Die Spur des Osiris - Uwe Trostmann - E-Book

Die Spur des Osiris E-Book

Uwe Trostmann

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Beschreibung

In diesem spannenden Kriminalroman geht es um den versuchten großangelegten Diebstahl von angereichertem Uran. Mitglieder einer ehemaligen Bande aus Birmingham, James Lennon und Harry Broth, tauchen nach Jahrzehnten wieder in England auf. Kurz darauf wird ein hoher Regierungsbeamter Michael Benneth ermordet und ein weiterer verschwindet. Der tote Benneth hält eine Osiris Statue in seinen Händen – er handelte verbotenerweise mit altägyptischen Funden. Er und weitere Käufer werden von Lennon und Broth erpresst und die beiden gelangen so an Informationen über die englische Energieversorgung. Die leitende Kriminalinspektorin Roberta Foster bittet ihren ehemaligen Chef Steve Brennan (i.R.) um Unterstützung. Bei seinen Recherchen über Lennon und Broth kommt er zu der Erkenntnis, dass der Schmuggel und Verkauf von den alten Osiris-Figuren von den Verbrechern dazu benutzt wird, an Informationen aus der Energiewirtschaft zu gelangen. Trotzdem ist ihm lange nicht klar, was Lennon und Broth damit anstellen wollen. Er setzt sich mit seinem ehemaligen Kollegen in Kairo in Verbindung und erhält dort wichtige Informationen über die beiden während ihrer Zeit in Ägypten. Informationen verdichten sich, dass die beiden in der Zwischenzeit mit IS-Terroristen zusammenarbeiten und mehrmals im Irak gewesen sind. Mit diesem Hintergrund führt Brennan seine Suche ihnen weiter in England. Brennan ahnt, dass Lennon und Broth etwas Größeres vorhaben, stößt aber wiederholt beim Chef der Kriminalpolizei auf taube Ohren. Nach einem Streit über das mögliche Motiv von Lennon und Broth, will der ihn wieder loswerden, seine jüngere Kollegin Roberta Foster unterstützt ihn aber weiterhin. Immer wieder führen Lennon und Broth die Polizei auf eine falsche Fährte und kommen so beinahe unerkannt bis nach Nordwestengland. Erst als sie im Raum Sellafield auftauchen, gelingt es Brennan auch die Verantwortlichen bei der Polizei zu überzeugen, dass die Verbrecher dort etwas vorhaben. Die Polizei beginnt die gesamte Wiederaufbereitungsanlage nach ihnen zu durchsuchen, kann sie aber nicht finden. Brennan hat die entscheidende Idee und macht sich auf, nach ihnen in der Verladestation zu suchen. Es läuft allerdings in eine Falle und wird zur Geisel. Lennon und Broth gelingt es, einen Castor zu einem Schiff umzuleiten. Mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften, werden die Terroristen daran gehindert, den Castor mit angereichertem Uran an Bord zu bringen.

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EPUB
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Seitenzahl: 454

Veröffentlichungsjahr: 2024

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www.tredition.de

Uwe Trostmann

Die Spur des Osiris

Kriminalroman

Impressum

© 2024 Uwe Trostmann

Website: www.uwetrostmann.de

Lektorat von: Friederike Schmitz, www.prolitera.de

Coverdesign von: Achim Schulte, www.achimschulte.de

Covergrafik von: Achim Schulte

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

ISBNSoftcover:978-3-384-27158-7Hardcover:978-3-384-27159-4eBook: 978-3-384-27160-0

Besonderer Dank geht an meine Lektorin Frau Friederike Schmitz (prolitera.de), die mit großer Ausdauer, Geduld und vielen Anregungen zur Erstellung dieses Manuskripts beigetragen hat.

Mein Dank geht ebenso an Frau Claudia Chmielus für die aufmerksame Korrekturlesung.

Aufmerksam beobachten heißt: sich bestimmter Dinge gut erinnern zu können.

Edgar Allan Poe

Inhalt

Inhalt

Eine Leiche in Tüchern

Osiris aus der Unterwelt

Für Brennan eine wichtige Frage

Alte Freunde

Spuren

Osiris und andere Götter

Brennans Wochenende

Brennan hat eine andere Meinung

Kairo

Alte Gegner

Puzzle

Außerplanmäßig

Brennans Kampf

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Eine Leiche in Tüchern

Richard Connors fuhr mit seinem graubraunen Land Rover in ein kleines Tal der Berge am westlichen Nilufer, etwa eine Stunde vom berühmten Tempel Ramses III. entfernt. Er kannte diese Strecke, lenkte seinen Wagen langsam über den steinigen, ausgetrockneten Weg zu seinem Treffpunkt mit den Händlern. Bei ihren Begegnungen sprachen sie über neue Fundstücke und welche Connors gut an seine Kunden in Europa verkaufen könnte. Dieses Mal hatte ihn Abdul Al-Nakhda rufen lassen. Connors vermutete, dass es um etwas Wichtiges ging. Am Telefon tauschte das Oberhaupt dieser Händler nur Höflichkeiten über Familien und Freunde aus.

Die steilen Berghänge kamen immer näher, der Weg wurde enger und abgestürzte Felsbrocken und Steine wurden zahlreicher. Connors fuhr noch langsamer und steuerte seinen Wagen vorsichtig um die Hindernisse. Obwohl die Felsen um 5 Uhr nachmittags bereits lange Schatten warfen und die Sonne schnell hinter den Bergen verschwinden würde, war es immer noch sechsunddreißig Grad warm. Connors erreichte jetzt den Ort, von dem aus er nur noch zu Fuß weiterkam. Drei Pick-ups waren dort geparkt, vier Kamele in der Nähe angebunden, bewacht von einer Gruppe von Männern, die in ihren Galabijas etwas abseits im Schatten der Felsen saßen. Connors hielt seinen Wagen an und stieg aus. Ein heißer Wind wehte ihm entgegen. Obwohl er schon dreißig Jahre in Ägypten lebte, hatte er sich an diese Hitze nie richtig gewöhnen können.

Connors kannte den Weg zu dem Ort, wo er die anderen treffen würde, er müsste noch ungefähr fünfzehn Minuten dorthin laufen. Er grüßte die Männer im Schatten und machte sich auf den Weg. Die Männer sahen kurz auf, grüßten zurück und unterhielten sich weiter. Sein Jackett hatte Connors ausgezogen, nahm es lässig in eine Hand. Er hatte seine Pistole immer dabei, wollte sie nicht verstecken. Jeder konnte sehen, wie sie sich in Connors Hosentasche abzeichnete. Auch die anderen waren bewaffnet – sie konnten nie sicher sein, ob die Polizei ihnen nicht auf die Schliche kommen würde.

Wegen der Hitze beeilte sich Connors voranzukommen und sah bereits nach zehn Minuten das kleine Zeltlager seiner Verhandlungspartner. Er wurde von einem Mann begrüßt, der ihm die Waffe abnahm und mit der Hand zum Eingang der Höhle hinter den Zelten deutete. Connors versuchte in dessen Gesicht einen Hinweis zu sehen, worum es heute in dem Gespräch mit Abu Al-Nakhda gehen könnte. Er konnte aber in dem sonnengegerbten faltigen Gesicht nichts lesen. Connors erreichte den Eingang der Höhle, die früher einmal ein Grab gewesen sein könnte – aber keines der alten. Ihm kam die kühle Luft entgegen, er atmete sie tief ein. Sein Hemd war durchgeschwitzt. Ein paar batteriebetriebene Lampen zeigten ihm den Weg. Weder waren die Wände in der Vergangenheit geglättet worden, noch sah er Reste von alten Malereien. Er erkannte aber im Vorbeigehen eingeritzte Figuren, vielleicht hatten hier einmal christliche Mönche gelebt. In etwa zwanzig Yards Entfernung saßen sechs Ägypter auf kleinen Erhöhungen, eventuell Hockern, auf die kleine Teppiche gelegt waren. Ihre von der Sonne gegerbten braunen Gesichter wirkten im Licht der wenigen Lampen im Kontrast zu ihren weißen Galabijas beinahe gespenstisch.

Sie saßen im Halbkreis um einen älteren Mann, den Connors bereits ein paar Mal getroffen hatte: Abu Al-Nakhda, ein einflussreicher Scheich, Oberhaupt der Händler, mit denen er zu tun hatte, und, wie Connors wusste, noch einiger mehr. Auch heute wurde Al-Nakhda von seinem Bruder begleitet. Was Connors stutzig machte, war, dass dieses Mal alle jünger waren als Al-Nakhda und sein Bruder.

„Salam, Sheikh Al-Nakhda“, grüßte Connors.

„Wa aleikum assalam, Richard Connors. Nimm bitte Platz.“ Al-Nakhda deutete auf eine Sitzgelegenheit ihm gegenüber. „Hattest du eine gute Anfahrt?“

„Danke, Al-Nakhda, dass du mich dich an diesem kühlen Ort treffen lässt.“

„Du nimmst sicherlich Tee?“

„Danke, gerne“, erwiderte Connors und blickte in die Runde. „Es sind neue Gesichter, die ich heute sehe.“

Al-Nakhda stellte die Männer vor, drei waren seine Söhne, drei waren Neffen. Es entstand eine Pause, in der Connors den heißen Tee vorsichtig mit kleinen Schlucken trank.

