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Wir brachten nicht nur die Straßenbahn Nummer 5, die durch unser Viertel fuhr, außerplanmäßig zum Halten und stiegen in fremde Gärten ein, sondern schlugen uns auch mit der autoritären Haltung mancher Väter und mancher Lehrer herum. Wir wuchsen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auf. Viele unserer Eltern waren nach dem Krieg mit nahezu Nichts aus ihrer alten Heimat geflohen und waren froh, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Für viele Familien war es schon Wohlstand, wenn sie in den ersten Jahren genügend Heizmaterial und Essen hatten. Wir Kinder fanden diesen Zustand damals nicht ungewöhnlich, da wir alle in derselben Situation waren. Das änderte sich aber mit den Jahren: Die Väter brachten mehr Geld nach Hause und wir konnten uns ein paar neue Sachen leisten. Die meisten von uns gingen damals erst einmal auf eine Realschule. Alle aus unserer Klasse erlernten einen Beruf, der ihnen eine gesicherte Existenz ermöglichte. Einige gingen weiter auf Fachhochschulen oder Universitäten und promovierten. Eine Klassenkameradin habilitierte sich in Geschichte. Wir hatten Stärken und nutzten sie: lernen und nicht aufgeben. Wir wollten raus aus der Enge der kleinen Wohnungen und weg von dem Sparzwang; wir wollten zeigen, was wir konnten; wir hatten Perspektiven und nutzten unsere Chancen. Die Arbeitswelt brauchte gute junge Leute. Wir hatten kein Problem, einen Job zu finden. Den Regierungen war damals klar, dass das Land nur dann die notwendigen qualifizierten Fachleute bekommen würde, wenn sie uns, die Kinder der kleinen Leute, finanziell förderten. Aus diesen Jahren erzähle ich meine Geschichten. Nicht alles, was ich berichte, muss sich so abgespielt haben. Diese Erinnerungen habe ich im Laufe mehrerer Jahre aufgeschrieben. Oft nutzte ich die Zeit auf nächtlichen Transatlantikflügen dazu. Jedes Mal, wenn ich später ehemalige Klassenkameraden getroffen hatte, wurde die eine oder andere Episode verändert oder ergänzt. Manchmal gab es unterschiedliche Sichtweisen.
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2020
Uwe Trostmann
Wie die Nummer 5 zumHalten kam
Jugenderinnerungen
Impressum
© 2020 Uwe Trostmann
COVER DESIGN: Jochen Pach, www.oryxdesign.de
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-08262-5
Hardcover:
978-3-347-08263-2
e-Book:
978-3-347-08264-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
In diesen Kurzgeschichten erzählt der Autor Erinnerungen seiner Jugendzeit in Freiburg Haslach. Nicht alles, was er berichtet, muss 100 Prozent richtig sein. Manche Gegebenheiten, Personen oder zeitliche Abläufe mögen sich tatsächlich oder in der Erinnerung eines Lesers vielleicht anders abgespielt haben.
Dank an meine Lektorin Frau Friederike Schmitz (www.prolitera.de) für ihre wertvollen Anmerkungen und Korrekturen.
Dr. Uwe Trostmann wurde 1952 im Schwarzwald geboren. Aufgewachsen und gelebt hatte er die meiste Zeit in Freiburg und im Breisgau, bevor es ihn vor wenigen Jahren noch weiter südlich nach Kandern zog.
Uwe Trostmann hatte Chemie und Pharmakologie studiert und als Naturwissenschaftler über 30 Jahre in der pharmazeutischen Industrie gearbeitet. Beruflich und privat bereiste der Autor große Teile der Welt und ist auch heute noch sehr viel unterwegs. Zuhause fühle er sich aber im Schwarzwald.
„Wie die Nummer 5 zum Halten kam“ ist eine Sammlung von Erzählungen aus der Jugendzeit in Freiburg-Haslach. Der Autor hatte schon vor vielen Jahren mit dem Aufschreiben der ersten Erinnerungen begonnen, die sich nach und nach zu einer zeitlichen Abfolge von Geschichten zusammensetzten.
Weitere Bücher von Uwe Trostmann sind:
„Fischhaut“, erschienen 2020
„Fake oder die Wahrheitsmacher“, 2.Auflage erschienen 2020
www.uwetrostmann.de
Uwe Trostmann
Wie die Nummer 5 zumHalten kam
Jugenderinnerungen
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ein neuer Anfang
Angekommen in den Fünfzigern
Das alte Quartier
Unsere Straße
Unsere Wohnung – meine Familie
Vater und die Medizin
Treffpunkt Sandkasten
Fußball im Hinterhof
Winterkind
Eine Eisbahn
Mutter stillt Vaters Fleischhunger
Wir waschen kollektiv
Es werde Licht – helles Licht
Beinahe Mormonen
Wie die Nummer 5 zum Halten kam
Vater verpasst mir Lederhosen
Frische Früchte gefällig?
Miese Stimmung
Ein Albtraum von einem Garten
Der ewige Soldat
Vater holt den Schlitten raus
Je billiger, desto besser
Hurra, das erste Plastik
Der Mann mit den Briketts ist da
Speckbohnen und Bratkartoffeln mit sauren Gurken
Vater ist jetzt schneller unterwegs
Mit dem Hund auf Hasenjagd
Meine erste große Reise
Der Ernst des Lebens beginnt
Das Wirtschaftswunder kommt ins Haus
Mit dem Glas-Isar in die Alpen
Realschulzeit
Ein Hut fliegt in den Schnee
Wo fließt der Don?
