. Aber das tun wir nicht. Wir verfolgen ihn strafrechtlich. Gemeinsam. Ich bin der Hauptankläger. Maggie ist mein Vize. Und dich hätten wir gern als Ermittler dabei.«

Bosch war baff.

»Aber … du bist doch kein Staatsanwalt. Wie soll das …«

»Ich wurde als unabhängiger Ankläger eingesetzt, Harry. Alles vollkommen legal. Wenn es das nicht wäre, säße ich nicht hier. Wir wollen Jessup erneut hinter Gitter bringen und möchten, dass du uns dabei hilfst.«

Haller setzte sich langsam.

»Soviel ich mitbekommen habe, ist die Sache ziemlich hoffnungslos. Außer du erzählst mir gleich, dass Jessup den DNA-Test getürkt hat.«

»Nein, das ist leider nicht der Fall«, sagte McPherson. »Wir haben die entsprechenden Tests und Vergleiche selbst vorgenommen. An den Ergebnissen ist nichts auszusetzen. Die DNA auf dem Kleid des Opfers stammt nicht von ihm.«

»Was aber nicht heißt, dass wir auf verlorenem Posten stehen«, fügte Haller rasch hinzu.

Bosch schaute von McPherson zu Haller und dann wieder zurück zu McPherson. Er gewann mehr und mehr den Eindruck, dass er irgendetwas Wichtiges nicht mitbekommen hatte.

»Und von wem stammt die DNA dann?«, fragte er.

McPherson warf Haller einen kurzen Seitenblick zu, bevor sie antwortete.

»Von ihrem Stiefvater. Er ist inzwischen tot, aber wir glauben, dass es eine Erklärung dafür gibt, weshalb sein Sperma auf dem Kleid seiner Stieftochter gefunden wurde.«

Haller beugte sich über den Tisch und sagte mit Nachdruck:

»Eine Erklärung, die uns ermöglicht, Jessup wegen der Ermordung des Mädchens ein zweites Mal hinter Gitter zu bringen.«

Bosch dachte kurz nach, und das Bild seiner eigenen Tochter schoss ihm durch den Kopf. Für ihn stand außer Zweifel, dass es auf der Welt bestimmte Formen des Bösen gab, denen unbedingt Einhalt geboten werden musste, egal, wie viel Mühe und Aufwand es erforderte. Und Kindermörder standen auf dieser Liste ganz oben.

»Okay«, sagte er. »Ich bin dabei.«

3

Dienstag, 16. Februar, 13:00 Uhr

Der Saal, in dem die Staatsanwaltschaft ihre Pressekonferenzen abhielt, war nicht mehr modernisiert worden, seit dort die Medien über den jeweils neuesten Stand der Ermittlungen im Charles-Manson-Fall in Kenntnis gesetzt worden waren. Die verblichenen holzvertäfelten Wände und die schlappen Flaggen in der Ecke, die bei Tausenden Pressekonferenzen als Hintergrund gedient hatten, verliehen allem, was dort geschah, einen schäbigen Anstrich, der jedoch über die wahre Macht der Behörde hinwegtäuschte. Obwohl die Staatsanwaltschaft in keinem einzigen Verfahren der Underdog war, schien es, als hätte die Behörde nicht einmal das Geld, um ihre Räumlichkeiten neu streichen zu lassen.

Für die Bekanntgabe der Entscheidung im Fall Jessup passte das Ambiente jedoch hervorragend. Möglicherweise war die Anklage tatsächlich zum ersten Mal der Underdog in diesen heiligen Hallen der Gerechtigkeit. Die Entscheidung, Jason Jessup ein zweites Mal den Prozess zu machen, war mit enormen Risiken verbunden und von der hohen Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns überschattet. Als ich jetzt im hinteren Teil des Saals neben Gabriel Williams und vor einer Phalanx von Videokameras, Scheinwerfern und Reportern stand, wurde mir vollends bewusst, was für einen verhängnisvollen Fehler ich begangen hatte. Meine Entscheidung, den Fall zu übernehmen, um dadurch im Ansehen meiner Tochter, meiner Ex-Frau und meiner selbst zu steigen, würde verheerende Folgen nach sich ziehen. Ich würde grandios scheitern.

Es war einer dieser Momente, die man selten direkt miterlebt. Die Medien hatten sich eingefunden, um über das Ende der Angelegenheit zu berichten. Angeblich würde die Staatsanwaltschaft bekannt geben, dass sie kein neues Verfahren gegen Jason Jessup eröffnen würde. Wahrscheinlich würde sich der DA zwar nicht entschuldigen, aber zumindest erklären, dass es keine Beweise für eine Neuaufnahme gebe. Dass die Anklage nichts vorbringen könne gegen den Mann, der so lange inhaftiert gewesen war.

Der Fall würde für abgeschlossen erklärt, und Jessup wäre in den Augen des Gesetzes und der Öffentlichkeit ein freier und unschuldiger Mann.

Die Medien werden selten auf ganzer Linie hinters Licht geführt, und wenn es doch einmal der Fall ist, nehmen sie es in der Regel nicht gut auf. Aber diesmal stand völlig außer Frage, dass Williams alle hereingelegt hatte. Wir hatten in der vergangenen Woche in aller Heimlichkeit das Team der Anklagevertretung zusammengestellt und das Beweismaterial gesichtet, das noch verfügbar war. Nicht ein Wort war nach draußen durchgedrungen, was in der Geschichte des CCB ein einmaliger Vorgang sein dürfte. Während ich noch die ersten Anzeichen von Argwohn über die Mienen der Reporter huschen sah, die mich erkannten, als wir in den Saal kamen, trat Williams bereits an das mit Mikrophonen und digitalen Aufnahmegeräten bewehrte Rednerpult und verpasste ihnen den K.-o.-Schlag.

