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Ein Wissenschaftler wird im Labor ermordet, ein weiterer mit seinem Wagen von einer Brücke gestoßen. Beide arbeiteten an der Entwicklung von Antibiotika gegen Infektionen mit Pest-Bakterien. Während Chief Inspector Roberta Foster und ihr Team ermitteln, verseuchen gewaltbereite Mitglieder der Gruppe Green Spearhead einen Fluss mit tödlichen Mutanten von Yersinia pestis und dann das Trinkwasser eines kleineren Ortes. Die Terroristen wollen so die Summe von 100 Millionen Pfund und die Stilllegung pharmazeutischer Firmen erzwingen. Ihr Ziel ist eine neue Grüne Welt. Nur langsam gelingt es Foster und ihrem ehemaligen Chef, dem pensionierten Chief Inspector Steve Brennan, die Spur der Terroristen aufzunehmen. Als diese mit der Verseuchung des Trinkwassers von Birmingham drohen, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Können Foster und Brennan weitere Anschläge mit noch mehr Pest-Opfern verhindern?
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2023
Uwe Trostmann
Pest Blut
Kriminalroman
www.tredition.de
Impressum
© 2022 Uwe Trostmann
Druck & Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Cover Design: Achim Schulte: www.achimschulte.de
ISBN
Softcover:
978-3-347-74722-7
Hardcover:
978-3-347-74723-4
ASIN
Kindle:
B0BHWKLMQV
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bei meiner Lektorin Frau Friederike Schmitz (www.prolitera.de) möchte ich mich ganz herzlich für die sehr gute Zusammenarbeit bedanken. Ihre Anregungen bei der Überarbeitung des Manuskripts waren sehr hilfreich und konstruktiv.
Mein Dank gilt ebenfalls Frau Claudia Chmielus für die aufmerksame Korrekturlesung.
Inhalt
Tod im Labor
Mord auf der Brücke
Ein anderer Tag
Eine erste Spur
Suche im Dunkeln
Neue Hinweise?
Erpressung
Eine gelegte Spur
100 Millionen Pfund
Das Attentat
Verbindungen
Pläne
Foster in Bedrängnis
Vernehmung
Vorbereitungen
Die nächste Dimension
Fanatismus
Tod im Labor
Das Übel kommt nicht von der Technik, sondern von denen, die sie missbrauchen – mutwillig oder auch fahrlässig.
Jacques-Yves Cousteau
Doktor Richard Burns stand in seinem Labor bei Leach Pharma, vertieft in seine Arbeit. Gespannt schaute er durch seine Schutzbrille auf die Glasapparatur, in der eine chemische Reaktion ablief. Langsam ließ er die hochkonzentrierte Blausäure aus einem Tropftrichter in den Reaktionskolben fließen und beobachtete zufrieden, wie sich die gelbe Farbe der Reaktionslösung mehr und mehr verdunkelte. Er regulierte die Tropfgeschwindigkeit immer wieder vorsichtig. Durch einen separaten Schlauch leitete er Stickstoff in die Apparatur. Er wusste um die Gefährlichkeit von Blausäure, arbeitete hinter einer Schutzscheibe und mit Gummihandschuhen. Den Unterdruck in der Abzugskammer hatte er auf maximale Stärke gestellt, damit keine Blausäure nach außen dringen konnte. Alle halbe Stunde öffnete er den Reaktionskolben, entnahm mit einer Pipette einen Tropfen der Reaktionslösung und gab sie auf ein Stück Chromatografie-Papier, das er in einen kleinen Glasbehälter mit etwas Lösemittel stellte. War die Flüssigkeit bis zum oberen Ende des Papiers gestiegen, so entnahm er es und untersuchte den Fortschritt der chemischen Reaktion in einer UV-Kammer.
Schon bald stellte er zufrieden fest, dass die Ausgangskomponenten begannen, eine Reaktion einzugehen. Burns zog sich die Gummihandschuhe aus und ging an seinen Schreibtisch.