„Mr Connors“, begann Al-Nakhda, „wie geht es dir?“

„Danke, Al-Nakhda, ich kann mich nicht beklagen, und zum Glück habe ich viel Arbeit.“

„Ich hoffe, du bekommst genügend Geld für deine Arbeit?“

„Du weißt, Handeln ist nicht einfach.“

„Aber deine Verkäufe gehen bestimmt gut. Du hast sicherlich das restliche Geld mitgebracht.“

„Von welchem Geld sprichst du?“

„Von dem Erlös der zweiundfünfzig Statuen, die wir dir vor zwei Monaten gegeben haben. Ich erwartete dafür 104.000 Dollar, ich habe aber nur 45.000 Dollar erhalten. Ich gehe deshalb davon aus, dass du heute die restlichen 59.000 Dollar bei dir hast.“

Connors schluckte. „Sheikh Al-Nakhda, wir haben beim Verkauf dieses Mal leider weniger erhalten.“

„Du bist schlecht im Lügen, Mr Connors. Die letzten Male habe ich ein Auge zugedrückt – es ist einiges zu wenig, was du mir für die Ware gegeben hast. Aber jetzt will ich mein Geld, sofort.“

„Ich habe es nicht.“

„Wo ist es?“

„Wir haben weniger bekommen.“

„Mr Connors. Ich weiß, dass Statuen im Wert von 115.000 Dollar in England verkauft worden sind. Sage mir, wo die restlichen 70.000 Dollar sind.“

Connors schwieg. Offenbar hatte Al-Nakhda gute Verbindungen nach England. Seitdem Connors und seine Gruppe mit dem IS zusammenarbeiteten, wurde viel Geld in dessen Projekt gesteckt. Und er hatte verschwiegen, dass sie oft einiges mehr an Geld für die Originale bekommen hatten. Über die Replikate, die er hatte herstellen lassen, hatte er in dieser Gruppe nie gesprochen.

„Du verschweigst mir einiges: Du arbeitest mit dem IS zusammen. Ihr habt euch von denen kaufen lassen und macht gemeinsame Sache. Ich unterstütze das nicht und will kein Geld dafür geben. Ich will das Geld, das mir gehört.“

Connors musste Haltung bewahren. Er hatte das kleine Teeglas immer noch in einer Hand und wollte einen Schluck daraus trinken. Er merkte, wie seine Hand zitterte, schnell nahm der die zweite zu Hilfe. Al-Nakhda hatte es beobachtet und hakte nach.

„Mr Connors. Du hast uns nicht nur betrogen, du hast einen von uns getötet.“

„Das war ein Versehen, Sheikh Al-Nakhda“, kam es schnell von Connors. „Lennon hat ihn in Alexandria mit einem Spitzel verwechselt. Ich werde für seine Familie aufkommen.“

„Warum hast du nicht Lennon zu uns gebracht?“

„… damit ihr ihn bestraft?“

„Er verdient seine Strafe, wie jeder, der tötet, lügt und betrügt.“

Connors merkte, wie der Schweiß seinen Rücken hinunterlief. Immer noch zeigte er Haltung. Aber er wusste, was diese Worte bedeuten konnten. Al-Nakhda hatte nie lange gezögert, wenn er jemanden beseitigen wollte.

„Wo ist Lennon?“

„Er bereitet eine Reise nach England vor.“

„Ich fragte nicht, was er macht, sondern wo er sich jetzt befindet.“

„Er muss noch etwas erledigen, bevor er fliegt. Er ist nicht in Kairo. Wo er sich im Moment aufhält, weiß ich nicht.“ Connors wollte ihr Projekt nicht gefährden.

„Du lügst wieder, Mr Connors.“

Connors schwieg. Al-Nakhda erhob sich und machte Anstalten, seinen Platz zu verlassen. Als Connors sich ebenfalls erheben wollte, wurde er von einem der Männer zurückgedrückt. Connors hatte nicht bemerkt, dass der sich hinter ihn gestellt und eine Pistole aus einer Seitentasche gezogen hatte. Mit einem gezielten Schuss durch den Rücken ins Herz wurde Connors getötet. Er sackte in sich zusammen, zwei Männer holten eine Holzkiste in der Form eines antiken Sarges, legten den Toten hinein, verschlossen den Sarg und trugen ihn aus der Höhle bis zu dem Platz, wo die Wagen standen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, es würde rasch dunkel werden. Sie stellten den Sarg auf einen der Pick-ups und fuhren in ein zehn Meilen entferntes Dorf. Einer der Männer setzte sich in Connors Land Rover, ein zweiter folgte mit einem anderen Wagen. Sie fuhren über einen Schotterweg zwanzig Meilen in die Wüste hinein. Dort ließen sie Connors’ Land Rover von einem Felsvorsprung in ein enges Tal stürzen. Das Wrack würde nicht so schnell entdeckt werden.

Im Dorf angekommen, wickelten die Männer den entkleideten Körper von Connors nach dem Vorbild der alten Ägypter in Tücher, die dem antiken Material auf den ersten Blick verblüffend ähnlich sahen. Später legten sie ihn, wie eine antike Mumie, in den Sarg zurück.

„Warum dieser Aufwand?“, fragte einer der Männer.

„Es soll eine Warnung für andere sein“, sagte Al-Nakhda.

Noch vor Sonnenaufgang transportierten sie den Sarg zu einer die nahen gelegenen Ausgrabungsstätten und stellten ihn in einen Transporter, der noch am selben Tag zum Ägyptischen Museum in Kairo fahren würde.

Es war bereits nach 5 Uhr, trotzdem zog sich Dr Nagib Ibrahim noch einmal seinen Labormantel an, streifte die Gummihandschuhe über und schritt zum Operationstisch, auf dem die Mumie lag. Er war neugierig, was seine Angestellten vorsichtig aus dem im Kühlraum gelagerten Holzsarg gehoben hatten, der zwei Tage zuvor im Laborbereich des neuen Großen Ägyptischen Museums in Kairo angeliefert worden war. Es war Ibrahims Aufgabe, die Mumie zu untersuchen und ihr Alter zu bestimmen. Außerdem stand eine Untersuchung verwandtschaftlicher Verhältnisse zu anderen Mumien mittels DNA-Bestimmung an, die in der Nähe der Ausgrabungsstätte von Qurna gefunden wurden. Seinen Mitarbeitern waren bereits bei der Öffnung des Sarges die ungewöhnliche Größe und das Gewicht der Mumie aufgefallen. Sie passte gerade hinein, war zum Teil hineingepresst worden. Der Sarg war für den Transport in eine Holzkiste gepackt worden. Ibrahim nahm erst einmal nicht weiter Notiz von den Bemerkungen seiner Mitarbeiter.

Er ging zum Regal mit den Isolationsanzügen, zog einen über und blickte dabei zum Operationstisch. Schon von Weitem fiel ihm die ungewöhnliche Größe der Mumie auf sowie ihr ungewöhnlicher Geruch. Er trat näher heran. Was ihm zusätzlich seltsam vorkam, als er auf den vor ihm liegenden eingewickelten Körper schaute: Die weißgelbe Farbe des Stoffes, mit dem der Körper eingebunden war, war nicht dieselbe, die er von den vielen anderen Mumien kannte, die er bereits untersucht hatte. Er war etwas heller und schien nicht aus dem gleichen Material zu sein, aus dem die Lagen des Stoffes gewoben waren, die vor mehr als dreitausend Jahren zu diesem Zweck verwendet wurden. Und jetzt wurde ihm klar: Diese Mumie war eindeutig größer! Nagib schaute zu der Holzkiste, aus dem dieser Sarg genommen worden war. Auf den ersten Blick sah der aus wie viele, in denen Mumien zu ihnen kamen. Jedoch war dieser höher und Ibrahim musste sich über den Zwischenboden wundern, der sich im Innern befand. Er sah den Sarg noch einmal an – er schien alt zu sein, war allerdings nicht so aufwendig geformt, war nicht antik, wie er beim genaueren Hinschauen feststellte. Es war kein alter Sarg! Er lief zurück zum Operationstisch. Er begann, den Körper auf den Bauch zu drehen, und erschrak: Er meinte, eine Stelle zu sehen, an der etwas geronnenes Blut zu sehen war. Er drehte den Körper zurück und erkannte eine weitere blutige Stelle im linken Brustbereich. Ibrahim unterbrach seine Arbeit, rief zwei seiner Assistenten zu sich, erklärte kurz den Sachverhalt und gemeinsam wickelten sie das Tuch von der Mumie ab. Sofort sahen sie, dass es sich hier nicht um eine altägyptische Mumie, sondern um einen unbekannten hellhäutigen Mann handelte, der offensichtlich vor nicht langer Zeit erschossen und in Tücher gewickelt worden war. Die Leiche musste ein paar Tage zuvor außerhalb des Kühlraumes in diesem Sarg gelegen haben. Der Geruch der beginnenden Verwesung war deutlich wahrnehmbar und die unbedeckte Haut zeigte erste Spuren der beginnenden Zersetzung. Die drei Männer sahen sich fragend an.