»An einem Sonntagmorgen vor vierundzwanzig Jahren wurde in Hancock Park die zwölfjährige Melissa Landy aus dem Garten des Hauses ihrer Eltern entführt und brutal ermordet. Die Ermittlungen führten rasch auf die Spur eines Verdächtigen namens Jason Jessup. Er wurde festgenommen, in einem Strafverfahren schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt. Dieses Urteil wurde vor zwei Wochen vom Obersten Gerichtshof des Staates Kalifornien revidiert und an meine Behörde zurückverwiesen. Ich bin heute hier, um bekannt zu geben, dass die Bezirksstaatsanwaltschaft des Los Angeles County eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Jason Jessup wegen der Ermordung Melissa Landys anstrengen wird. Es wird weiterhin wegen Entführung und Mordes Anklage gegen ihn erhoben. Die Staatsanwaltschaft beabsichtigt, die rechtlichen Mittel gegen Mr. Jessup in vollem Umfang auszuschöpfen.«

Um die Bedeutung seiner Ankündigung zu unterstreichen, legte Williams an dieser Stelle eine kurze Pause ein.

»Wie Sie wissen, hat der Supreme Court befunden, es sei im Zuge des ersten Verfahrens zu Unregelmäßigkeiten gekommen – wobei ich nicht darauf hinzuweisen vergessen möchte, dass dieses Verfahren über zwanzig Jahre vor der Amtszeit der gegenwärtigen Behörde stattgefunden hat. Um nun politische Verwerfungen und jeglichen Anschein von Ungebührlichkeit seitens der aktuell zuständigen Bezirksstaatsanwaltschaft zu vermeiden, habe ich einen unabhängigen Sonderankläger mit dem Fall betraut. Viele von Ihnen haben von dem Mann, der hier an meiner Seite steht, bereits gehört. Michael Haller ist schon seit zwanzig Jahren als Strafverteidiger in Los Angeles tätig. Er ist ein kompetentes und renommiertes Mitglied der Anwaltskammer. Er hat die Ernennung angenommen und trägt ab dem heutigen Tag die Verantwortung für den Fall. Bisher war es in dieser Behörde Usus, ein Gerichtsverfahren nicht in den Medien breitzutreten. Dennoch sind Mr. Haller und ich bereit, Ihnen ein paar Fragen zu beantworten, solange sie sich nicht auf spezifische Details und Beweise des Falls beziehen.«

Sofort erhob sich ein Chor von Stimmen, die uns mit Fragen bombardierten. Williams hob die Hände, um im Saal für Ruhe zu sorgen.

»Immer schön der Reihe nach, meine Damen und Herren. Fangen wir doch mit Ihnen an.«

Williams deutete auf eine Frau in der ersten Reihe. Ich konnte mich zwar nicht an ihren Namen erinnern, wusste aber, dass sie von der Times war. Williams wusste, worauf es ankam.

»Kate Salters von der Times«, stellte sie sich hilfreicherweise vor. »Können Sie uns sagen, weshalb Sie sich entschieden haben, den Fall Jason Jessup neu aufzurollen, obwohl er durch einen DNA-Test von aller Schuld freigesprochen wurde?«

Bevor wir den Saal betreten hatten, hatte mir Williams zu verstehen gegeben, dass sowohl die Ankündigung als auch die Beantwortung aller Fragen er übernehmen würde, solange sie nicht ausdrücklich an mich gerichtet waren. Er hatte mir gegenüber keinen Zweifel daran gelassen, dass das sein großer Auftritt wäre. Umgekehrt beschloss ich, von Anfang an keinen Zweifel daran zu lassen, dass das mein Fall war.

»Das werde ich Ihnen gern beantworten«, erklärte ich und beugte mich zum Rednerpult und den Mikrophonen vor.

»Der vom Genetic Justice Project durchgeführte DNA-Test hat lediglich ergeben, dass die auf der Kleidung des Opfers gefundene Körperflüssigkeit nicht von Jason Jessup stammt. Er hat jedoch nicht den Beweis erbracht, dass er nicht an der infrage stehenden Straftat beteiligt war. Das ist ein Unterschied. Der DNA-Test liefert lediglich zusätzliche Fakten, die es für die Geschworenen in Betracht zu ziehen gilt.«

Ich richtete mich wieder auf und bekam aus dem Augenwinkel mit, wie mich Williams mit einem Komm-mir-bloß-nicht-dumm-Blick bedachte.

»Von wem stammt die DNA?«, rief jemand.

Williams beugte sich rasch vor.

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beantworten wir noch keine Fragen zur Beweislage.«

»Mickey, warum übernehmen Sie diesen Fall?«

Die Frage kam von ganz hinten im Saal, von einer Stelle noch hinter den Scheinwerfern, weshalb ich nicht sehen konnte, wer sie gestellt hatte. Ich trat wieder ans Rednerpult und postierte mich so, dass mir Williams Platz machen musste.

»Gute Frage. Es ist mit Sicherheit ungewohnt für mich, sozusagen die Seiten zu wechseln. Aber ich glaube, das ist der Fall, für den es sich lohnt, diesen Schritt zu tun. Ich bin ein Angehöriger des Gerichts und ein stolzes Mitglied der Anwaltskammer des Staates Kalifornien. Und als solcher habe ich einen Eid geleistet, mich für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen und mich dabei an die Verfassung und die Gesetze dieser Nation und dieses Staates zu halten. Zu den Pflichten eines Anwalts gehört es unter anderem, ohne Rücksicht auf persönliche Interessen für eine gerechte Sache einzutreten. Und das hier ist eine solche Sache. Jemand muss für Melissa Landy sprechen. Ich bin nach eingehender Prüfung der Beweislage zu der Auffassung gelangt, dass ich in diesem Verfahren auf der richtigen Seite stehe. Das Richtmaß ist in diesem Fall ein über jeden Zweifel erhabener Nachweis der Schuld des Angeklagten. Und ich glaube, dass hier ein solcher Nachweis gegeben ist.«

Williams kam an meine Seite und legte mir die Hand auf den Arm, um mich behutsam von den Mikrophonen wegzuschieben.

»Weiter wollen wir uns zur Beweislage nicht äußern«, verkündete er rasch.