Der ungeliebte Sport
Geschichte, und die Sache mit den Bienen
Lehrer Weiß auf der Suche nach dem Verbotenen
Fräulein Zollers Musikstunde
Der Soldat lernt das Löschen und Retten
Mit dem Zug in die Ostzone
Vater plagt die Galle
Ich bekomme mein erstes großes Fahrrad
Vater und Mutter praktizieren Recycling
Der Konfirmand
Die Beatles kommen ins Wohnzimmer
Der Chemiebaukasten
Hundstage
Sommer am Baggersee
Meine Modelleisenbahn
Verdeckter Aufstand gegen den Tyrannen
Grass statt Lessing
T eenager-T reffen
Wir 68er
Eine Italienische Reise
Wir trampen durch Skandinavien
Fünf Jungs nach Norden
Die erste eigene Wohnung
Der Mann im Mond
Und so ging es weiter
Uwe Trostmann
Wie die Nummer 5 zum Halten kam
Jugenderinnerungen
Vorwort
Wir brachten nicht nur die Straßenbahn Nummer 5, die durch unser Viertel fuhr, außerplanmäßig zum Halten und stiegen in fremde Gärten ein, sondern schlugen uns auch mit der autoritären Haltung mancher Väter und mancher Lehrer herum. Wir wuchsen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auf. Viele unserer Eltern waren nach dem Krieg mit nahezu Nichts aus ihrer alten Heimat geflohen und waren froh, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Für viele Familien war es schon Wohlstand, wenn sie in den ersten Jahren genügend Heizmaterial und Essen hatten. Wir Kinder fanden diesen Zustand damals nicht ungewöhnlich, da wir alle in derselben Situation waren. Das änderte sich aber mit den Jahren: Die Väter brachten mehr Geld nach Hause und wir konnten uns ein paar neue Sachen leisten.
Die meisten von uns gingen damals erst einmal auf eine Realschule. Alle aus unserer Klasse erlernten einen Beruf, der ihnen eine gesicherte Existenz ermöglichte. Einige gingen weiter auf Fachhochschulen oder Universitäten und promovierten. Eine Klassenkameradin habilitierte sich in Geschichte.
Wir hatten Stärken und nutzten sie: lernen und nicht aufgeben. Wir wollten raus aus der Enge der kleinen Wohnungen und weg von dem Sparzwang; wir wollten zeigen, was wir konnten; wir hatten Perspektiven und nutzten unsere Chancen. Die Arbeitswelt brauchte gute junge Leute. Wir hatten kein Problem, einen Job zu finden. Den Regierungen war damals klar, dass das Land nur dann die notwendigen qualifizierten Fachleute bekommen würde, wenn sie uns, die Kinder der kleinen Leute, finanziell förderten.
Aus diesen Jahren erzähle ich meine Geschichten. Nicht alles, was ich berichte, muss sich so abgespielt haben. Diese Erinnerungen habe ich im Laufe mehrerer Jahre aufgeschrieben. Oft nutzte ich die Zeit auf nächtlichen Transatlantikflügen dazu. Jedes Mal, wenn ich später ehemalige Klassenkameraden getroffen hatte, wurde die eine oder andere Episode verändert oder ergänzt. Manchmal gab es unterschiedliche Sichtweisen.
Horst Heitzler, der leider zu früh verstarb, und Peter Tritschler haben mir sehr geholfen. Beide Freunde waren schon in den ersten Jahren mit dabei. Auch wenn wir uns später für einige Jahrzehnte aus den Augen verloren hatten, so trafen wir uns doch wieder. Horst und Peter danke ich ganz herzlich für ihre Anregungen und ihre Hilfe.
Ein neuer Anfang
Vielleicht gibt es tatsächlich eine Vorbestimmung. Ich erinnere mich, dass ich oft einen neuen Anfang suchen musste. Das passierte mir in meinem privaten Leben ebenso wie in meinem beruflichen. Ich wurde Wissenschaftler, genauer Chemiker, und später medizinischer Wissenschaftler. Vieles im Labor, ich möchte behaupten, das meiste, lief nicht so, wie es auf dem Papier geplant war. Da fügten sich chemische Bindungen nicht zu neuen Substanzen zusammen, oder wenn nach 20 Versuchen der neue Stoff tatsächlich synthetisiert worden war, zeigte er entweder nicht die gewünschten chemischen Eigenschaften oder später nicht die gewünschten biologischen Wirkungen im Zellexperiment.
Noch einmal von vorne, zurück auf Start war die Devise. Langanhaltende Enttäuschung war nicht erlaubt. Als Wissenschaftler lernte ich, die Flinte nicht zu früh ins Korn zu werfen. Diese Beharrlichkeit hatte ich mir schon als Kind aneignen müssen, denn meine Mutter gab mir zu verstehen, dass das einmal nicht Gelungene so oft wiederholt werden musste, bis es klappte. Fiel mein Bauklotzturm zusammen, so sollte ich ihn wieder aufbauen, aber so, dass er stehen blieb. Gefiel mir ein Bild nicht, sollte ich es neu malen. Konnte ich eine Rechenaufgabe nicht lösen, ermutigte mich meine Mutter so lange nachzudenken, bis ich das Resultat gefunden hatte. Manchmal war es später eine Art Wut über den Misserfolg, die mich zum erneuten Versuch antrieb.