Ein Sarg ist aus Stein, ein Sarg ist aus Holz!

Ibrahim lief zu seinem Schreibtisch im Nebenraum, suchte das Begleitschreiben für diese Mumie heraus. Der Versand erfolgte demnach von einer Ausgrabungsstelle. Aber warum hatten die Täter diesen Aufwand betrieben und die Leiche in eine schlechte Nachbildung eines antiken Sargs gelegt und von der Ausgrabungsstätte hierher transportieren lassen? Ibrahim wurde in diesem Moment klar, dass dies ein Fall für die Kriminalpolizei war. Er machte ein paar Aufnahmen mit seinem Handy, deckte dann die Leiche mit einem Tuch zu und schob sie in das Kühlfach Nummer 36 zurück. Seinen Chef und die Kriminalpolizei würde er morgen früh verständigen. Das Tuch, in dem die Leiche eingewickelt war, warf er in die Abfalltonne. Seine Frau und er hatten Theaterkarten für den Abend. Er wies seine Mitarbeiter an, bis zum nächsten Vormittag über diesen Fund zu schweigen, dann verließen alle den Labortrakt.

Noch von zu Hause aus verständigte er am nächsten Morgen gegen 8 Uhr 30 den Direktor des Museums und die Kriminalpolizei. Anschließend setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zum Museum. Wieder einmal stand er mehr als eine Stunde im Stau. Gegen zehn Uhr klingelte sein Handy. Es war einer seiner Mitarbeiter, der aufgeregt erklärte, dass der Direktor und die Polizei auf ihn warteten. Der Forensiker wollte sich den Toten anschauen, die Polizei wollte einige Fragen stellen. So schnell hatte Ibrahim nicht mit einem Besuch der Polizei gerechnet. Er würde bald im Institut eintreffen, sagte er.

Eine halbe Stunde später erreichte er den Labortrakt des Museums. Seine Mitarbeiter, Chief Inspector Anwar Al-Hashim, der Forensiker und zwei Beamte standen vor dem Gebäude, unterhielten sich angeregt und rauchten.

„Guten Morgen zusammen“, sagte Ibrahim. „Haben Sie sich die Leiche schon angeschaut?“

„Nein, Dr Ibrahim“, antwortete einer seiner Mitarbeiter.

„Guten Tag. Ich bin Anwar Al-Hashim, Chief Inspector beim Kriminalkommissariat in Kairo, das hier sind der Polizei-Forensiker und meine Sergeants.“

Vor ihm stand ein schlanker Mann im Alter von circa fünfundvierzig Jahren mit einer Glatze. Trotz der hohen Temperaturen trug er einen perfekt sitzenden grauen Anzug. Ibrahim schaute sich um und fragte: „Ist der Herr Direktor noch nicht gekommen?“

„Er war kurz da, und als er Sie nicht sah, lief er wieder zurück in sein Büro. Ich verständige ihn.“

„Bitte folgen Sie mir“, sagte Ibrahim nervös und lief mit schnellen Schritten zum Labor. Dort zog er die Leiche aus dem Kühlfach und zeigte die blutverkrusteten Stellen im Schulter- und Brustbereich.

„Einschussloch unterhalb der Schulter, Austrittsloch an der Brust. Wahrscheinlich ging die Kugel durch das Herz“, erklärte der Forensiker halblaut. „Er ist allerdings bereits vor einigen Tagen erschossen worden. Genaues kann ich in ein paar Tagen sagen.“

Ibrahim erinnerte sich an das Tuch, in das der Tote eingewickelt gewesen war und das er in den Abfallkübel geworfen hatte. Zum Glück war es noch da. Er zog es heraus, legte es auf den Tisch, holte sein Handy aus der Tasche und zeigte den verblüfften Polizisten die Aufnahmen des eingewickelten Körpers, die er gestern noch gemacht hatte. Seine Mitarbeiter nickten bedeutungsvoll.

„Die Leiche wurde in dem Sarg-ähnlichen Behälter angeliefert, den Sie im Vorraum gesehen haben. Daneben steht die Holzkiste, in der sich der Sarg befunden hat. Sie können deutlich erkennen, dass es sich bei dem Sarg um eine neuzeitliche Imitation handelt. Und wie der Forensiker bereits vermutet, handelt es sich bei dem Toten um einen Mann, der vor nicht allzu langer Zeit erschossen wurde. – Der Sarg ist eine einfache Nachbildung“, betonte er noch einmal, als er die Anwesenden dorthin führte. Er deutete auf die Holzkiste. „Ich finde diesen doppelten Boden darin merkwürdig.“ Er blickte hinein und sagte erstaunt: „Oh, jemand hat das Zwischenbrett herausgezogen und schief wieder hineingelegt! Sehen Sie? Als ob jemand etwas entnommen hätte.“

„Wer kann hier noch hereinkommen?“, fragte Al-Hashim.

„Ich und einige Mitarbeiter haben Schlüssel.“

„Allerdings haben wir eine Überwachungskamera. Sehen Sie?“ Der Direktor betrat das Labor und deutete auf eine Ecke des Raumes.

„Darf ich Ihnen den Direktor des Museums vorstellen, Gamal Aziz?“ Ibrahim drehte sich zu ihm um.

„Der in Ägypten recht bekannt ist“, begrüßte Al-Hashim ihn.

„Nicht nur in Ägypten“, ergänzte Aziz. Mit seinem dunkelblauen Anzug stach er aus der Gruppe hervor. Schnauzbart und Haare waren makellos gepflegt.

Al-Hashim wendete sich wieder Ibrahim zu. „Können wir die Aufnahmen bekommen?“

„Natürlich, warten Sie.“ Ibrahim lief in einen Nebenraum und kam mit einer Leiter zurück. Er stellte sie vor die Kamera, stieg hinauf und entnahm eine SD-Karte. Er stellte seinen PC an, schob sie in die dafür vorgesehene Öffnung. Nach kurzer Zeit sagte er: „Sehen Sie“, er kommentierte den Ablauf, und alle schauten nun auf den Monitor. „Um 23:11 Uhr kommen zwei Vermummte in den Raum, gehen zuerst an die Kiste, heben den Innenboden hoch, entnehmen mehrere Gegenstände, wickeln sie einzeln in eine Plastikfolie, legen sie in einen mitgebrachten Rucksack, laufen an das Kühlfach Nummer 36, öffnen es, schauen auf die Leiche, schließen das Fach wieder und verschwinden.“ Alle vor dem Monitor waren sprachlos.

„Können Sie noch einmal zu den Aufnahmen von den entnommenen Gegenständen zurückfahren?“, bat Al-Hashim.

Ibrahim hielt die Filmsequenz an und suchte die Stelle. „Das sind alles kleine Figuren“, sagte er. „Vielleicht sind es antike Stücke.“

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte der Direktor beinahe wütend.

„Na ja, Imitationen bräuchte man nicht unter einem Sarg zu verstecken.“

„Konnten die einfach so rein- und rausgehen? Sergeant, Sie recherchieren das.“ Al-Hashim blickte immer wieder hin und her zwischen Kamera und Monitor.

Ibrahim nahm das Tuch vom Labortisch und reichte es dem Forensiker. „Hier ist noch das Tuch, in das die Leiche eingewickelt war.“

Der nickte. „Ich denke, das geht die Mordkommission an. Ich lasse die Leiche abholen und werde eine DNA isolieren – für den Fall, dass wir die noch brauchen. Lassen Sie bitte alles so, wie es ist.“

Al-Hashim nahm sein Handy und verständigte die Spusi. Der Museumsdirektor lief aufgeregt im Raum hin und her. Dann sagte er in lautem Ton: „So etwas ist mir in meiner zweiunddreißigjährigen Karriere noch nicht passiert. Ibrahim, geben Sie der Polizei volle Unterstützung.“

„Natürlich, Herr Direktor.“

„Und sobald Sie hier fertig sind, kommen Sie in mein Büro.“

Der Direktor verließ mit schnellen Schritten das Labor. Anschließend verabschiedete sich der Forensiker. Ibrahim und die beiden Mitarbeiter standen am Fenster und schauten schweigend hinaus. Ein Sergeant hatte sich vor der Labortür postiert. Al-Hashim besah sich das Labor und den angrenzenden Bereich.

Amar Hassan Al-Hashim arbeitete seit 7 Jahren als Chief Detective Inspector der Mordkommission in Kairo. Er hatte während seiner Zeit bei der Polizei viele Morde aufklären müssen, ihm war allerdings noch nie ein so merkwürdiger Fall begegnet.

Zwei Stunden später erreichte die Spusi das Institut. Die Leiche wurde in einen Zinksarg gepackt und abtransportiert. Die Spezialisten der Spusi begannen sofort mit ihrer Arbeit. Sie nahmen überall Fingerabdrücke, suchten den gesamten Labortrakt nach Spuren ab. Danach untersuchten sie den hölzernen Transportbehälter.

„Wissen Sie, wo die Mumie herkam?“, fragte Al-Hashim Ibrahim.