»Jessup hat bereits vierundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht«, meldete sich Salters wieder zu Wort. »Wenn er wegen etwas Geringerem als Mord ersten Grades verurteilt wird, kommt er vermutlich infolge der bereits verbüßten Haft frei. Ist es angesichts dessen wirklich die Mühe und den Aufwand wert, Mr. Williams, diesen Mann erneut vor Gericht zu stellen?«

Schon bevor sie die Frage zu Ende gestellt hatte, wurde mir klar, dass sie und Williams eine Abmachung getroffen hatten. Sie warf ihm harmlose Bälle zu, die er mühelos aus dem Stadion dreschen konnte, damit er in den Elf-Uhr-Nachrichten und in den Pressemeldungen gut dastand. Für Salters sprängen dafür exklusive Insiderinformationen über Beweislage und Prozessstrategie heraus.

In diesem Moment entschied ich, dass das mein Fall, mein Prozess, mein Deal war.

»Das spielt alles keine Rolle«, sagte ich von meinem Platz neben dem Pult laut.

Aller Augen richteten sich auf mich. Sogar Williams drehte sich zu mir.

»Könnten Sie bitte in die Mikrophone sprechen, Mickey?«

Es war wieder die Stimme, die hinter den Scheinwerfern hervorkam. Der Rufer kannte mich gut genug, um mich Mickey zu nennen. Ich drängte mich wieder zu den Mikrophonen vor und schob Williams geradezu weg.

»Die Ermordung eines Kindes ist eine Straftat, die unnachsichtig geahndet werden muss, und zwar ungeachtet aller Chancen und Risiken. In diesem Verfahren gibt es keine Erfolgsgarantie. Aber das hat bei dieser Entscheidung keine Rolle gespielt. Die Messlatte in diesem Fall ist der Ausschluss jedes berechtigten Zweifels, und ich glaube, sie liegt nicht zu hoch für uns. Wir sind der Überzeugung, dass die Gesamtheit der Beweise zeigt, dass dieser Mann dieses schreckliche Verbrechen begangen hat, und angesichts dessen spielt es keine Rolle, wie viel Zeit seitdem verstrichen ist und wie lange er sich in Haft befunden hat. Er muss strafrechtlich verfolgt werden.

Ich habe eine Tochter, die nur geringfügig älter ist, als Melissa damals war … Dazu sollten Sie auch wissen, dass gern außer Acht gelassen wird, dass die Staatsanwaltschaft im ursprünglichen Prozess die Todesstrafe beantragt hat. Nachdem sich die Geschworenen jedoch dagegen entschieden hatten, verhängte der Richter eine lebenslängliche Haftstrafe. Doch das war damals, und jetzt ist jetzt. Wir werden in diesem Verfahren erneut die Todesstrafe fordern.«

Williams legte mir die Hand auf die Schulter und zog mich von den Mikrophonen fort.

»Ähm, lassen Sie uns hier erst mal nicht zu weit vorgreifen«, sagte er rasch. »Die Staatsanwaltschaft ist noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung gekommen, ob wir in diesem Fall die Todesstrafe beantragen werden. Das hat Zeit bis später. Dennoch hat Mr. Haller damit einen ebenso schwerwiegenden wie bedauerlichen Punkt angeschnitten. Es kann in unserer Gesellschaft kein schlimmeres Verbrechen geben als den Mord an einem Kind. Deshalb müssen wir alles in unserer Macht und Möglichkeit Stehende tun, um Melissa Landy Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

»Augenblick noch«, rief ein Reporter von den mittleren Sitzreihen. »Was ist mit Jessup? Wann wird er für den Prozess hergebracht?«

Williams legte die Hände an die Seiten des Pults, aber diese scheinbar beiläufige Geste diente nur dem Zweck, mich von den Mikrophonen fernzuhalten.

»Mr. Jessup wurde heute Morgen von der Polizei von Los Angeles in Gewahrsam genommen und wird gerade aus San Quentin hierhergebracht. Er wird in das Gefängnis Downtown eingeliefert, und das Verfahren wird aufgenommen. Das Urteil gegen ihn wurde revidiert, aber die Anklagepunkte gegen ihn bleiben bestehen. Mehr haben wir dazu im Augenblick nicht zu sagen.«

Williams trat vom Rednerpult zurück und winkte mich zum Ausgang. Er wartete, bis ich losging und mich von den Mikrophonen entfernt hatte. Erst dann folgte er mir. Er drängte sich von hinten ganz dicht an mich heran, und als wir durch die Tür gingen, flüsterte er mir ins Ohr:

»Tun Sie das noch mal, und ich feure Sie auf der Stelle.«

Ich drehte mich im Gehen zu ihm um.

»Wenn ich was tue? Eine Ihrer vorher abgesprochenen Fragen beantworten?«

Wir traten in den Flur hinaus. Dort wartete Ridell mit dem Pressesprecher der Staatsanwaltschaft, einem gewissen Fernandez. Doch Williams lotste mich von ihnen fort den Gang hinunter. Er sprach immer noch im Flüsterton.

»Sie haben sich nicht ans Drehbuch gehalten. Wenn Sie das noch mal machen, können wir einpacken.«

Ich blieb stehen und drehte mich um, sodass Williams fast in mich hineinrannte.

»Nur damit das klar ist: Ich bin nicht Ihre Marionette. Ich bin ein selbstständiger Auftragnehmer, falls Sie das schon wieder vergessen haben sollten. Behandeln Sie mich anders, dürfen Sie diese heiße Kartoffel ohne Topflappen halten.«

Williams starrte mich nur finster an. Offensichtlich hatte er immer noch nicht begriffen.

»Und was sollte dieser Quatsch mit der Todesstrafe?«, zischte er. »So weit waren wir noch nicht, und Sie waren nicht befugt, sich dazu zu äußern.«

Er war größer und kräftiger gebaut als ich, und er hatte seinen Körper dazu benutzt, mich in meinem Bewegungsspielraum einzuengen und an die Wand zu drängen.

»Es wird Jessup zu Ohren kommen und zu denken geben«, sagte ich. »Und wenn wir Glück haben, bietet er uns einen Deal an, und die ganze Sache, die Zivilklage eingeschlossen, erledigt sich von selbst. So würden Sie eine Menge Geld sparen. Denn darum geht es hier doch letztlich. Um Geld. Wenn er ein zweites Mal verurteilt wird, kann er auch keine Zivilklage anstrengen. So sparen Sie und die Stadt sich ein paar Millionen.«

»Das spielt absolut keine Rolle. Hier geht es nur um das Recht, und Sie hätten mir auf jeden Fall sagen sollen, was Sie vorhaben. Man fällt seinem eigenen Chef nicht in den Rücken.«

Die physische Einschüchterung lief sich sehr schnell tot. Ich legte meine Handfläche auf seine Brust und schob ihn von mir fort.