Und so lernte ich, vermeintlich unlösbare Aufgaben zu lösen. Handwerklich bin ich nicht mit besonders viel Fingerspitzengefühl ausgestattet. Dennoch baute ich später ein paar Regale oder Lautsprecherboxen selber und sägte und schraubte so lange daran herum, bis das Ergebnis gut war. Der Stolz auf die gemeisterte Aufgabe war und ist meine antreibende Kraft. Ähnlich muss es anderen in der Jugend ergangen sein, die danach auch Naturwissenschaftler geworden waren. Nur so waren sie später in der Lage, Experimente im Labor so lange zu wiederholen, bis sie das gewünschte Ergebnis bekamen oder sagen konnten, so geht es nicht. Ich konnte es später verschmerzen, dass ich vom Vater nie ein Lob erhalten hatte. Er hatte die meisten Sachen gar nicht erst angepackt, wenn er nicht zu 100 Prozent sicher gewesen war, dass er die Aufgabe bewältigen konnte. Später erkannte ich, dass es solche bei ihm nicht häufig gegeben hatte.
In meinem privaten Leben brauchte ich zum Glück nicht 20 oder mehr Anläufe, bis eine neue Beziehung stand, eine Wohnung oder ein Haus gebaut worden war. Das hätte mich schon frühzeitig die letzten Kräfte gekostet und mein Konto schnell geleert. Bis heute habe ich es auf drei längerfristige Beziehungen gebracht. Dazwischen liegen ein paar kurzfristige.
Einige meiner Bekannten sind öfter umgezogen oder hatten mehr Jobs als ich. Doch einige taten sich schwer damit. Und das war mein Vorteil: Ein Ende ist immer schmerzhaft, ich kam aber schnell wieder auf die Füße. Im Labor hatte ich keine Zeit, tagelang über eine missglückte chemische Reaktion zu jammern. Stattdessen musste ich schnell Erklärungen finden und mir einen neuen Ansatz überlegen.
Meine Generation wuchs noch mit der Erwartung in die Arbeitswelt hinein, dass der erste Job bis zur Rente in ein und derselben Firma gemacht werden könnte. Doch bald wurden wir eines Besseren belehrt. Es begann die Zeit der Firmenübernahmen, in deren Folge Abteilungen und Aufgaben „konsolidiert“ wurden. Wir lernten schnell, dass das eine bessere Bezeichnung für einen Rausschmiss war. Personalberater machten uns Mut zu einem Neuanfang. Ein solcher sei immer eine neue Chance, sagten sie. Ich hatte Glück damit, andere weniger. Schon bald mussten wir lernen, dass sich dieses Karussell aus Firmenübernahmen, Umorganisationen oder Projektentscheidungen immer schneller drehte. Viele hielten diesem Druck nicht stand. Rückblickend stelle ich allerdings fest, dass gerade unsere Generation, die in den Fünfzigerjahren geboren wurde, recht gut damit umgehen konnte. Die meisten haben durchgehalten. Lag das auch an den schwierigen Startbedingungen? Hatten die uns für das Durchhalten geprägt?
Missglückte menschliche Beziehungen kann ich, wie die meisten, nicht so einfach wegstecken. Ich konnte diese Probleme weder mit meiner Labormethode lösen, noch hatte ich dafür einen Personalberater. Die Erfahrungen möchte ich dennoch nicht missen.
Jetzt bin ich dabei, mein Haus auszuräumen, das ich mit meiner ersten Frau vor 34 Jahren gebaut habe. Ich suche einen Neuanfang mit meiner Lebenspartnerin; wir bauen ein gemeinsames Haus in einer anderen Stadt. Ich bin jetzt 66 Jahre alt und frage mich, ob ich diesen Neuanfang auch noch so problemlos hinbekomme. Nachdem die ersten Kisten gepackt sind, merke ich den Unterschied: Hier geht es nicht um eine Erinnerung an gestern, sondern um Jahrzehnte. Meine Eltern sind vor zehn Jahren gestorben. Sie haben Erinnerungsstücke hinterlassen: Hochzeitsgeschirr, Fotoalben, Familienunterlagen. Unweigerlich beginne ich darin zu blättern. Unsere erste Wohnung in Freiburg. Klein war sie für heutige Verhältnisse. Meine Mutter steht auf dem Balkon. Offenbar hatte sie gerade Wäsche aufgehängt.
Angekommen in den Fünfzigern
Recht bescheiden und bunt hatte es bei uns angefangen. Bunt gemischt, beinahe multikulti nach heutigen Maßstäben: Aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Baden und Freiburg stammten die Nachbarn. Rudi, Horst, Kai, Christiane, Heiko, Werner, wir Kinder kannten keine Unterschiede. Wir wohnten im Freiburger Stadtteil Haslach, in einer Siedlung, die in den fünfziger und sechziger Jahren erbaut wurde. Aus heutiger Perspektive sahen die Häuser nicht nur nach Sozialwohnungen aus, es waren auch solche. Drei Stockwerke hoch, zwischen vier und acht Eingänge, drei Wohnungen auf jeder Etage.
Gleichmäßig waren sie gebaut, weiß verputzt, die Fensterrahmen weiß gestrichen. Der Fahrradkeller hatte einen Ausgang zum Hinterhof. Er war meist verschlossen, jeder sollte durch den Haupteingang kommen und gehen. Unser Hauseingang lag zur Straße, andere Häuser hatten ihn zum Hof. Vier Häuserblöcke waren um einen Hof gebaut. Der größte Teil des Platzes bestand aus einer Rasenfläche, an deren Enden jeweils rechteckige kleine Bereiche mit Steinplatten belegt waren. Darauf befanden sich Teppichstangen. Teppiche hatten schon viele Familien, denn ständig hing einer dort. Außer wenn es geschneit hatte, denn dann wurden die Teppiche mit der Oberfläche auf den Schnee gelegt, und unsere Mütter bearbeiten sie mit dem Teppichklopfer. Zurück blieb ein brauner Abdruck, den unsere Mütter mit Wohlgefallen betrachteten – denn der Teppich war nun sauber. Diese Häuserblocks waren unser Zuhause, der Ort, an dem wir wohnten und spielten. Von dort aus gingen wir später zur Schule. Das Viertel war sauber und gepflegt, jeder Bewohner sorgte dafür. Die Mieter der Erdgeschosse säuberten die Wege vor dem Haus, die anderen kümmerten sich um die Treppenhäuser.