Seit über einem Jahr suchte er nach einem neuen Antibiotikum, mit dem Patienten, die durch eine neue Variante von Yersinia pestis erkrankt waren, behandelt werden konnten. Diese neue Variante war plötzlich in einigen Staaten Afrikas aufgetreten. Er und seine Kollegen bei Leach Pharma waren schon nahe an einem Wirkstoff dran. Die ersten neuen Substanzen aus seinem Labor waren vielversprechend, ihre Wirkung allerdings noch nicht so ausgeprägt, dass sie die Weitervermehrung des Bakteriums im Körper von Erkrankten vollständig unterbinden konnte. Doch die Ergebnisse der Experimente seiner Kollegen aus der Mikrobiologie machten Mut, weiter an diesem Projekt zu arbeiten.
Er war jetzt beinahe fünfzehn Jahre in der Forschung bei Leach Pharma, hatte mit seinen Kollegen schon viele Projekte bearbeitet, aber noch nie so schnell vielversprechende Wirkstoffe entdeckt. In der Regel brauchten sie zwei bis fünf Jahre, um einen zu finden, der sich lohnte, zu einem Medikament weiterentwickelt zu werden. Er war stolz auf seine Arbeit.
Burns lief jede Viertelstunde zurück zur Apparatur, um den Fortschritt der chemischen Reaktion zu beurteilen. Während er auf seinem Laborschemel saß und auf das langsame Hochsteigen der chemischen Flüssigkeit im Analysenglas wartete, drehte er sich zum Fenster. Der Tag ging langsam zu Ende. Dann drehte er sich weiter zur offenen Labortür und stellte fest, dass er an diesem Abend offenbar der einzige Mitarbeiter im chemischen Forschungstrakt war. Alle anderen Räume waren dunkel. Burns war oft derjenige, der als Letzter sein Labor verließ.
Sein Blick fiel auf die Reihe neuer Substanzen, die auf dem Labortisch aufgereiht waren. Darunter auch das leere Glas von LP3416. LP3416 unterschied sich strukturell wenig von den anderen Antibiotika, trotzdem war sie in der Lage, die Eigenschaften von Yersinia-pestis-Bakterien stark zu verändern. Die neuen Eigenschaften von YP3, wie sie diese Mutante nannten, verblüfften die Wissenschaftler bei Leach Pharma. Aus wissenschaftlicher Neugier wurde YP3 in kleiner Menge hergestellt und zwei Versuchstieren verabreicht: Sie verendeten innerhalb von nur zweiundsiebzig Stunden. Diese neue Variante von Yersinia pestis hatte innerhalb weniger Tage Leber und Milz der Tiere zersetzt. Was die Kollegen aus der Biologie über diese Mutation herausfanden, war alarmierend: Im Gegensatz zu Yersinia pestis brauchte YP3 keinen Floh als Wirt, der beim Biss das Bakterium in die Blutbahn des Opfers schleuste. Es konnte direkt über den Magen-Darm-Trakt in den Blutkreislauf und von dort aus in die Leber gelangen, wo es seine Vervielfältigung begann und das Organ zerstörte. In den ersten Laborversuchen bei Leach Pharma wurden außerdem Anhaltspunkte gefunden, dass infizierte Tiere, die eine Lungenpest entwickelten, über die Atemluft die Mutante YP3 auf andere Tiere übertragen konnten. Nach Zusammenfassung der Ergebnisse über YP3 hatte der Forschungsleiter von Leach Pharma die Anweisung gegeben, sämtliche Unterlagen und Substanzen aus diesem Projekt zu vernichten. Das Mikrobiologielabor und das Labor für Tierversuche wurden gründlichst gereinigt. Diese aggressive Variante durfte auf keinen Fall ins Freie gelangen.
In der Zwischenzeit war es vor dem Fenster des Labors dunkel geworden. Burns schaute auf die Uhr an der Wand: Es war bereits kurz nach 21 Uhr. Seine drei Laboranten hatten schon längst die Firma verlassen. Er beabsichtigte erst nach Hause zu gehen, wenn diese chemische Reaktion abgeschlossen war und er die Arbeit mit der Blausäure beenden konnte. Er schob seine Schutzbrille zurecht, streifte sich seine Gummihandschuhe wieder über und begab sich zur Apparatur. Mit interessiertem Blick verfolgte er die fortschreitende Gelbfärbung im Reaktionskolben.