»Tja, bloß sind Sie nicht mein Chef. Ich habe keinen Chef.«

»Ach ja, meinen Sie? Wie bereits gesagt, könnte ich Sie auf der Stelle feuern.«

Ich deutete den Flur hinunter auf die Tür des Pressekonferenzsaals.

»Klar, würde ja auch einen hervorragenden Eindruck machen. Den unabhängigen Ankläger zu entlassen, den Sie gerade ernannt haben. Hat das Nixon nicht auch bei der Watergate-Affäre gemacht? Was es ihm gebracht hat, weiß inzwischen jeder. Sollen wir also noch mal reingehen und es ihnen erzählen? Bestimmt sind noch ein paar Kameras aufgebaut.«

Williams erkannte sein Dilemma und zögerte. Ich hatte ihn in die Enge getrieben, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Wenn er mich entließ, stünde er da wie ein kompletter und unmöglich wählbarer Vollidiot, und das wusste er. Er beugte sich vor und zischte mich noch leiser an, als er die älteste Phrase aus dem Leitfaden für Streithähne wählte. Ich war darauf vorbereitet.

»Kommen Sie mir bloß nicht dumm, Haller.«

»Dann halten Sie sich aus meinem Fall raus. Das ist keine Wahlkampfveranstaltung, und es geht hier nicht um Geld. Hier geht es um Mord, Chef. Wenn ich Ihnen einen Schuldspruch holen soll, dann pfuschen Sie mir nicht weiter ins Handwerk.«

Ich tat ihm den Gefallen, ihn Chef zu nennen. Williams presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und starrte mich finster an.

»Nur damit wir uns da klar sind«, knurrte er schließlich.

Ich nickte.

»Das sind wir, glaube ich.«

»Bevor Sie mit den Medien über diesen Fall sprechen, lassen Sie sich das erst von meinem Büro genehmigen. Kapiert?«

»Alles klar.«

Damit drehte er sich um und ging den Flur hinunter. Seine Entourage folgte ihm. Ich blieb zurück und schaute ihnen nach. Fakt war, dass es im amerikanischen Rechtssystem nichts gab, was ich entschiedener ablehnte als die Todesstrafe. Das lag nicht etwa daran, dass ich einmal einen Mandanten gehabt hätte, der hingerichtet worden wäre, oder auch nur einen Fall, in dem es ein Todesurteil abzuwenden gegolten hätte. Dahinter steckte schlicht und einfach die Überzeugung, dass eine zivilisierte Gesellschaft ihre eigenen Leute nicht umbrachte.

Allerdings hinderte mich das nicht daran, die Todesstrafe in meinem Fall als Druckmittel einzusetzen. Als ich jetzt ganz allein auf dem Flur stand, fand ich, dass mich das möglicherweise zu einem besseren Ankläger machte, als ich mir zugetraut hätte.

4

Dienstag, 16. Februar, 14:43 Uhr

Normalerweise war das der schönste Moment eines Falls.Die Fahrt nach Downtown, wenn ein Tatverdächtiger in Handschellen auf dem Rücksitz saß. Etwas Besseres gab es nicht. Natürlich gab es noch die spätere Belohnung, wenn der Betreffende am Ende des Verfahrens verurteilt wurde. Im Gerichtssaal zu sitzen, wenn das Urteil verkündet wurde – zu sehen, wie die Realität die Augen des Verurteilten schockte und allen Glanz aus ihnen wischte. Aber die Fahrt in die Stadt war immer besser, unmittelbarer und persönlicher. Es war jedes Mal der Moment, den Bosch in vollen Zügen genoss. Wenn die Jagd vorbei war und der Fall vom rasanten Tempo der Ermittlungen in den gemessenen Schritt des Gerichtsverfahrens wechselte.

Doch dieses Mal war es anders. Es waren zwei lange Tage gewesen, und Bosch hatte nichts an ihnen genossen. Er und sein Partner, David Chu, waren am Tag zuvor nach Corta Madera gefahren und hatten in einem Motel am Freeway 101 übernachtet. Am Morgen waren sie nach San Quentin weitergefahren und hatten der Gefängnisverwaltung einen Gerichtsbeschluss vorgelegt, der ihnen die Aufsicht über Jason Jessup übertrug, und schließlich hatten sie den Gefangenen ausgeliefert bekommen, um ihn nach Los Angeles zu bringen. Auf dem Hinweg sieben Stunden mit einem Partner, der zu viel redete. Und auf der Rückfahrt sieben Stunden mit einem Verdächtigen, der zu wenig redete.

Inzwischen waren sie am Ende des San Fernando Valley angelangt und noch eine Stunde vom City Jail in Downtown L.A. entfernt. Bosch hatte Rückenschmerzen. Seine rechte Wade brannte vom ständigen Druck auf das Gaspedal. Der Dienstwagen hatte keinen Tempomat.

Chu hatte angeboten, ihn abzulösen, aber Bosch hatte Nein gesagt. Chu hielt sich sogar auf dem Freeway peinlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Bosch waren die Rückenschmerzen lieber als eine zusätzliche Stunde auf dem Freeway und die Unruhe, die sie verursachte.

Aber auch unabhängig von alldem fuhr er in angespanntem Schweigen und dachte über einen Fall nach, der rückwärts abzulaufen schien. Obwohl er ihn erst vor wenigen Tagen zugeteilt bekommen hatte und deshalb noch nicht dazu gekommen war, sich mit allen Einzelheiten vertraut zu machen, hatte er den Verdächtigen bereits auf der Rückbank sitzen. Für Bosch war das so, als käme als Erstes die Festnahme, während die Ermittlungen erst richtig losgingen, wenn sie Jessup im Gefängnis eingeliefert hätten.

Er sah auf die Uhr. Die Pressekonferenz müsste inzwischen zu Ende sein. Er war um vier mit Haller und McPherson verabredet, um sich weiter mit dem Fall zu befassen. Wenn er Jessup allerdings vorher noch im Gefängnis einliefern wollte, würde er sich verspäten. Außerdem musste er im LAPD-Archiv noch zwei Schachteln abholen, die dort für ihn bereitstanden.