„Wir sind Flüchtlinge“, sagte mein Vater. Er wollte damit klarstellen, dass er und Mutter ohne Hab und Gut aus dem Krieg gekommen waren. Er betonte im nächsten Satz aber auch, dass sie schon viel erreicht hatten. Ein gewisser Stolz klang mit, und er wollte sich auf keinen Fall in die zweite Reihe stellen. Vater organisierte für mich einen Vertriebenenausweis. Er meinte, das Papier könnte noch einmal nützlich sein. Als ich Jahre später bei der Wohnungssuche auf die Frage, ob ich Vertriebener sei, diesen Ausweis vorlegte, begriff ich, dass dieses Papier nichts wert war. Ich war kein Flüchtlingskind, sondern hier geboren. Warum sollte ein Nachkriegskind auch Vorteile haben?
Die Mitglieder sind nicht besonders groß. Mein Vater Erich, 1,68 Meter groß in seiner besten Zeit, schlank, lange Zeit durch seine körperliche Arbeit im Garten gut durchtrainiert, war ein cholerischer Mensch, der sich oft nicht unter Kontrolle hatte. Er sah diese Eigenschaft als Stärke an und setzte sie bewusst ein, wenn er bei Liselotte, meiner Mutter, etwas erreichen wollte. Seine dunklen, in früheren Jahren schwarzen Haare waren stets streng nach hinten gekämmt, beim Ausgehen mit Pomade. In seinem Auftreten machte sich seine lange Soldatenzeit bemerkbar: Wenn er konnte und durfte, spielte er den befehlenden Oberkommandierenden, wenn nicht, den unterwürfigen, befehlsempfangenden Soldaten. So sahen wir ihn aus dem Haus marschieren, mit gerader Haltung, den Hals in die Länge gezogen. Zu Hause hatte er seine Befehlsempfänger: meine Mutter und mich. Vater gab die Befehle, wir gehorchten. Meine Mutter hatte das im Dritten Reich gelernt, für mich aber waren seine Wutausbrüche schon in frühen Jahren verabscheuungswürdig.
Meine Mutter, eine kleine, mehr rundliche als schlanke Frau mit blonden Haaren, war im Vergleich zu meinem Vater still. Die Zeit während des Dritten Reiches und im Krieg hatte sie Gehorsam lernen lassen. Sie war die ideale Partnerin für Vater. Sie hielt Ordnung, wo er es nicht konnte, aber verlangte. Sie pflegte seine Kleidung, sie fand immer noch billigere Lebensmittelquellen, um den Zwang von meinem Vater zum Sparen entgegenzukommen. Mutter ließ sich viel von ihrem Mann gefallen, viel zu viel. Er brüllte sie an, er schlug sie, er demütigte sie verbal und vor anderen Frauen. Sie wurde wütend, sie weinte, sie spionierte ihm nach. Aber sie brachte zeitlebens nicht die Kraft auf, sich von seinen Fesseln zu befreien. Immerhin wusste sie auch zu genießen, wenn er sie ließ.
Heute, wo das Thema Flüchtlinge in Deutschland wieder aktuell ist, werden in den Familien die alten Erinnerungen wach, und die Medien bringen entsprechende Rückblicke. Viele von denen, die 1945 aus Ostpreußen oder Pommern gen Westen flüchteten, leben nicht mehr. Dennoch werden die alten Geschichten der Eltern und Großeltern wieder lebendig. Viele Kinder und Enkel erinnern sich.
In meiner eigenen Familie habe ich allerdings kaum etwas dazu erfahren. Für meinen Vater war das alles erledigt, und er versuchte, sich so gut wie möglich in seiner neuen Umgebung einzuleben. Er hielt auch nichts vom Trauern um die verlorene Heimat:
„Der Russe wird das Land nie wieder zurückgeben“, meinte er. Polen und Russland waren für ihn politisch dasselbe, da machte er keinen Unterschied. In meiner frühesten Jugend sah ich ab und zu eine Ausgabe des Ostpreußenblattes, aber es verschwand bald aus dem Haushalt. Suchte ich nach den Heften, wurde mir gesagt: „Das verstehst du noch nicht.“
Ich fand das sehr bedauerlich, weil ich die alten Bilder so interessant fand. Mutter erklärte mir, dass Ostpreußen für meinen Vater erledigt sei. Außerdem würde in dem Blatt Hetze betrieben. Gegen wen? Ich verstand das nicht so richtig, das Wort Hetze hörte sich für mich auch nicht so gut an.
An- und vor allem untergekommen waren meine Eltern, die aus Ostpreußen und Pommern kamen, in Südbaden: mein Vater zunächst bei der französischen Armee in Todtnauberg, meine Mutter in Freiburg und meine Großeltern mütterlicherseits am Kaiserstuhl.