Wegen des lauten Luftgeräuschs des Laborabzuges hörte er nicht, dass jemand das Labor betrat. Der Fremde näherte sich Burns von hinten, drückte ihm einen Lappen mit Chloroform aufs Gesicht, ließ ihn auf den Boden gleiten, zog den Gasschlauch aus der Apparatur, verband ihn mit dem blausäuregefüllten Tropftrichter und führte das andere Ende in Burns´ Mund. Mit einem Klebeband sorgte er dafür, dass der Schlauch nicht wieder herausrutschte und Burns seinen Mund nicht öffnen konnte. Dann drehte er das Ventil des Tropftrichters vollständig auf und ließ den Inhalt schnell in Burns' Mund fließen. Mit Plastikfesseln band er Hände und Füße zusammen. Anschließend verließ er mit einem Glasfläschchen aus dem Laborkühlschrank und mehreren Labortagebüchern den Raum. Er überließ sein Opfer dem sicheren Erstickungstod durch Sauerstoffmangel.
Burns wurde zwei Stunden später von einem Angestellten des Sicherheitspersonals gefunden, der, wie immer um diese Zeit, seinen Rundgang machte. Je näher er dem Labor von Burns kam, desto stärker nahm er einen starken Geruch von Bittermandeln wahr, erzählte er später. Anfangs dachte er noch, dass der Geruch durch ein offenes Fenster käme, doch je näher er dem Labor kam, desto intensiver wurde der Geruch. Er sah den Wissenschaftler am Boden liegen, zog ihm den Schlauch aus dem Mund und öffnete sämtliche Fenster. Dann verständigte er den Notarzt. Der konnte nur noch den Tod von Burns feststellen.
Chief Inspector Roberta Foster und ihr Mitarbeiter Inspector Patrick Balmer erreichten Leach Pharma gegen 23 Uhr. Foster war beim Blättern in der Tageszeitung durch das Diensttelefon aufgeschreckt worden, ihr Kollege war gerade dabei gewesen, sich für die Nacht zu richten.
„Guten Abend, Roberta, hat man Sie auch aus dem Bett geholt?“ Er schlug die Tür seines Wagens zu und lief zu ihr.
„Nein, aber fast. Waren Sie schon einmal in dieser Firma?“
„Nein, schon der Chemieunterricht hat mich wenig interessiert.“
„Guten Abend. Ich nehme an, Sie sind von der Polizei? Ich bin Dr George Leach, der Eigentümer der Firma.“
Vor ihnen stand ein Herr von Ende fünfzig, etwa 173 cm groß und in einen dunkelblauen Anzug gekleidet.
„Guten Abend, Dr Leach. Mein Name ist Chief Inspector Foster und das ist mein Kollege Inspector Balmer.“
Sie wartete auf Leachs Antwort, bis der ein wenig verzögert meinte: „Dann gehen wir mal hinein.“
„Patrick, sind die Kollegen schon informiert?“
„Ken und Tess sollten unterwegs sein.“
„Werden noch mehr Personen von der Polizei kommen?“, war Leachs beinahe ängstliche Frage.
„Natürlich, wir müssen den Fall aufnehmen, den Toten identifizieren, in die Pathologie bringen und eine Durchsuchung vornehmen.“
„Ist eine Durchsuchung notwendig? Ich verstehe, Sie müssen Spuren suchen und so weiter, aber die Unterlagen ansehen?“
„Leider, Dr Leach. Wir werden einige Unterlagen mitnehmen müssen.“
„Und den Tatort für einige Zeit sperren“, fügte Balmer hinzu.
„Sie wissen doch um die Vertraulichkeit der Unterlagen. Die Konkurrenz ist uns dicht auf den Fersen und wir leben von unseren Patenten.“
„Sie brauchen keine Angst zu haben“, erklärte ihm Foster. „Bei uns sind Ihre Sachen in guten Händen.“
Sie hatten in der Zwischenzeit den Eingangsbereich durchquert und gelangten an eine Brandschutztür. Ihr fiel auf, dass sämtliche Eingänge elektronisch gesichert und mit Kameras überwacht wurden.
„Dr Leach, können Sie bitte sicherstellen, dass unsere Kollegen ebenfalls zum Tatort kommen können?“, fiel Balmer ein.
„Werde ich sofort veranlassen“, erklärte Leach und telefonierte mit der Sicherheit am Eingang.