»Ist irgendwas, Harry?«

Bosch schaute zu Chu hinüber.

»Nein, nichts.«

Er wollte in Anwesenheit des Verdächtigen nicht reden. Außerdem waren er und Chu noch nicht einmal ein Jahr lang Partner. Für Chu war es also noch etwas früh, um aus seinem Verhalten Rückschlüsse zu ziehen. Chu sollte nicht merken, dass er, was Boschs innere Unruhe anging, richtig getippt hatte.

Jessup meldete sich vom Rücksitz zu Wort. Es war das erste Mal, dass er etwas sagte, seit er kurz hinter Stockton um eine Pinkelpause gebeten hatte.

»Ich kann Ihnen schon sagen, was ist. Er hat keine Beweise gegen mich. Und er weiß ganz genau, das Ganze ist totaler Quatsch, und will deshalb nichts damit zu tun haben.«

Bosch betrachtete Jessup im Rückspiegel. Er saß leicht vornübergebeugt, weil seine Handschellen mit einer Kette an seinen Fußfesseln befestigt waren. Sein Schädel war kahl rasiert, was bei Häftlingen, die damit Mitgefangene einzuschüchtern hofften, weit verbreitet war. Bosch nahm an, dass es bei Jessup sogar funktioniert hatte.

»Ich dachte, Sie wollten nicht reden, Jessup. Haben Sie sich nicht auf Ihr Recht auf Aussageverweigerung berufen?«

»Ach ja, stimmt. Dann halte ich mal lieber die Klappe und warte auf meinen Anwalt.«

»Der ist in San Francisco. Das kann also noch dauern.«

»Er ruft jemanden an. Das GJP hat überall im Land seine Leute. Wir waren darauf vorbereitet.«

»Tatsächlich? Sie waren darauf vorbereitet? Heißt das, Sie haben in Ihrer Zelle alles zusammengepackt, weil Sie dachten, Sie würden woandershin verlegt? Oder haben Sie geglaubt, Sie kämen frei?«

Darauf hatte Jessup keine Antwort.

Bosch fuhr auf den 101, der sie über den Cahuenga Pass nach Hollywood brächte, bevor sie in Downtown ankämen.

»Wie kam der Kontakt mit dem Genetic Justice Project zustande, Jessup?«, fragte Bosch in einem neuen Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Sind die zu Ihnen gekommen oder Sie zu denen?«

»Über die Website natürlich. Ich habe ihnen meinen Antrag geschickt, und sie haben sofort gesehen, was in meinem Fall alles schiefgelaufen ist. Daraufhin haben sie sich der Sache angenommen, und Sie sehen ja selbst, hier bin ich. Sie und Ihre Leute haben sie ja wohl nicht alle, wenn Sie glauben, Sie hätten auch nur den Hauch einer Chance. Ich bin schon mal von euch Arschlöchern reingelegt worden. Ein zweites Mal wird mir das nicht mehr passieren. In zwei Monaten ist alles vorbei. Ich habe vierundzwanzig Jahre eingesessen. Was sind da schon zwei Monate? Das treibt meine Buchrechte höchstens noch weiter in die Höhe. Wahrscheinlich sollte ich Ihnen und dem District Attorney sogar dankbar dafür sein.«

Bosch blickte wieder in den Rückspiegel. Normalerweise wäre er über einen gesprächigen Verdächtigen begeistert gewesen. In den meisten Fällen redeten sie sich buchstäblich selbst ins Gefängnis. Aber dafür war Jessup zu clever und vorsichtig. Er achtete sehr genau darauf, was er sagte, vermied es, über die Tat selbst zu sprechen, und erweckte insgesamt nicht den Anschein, als würde er einen Fehler begehen, den sich Bosch zunutze machen konnte.

Im Rückspiegel konnte Bosch sehen, dass Jessup aus dem Fenster schaute. Was in ihm vorging, war nicht zu erkennen. Seine Augen waren wie tot. Über seinem Kragen konnte Bosch den obersten Rand eines Knasttattoos erkennen. Es sah aus wie ein Teil eines Worts, aber sicher war er sich nicht.

»Willkommen in L.A., Jessup«, sagte Chu, ohne sich umzudrehen. »Dürfte ’ne Weile her sein, hm?«

»Du kannst mich mal, du schlitzäugiger Wichser«, rotzte Jessup zurück. »Nicht mehr lange, und diese Scheiße ist vorbei, und dann bin ich frei und haue mich an den Strand. Ich kaufe mir ein Longboard und gehe richtig geil surfen.«

»Da wär ich mir mal nicht so sicher, Killer«, sagte Chu. »Sie wandern wieder in den Knast zurück. Wir verknacken Sie noch mal.«

Bosch wusste, Chu wollte eine Reaktion aus Jessup herauskitzeln, einen Versprecher. Aber sein Manöver war zu leicht zu durchschauen, und Jessup war zu clever, um darauf hereinzufallen.

Selbst nach sechs Stunden fast völligen Schweigens bekam Bosch das jetzige Hin und Her über. Er machte das Autoradio an und hörte noch den Schluss der Meldung über die Pressekonferenz in der Staatsanwaltschaft. Er drehte es sehr laut, damit Jessup es mitbekam und Chu den Mund hielt.

»Williams und Haller wollten sich nicht zur Beweislage äußern, deuteten aber an, dass sie vom Ergebnis der DNA-Analyse keineswegs im selben Maß beeindruckt seien wie der Supreme Court. Haller bestätigte jedoch, dass die auf dem Kleid des Opfers gefundene DNA nicht von Jessup stammt. Zugleich erklärte er, dieser Umstand spreche Jessup jedoch nicht von einer Beteiligung an der Tat frei. Haller ist ein bekannter Strafverteidiger und vertritt zum ersten Mal in einem Mordfall die Anklage. Seinen bisherigen Äußerungen nach zu schließen, scheint er sich seiner Sache sehr sicher zu sein. ›Wir werden in diesem Fall erneut die Todesstrafe beantragen‹, erklärte er heute Morgen.«

Bosch drehte das Radio wieder leiser und sah in den Rückspiegel. Jessup schaute weiterhin aus dem Fenster.