„Dem beigefügten Schreiben entnehme ich, dass sie in einem neu geöffneten Grab bei Qurna entdeckt wurde. Ich vermute allerdings, dass dieser Tote gegen die Mumie ausgetauscht und mit den Papieren in den Transporter geladen worden ist.“

„Das kann bedeuten“, ergänzte Al-Hashim halblaut, „dass an der Grabungsstelle Betrügereien stattfinden. Haben Sie einmal Ähnliches gesehen oder gehört?“

„Nein, Chief Inspector.“

„Sie sagen, der Tote hat in einer Sarg-Imitation gelegen?“

„Ich gehe davon aus. Er sieht für mich nicht wie ein antiker aus. Näheres dazu kann Ihnen der Institutsleiter sagen.“

„In einer Imitation?“

„Das ist meine Vermutung. Die Täter werden ihn nicht in einen echten gelegt haben.“

Al-Hashim machte sich Notizen, fragte nach Einbruchspuren, danach packten die Beamten den Sarg und die Holzkiste in einen Transporter und fuhren zurück ins Kommissariat.

Ibrahim suchte die Unterlagen zusammen, die er mit der Leiche erhalten hatte, und lief in den Verwaltungstrakt des Museums. Im Sekretariat des Direktors meldete er sich an. Die Sekretärin sah ihn bedrückt an – für Ibrahim kein gutes Zeichen – und sagte kurz:

„Der Herr Direktor erwartet Sie bereits.“

Ibrahim klopfte leise an die Bürotür. Nach einem kurzen „Herein!“ betrat er den Raum. Er kannte dieses Zimmer von früheren Gesprächen – der Direktor empfing seine Mitarbeiter hier zu besonderen Anlässen. Die Wände waren mit edlen Hölzern verkleidet, in zwei Vitrinen standen Statuen altägyptischer Götter. Das Licht war gedämpft, die Klimaanlage summte leise und kühlte den Raum. Ibrahim wusste in diesem Moment nicht, ob er wegen der niedrigen Temperatur oder der Aufforderung des Direktors fror.

Der Direktor machte den Eindruck, konzentriert in einem Schriftstück zu lesen. Ibrahim blieb ein Yard vor dem Schreibtisch stehen, er wagte nicht, sich ohne Aufforderung auf den Stuhl davor zu setzen. Der Direktor blickte ihn nicht an, Ibrahim meinte zu erkennen, dass der Direktor nicht las, ihn absichtlich warten ließ. Nach zehn Minuten blickte er schließlich auf und sah ihn missmutig an.

„Wieso wurde ich nicht bereits gestern Abend informiert? Wieso muss ich mich von Ihren Mitarbeitern in Gegenwart der Polizei und vor der Tür des Museums über den Toten informieren lassen?“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter, endete beinahe mit einem Schrei, als er die Frage beendete.

Ibrahim schluckte, verschwieg den wahren Grund, stammelte: „Herr Direktor. Ich habe nicht geahnt, dass es sich bei diesem Toten nicht um eine antike Mumie gehandelt hat.“

„Ibrahim! Hier geht es nicht darum, dass Sie zu dumm sind, einen Toten mit Schusswunde von einer antiken Mumie zu unterscheiden, sondern darum, dass ich nicht früher als die anderen darüber informiert worden bin! Ich bin der Direktor! Sie können hier in meinem Museum nicht machen, was Sie wollen!“

Es breitete sich angespannte Stille im Raum aus. Nichts war zu hören als ein entferntes Klopfen von Arbeiten im Museum und das beinahe asthmatische Keuchen des Direktors.

„Ich will über jeden Schritt, jeden Befund, jede Frage der Polizei informiert werden. Und, bevor ich es vergesse, Dr Boutros wird die Leitung der Abteilung für Mumien hier im Großen Ägyptischen Museum übernehmen. Sie werden mit ihm zusammenarbeiten, Dr Ibrahim. Khalas, gehen Sie.“

Ibrahim fühlte, wie ihm mit den letzten Worten des Direktors der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Mit pochendem Herzen verließ er den Raum, lief ohne Gruß durch das Sekretariat, durch die Museumsverwaltung, durch den Haupteingang in den Vorgarten. Seine Angst, der Schock über die Entscheidung des Direktors verwandelten sich mehr und mehr in Wut. Ihm, Ibrahim, war diese Stelle versprochen worden. Und jetzt setzte der Direktor ihm diesen Boutros vor die Nase! Und alles wegen diesem Theaterabend, zu dem seine Frau unbedingt wollte.

Eine Woche später stand fest, dass es sich bei dem Toten um den Engländer Richard Connors handelte. Connors war einunddreißig Jahre zuvor bei einer versuchten Festnahme in Birmingham angeschossen worden, konnte allerdings untertauchen. Fingerabdrücke und später die Ergebnisse der DNA-Analyse der Blutspuren wurden bei INTERPOL gespeichert. Jetzt war er in Ägypten erschossen worden.

„Wir haben allerdings einige wichtige Fragen zu klären“, beendete Al-Hashim seinen Bericht vor der Mordkommission.

„Erstens: Connors und ein paar weitere Leute aus England standen immer wieder im Verdacht, in dunkle Geschäfte verwickelt zu sein. Welche, das müssen wir in anderen Abteilungen nachfragen.

Zweitens: Warum wurde er erschossen?

Drittens: Warum wurde er wie eine Mumie verpackt und in einen imitierten Sarg gelegt?

Viertens: Offenbar wurde die Transportkiste dazu benutzt, Figuren aus dem oder den Gräbern unerlaubt nach Kairo zu bringen, um sie anschließend weiter zu transportieren. Falls es sich bei den Figuren um antike Stücke handelt, haben wir es möglicherweise mit organisiertem Schmuggel von antiken Gegenständen zu tun. Aber das mit der Leiche verstehe ich trotzdem nicht. Ich hoffe, dass uns die britische Polizei bei der Aufklärung helfen kann.“

Drei Wochen später erreichte ein Schiff, das mit Baumwolle aus Ägypten beladen war, den Hafen von London Gateway. Ein Arbeiter im Containerhafen interessierte sich besonders für einen bestimmten Behälter. Er öffnete ihn unbeobachtet, entnahm vier längliche Behälter und eine beinahe quadratische Kiste, lud alles in seinen Transporter und fuhr damit nach London City.

Osiris aus der Unterwelt

Er war nervös, versuchte es nicht zu zeigen, als er an der Passkontrolle im Londoner Flughafen Heathrow in der Reihe der Wartenden stand. James Lennon war gerade aus Kairo angereist. Vor 16 Jahren hatte er England nach der Verbüßung seiner fünfzehnjährigen Haftstrafe eilig verlassen und war in Ägypten bei seinen Freunden untergetaucht. Alle waren sie damals wieder mit Rick Connors zusammen, der, bereits kurze Zeit nach seiner Flucht aus England, wieder ins Geschäft mit illegalen Waffen eingestiegen war. Ihr altes Netzwerk bestand noch immer. Lennon war als Letzter zu ihnen gestoßen, Phil Moid, Bruce Gonner und Dan Morris waren bereits Jahre zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden und ebenfalls sofort nach Ägypten gereist. Harry Broth stieß mit neuer Identität als Gilbert McArthur zu ihnen. Ein paar Jahre später begannen sie, nicht nur mit Waffen zu handeln, sondern ebenso im lukrativen Geschäft mit antiken Fundstücken mitzumischen. Lennon war außerdem mehr und mehr die Rolle zugefallen, unliebsame Kunden und Kontrahenten auf besondere Art von einem Geschäft zu überzeugen oder aber sie zu beseitigen. Er wurde darin Spezialist. Von einem internationalen Haftbefehl gegen ihn hatte er zwar nichts gehört, musste jedoch befürchten, dass er von Interpol gesucht wurde.

Jetzt war er an der Reihe. Er legte seinen Pass vor, den er bereits in Kairo zweimal hatte verlängern lassen. Der Beamte schaute kritisch erst Lennon, danach das Dokument an, suchte im Register, kam beim Blick auf das hinterlegte Bild zu der Erkenntnis, dass das Aussehen des Besitzers sich altersbedingt verändert hatte. Im Folgenden las er, dass der Einreisende früher wegen einiger Schwerverbrechen in Großbritannien im Gefängnis gesessen hatte. Der Beamte suchte weiter und kam zu dem Schluss, dass Lennon seit sechzehn Jahren nicht mehr in Großbritannien eingereist war. Als er keine weiteren Einträge fand, sah er Lennon an und sagte:

„Mr Lennon. Wie ich aus Ihrem Pass ersehe, haben Sie sich die letzten sechzehn Jahre nicht in Großbritannien aufgehalten. Sie brauchen einen neuen – und natürlich ein neues Bild. Dieser läuft in wenigen Monaten ab und kann nicht noch einmal verlängert werden.“

Lennon atmete tief durch, machte ein schuldbewusstes Gesicht und meinte „Ich werde mich darum kümmern, Officer.“ Er wusste um sein Aussehen. Es war die ägyptische Sonne, die seine Haut gegerbt hatte. Außerdem war nicht mehr viel von seiner einstigen Haarpracht geblieben. Er war aber, trotz der kalorienreichen Versuchungen, schlank geblieben, im Gegensatz zu einigen seiner Freunde.