Meine Eltern erzählten selten von ihrem Leben in der alten Heimat. Fing meine Mutter in meiner Gegenwart davon an, wurde sie schnell von meinem Vater zurückgepfiffen:
„Das will der Junge gar nicht hören.“
Für meinen Vater war das Hier und Jetzt die neue Heimat, und ich sollte nicht beeinflusst werden. Was eine selten gute Einstellung von ihm war. Noch heute hören wir die Schreihälse, die nach den Grenzen von 1939 rufen. Ihn zog es jetzt in die Berge, und er wanderte bei jeder Gelegenheit, wenn er nicht im Garten war. Mutter aber lebte bis zu ihrem Tod geistig in der alten Heimat weiter. Sie vermisste sie sehr. Sie war nie richtig in der neuen Heimat angekommen. Heute denke ich, dass sie ebenso traurig über ihre Situation in der Ehe mit ihm war. Kontakte durfte sie nur haben, wenn er es erlaubte. Und es waren nicht viele, die er ihr gestattete.
Meine Eltern versorgten mich nicht gerade bücherweise mit interessanten Informationen zur Geschichte der Vorfahren. Alles, was ich weiß, passt in wenige Sätze: Vater war in Königsberg aufgewachsen und 1933 Soldat geworden. Von diesem Jahr an war er nur noch an den Wochenenden und im Urlaub zu Hause gewesen. Nur selten machte er Andeutungen zu seinen Jungenjahren. Er und seine Freunde verbrachten viel Zeit mit dem Segelboot auf dem Fluss Pregel. Sie hatten die Boote selbst gebaut und segelten von Königsberg zum Frischen Haff. Wenn er darüber sprach, sah ich, wie sich das strenge Gesicht meines Vaters aufhellte. Das kam äußerst selten vor.
Über die Familie meines Vaters wurden keine Geschichten erzählt. Kein Wort zu Eltern, Geschwistern, Tanten. Eine einzige Fotografie existiert von den ernst blickenden Großeltern, Fritz und Johanna Trostmann, mit allen fünf Kindern: Lene, Paul, Erich, Willi und Ernst. Ich habe diese Großeltern nie kennengelernt. Gerne hätte ich mehr über sie erfahren. Was machte der Großvater, wie war sein Charakter? Und die Großmutter? Auf meine Nachfrage hörte ich lediglich, dass mein Großvater bereits während des Krieges in Ostpreußen starb, meine Großmutter kurz danach. Und die Vorfahren? Erst nach dem Tod meines Vaters fand ich Urkunden und ein paar Unterlagen in seinen Hinterlassenschaften. Erstaunlicherweise reichen sie bis 1754 zurück. Erichs Vater war Kutscher, seine Eltern übten handwerkliche Berufe aus.
Ernst, der jüngste Bruder, war im Krieg gestorben. Zu Paul hatte mein Vater keinen Kontakt, zu Lene und Willi nur ab und zu. Willi hat zwei Kinder, Alfred und Walburga, die ich noch heute jedes Jahr einmal treffe. Lene hat einen Sohn, den ich jedoch nicht kenne, und Paul hat keine Kinder.
Auch meine Mutter erzählte nicht viel über die Vergangenheit. Ein Vorfahr namens Carl Ludwig Hermann Ginnow wanderte mit seiner Familie über Bremen nach New York aus. Ihr Ziel war Oshkosh in Wisconsin, wo immer noch ein Teil der Familie lebt. Meine Mutter pflegte aber keinen Kontakt mit diesen entfernten Verwandten.
Und wie hatte meine Mutter die Flucht erlebt? Sie war auch über die Ostsee gekommen. War das eine Ferienreise? Immer waren sie vor „dem Russen“ geflohen, hieß es. Aber hatte sie mal einen gesehen? Auch ihre Mutter, meine Großmutter, hüllte sich in Schweigen. Das Erlebte muss schwerwiegend gewesen sein. Sie versuchten zu verdrängen. Für sie war alles vorbei: Wichtig war, dass sie lebten. Sie hatten Arbeit, eine warme, trockene Wohnung und zu essen.
Da ich vom Vater gelernt hatte, dass man nicht so viel fragen soll, bekam ich auch keine Antworten. Irgendwann hatte ich die Lust verloren, keine Antworten auf meine Fragen zu diesen Themen zu bekommen. Ich wuchs in Freiburg auf, hatte meine Freunde und hörte nur selten das Wort Vertriebene - mein Vater vermied es ganz und gar und verbot mir, es auszusprechen. Wahrscheinlich schwang für ihn in dem Wort ein Unterlegensein mit. Als Soldat wollte er kein Verlierer sein. Meine Mutter redete auf Geheiß vom Vater nicht mit mir darüber, sie musste schweigen. Jahrzehnte später habe ich es versäumt, nachzufragen. Als mein Interesse wuchs, waren die Eltern schon zu alt, um erzählen zu können. Hätten sie gewollt?
Manchmal bekam ich ein wenig davon mit, welche Schwierigkeiten sie als Flüchtlinge hatten, aber eher nebenbei. Weil die Wohnungsnot riesig war, wurden in der Nachkriegszeit Wohnungen und, falls nötig, auch einzelne Zimmer beschlagnahmt. Die Haus- und Wohnungsbesitzer waren gewiss nicht erfreut, und das schürte so manche Ressentiments. Meine Großeltern mütterlicherseits, Otto und Martha Bröker, die in Oberrotweil am Kaiserstuhl in der Nähe von Freiburg sesshaft wurden, bekamen das in den ersten Jahren tagtäglich zu spüren; sie hatten im Anbau eines Bauernhofs eine Zweizimmerwohnung zugewiesen bekommen. Ich erinnere mich, dass die vermietende Bäuerin auch zu uns unfreundlich war, und ab und zu fiel die eine oder andere Bemerkung über die Fremden. Dass die vom Geld der Einheimischen lebten und denen die Wohnungen wegnähmen – wenn ich so etwas heute, 60 Jahre später, höre, kommt mir das irgendwie bekannt vor.