»Wie finden Sie das, Jessup? Er plädiert auf die Spritze.«

Jessup antwortete unbeeindruckt.

»Das ist doch alles nur Show. Außerdem wird in Kalifornien sowieso niemand mehr hingerichtet. Soll ich Ihnen mal sagen, was es bedeutet, in der Todeszelle zu sitzen? Es bedeutet, man hat eine Zelle ganz für sich allein und kann selbst entscheiden, was man sich in der Glotze ansehen will. Es bedeutet, man hat besseren Zugang zu einem Telefon und gescheitem Essen und kann leichter Besuch bekommen. Deshalb, soll er doch! Etwas Besseres kann mir gar nicht passieren. Außerdem ist es sowieso für’n Arsch. Das Ganze ist doch sowieso nur Theater. Nichts als Theater. In Wirklichkeit geht es hier nur um das Geld.«

Der letzte Satz blieb ziemlich lange so stehen, bis Bosch endlich anbiss.

»Um welches Geld?«

»Um mein Geld. Warten Sie nur ab, Mann, früher oder später bieten die mir einen Deal an. Das hat mir mein Anwalt schon gesagt. Sie werden mir vorschlagen, dass ich mich auf einen Deal einlasse und mir die abgesessene Haftzeit anrechnen lasse, damit sie mir keine Entschädigung zahlen müssen. Um nichts anderes geht es bei dieser ganzen Scheiße, und Sie beide sind dabei nichts anderes als zwei dämliche Handlanger.«

Bosch schwieg. Er fragte sich, ob das stimmen könnte. Jessup verklagte Stadt und County auf einen Millionenbetrag. War es möglich, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens lediglich ein politischer Schachzug war, um Geld zu sparen? Beide Verwaltungseinheiten waren eigenversichert. Geschworene taten nichts lieber, als gesichtslose Unternehmen und Behörden mit absurd hohen Forderungen abzustrafen. Eine Jury, die glaubte, Staatsanwaltschaft und Polizei hätten einen Unschuldigen fälschlicherweise vierundzwanzig Jahre eingesperrt, wäre überaus großzügig. Eine Entschädigung im achtstelligen Bereich wäre sowohl für die Stadt als auch für das County eine Katastrophe, selbst wenn sie sich den Betrag teilten.

Wenn sie dagegen Jessup so weit in die Enge treiben und einschüchtern konnten, dass er sich auf einen Deal einließ, bei dem er für ein Eingeständnis seiner Schuld die Freiheit erhielt, würde nichts aus der Zivilklage. Und auch nicht aus dem Geld für die Buch- und Filmrechte, auf die er spekulierte.

»Klingt doch einleuchtend, oder etwa nicht?«, setzte Jessup nach.

Bosch schaute in den Spiegel und merkte, dass Jessup jetzt ihn beobachtete. Er richtete den Blick wieder auf die Straße. In diesem Moment begann das Handy in seiner Jackentasche zu vibrieren, und er zog es heraus.

»Soll ich drangehen, Harry?«, fragte Chu.

Eine Erinnerung daran, dass es verboten war, beim Autofahren zu telefonieren. Bosch ignorierte seinen Partner und ging selbst dran. Es war Lieutenant Gandle.

»Harry, wo sind Sie inzwischen?«

»Fahren gerade vom Eins-null-Einser ab.«

»Gut. Ich wollte Sie nur vorwarnen. Sie belagern schon das Gefängnis. Kämmen Sie sich vorher noch.«

»Alles klar, aber vielleicht überlasse ich die Sendezeit meinem Partner.«

Bosch schaute kurz zu Chu hinüber, schickte aber keine Erklärung hinterher.

»Ganz wie Sie meinen«, sagte Gandle. »Was steht als Nächstes an?«

»Er beruft sich auf sein Aussageverweigerungsrecht. Also liefern wir ihn einfach ein. Dann muss ich zurück ins Hauptquartier, mit den Anklägern reden. Ich habe ein paar Fragen an sie.«

»Haben Sie gegen den Kerl schon was an der Hand oder nicht?«

Bosch sah im Spiegel nach hinten zu Jessup. Der schaute wieder aus dem Fenster.

»Keine Ahnung, Lieutenant. Wenn ich was Neues erfahre, erfahren Sie’s auch.«

Wenige Minuten später bogen sie auf den Parkplatz hinter dem Gefängnis. Entlang der Rampe, die zur Eingangstür hinaufführte, waren mehrere Fernsehkameras aufgebaut. Chu setzte sich kerzengerade auf.

»Jetzt wird’s ernst, Harry.«

»Ja. Bring du ihn rein.«

»Nein, das machen wir beide.«

»Nee, ich halte mich lieber im Hintergrund.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Vergiss nur meine Handschellen nicht.«

»Okay, Harry.«

Der Parkplatz war zugestellt mit Übertragungswagen, die ihre Satellitenschüsseln voll ausgefahren hatten. Nur den Platz vor der Rampe hatten sie frei gelassen. Bosch fuhr darauf zu und hielt an.

»Okay, alles klar da hinten, Jessup?«, sagte Chu. »Dann wollen wir mal.«

Jessup reagierte nicht. Chu öffnete die Tür und stieg aus. Dann machte er Jessup die hintere Tür auf.

Bosch beobachtete das nun folgende Spektakel aus dem Wageninnern.

5

Dienstag, 16. Februar, 16:14 Uhr

Einer der größten Vorteile, mit Maggie McPherson verheiratet gewesen zu sein, bestand darin, dass ich vor Gericht nie gegen sie hatte antreten müssen. Die eheliche Trennung schuf einen Interessenkonflikt, der mir sicher mehr als eine berufliche Niederlage und Demütigung von ihren Händen erspart hatte. Sie war ohne Übertreibung die beste Anklagevertretung, mit der ich es jemals vor Gericht aufgenommen hatte, und sie wurde nicht umsonst Maggie McFierce genannt.