Er bekam seinen Pass wieder ausgehändigt, machte ein dankbares Gesicht und verschwand schnell um die Ecke des Kontrollbereichs. Er nahm ein Taxi, ließ sich ins Hotel Oriental in der Londoner Innenstadt bringen und meldete sich unter dem Namen Henry Bolder an. Später bereitete er sich im Hotelzimmer auf seinen ersten Auftrag vor.

Der Beamte am Flughafen fügte eine Notiz in die elektronische Akte von James Lennon: Einreise nach sechzehn Jahren.

Nach einer guten Nacht und einem ausgiebigen Frühstück ließ sich Lennon am nächsten Morgen mit einem Taxi zum Stadtteil Harlesden fahren, wo er sich mit Larry, einem alten Bekannten aus der Zeit in Birmingham, traf. Es regnete in Strömen, die Temperatur von vierzehn Grad empfand Lennon als kalt, aber mit jeder weiteren Minute verstärkte sich das Gefühl, in England zu sein, zu Hause.

Bevor Connors und seine Gruppe vor einunddreißig Jahren in Birmingham aufflogen, hatte Larry ihnen Fahrzeuge und, wenn es notwendig war, sogar einen Kran beschafft. Später machte er sich in London sesshaft, reparierte Motorräder und organisierte für den einen oder anderen Freund Schusswaffen. Er hatte mit seinem alten Kumpel Lennon Kontakt gehalten und ihm jetzt eine Walther PP UM besorgt.

„Tolle Pistole. Bekommt man die hier? Kaliber 7,65 mm.“

„Man muss nur wissen wo. Und hier noch das spezielle Gewehr, das du schnell in seine Einzelteile zerlegen und wieder zusammensetzen kannst. In einer passenden Ledertasche sieht es wie eine Sport-Ausrüstung aus.“ Zusätzlich gab er ihm noch reichlich Munition.

Lennon blickte ihn fragend an.

„Die werdet ihr brauchen, wenn ihr das durchzieht, was ihr vorhabt.“

Lennon besprach mit Larry die Details für den ersten Auftrag, hielt sich allerdings mit den Einzelheiten für ihre weiteren Pläne zurück, Larry sollte nicht mehr als nötig erfahren. Sie gingen in den Innenhof. Lennon hatte für seine Erkundungen in London ein Motorrad bei Larry bestellt. Die Honda stand im Hof bereit, Lennon stellte zufrieden fest, dass es nicht mehr regnete, drehte eine Runde, schob alles in einen großen Rucksack und fuhr wieder zurück ins Zentrum von London.

Im Hotelzimmer begann er sofort zu üben: das Gewehr schnell zusammenbauen und wieder auseinandernehmen. Es sollte problemlos gehen, wenn es darauf ankam. Er würde es allerdings erst einmal nicht benötigen – den nächsten Auftrag würde er mit der Pistole erledigen.

Auch wenn Michael Benneth einer weiteren Abmachung zustimmen würde, er wäre ein zu großes Risiko für ihre weiteren Pläne. Lennon hatte über seine Verbindungen in London erfahren, welchen Weg Benneth gewöhnlich zu seinen Verabredungen nahm. Dort würde Lennon seinem Opfer auflauern und es an einem stillen Ort liquidieren. Jetzt galt es, einen solchen zu finden.

Larry hatte die Honda besorgt, damit Lennon bequem seinen Plan ausarbeiten konnte. Er bremste die Maschine auf der Höhe des Department of Business, Energy and Industrial Strategy, wendete und fuhr in die kleine Abbey Orchard Street. Dort stellte er sein Motorrad ab. Er lief zurück zum Haupteingang des Ministeriums, schaute sich um und suchte den Weg durch den Dean Yard zum Cellarium Café and Terrace. Hier traf Benneth sich regelmäßig mit Händlern zum Tausch von kleinen, wertvollen ägyptischen Skulpturen gegen Schriftstücke aus dem Energie-Ministerium, auch Bargeld floss. Lennon lief ein paar Straßen weiter, schaute sich um, wo er seine Maschine parken könnte, und lief zum Café zurück. Er suchte nach dem besten Weg, seinen Auftrag zu erfüllen: Es sollte schnell und unauffällig gehen. Er betrat das Café, nahm an einem Tisch Platz und bestellte sich einen Tee. Unauffällig beobachtete er den Raum, ging später auf die Toilette, fand eine Hintertür und öffnete sie. Er stand in einem längeren Gang, der bis zum Ende des Gebäudes führte. Als sich eine Person aus dem Café näherte, drehte er sich schnell um und lief in den Gastraum zurück. Später besah er sich noch einmal den Außenbereich und stellte fest, dass eine zweite Tür nicht abgesperrt war. Trotzdem blieb er skeptisch. Was wäre, wenn dann doch sämtliche Türen verschlossen wären oder plötzlich Unbeteiligte erschienen? Er hatte eine andere Idee: Benneth kam bei solchen Gelegenheiten immer mit seinem Wagen, parkte ihn in der Nähe des Cafés. Das wäre besser: Für das geplante Kidnapping hätte er einen zweiten Mann dabei.

Lennon lief zur Victoria Street zurück, schaute sich die Umgebung genauer an, verglich sie mit Informationen aus dem Internet, ging zu seiner geparkten Honda zurück und fuhr nach Greenwich. Er fand das Haus und den Eingang, parkte sein Motorrad in der Nähe und besah sich die angrenzenden Straßen und Häuser. Er fand auch die von Larry gemietete Wohnung und stellte erfreut fest, dass er im Innenhof des Häuserkomplexes einen Wagen dicht an den Eingang dieser Wohnung heranfahren könnte, um einen größeren Gegenstand unbemerkt in ein Auto zu tragen.

Lennon nickte zufrieden, setzte sich seinen Helm wieder auf und fuhr zurück zu Larry. Ein paar Einzelheiten für die Beseitigung von Michael Benneth mussten noch geklärt werden. Und es sollte um ihr Projekt gehen: Bei einem Treffen mit Paul Harrington sollten Details ihres Projekts besprochen werden, bevor sie an die Westküste fahren würden. Denn sobald die Polizei ihre Untersuchungen beginnen würde, könnte sie auf Paul Harringtons Namen stoßen. Am Montagnachmittag brachte Lennon die Honda zu Larry, nahm ein Taxi zurück in sein Hotel und ging den Plan noch einmal bis ins letzte Detail durch.

Michael Benneth packte am Dienstagabend um 18 Uhr 32 seine Papiere im Büro des Department of Business, Energy and Industrial Strategy zusammen, trug sie in den Aktenschrank, entnahm Kopien von ausgewählten vertraulichen Akten, die er im hintersten Teil des Schrankes versteckt hielt und verschloss ihn sorgfältig. Er zog sein dunkelblaues Anzugsjackett und seinen Trenchcoat an und stellte im Spiegel zufrieden fest, dass seine Kleidung in Ordnung war. Er war zwar nicht mehr der sportlich aussehende junge Mann, aber mit seinen beinahe sechs Fuß Größe und dem vollen, inzwischen angegrauten Haar zog er noch die Blicke der Frauen auf sich. Selbstbewusst schnappte er seine Aktentasche, kontrollierte noch einmal, ob sämtliche Dokumente vorhanden waren, lief in die Tiefgarage des Ministeriums, stieg in seinen Wagen, fuhr ihn hinaus und bog rechts auf die Victoria Street in Richtung Westminster Abbey.

Benneth war seit dreiundzwanzig Jahren Beamter des Energieministeriums, galt als integer und zuverlässig. Mit seinen zusätzlichen Einkünften hatte er für sich, seine Frau, seine Tochter und seinen Sohn ein gutes Auskommen. Sein Sohn Frederic studierte seit zwei Jahren in Cambridge.

Am Anfang seiner Karriere mussten die beiden Eheleute sehr auf das Geld schauen, auch wenn Kathleen Benneth als Lehrerin arbeitete. Doch irgendwann kam die finanzielle Wende: Bei einem offiziellen Besuch bot ihm ein höherer Beamter in Kairo an, original antike Gegenstände in England zu verkaufen. Erst zögerte Benneth, er hatte Zweifel, ob diese Verkäufe rechtens waren. Doch als ihm der Herr offizielle Ausfuhrzertifikate vorlegte, schwanden bei Benneth sämtliche Bedenken. Er wurde von ägyptischer Seite immer über neue Lieferungen und deren Wert informiert. Die Methode Diplomatengepäck lief hervorragend, die Einnahmen lohnten. Langsam besserte sich Benneths finanzielle Lage. Die Familie leistete sich ein Haus in einem Vorort, lud Kollegen zu Gartenpartys ein. Michael Benneth achtete immer darauf, dass es nicht so aussah, als ob sie in Geld schwämmen. Das Konto bei der Schweizer Bank war nicht groß, stellte aber eine gute Sicherung für die Zukunft dar.

Dass sich eines Tages ein Unbekannter in der Nähe des Ministeriums zu ihm gesellte und klarmachte, dass dieser Handel nur weitergehen würde, wenn Michael Benneth die eine oder andere Information über Kernkraftwerke in England zur Verfügung stellen würde, bereitete ihm allerdings Sorgen. Sollte er sich weigern, könnte es sein, dass Scotland Yard an seinen Tätigkeiten Interesse finden könnte. Sollte er dem neuen Deal zustimmen, bräuchte er sich keine Gedanken zu machen. Alles würde wie bisher geregelt.