Meine Großmutter beherrschte die Küche. Sie war eine kleine, etwas rundliche Frau, ihre langen Haare trug sie stets zu einem Dutt geknotet und verließ nie ohne Kopftuch das Haus. Großmutter verlor sich beinahe in der großen und spartanisch eingerichteten Küche. Der Herd wurde mit Holz befeuert. In den ersten Jahren gab es keinen Kühlschrank; eine Kammer diente dazu, die Lebensmittel frisch zu halten. Ein Bad gab es nicht. Waren wir zu Besuch bei ihr, so hatten wir uns in der Küche gewaschen. Ich war oft bei den Großeltern. Dort befand ich mich außer Reichweite meines herrschsüchtigen Vaters. Das wöchentliche Bad erfolgte in einer Wanne, in die ich als kleiner Junge gut hineinpasste. Großmutter machte dazu große Mengen Wasser auf dem Herd warm. Wenn ich eine Zeit lang eingeweicht war, wurde der Schmutz der vergangenen Woche von mir abgeschrubbt. Großvater sah sich die Szene mit einem verschmitzten Lächeln an.
Die Toilette war außerhalb der Wohnung. Ein überdachter Weg führte dort hin. Wasserspülung gab es erst Jahre später. Also musste man einen Eimer Wasser mitnehmen. Bibbernd lief ich als kleiner Junge ängstlich den Weg entlang, in einer den Eimer, in der anderen Hand eine Taschenlampe, denn weder draußen, noch auf jenem Örtchen gab es Licht. Im Winter, wenn alles eiskalt war, wurde im Flur abends ein Nachttopf bereitgestellt.
Im Wohn-Esszimmer stand ein riesiger graugrüner Kachelofen, der von der Küche aus befeuert wurde. Die warme eingebaute Bank war der Lieblingsplatz von meiner Mutter und mir. Dunkle lange Holzdielen machten den Raum zusätzlich gemütlich. Ich liebte diese Wohnung. Für mich wurde sie zum Rückzugsort an manchen Wochenenden und in den Ferien.
Meine Großeltern halfen unentgeltlich auf dem Hof, und offenbar verschaffte ihnen das etwas Respekt. Ich sehe noch heute Großvater: Ein kleiner, zufriedener Mann mit rundem Kopf ohne Haare, ein ehemaliger Dampflokführer, wie er mit seiner Schirmmütze und Strickjacke vor der Scheune sitzt und Maiskolben entblättert. Meistens sah ich ihn lachend oder spitzfindige Bemerkungen über andere Leute machen.
Mit der Zeit durfte ich mich auf dem Hof frei bewegen und sogar mit dem Bauern aufs Feld fahren. Am Anfang hatte er noch Ochsengespanne, später einen Traktor. Neben dem Bauern auf dem Lanz zu sitzen oder oben auf dem heugefüllten Wagen schaukelnd die Welt an mir vorbeiziehen zu lassen, das war für mich das Größte. Wenn ich im Stall bei der Fütterung geholfen hatte, bekam ich das eine oder andere Mal ein Ei geschenkt. Triumphierend lief ich damit zu meiner Großmutter. Großmutter konnte sich für mich freuen. Meine Mutter war froh, wenn ich bei den Großeltern sein konnte, denn hier bekam ich gutes Essen. Meine Großmutter saß an der Quelle.
Außerdem war sie eine gute Köchin, von deren Kenntnissen ich noch heute profitiere. Ich koche gerne und weiß gute Zutaten zu schätzen. Großmutter war ehrlich, genau und streng. Ich fühlte mich aber frei bei ihr. Ich spielte viel mit anderen Kindern auf der Straße oder war mit unserem Hund unterwegs. Selten machte sie mir Vorschriften. Sie verlangte aber von mir Pünktlichkeit und Ehrlichkeit. Die Kirchturmuhr zeigte mir die Zeit an. Hatte ich etwas kaputt gemacht, musste ich es gestehen. Eine Strafe gab es nicht, wenn ich etwas kaputtgemacht hatte, sondern dann, wenn ich es verschwiegen hatte.
Großvater war zehn Jahre älter als Großmutter. In meiner Erinnerung saß er in späteren Jahren meistens am Fenster, rauchte ab und zu eine seiner Zigarren und hörte Radio. In den letzten Jahren hatte ihm Großmutter eines der ersten Batterieradios geschenkt. Großvater war inzwischen schwerhörig, und so hielt er sich das Radio ans Ohr. Großmutter wollte nicht, dass das Radio den ganzen Tag in voller Lautstärke lief. Wenn ich nach Oberrotweil kam, war es mit der Ruhe vorbei, was Großvater zu der Bemerkung veranlasste: „Wenn du wieder weg bist, mache ich drei Kreuze.“ Ich rannte gerne durch die Wohnung und machte mich oft lustig über ihn. Er nahm es mir nicht übel, aber Großmutter zog mich dann an den Ohren aus dem Zimmer. Gesprochen hat Großvater nur wenig. Solange er noch laufen konnte, verschwand er gelegentlich zu einem befreundeten Winzer und kam singend in der Nacht wieder nach Hause. Jeder, der ihn auf dem Heimweg getroffen hatte, konnte berichten, dass Großvater weiße Mäuse im Dorf gejagt hatte. Großmutter versank vor Scham. Er nahm die anschließende Predigt gelassen hin. Ich war elf Jahre alt, als er starb. Ich war traurig, freute mich aber, als ich sein Batterieradio bekam. Viel Freude hatte ich allerdings daran nicht. Für meinen Vater waren die Batterien viel zu teuer, und so stand das kleine Radio lange ungenutzt herum, bis es eines Tages verschwand.