Doch jetzt ständen wir vor Gericht zum ersten Mal auf derselben Seite und säßen am selben Tisch. Doch was zunächst nach einer hervorragenden Idee ausgesehen hatte – ganz zu schweigen von einer potenziell außerordentlich lohnenden Sache für Maggie –, begann sich bereits als etwas Schartiges und mit Reibereien Verbundenes zu entpuppen. Maggie hatte Probleme damit, die zweite Geige zu spielen. Und das durchaus zu Recht. Sie war von Beruf Staatsanwältin und hatte von Drogendealern und Dieben bis hin zu Sexualverbrechern und Mördern Dutzende von Kriminellen hinter Gitter gebracht. Auch ich war in Dutzenden von Prozessen aufgetreten, aber kein einziges Mal als Ankläger. Maggie musste also einem Anfänger sekundieren, und diese Vorstellung stieß ihr sauer auf.

Wir saßen in Konferenzzimmer A und hatten die Akten zu dem Fall auf dem großen Tisch ausgebreitet. Williams hatte zwar gesagt, ich könnte das Verfahren von meinem eigenen Büro aus leiten, Tatsache aber war, dass das im Moment nicht praktikabel war. Außerhalb meines Hauses hatte ich kein Büro. In erster Linie benutzte ich den Rücksitz meines Lincoln Town Car als Kanzlei, aber bei Das Volk gegen Jason Jessup ging das nicht. Ich hatte meine Sekretärin zwar bereits mit der vorübergehenden Anmietung eines Büros in Downtown beauftragt, aber es wäre frühestens in ein paar Tagen bezugsfertig. Deshalb saßen wir erst einmal mit gesenkten Blicken in angespanntem Schweigen da.

»Maggie«, begann ich schließlich, »ich gebe gern zu, dass ich dir in Sachen Strafverfolgung nicht das Wasser reichen kann. Aber die Sache ist die: Da es hier nicht nur um Strafverfolgung allein geht, sondern auch noch die Politik massiv hereinspielt, haben die zuständigen Stellen mir die Leitung des Verfahrens übertragen. So ist es nun mal, und wir können das akzeptieren oder nicht. Ich habe diesen Auftrag nur unter der Bedingung angenommen, dass du mir dabei zur Seite gestellt wirst. Wenn du jetzt allerdings meinst, wir …«

»Mir gefällt nur die Vorstellung nicht, dir hier von Anfang bis Ende die Aktentasche tragen zu müssen«, entgegnete Maggie.

»Das musst du ja auch nicht. Pressekonferenzen und sonstige öffentliche Auftritte sind eine Sache, aber ansonsten gehe ich fest davon aus, dass wir vollkommen gleichberechtigt zusammenarbeiten werden. Du wirst bestimmt einen genauso großen Anteil an den Ermittlungen übernehmen wie ich, wenn nicht sogar einen größeren. Und beim Prozess wird es sich kaum anders verhalten. Wir lassen uns eine Strategie einfallen und arbeiten sie auch im Detail gemeinsam aus. Aber du musst schon auch ein wenig Vertrauen in mich haben. Ich weiß, worauf es vor Gericht ankommt. Nur stehe ich diesmal auf der anderen Seite.«

»Genau das ist der Punkt, in dem du dich täuschst, Mickey. Als Verteidiger bist du einer einzigen Person verantwortlich. Deinem Mandanten. Als Ankläger dagegen vertrittst du das Volk, und das bringt wesentlich mehr Verantwortung mit sich. Nicht umsonst spricht man deshalb von der Beweislast.«

»Na schön. Wenn du damit sagen willst, dass ich für diese Aufgabe nicht der Richtige bin, bist du mit deinen Bedenken bei mir an der falschen Adresse. In diesem Fall solltest du lieber den Flur runtergehen und mit deinem Chef reden. Wenn er mir dann allerdings den Fall entzieht, wird er auch dir entzogen, und dann kannst du bis zu deiner Pensionierung in Van Nuys versauern. Willst du das wirklich?«

Die Tatsache, dass sie nicht antwortete, war Antwort genug.

»Also dann«, sagte ich. »Lass uns einfach versuchen, diese Sache gemeinsam durchzuziehen, ohne uns dabei gegenseitig zu zerfleischen. Und vergiss auch nicht: Ich mache das nicht, um Prozesserfolge verbuchen zu können und meine Karriere voranzutreiben. Für mich ist nach diesem einen Verfahren Schluss. Daher wollen wir beide dasselbe. Ja, du wirst mir helfen müssen. Aber du wirst auch …«

Mein Handy begann zu vibrieren. Ich hatte es auf den Tisch gelegt. Die Nummer auf dem Display war mir zwar nicht bekannt, aber um dem Gespräch mit Maggie zu entkommen, ging ich dran.

»Haller.«

»Hallo, Mick. Und, wie war ich?«

»Mit wem spreche ich bitte?«

»Sticks.«

Sticks war ein freier Kameramann, der die lokalen und manchmal auch die großen Nachrichtensender mit Bildmaterial belieferte. Ich kannte ihn schon so lange, dass ich mich nicht einmal an seinen richtigen Namen erinnern konnte.

»Wie sollst du bei was gewesen sein, Sticks? Ich habe hier gerade zu tun.«

»Bei der Pressekonferenz. Der Typ, der dir diese klasse Bälle zugespielt hat, das war ich, Mann.«

Mir wurde klar, dass Sticks der Mann hinter den Scheinwerfern gewesen sein musste, der mir die Fragen zugerufen hatte.

»Ach so, jetzt verstehe ich, klar. Hast du gut gemacht. Danke.«

»Dafür wirst du doch jetzt auch an mich denken? Mir die neuesten Infos zu dem Fall zukommen lassen, oder? Irgendwas Exklusives.«

»Klar, mach dir da mal keine Sorgen, Sticks. Ich werde an dich denken. Aber ich muss jetzt Schluss machen.«

Ich beendete das Gespräch und legte das Telefon auf den Tisch zurück. Maggie tippte etwas in ihren Laptop. Es sah aus, als hätte sich unsere momentane Missstimmung gelegt, und ich wollte das Thema nicht wieder anschneiden.

»Das war gerade jemand, der für die Nachrichtensender arbeitet. Er könnte vielleicht mal nützlich für uns werden.«

»Wir werden uns aber auf keine Mauscheleien einlassen. Für die Anklage gelten wesentlich höhere ethische Maßstäbe als für die Verteidigung.«

Ich schüttelte genervt den Kopf. Bei Maggie konnte ich sagen, was ich wollte.