„Ich sehe hier überall Überwachungskameras, Patrick. Lassen Sie sich schon einmal Kopien von den Aufzeichnungen geben.“
Sie kamen jetzt in den Trakt der chemischen Labore. Foster stellte einen ungewöhnlichen Geruch fest.
„Wonach riecht es hier?“, fragte sie.
„Es ist die Summe von allen chemischen Ausdünstungen. Trotz bester Lüftungsanlagen lassen die sich nicht verhindern“, erklärte Leach. „Darf ich Sie bitten, von jetzt an in diesem Bereich Schutzbrillen zu tragen?“ Leach hielt an einem kleinen Regal, in dem hygienisch verpackte Kunststoffbrillen lagen.
Sie erreichten das Labor Nummer 4. Namensschilder neben der Tür wiesen auf die Mitarbeiter hin, an erster Stelle stand der Name von Dr Richard Burns. Leach öffnete die Tür und bat sie hinein. Ein Sicherheitsmann stand im Abstand von zwei Metern von dem toten Burns. Auf einem Laborhocker saß ein Mann, der sich als Dr Brodith, Betriebsarzt, vorstellte. Burns lag auf dem Rücken, ein Schlauch endete kurz vor seinem Gesicht; das andere Ende hing am Ende eines Tropftrichters, der mit einer Stativklemme im Luftabzug befestigt war. Hände und Füße des Toten waren noch gefesselt. Foster schaute auf das Etikett einer Laborflasche im Abzug: Blausäure, HCN. Sie erinnerte sich an ihren Chemieunterricht und dass diese Substanz hochgiftig war.
„Es riecht nach Bittermandeln“, stellte sie fest.
„Der Wachhabende hat Burns den Schlauch aus dem Mund gezogen in der Hoffnung, ihn noch retten zu können. Burns war aber schon tot“, berichtete Brodith. „Der Notarzt war vor mir hier und stellte den Tod fest. Er ist aber schon wieder weg.“
Leach stellte sich neben den toten Burns und schaute ihn mit versteinerter Miene an.
„Und der Schlauch war mit einem Pflaster befestigt?“, wollte Balmer wissen.
„Ja. Teile davon hängen noch am Schlauch.“
Ein Sicherheitsmann führte den Forensiker Dr Ken Kincaid und Tess Stevenson, die Leiterin der Spurensicherung, sowie drei ihrer Mitarbeiter hinein.
„Guten Abend zusammen“, begrüßte Kincaid die Runde. „Mord, Roberta?“
„Sieht danach aus. Dr Burns hat sich den Schlauch sicherlich nicht selber in den Mund gesteckt.“
„Möglicherweise ist er vorher betäubt worden“, meinte Stevenson. Schnell waren ihr der Lappen und die Flasche mit Chloroform auf dem Labortisch aufgefallen. „An diesem Lappen rieche ich Chloroform.“
„… und es riecht hier nach Bittermandeln. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist er mit Blausäure vergiftet worden. Die Merkmale, die ich sehe, und der Geruch deuten darauf hin.“ Kincaid hatte sich sofort an die Arbeit gemacht. Die Spusi begann, das Labor abzusuchen.
„Im Tropftrichter befand sich Blausäure.“ Stevenson hatte vorsichtig daran geschnuppert.
„Dann werden auch wir uns mal an die Arbeit machen“, stellte Foster fest. „Dr Leach, dieses Labor wird Ihnen für die nächsten Tage nicht zur Verfügung stehen, wir werden es verplomben. Können Sie bitte dafür sorgen, dass die Polizei jederzeit den Raum betreten kann?“
„Natürlich. Wie lange, denken Sie, werden Sie für Ihre Arbeit hier benötigen?“
„Das kann Tage, vielleicht auch Wochen dauern.“ Sie drehte sich zu dem Toten um, dann wieder zum Inhaber der Firma. „Wir müssen Sie und weitere Mitarbeiter in den nächsten Tagen vernehmen. Bitte halten Sie sich zur Verfügung.“
„Was wollen Sie denn wissen?“
„Alles. Alles, was zur Aufklärung dieses Falls beitragen kann.“
Die beiden Inspectoren schauten sich im Labor um, verschafften sich einen Eindruck und begaben sich dann an den Schreibtisch von Burns. Der befand sich in einer gesicherten Kammer, die auf drei Seiten Glaswände hatte. Leach folgte ihnen auf Schritt und Tritt.