Bedingt durch Krieg und Vertreibung lebten nur wenige Mitglieder der weiteren Familie in Süddeutschland. Ab und zu kam der Bruder meiner Mutter aus Österreich zu Besuch. Onkel Kurt hatte noch im Krieg eine Österreicherin geheiratet und ließ sich nach Kriegsende in der Nähe von Wien nieder. Selbst bei diesen Treffen im Haus der Großeltern, erzählte kaum jemand irgendwelche Geschichten aus der alten Zeit. Ab und zu machte meine Mutter eine Bemerkung über die Flucht. Offenbar wollte die aber keiner hören, denn es ging niemand darauf ein. Das Erreichte wurde in den Vordergrund gestellt. Es näherten sich die Jahre des Wirtschaftswunders.
Erst in ihrem achtzigsten Lebensjahr unternahm meine Mutter eine Reise in ihre Heimatstadt Stettin. Was erwartete sie? Sie war mit der falschen Hoffnung gekommen, ihre Heimatstadt im alten Zustand wiederzusehen. Aber das alte Stettin existierte längst nicht mehr. Sie selbst hatte berichtet, dass die Stadt schon kaputt war, als sie flohen. Menschen, die Stettin in der Zwischenzeit besucht hatten, hatten sie vor falschen Vorstellungen gewarnt. Sie kam enttäuscht und innerlich zerbrochen zurück.
Immer wieder lese ich heute Bücher oder höre Geschichten von Ostpreußen, diesem „weiten Land“ voller Mysterien. Es ist eine Landschaft aus Wäldern, Seen und Meeresküste, mit besonderen Menschen, die dort lebten. Auf einer meiner Dienstreisen nach Allenstein sah ich einen winzigen, viel zu kleinen Ausschnitt davon. In einem Januar fuhr ich von Warschau aus mit dem Zug und klebte am Fenster wie ein kleiner Junge. Der Anblick der Landschaft ließ die wenigen Erzählungen wieder aufleben. In der Poliklinik von Allenstein sprach mich eine Krankenschwester an, auf ostpreußisch. Bevor wir richtig ins Gespräch kamen, erschien der Professor, und sie verschwand in einem der zahlreichen Gänge des Krankenhauses. Warum habe ich die Gegend nie selbst erkundet?
Erst spät wurde mir die Geschichte der Flüchtlinge klar. Durch Film und Fernsehen und über die Familie meiner Lebenspartnerin bekam ich mehr Verständnis für das, was damals passierte. In der Schule wurde dieses Thema zu meiner Zeit nicht angesprochen. Behandelt wurde in Geschichte und Politik der Zweite Weltkrieg. Die Deutschen hatten ihn begonnen, und zur Strafe hatten sie Teile ihres Landes abgeben müssen. Thema war natürlich auch die Schreckensherrschaft des Hitlerregimes. Aber nie zur Sprache kam, wie viele Menschen im Zuge dieses Krieges ihre Heimat verloren hatten: Deutsche, Russen, Polen.
Und wir als Kinder? Schon auf dem Spielplatz gab es Kinder von Eltern aus Freiburg, Ostpreußen, Pommern oder Schlesien. Keiner von uns fragte danach. Das war uns egal – wir haben das gar nicht weiter bemerkt. Wir spielten, lachten, machten unsere Streiche miteinander. Nur manchmal fiel mir auf, dass manche Eltern den einen oder anderen Dialekt sprachen. Die Flüchtlingskinder sprachen hochdeutsch, die Kinder der Einheimischen taten sich schwerer damit. Wie das Leben so spielt, hatten die Flüchtlingskinder plötzlich einen Vorteil. Erst viele Jahre später wurde mir das Alemannische als Dialekt bewusst. Auf der Schule musste hochdeutsch gesprochen werden. Nur wenige Lehrer hatten einen süddeutschen Dialekt. Im Deutschunterricht wurden badische Worte nicht akzeptiert. Nur ab und zu, meistens zu Weihnachten, las der Klassenlehrer eine Geschichte auf Badisch vor.
Das alte Quartier
Seitdem meine Tochter mit ihrer Tochter, meiner Enkelin, im alten Haslach wohnt, komme ich hin und wieder in meine frühere Heimat und fahre auch durch die Straßen meines alten Viertels, den Luckenbachweg und die Markgrafenstraße. Seit den großen baulichen Veränderungen in den sechziger und Siebzigerjahren hat sich nicht mehr viel Neues getan. Die alte Schule als mächtiger dunkler Bau beherrscht immer noch das Zentrum. Alte Läden sind verschwunden, neue wurden eröffnet. Im Vergleich zu meiner Jugendzeit ist das Leben im Zentrum bunter geworden. Das liegt nicht nur an den Farben der Geschäfte, sondern auch an den Hinzugezogenen aus anderen Ländern. Unsere Eltern als Flüchtlinge wollten sich nur unauffällig eingliedern, die Neuen jetzt wollen ihre Identität bewahren. Keiner unserer Eltern hat damals einen Laden eröffnet. Der Obst- und Gemüseladen heute sieht italienisch aus. Südländisch die Atmosphäre und die Sprache. Zwei Supermärkte, eine Apotheke, ein Fahrradladen, ein Drogeriemarkt und ein Bäcker komplettieren das Angebot. Bäcker Pfeifle ist der einzige Laden, den es schon zu unserer Jugendzeit gab. Das Angebot an Geschäften ist gut. Früher war es anders, entsprechend unseren bescheideneren Bedürfnissen. Der Dorfbrunnen wurde irgendwann aus der Straßenmitte an den Rand verlegt, um für eine neue Straßenbahnlinie Platz zu schaffen. Heute fährt die neue Linie aber gar nicht mehr durch unser altes Viertel: Die Straßen dort sind verkehrsberuhigt. Auf meinem früheren Schulweg sehe ich nicht viele Veränderungen. Nur eine Tankstelle auf der anderen Straßenseite existiert nicht mehr. Der Weg zum Pfarrsaal und zur evangelischen Kirche hat allerdings große Veränderungen erlebt. Die vielen kleinen Geschäfte, oft auch die Häuser, gibt es nicht mehr.