Seine Nebengeschäfte liefen weiterhin gut. Dass er erpresst wurde zu spionieren, hatte ihn zwar geschockt, ihn aber nicht von dieser lukrativen Zusatztätigkeit abgehalten – er dachte keinen Moment über ein Geständnis bei der Polizei nach. Was könnte er verraten, was nicht sowieso bekannt war?

Beinahe zwei Jahre lief dieser Handel erfolgreich durch seine Hände, bis vor wenigen Tagen ein Fremder zu ihm kam und verlangte, dass er noch mehr für seine Auftraggeber tun sollte. Benneth lehnte ab. Der Fremde gab ihm Bedenkzeit – bis heute. Benneth wollte nicht glauben, dass seine Ablehnung Konsequenzen haben könnte.

Er lenkte sein Auto in die Sanctuary und weiter in die Durchfahrt zum Dean’s Yard. In der Nähe des Cellarium Café and Terrace parkte er und stieg aus, als sich zwei Unbekannte neben ihn stellten, einer von ihnen Benneth unauffällig eine Pistole in die Seite drückte und ihn auf die Rückbank seines Wagens schob. Michael Benneth wagte nicht, um Hilfe zu rufen. Einer der beiden Unbekannten setzte sich neben ihn, der andere ans Steuer, und so fuhren sie zügig nach Greenwich. Im Peartree Way wurde der Wagen in eine Hofeinfahrt gelenkt, der Wagen wurde angehalten. Benneth musste aussteigen, wurde in eine Wohnung geführt. Ihm fiel gerade noch auf, dass hier die Einrichtung fehlte, als einer der beiden Unbekannten ihm eine Pistole an die Schläfe setzte.

„Michael Benneth, werden Sie uns die angefragten Kontakte und Dokumente geben und uns weiterhelfen?“

Michael Benneth zögerte. Er hatte nicht mit diesem Überfall gerechnet. Er wollte Zeit gewinnen, Zeit, in der er hoffte, die Polizei verständigen zu können.

„Ich habe einen Teil der Informationen bei mir, aber nicht alles. Ich weiß nicht, ob ich das Material zu Ihrer speziellen Anfrage überhaupt bekomme.“

„Sie hatten eine Woche Zeit, darüber nachzudenken.“

„Ich kann es nicht“, stotterte Benneth. Ihm wurde mehr und mehr bewusst, in welch aussichtsloser Lage er sich befand. Er fühlte das kalte Metall der Pistole auf seiner Schläfe.

„Sie weigern sich?“

Benneth sagte nichts, er hoffte auf eine Wendung. In diesem Moment ertönte ein Schuss: ein durch einen Schalldämpfer gedämpftes Plopp. Die Leiche wurde am folgenden Morgen in einem Sarg in einem Beerdigungsinstitut entdeckt. Auf dem leblosen Körper lag eine kleine Skulptur des ägyptischen Gottes Osiris.

Zwei Tage später. Paul Harrington saß in seinem Büro des Foreign, Commonwealth and Development Office und blätterte in der Zeitung. Er sah die kurze Nachricht über den Mord an Michael Benneth, faltete die Zeitung zusammen, beantragte sofortigen Urlaub, packte sein Laptop und einige Unterlagen in seine Aktentasche, verließ das Ministerium und fuhr nach Birmingham. Ein Freund besaß dort in der Nähe ein kleines Wochenendhaus. Für seine Nachbarn würde er sich auf einer längeren Dienstreise befinden. Auf Anrufe mit einer unbekannten Nummer reagierte er nicht.

Paul Harrington wollte schnell Karriere machen: Als Student engagierte er sich für Entwicklungsprojekte, trat für einen Technologietransfer ein. Als einer der Abschlussbesten seines Jahrgangs in Oxford bewarb er sich beim Außenministerium – er wollte hinaus in die Welt. Nach dem Studium hatte er sich Abwechslung in seinem Beruf gewünscht. Doch er war jetzt einunddreißig Jahre und arbeitete seit zehn Jahren im Außenministerium, Ressort Ägypten, und hatte sich daran gewöhnt, stets einen dunkelblauen Anzug zu tragen. Zwar arbeitete seine inzwischen von ihm geschiedene Ehefrau als Professorin, jedoch konnten sie trotz der beiden Gehälter keine großen Sprünge machen. Am Anfang seiner Karriere fand er die Zusammenarbeit mit ägyptischen Behörden noch interessant, sie wurde aber im Laufe der Jahre für ihn immer langweiliger.

Auf einer seiner seltenen Reisen im Auftrag des Ministeriums nach Ägypten wurde er von einem der dortigen Kollegen angesprochen, ob er nicht mit dem Verkauf ägyptischer Statuen sein Gehalt aufbessern wolle. Für den sicheren Ablauf würden sie sorgen, außerdem wären Kopien dabei, die jederzeit ausgeführt werden dürften. Harrington stimmte zu und kam so zu einem guten Zusatzverdienst. Bedingt durch die Unzufriedenheit mit der Arbeit im Ministerium wurde er ein zunehmend wichtiger Händler. Zur weiteren Verbesserung seiner Einnahmen wurde ihm nach einem offiziellen Dinner angeboten, Informationen über Mitarbeiter seiner Behörde zu verkaufen. Harrington fand nicht nur Gefallen daran, sondern arbeitete selbst mit an einem größeren Plan, der hier in England umgesetzt werden sollte: dem Osiris-Projekt.

Der ägyptische Wirtschaftsattaché Gamal Al-Fassi saß in einem Club in London und vergnügte sich bei der Show mit leicht bekleideten Damen. Er war hier kein seltener Gast. Immer wenn die Reisen ihn in die Stadt führten, entspannte er sich an diesem Ort. Vor wenigen Minuten hatte eine der Damen eine Flasche Champagner mit ihm geteilt, war dann verschwunden, Gamal Al-Fassi verspürte den Drang, auf die Toilette zu gehen, stand auf, wurde ohnmächtig und fiel zu Boden. Schnell wurde das Licht in diesem Teil des Clubs stark gedimmt, zwei Bodyguards erschienen, trugen den leblosen Körper durch die Hintertür in einen SUV und fuhren ihn in die Nähe von Tilbury, wo sie ihn bei beginnender Ebbe in die Themse warfen. zwei Tage später bargen Fischer die Leiche aus dem Channel.

Drei Tage nach Lennons Einreise landete Harry Broth alias Gilbert McArthur mit einer Maschine aus Kairo in London Heathrow. Er versuchte, locker aufzutreten, und legte seinen Pass dem Immigration Officer vor. Aber er war aufgeregt, fühlte den Schweiß auf dem Hemd unter seiner Jacke. Für die Behörden war Harry Broth tot, gestorben zwei Tage vor seiner Entlassung aus dem Her Majesty Prison (HMP) in Birmingham. Ein Coup. Freunde hatten seinen leblosen Körper aus dem Gefängnis geschmuggelt, einen verstorbenen Obdachlosen, Gilbert McArthur, begraben – und Harry Broth nahm dessen Identität an. Als Matrose reiste er nach Ägypten und lebte dort als Gilbert McArthur.

Der Beamte prüfte das Dokument, scannte es und blickte in die Polizeidatei. Er besah sich das sonnengegerbte Gesicht, sah wiederholt in den Pass, las, dass der Einreisende länger in Ägypten gelebt hatte. Er blickte Harry Broth wieder an und gab ihm dann kommentarlos den Pass zurück. Der Beamte war zwar skeptisch, unterließ aber weitere Nachforschungen. Immerhin befand sich jetzt eine Kopie sowie der Eintrag über den Tag der Einreise im Polizeicomputer.

Broth schnappte sich seinen Pass und lief zum Gepäckband. Als er dort stand und wartete, fiel ihm auf, dass er immer noch aufgeregt war und seinen Pass in der Hand hielt. Schnell steckte er ihn in eine Jacketttasche. Als er endlich am Taxistand ankam, atmete er tief durch. Die Luft war zwar hier nicht besonders gut, aber kühl, und sie roch für ihn nach England. Er musste beinahe eine halbe Stunde warten, bis er an der Reihe war. Eine Stunde später checkte er in einem kleinen Hotel in Brixton ein.

In London hatte Chief Inspector Cornelia Walters die Untersuchung zum Tod von Michael Benneth und Gamal Al-Fassi übernommen. Die vierundfünfzigjährige Wolters hatte mit der Aufklärung anderer Verbrechen eigentlich schon genug zu tun, als sie die Fälle auf ihren Tisch bekam.