»Das ist doch Unsinn. Ich rede hier nicht davon, irgendwelche krummen Touren …«

In diesem Moment ging die Tür auf, und Harry Bosch kam herein. Weil er zwei große Schachteln trug, drückte er die Tür mit dem Rücken zu.

»Entschuldigt bitte die Verspätung.«

Er stellte die Schachteln auf den Tisch. Ich konnte sehen, dass die größere aus der Asservatenkammer war, und vermutete deshalb, dass die kleinere die Polizeiakten über die ursprünglichen Ermittlungen enthielt.

»Sie haben drei Tage gebraucht, um die Mordschachtel zu finden. Sie war nicht im Gang für Sechsundachtzig, sondern in dem für Fünfundachtzig.«

Er sah mich an, dann Maggie und dann wieder mich.

»Und? Hab ich was versäumt? Es gab doch nicht etwa Streit in der Einsatzzentrale?«

»Wir haben uns über die Prozessstrategie Gedanken gemacht, und wie es scheint, haben wir unterschiedliche Ansichten.«

»Was du nicht sagst.«

Er nahm den Stuhl am Ende des Tischs. Mir war klar, dass er mehr zu sagen hatte. Er nahm den Deckel von der Mordschachtel, zog drei Harmonikaordner heraus und legte sie auf den Tisch. Dann stellte er die Schachtel auf den Boden.

»Also, Mick, nachdem wir sowieso gerade dabei sind, unsere Meinungsverschiedenheiten auszutragen … ich finde, du hättest mir schon im Voraus Verschiedenes sagen können, bevor du mich in diese Seifenoper reingezogen hast.«

»Was zum Beispiel, Harry?«

»Zum Beispiel, dass es bei dieser ganzen Geschichte um Geld geht und nicht um Mord.«

»Wie bitte? Wieso um Geld?«

Bosch sah mich nur finster an und antwortete nicht.

»Du redest doch vom Jessup-Prozess?«, hakte ich deshalb nach.

»Ganz richtig«, sagte er. »Ich hatte heute während der Fahrt nach L.A. ein höchst aufschlussreiches Gespräch mit Jessup. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Unter anderem ist mir dabei klar geworden, dass die Zivilklage gegen Stadt und County in dem Moment vom Tisch ist, in dem wir diesem Kerl einen Deal aufdrücken können. Denn jemand, der einen Mord gesteht, kann keine Zivilklage anstrengen und behaupten, er wäre zu Unrecht verurteilt worden. Deshalb würde ich schon gern wissen, was hier wirklich gespielt wird. Versuchen wir hier, einen Mörder zu verurteilen, oder sollen wir lediglich der Stadt und dem County helfen, ein paar Millionen Dollar zu sparen?«

Mir entging nicht, wie Maggie sich aufrichtete, als sie sich die gleiche Frage stellte.

»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein«, brauste sie auf.

»Wenn das …«

»Moment, Moment«, ging ich dazwischen. »Jetzt bleibt mal beide schön auf dem Teppich. Ich glaube nicht, dass das hier der Fall ist, ja? Das heißt nicht, dass mir dieser Gedanke nicht auch schon gekommen wäre, aber Williams hat in diesem Zusammenhang mit keinem Wort die Möglichkeit eines Deals zur Sprache gebracht. Er hat mich ausdrücklich beauftragt, den Fall vor Gericht zu verhandeln. Er geht sogar davon aus, dass der Fall aus eben dem Grund, den du gerade angeführt hast, vor Gericht verhandelt werden muss. Jessup wird sich nie auf einen Deal einlassen, bei dem ihm die verbüßte Haftzeit oder sonst etwas angerechnet wird, weil dabei nichts für ihn herausspringt. Kein Buch, kein Film, keine Entschädigung von der Stadt. Wenn er das Geld will, muss er vor Gericht gehen und gewinnen.«

Maggie nickte bedächtig, als leuchtete ihr dieses Argument ein. Bosch dagegen schien dadurch in keiner Weise besänftigt.

»Und woher willst du wissen, was Williams im Schild führt?«, fragte er. »Du stößt da als jemand von außen dazu. Könnte doch sein, dass sie dich nur reingeholt, wie ein Spielzeugauto aufgezogen und in der richtigen Richtung aufgestellt haben, um dann in aller Ruhe zuzusehen, was du machst.«

»Er hat völlig recht«, pflichtete Maggie bei. »Jessup hat nicht mal einen Verteidiger. Sobald er einen hat, wird er uns einen Deal vorschlagen.«

Ich hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände.

»Jetzt hört mal zu. Bei der Pressekonferenz heute habe ich verkündet, dass wir die Todesstrafe beantragen werden. Das habe ich nur getan, um zu sehen, wie Williams darauf reagiert. Er hat nicht mit einer solchen Ankündigung gerechnet, und hinterher hat er mir auf dem Flur die Hölle heißzumachen versucht. Er meinte, es stehe mir nicht zu, eine solche Entscheidung zu treffen. Daraufhin habe ich ihm erklärt, das sei nur Taktik, weil ich möchte, dass Jessup anfängt, sich über einen Deal Gedanken zu machen. Für Williams kam das allerdings völlig überraschend. Hätte er also wirklich mit dem Gedanken gespielt, auf einen Deal hinzuarbeiten, um die Zivilklage zum Scheitern zu bringen, hätte ich ihm das angesehen. Und ich bekomme in der Regel ganz gut mit, was in anderen Leuten vorgeht.«

Trotzdem merkte ich, dass ich Bosch noch nicht vollständig überzeugt hatte.

»Weißt du noch, letztes Jahr, diese zwei Typen aus Hongkong, die dich am liebsten in der nächsten Maschine nach China mitgenommen hätten? Ich habe sie durchschaut und richtig reagiert.«

Jetzt sah ich an Boschs Augen, dass er einlenkte. Die Hongkong-Geschichte erinnerte ihn daran, dass er mir einen Gefallen schuldete, den ich jetzt einforderte.

»Na gut«, brummte er. »Und was machen wir jetzt?«