Unsere Siedlung ist zeitgemäß renoviert worden. Aber die alten Teppichstangen sind immer noch da, ebenso wie die Balkone; auf unserem machte ich damals meine ersten Chemieexperimente. Entsprechend dem Zeitgeist sind die Außenseiten der Balkone nicht mehr einheitlich rotbraun, sondern bunt. Einige Erwachsene habe ich auf unserem Fußballrasen Federball spielen sehen. Und tatsächlich, ein paar Kinder spielten Fußball. Unter der Teppichstange stand der Torhüter. Bei einem Spaziergang durch das Wohngebiet stellte ich fest, dass ich inzwischen viel Abstand zu meiner alten Straße habe. Sechzehn Jahre lang habe ich dort gewohnt. Letztendlich nur ein Bruchteil meines Lebens, aber ein entscheidender für meine Prägung. Die Erinnerung ist geblieben und darf auch bleiben.
Unsere Straße
Das alte Haslach: Luckenbachweg, Markgrafen- und Staufener Straße, der Bäcker Pfeifle, die kleinen Läden und später das erste Lebensmittelgeschäft mit Selbstbedienung, der „Gottlieb“. Ein Stück weiter weg der rundliche, nette Kinderarzt Dr. Bohn, ein Schneider, eine Apotheke. Ein paar Hundert Meter weiter in der Markgrafenstraße war die Metzgerei Meier und daneben der Konsum. Durch das Zentrum des früheren Dorfes mit dem Brunnen führt noch heute die Carl-Kistner-Straße, an der das KfA lag, das Kaufhaus für Alle, außerdem gab es Fahrrad Lickert, dann das Kino neben dem Gasthaus Hirschen und schließlich Schreibwaren Braun, wo wir unsere Schulsachen kauften. Am anderen Ende dieses Zentrums war die Karosseriewerkstatt Baab. Um die Ecke die Pestalozzischule, und in der anderen Richtung ging es zu den Franzosenbauten. Französisches Militär war noch lange in Freiburg stationiert. Durch einen Seiteneingang der Schule erreichte man das Volksbad für Leute, die kein eigenes Bad in der Wohnung hatten. Klassenkameraden, die noch in den Mietshäusern der Vorkriegszeit lebten, besuchten es regelmäßig. Eines dieser Viertel lag um den Nonnenmattenweg, einige Klassenkameraden kamen von dort. Samstags herrschte Hochbetrieb im Volksbad. Ich sah das Volksbad nie von innen. Unsere neuen Wohnungen hatten schon den Luxus eines eigenen Bades.
Das war meine, unsere Welt. Erste Schritte unternahm ich alleine im Luckenbachweg und in der Karl-Kistner-Straße, einem Gebiet mit Mietwohnungen, schnell errichtet in den Fünfzigerjahren. Für die vielen Flüchtlinge mit ihren Nachkriegskindern musste Wohnraum bereitgestellt werden. Hier wurden einige Hundert Familien untergebracht.
Zwischen den Häusern wuchs Rasen, Platz zum Spielen. Und Kinder gab es auch genug. Viele Eltern waren nicht mehr die Jüngsten und gehörten zur Kriegsgeneration. Es gab wieder Arbeit und Essen, und jetzt zu Friedenszeiten wurden erst einmal Kinder gezeugt. In beinahe jeder Wohnung gab es Kinder. Die Straßen konnten wir nicht erobern, denn schon damals gab es hier einigen Autoverkehr. Und da war die Straßenbahn Nummer 5: Laut rumpelnd, bimmelnd, außen mit braunem Holz verkleidet, gelegentlich mit einem Anhänger, zog sie vorbei. Respekt hatten wir vor ihr, gefahren sind wir nicht so oft. Wir hatten kaum Geld dafür. War die Stadt das Ziel, so liefen wir zu Fuß.
Manchmal war die nette Verkäuferin in der Bäckerei großzügig, und ich bekam ein Bonbon. Das war ein Grund, mit zum Einkaufen zu gehen. Peinlich wurde es, wenn Mutter ein Gespräch anfing und ich zum Thema dieser Unterhaltung wurde. Ein paar kleine Läden in der Umgebung, ein Lebensmittelladen, ein Friseur, ein Pferdemetzger, der aber bald verschwand. Ein paar Jahre später machte ein Gottlieb bei uns auf, der erste Supermarkt mit Selbstbedienung. Der Einkauf ging schneller, man konnte besser auswählen, man wurde anonymer. Das Einkaufen verlor seinen sozialen Charakter. Ich kam mir ziemlich verloren in diesem Laden vor, wenn Mutter mich zum Einkaufen schickte. Ich ging nicht gerne dorthin. Ich fand es einfacher, eine Bestellung aufzugeben, als selber das gewünschte Produkt zu suchen. Manchmal kam ich mit dem Falschen zurück. Nach und nach machten die kleinen Läden zu. Ebenso der Metzger. Sie konnten nicht mehr gegen den Supermarkt bestehen. Erst später sind mir die Veränderungen bewusst geworden, die in meinen sechzehn Jungenjahren stattgefunden hatten. Die 5 fuhr jetzt auch nicht mehr. Ein Bus hatte sie abgelöst.