„Michael Benneth war ein höherer Beamter des Department for Business, Energy & Industrial Strategy. Das Ministerium erwartet eine schnellstmögliche Aufklärung des Falles von uns“, erklärte ihr Chef Chief Superintendent Jonathan Williams.“

„Steckt da mehr dahinter?“

„Der MI6 hat sich zuerst mit dem Fall beschäftigt.“

„Wird Michael Benneths Tod mit Spionage in Verbindung gebracht?“

„Es gab Hinweise, die sich aber offensichtlich nicht bestätigt haben.“

„Das heißt, die haben den Fall an uns weitergereicht.“

„Sprechen Sie zuerst mit denen. Und es gibt noch den Mord an dem ägyptischen Wirtschaftsattaché Gamal Al-Fassi.“

„Könnten diese beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben?“

„Keine Ahnung. Finden Sie das heraus.“

Connie Wolters war bereits vierundzwanzig Jahre als Detective Chief Inspector beim Criminal Investigation Department, CID, in London. Die selbstbewusste Frau mit ihren kurzen roten Haaren leitete ihre Abteilung unaufgeregt, aber bestimmt. Weil London Regierungssitz war und Sitz wichtiger Zentralbanken, hatte das CID immer wieder Fälle zu bearbeiten, bei denen internationale Zusammenarbeit erforderlich war – solche waren beinahe zur Gewohnheit geworden. Für die unverheiratete Wolters war die Arbeit bei der Polizei der Lebensmittelpunkt, ihr Privatleben steckte sie oft zurück.

Da bei dem Mord an Michael Benneth auch Spionage mit im Spiel sein konnte, hatte der MI6 die ersten Untersuchungen vorgenommen. Diesen zufolge wurde Michael Benneth bestochen, es fanden sich allerdings keinerlei Hinweise, welche vertraulichen Unterlagen er an eine fremde Macht weitergegeben haben könnte. Für den MI6 gab es keinen Zusammenhang mit dem Mord an Gamal Al-Fassi.

„Wir sehen, dass Benneth seit vielen Jahren mit antiken Gegenständen gehandelt hat. Wir haben Beweise gesucht, dass er irgendwann in die Fänge eines ausländischen Geheimdienstes geraten sein und diesen mit Dokumenten versorgt haben könnte, fanden aber keine“, erklärte der für diesen Fall verantwortliche Abteilungsleiter des MI6, George Greenfield. „Hier und da gab es einen Hinweis, der sich aber nicht bestätigte.“

„Welcher Geheimdienst?“

„Wie ich bereits sagte, darüber haben wir nichts gefunden.“

„Um welche Art von Dokumenten könnte es sich handeln?“, fragte Wolters weiter.

„Wir gehen davon aus, dass es um energiepolitische Dinge ging. An etwas anderes kam Michael Benneth nicht heran. Es war sein Arbeitsgebiet.“

„Es sei denn, noch weitere Mitarbeiter des Ministeriums sind daran beteiligt?“

„Das können wir nicht ausschließen“, erklärte Greenfield.

„Gibt es Beweise oder sind es Spekulationen, dass Michael Benneth von einem fremden Geheimdienst zur Herausgabe von Informationen erpresst worden sein könnte? Sehen Sie irgendeine Verbindung zwischen diesem höheren Beamten, der illegal mit antiken Artefakten gehandelt hat, und dem Tod des ägyptischen Attachés Gamal Al-Fassi?“ Wolters hatte den Eindruck, dass Greenfield mehr wusste.

„Ms Wolters, wie ich bereits sagte, können wir vom MI6 darüber nur spekulieren, was nichts zur Sache beiträgt und uns vielleicht auf eine falsche Fährte führen würde. In der Tat haben wir nichts Konkretes über Michael Benneth und seine mögliche Spionagearbeit. Allerdings haben wir kleine antike Statuen in seiner Wohnung gefunden. Es steht ihnen natürlich frei, darüber zu spekulieren, dass die Morde an Michael Benneth und Gamal Al-Fassi mit einer möglichen Spionagetätigkeit etwas zu tun haben.“

„Was wissen Sie über die Vorgeschichte von Michael Benneth?“, fragte Wolters hartnäckig weiter. „Die Wohnung wurde sicherlich durchsucht und die Familienangehörigen verhört.“

„Wir können Ihnen die Protokolle des MI6 geben. Sie enthalten allerdings nicht besonders viel Interessantes.“

„Der MI6 hat die Wohnung durchsucht, und es wurde wahrscheinlich eher nach Staatsgeheimnissen gefragt?“

„Genau.“

„Ihre Abteilung hat nicht weiter nachgeforscht?“

„Nein. Zum Verbrechen und der Vorgeschichte wissen wir wenig.“

„Wäre es nicht an der Zeit, hier nachzuhaken? Es liegen Verbrechen wie verbotene Einfuhr von antiken Funden, mögliche Bestechung und Mord vor.“

„Natürlich. Ja, aber da wir keine Anhaltspunkte für eine Spionagetätigkeit gefunden haben, wurde der Fall bei uns abgeschlossen.“

„Und Sie sind sicher, dass es nicht noch weitere Spione in diesem Umfeld gibt?“

„Wir haben diesbezüglich keine weiteren Erkenntnisse.“

Für Wolters war der Fall mysteriös. Warum gab der MI6 diesen Fall ab, obwohl er etwas mit Spionage zu tun zu haben schien?

„Das ist genau der Punkt. Spionage ist hier ungeklärt. Das Einzige, was wir haben, sind ein toter Regierungsbeamter und ein toter ägyptischer Attaché.“

Wolters saß ihrem Chef John Williams in dessen Büro in Scotland Yard in London gegenüber. Die erfahrene Chief Inspectorin der Kriminalpolizei vermutete zwar Zusammenhänge, hatte aber keinerlei Beweise in die Hand bekommen. Aber sie hatte immer wieder Fälle erlebt, wo Spionage mit Gewaltverbrechen einherging. Selbst in den Reihen der Polizei gab es solche Fälle.

Cornelia Wolters galt als erfahren und resolut, aber freundlich. Sie setzte sich allerdings bei der Aufklärungsarbeit Kollegen gegenüber oft mit ihrer Meinung durch, was am Ende nicht unbedingt schneller zum Ziel und manchmal zu Verstimmung führte. Da sie integer war, unterließ Williams manch gut gemeinte Rüge. Privat war sie nicht so erfolgreich – zwei langjährige Beziehungen zerbrachen an ihrem Beruf. Für Wolters war der wichtiger.

„John, der MI6 vermutet, dass Benneth etwas mit diesem illegalen Handel zu tun haben könnte, möglicherweise erpresst und zur Spionage gezwungen wurde. Das könnte ein Ansatzpunkt sein, um herauszufinden, wer hinter dem Mord an ihm steckt. Und vielleicht hat es etwas mit dem Mord an Al-Fassi zu tun.“

Williams schaute gedankenversunken zum Fenster hinaus. Er kommentierte das erst einmal nicht, bis er sich umdrehte und meinte: „Unter Umständen haben die beiden Morde tatsächlich etwas miteinander zu tun, und die Wege führen nach Ägypten.“

„Das könnte durchaus sein.“

„Aber wieso kommt vom MI6 keine Unterstützung?“

„Die wollen ihren eigenen Kram machen. Und es geht um eine befreundete Macht.“

Er überlegte weiter. „Gut. Was sind Ihre nächsten Schritte, Connie?“

„Wir müssen herausfinden, was Michael Benneth neben seiner Arbeit im Ministerium gemacht hat.“

„Damit könnten wir auf die Spuren seines Mörders, vielleicht auf die von Gamal Al-Fassi kommen.“

„Okay, an die Arbeit“, sagte Williams, „da es um den Mord an einem Ministeriumsmitarbeiter geht, diesen Fall bitte mit hoher Priorität bearbeiten.“ Er ging zur Tür und öffnete sie. Er konnte heute nichts weiter beitragen. Wolters verließ das Zimmer und hielt erst einmal beim Getränkeautomaten. Dort atmete sie tief durch: Sie hatte genug Fälle, die mit hoher Priorität bearbeitet werden sollten.

Wolters und ihre beiden Constables Samuel Bittler und Chris Howe gingen die Fakten zum Mord an Benneth und Al-Fassi durch. Inzwischen war bekannt, dass der Attaché vergiftet worden war.

Sie wollten sich als Erstes auf den Mord an Michael Benneth konzentrieren und beschlossen, noch am selben Tag eine Durchsuchung von seiner Wohnung zu machen. Sie teilten seiner Frau Kathleen Benneth mit, dass die Polizei vorbeikommen würde. Wolters informierte die Spusi und zusammen fuhren sie nach Wembley.

Kathleen Benneth öffnete nach zweimaligem Läuten die Haustür ihres zweistöckigen Einfamilienhauses. Sie war eine gut gekleidete Dame, der die erneute Hausdurchsuchung offenbar nicht passte. Sie empfing sie mit den Worten: „Obwohl mein Mann tot ist, müssen Sie die Familie erneut belästigen?“

Wolters und die Sergeants traten ein. „Ms Wolters, dass Ihr Mann ermordet wurde, finden wir genauso schrecklich wie Sie. Er war allerdings in illegale Geschäfte mit antiken Funden und möglicherweise Spionage verwickelt“, sagte Wolters und schaute sie an. Benneth sah zur Seite.

„Ms Benneth, wir gehen davon aus, dass Sie von den Betrügereien Ihres Mannes gewusst haben“, ergänzte Wolters. „Und wir wollen nicht nur herausfinden, wer die Leute im Hintergrund sind, sondern ebenso, wer Ihren Mann umgebracht hat.“

„Ich, ich hatte davon keine Ahnung.“

„Wovon hatten Sie keine Ahnung?“

„Von dem Handel mit Antiquitäten.“

„Das sollen wir Ihnen abnehmen?“, fragte Wolters. „Sie haben wahrscheinlich über Jahrzehnte mit antiken Gegenständen gehandelt.“

Ms Benneth sagte nichts dazu. In der Zwischenzeit war die Spusi dabei, die einzelnen Räume zu inspizieren und Ordner und PCs einzusammeln. Wolters lief die Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Als sie beinahe oben angekommen war, sah sie, wie eine Tür vorsichtig geschlossen und sofort versperrt wurde. Sie eilte die restlichen Stufen hinauf, klopfte und fand die Tür verschlossen. „Polizei. Machen Sie die Tür auf!“

Sie hörte, wie innen ein Fenster geöffnet wurde. Sie schaute im Treppenhaus nach unten, sah einen der Officer und rief: „Officer, nehmen Sie die Person fest, die aus dem oberen Stockwerk fliehen will!“ Wolters rannte die Treppe hinunter und blickte durch die offene Eingangstür. Sie sah, wie zwei Beamte einer Person hinterherrannten, diese war allerdings um einiges schneller. Wolters rannte zu einem der Polizeiwagen, stieg ein und folgte dem Flüchtenden. Sie konnte den Unbekannten überholen, bremste abrupt vor ihm, stieg aus, der konnte ihr ausweichen, und sie rannte der Person hinterher, die jetzt in eine Seitenstraße abbog. Inzwischen folgte ihnen ein weiterer Polizeiwagen – Wolters hörte die Sirenen. Sie war jetzt bis auf circa zehn Yards an den Flüchtenden herangekommen, als der abrupt stehen blieb, sich umdrehte und mit einer Pistole auf Wolters zielte. Die machte blitzschnell einen Schritt zur Seite, zog ihre Dienstwaffe und schoss bewusst vorbei. Der Unbekannte ließ seine Waffe sinken.

„Werfen Sie die Waffe weg und legen Sie sich auf den Boden!“ In dem Moment stoppte ein Polizeiauto neben ihnen, zwei Beamte stiegen aus und nahmen die Person fest. Wolters stand noch immer heftig schnaufend daneben.

„Glückwunsch, Ms Wolters“, sagte einer der Beamten.

„Ich muss wieder mehr trainieren“, keuchte diese.

„Aber dafür hat es gereicht.“

„Kennen Sie diese Person, Officer?“

„Irgendwo habe ich ihn schon einmal gesehen. Unbekannt ist er uns nicht.“

„Bringen Sie ihn ins Kommissariat.“ Sie sah noch, wie der Unbekannte im Polizeiwagen weggefahren wurde, und sagte: „Sehen wir uns weiter im Haus Benneth um. Vielleicht gibt es noch mehr Überraschungen.“

Sie liefen bis zu ihrem Polizeiwagen und fuhren zurück. Im Haus baten sie Ms Benneth zu einem Verhör.

„Ms Benneth, was machte dieser Mann in Ihrem Haus?“

„Keine Ahnung. Habe ich noch nie gesehen.“

„Wenn Sie uns Märchen erzählen wollen, werden wir Sie jetzt mitnehmen und ein paar Tage in Untersuchungshaft behalten.“

Benneth schwieg.

„Sie möchten wirklich nicht unsere Frage beantworten?“

„Ich möchte meinen Anwalt sprechen.“

„Natürlich, Ms Benneth.“ Ihr Entschluss stand fest.

„Officer, bringen Sie Ms Benneth ins HMP. Ihr Anwalt kann sie im Untersuchungsgefängnis besuchen.“

Nachdem Benneth abgeführt worden war, durchsuchte Wolters mit ihren Mitarbeitern und der Spusi das Haus weiter. Wolters ging hinauf in das Zimmer, aus dem der Unbekannte geflohen war. Sie blickte durch das offene Fenster und sah ein kleines Vordach, über das der Flüchtende mit zwei Sprüngen erst einmal entkommen konnte. Er hatte das Zimmer zur Flucht benutzt – er musste das Haus also gut gekannt haben, dachte sie. Im Zimmer konnte sie nichts Auffälliges finden. Sie suchte weiter, bis Constable Howe nach ihr rief. Sie ging hinunter und beide folgten einer Treppe ins untere Stockwerk. An einer offenen Kellertür stand der Officer und sagte mit einem leichten Grinsen:

„Ich habe einen Schatz entdeckt.“

Wolters schaute verdutzt und blickte in den Keller hinunter. Dort sah sie erst einmal nichts Ungewöhnliches, bis der Officer an ihnen vorbei an eine Rückwand lief. Dort drehte er ein Regal, bis sie auf eine weitere Regalwand voller kleiner Statuen und Reliefstücke blickten.

„Falls die echt sind, steht hier ein Vermögen“, äußerte Wolters und nahm eine Figur in die Hand. „Die könnte den Gott Osiris darstellen – den Gott der Unterwelt. Ich habe eine ähnliche im British Museum gesehen.“

„Hatte der tote Michael Benneth nicht auch so eine auf sich liegen?“, fragte Bittler.

„Richtig. Offenbar gibt es Sammler dafür. Und offenbar eine ganze Menge, wenn ich diese Anzahl hier sehe. Und sehen Sie, hier ist eine Reihe weiterer kleiner Statuetten. Dieser Falke – stellt der nicht den Gott Horus dar? Und hier die Bastet-Katze. Eine größere Figur stand bei meiner Mutter im Regal – natürlich eine Nachbildung. Und die Uräusschlange. Hier: Anubis und eine Reihe Frauen-Skulpturen.“

„Madam, wir sollten jemanden vom British Museum verständigen, der sich das anschaut. Ich denke, das sollten Spezialisten machen.“ Eine Beamtin der Spusi war an sie herangetreten.

„Lassen Sie alles sichern, bis die Sachen abtransportiert sind.“

Wolters sah sich weiter um, entdeckte aber kein weiteres Versteck. Sie fragte sich, an welcher Stelle der MI6 noch Figuren gefunden haben könnte. Greenfield hatte so etwas erwähnt. Dieses Versteck hatten sie nicht entdeckt.

„Suchen Sie den Fußboden genau ab.“ Wolters erinnerte sich an Fälle, wo Verstecke noch tiefer unter einem Haus gefunden wurden. Bittler und sie gingen wieder ins Erdgeschoss. Dort meldete sich Wolters‘ Telefon. Interessiert nahm sie ab und ein Officer berichtete.

„Die festgenommene Person heißt Colin Plogg und ist uns bekannt. Er wurde bereits in der Vergangenheit wegen Hehlerei, Betrug und Erpressung verurteilt.“

„Das passt. Dann war der Nachmittag also erfolgreich.“

„Connie, ich erinnere mich, dass wir den Plogg vor Jahren in einem bestimmten Pub in London festgenommen haben, im Lions Inn. Dort treiben sich vermutlich noch mehr von denen herum.“

„Dann werden wir morgen Abend diesen Pub besuchen.“

„Oh, hoffentlich kommen wir dazu, unser Bier zu trinken.“

„Sicherlich, wir gehen aber beruflich dorthin. Vorher unterhalten wir uns noch einmal mit Ms Benneth.

17:30 Uhr und der Feierabendverkehr war so dicht wie immer in London. Mit eingeschalteter Sirene versuchte Wolters, schneller voranzukommen. Eine Stunde später hielten sie vor dem HMP. Ms Benneth saß bereits im Vernehmungsraum, als Wolters eintrat. Sofort begann sie gegen ihre Festnahme zu protestieren.

„Ms Benneth, sobald Sie unsere Fragen beantwortet haben, dürfen Sie nach Hause gehen. – Seit wann und mit wem machte Ihr Mann die Geschäfte mit den antiken Gegenständen?“

Ms Benneth blickte zur Tür und schwieg. Wolters stellte ihre Frage noch einmal.

„Ms Benneth“, wiederholte Wolters ihre Frage auch noch ein drittes Mal. „Wie haben Sie und Ihr Mann diese wertvollen Stücke erhalten? Wer hat sie gebracht?“

Benneth blickte weiterhin bewegungslos zur Tür.

„Ms Benneth, wenn Sie jetzt reden, wird der Richter unter Umständen mildernde Umstände gelten lassen. Falls nicht, droht eine Strafe wegen unerlaubten Besitzes und Verkaufs von antiken Stücken, Spionage und Mord.“ Wolters wollte Benneth mit „Spionage und Mord“ provozieren.

„Mord?“, äußerte Benneth entrüstet und schaute mit einem Mal ungläubig zu Wolters. „Und mit Spionage habe ich nichts zu tun.“

„Sie geben aber zu, zusammen mit Ihrem Mann mit antiken Stücken gehandelt zu haben.“

Ms Benneth gab wieder keine Antwort.

„Sie wussten aber von der Spionagetätigkeit Ihres Mannes.“

„Keine Ahnung, was er in seiner Freizeit gemacht hat.“

„Könnte er in seiner Freizeit jemanden umgebracht haben?“