„Woran arbeitete Dr Burns?“
„Wir sind spezialisiert auf Antibiotika. Burns arbeitete an neuen Stoffen gegen Yersinia pestis.“
„Das ist doch der Pesterreger?“, kam es von Balmer.
„Ja, aber es sind vor nicht allzu langer Zeit in Afrika neue Varianten aufgetaucht. Sie vermehren sich ständig. Gängige Antibiotika wirken nur noch unvollständig.“ Das sagte Kincaid, alle drehten sich überrascht zu ihm um. „Dr Kenneth Kincaid, Dr Leach. Ich bin der Forensiker.“
„Sie kennen sich aus, Dr Kincaid?“
„Antibiotika waren eines meiner Prüfungsfächer auf der Uni und beschäftigen mich immer noch. Faszinierend, die Welt der Bakterien! Sie haben diese Welt und die Behandlung der von den Bakterien ausgelösten Infektionen zu Ihrer Lebensaufgabe gemacht, Dr Leach.“
„In der Tat.“
„Hatte denn Burns etwas Neues in der Hand?“
„Hm, eigentlich schon“, kam es von Leach zögerlich.
„Dr. Leach“, begann Foster, „wir müssen alles wissen. Natürlich unter dem Mantel der Geheimhaltung.“
Leach dachte nach. Dann meinte er: „Ja, wir sind in diesem Projekt schon weit vorangekommen.“
„Gut, Dr Leach, das können wir morgen weiter besprechen.“
Es dauerte bis lange nach Mitternacht, bis die ersten Spuren gesichert waren, der Tote abtransportiert war und der letzte Polizist die Firma verlassen hatte.
„Industriespionage, oder doch etwas anderes?“, meinte Balmer auf dem Weg zu ihren Wagen.
„Warum sollte man jemanden bei Spionage umbringen, außer es kommt zu einer Auseinandersetzung? Das war gezielte Tötung. Da steckt mehr dahinter“, meinte Foster und stieg in ihren Wagen. Sie wünschte den Kollegen eine gute Nacht und fuhr nach Hause. Vor dem Tor von Leach Pharma bauten Journalisten ihre Mikrofone und Kameras auf. Balmer schüttelte den Kopf. Woher wussten die schon wieder davon? Und das um diese Zeit.
Chief Intendent Ron Gallagher stand nervös vor Fosters Schreibtisch und blickte immer wieder durch das Fenster des Lloyd House in Birmingham auf den Parkplatz hinunter. Mit seinen einundsechzig Jahren sah er in dem dunkelblauen Anzug mit modischer Krawatte etwas jünger aus. Der Haarkranz um die Glatze lag stets akkurat. Sein Führungsstil galt als streng, er ließ aber seine Mitarbeiter selbstständig arbeiten, solange er das Gefühl hatte, dass sie bei ihren Recherchen auf dem richtigen Weg waren.
Wiederholt blickte er auf seine Armbanduhr: Es war bereits 9 Uhr 30 und Foster war noch nicht an ihrem Arbeitsplatz und auch nicht erreichbar. Um 7 Uhr hatte er in den Morning News von dem toten Wissenschaftler bei Leach Pharma erfahren, war aufgebracht, dass er nicht vorher von ihr unterrichtet worden war. Kaum war er im Büro angekommen, erreichte ihn auch schon ein Anruf von Dr Leach persönlich, der entschieden darauf aufmerksam machte, dass keinerlei Firmengeheimnisse nach draußen dringen dürften, und der außerdem auf die Reputation seiner Firma hinwies.
Gallagher beobachtete, wie Inspector Balmer auf den Parkplatz fuhr. Stur blickte er weiter hinunter. Er wurde immer ungeduldiger, als Balmer nicht schon nach zwei Minuten im Großraumbüro auftauchte, sondern zehn Minuten später mit einem Becher Kaffee in der Hand durch die Tür schlenderte.
„Patrick, wo bleiben Sie so lange? Und wo ist Roberta?“
„Sir, wir haben erst heute Morgen gegen zwei Uhr Leach Pharma verlassen. Etwas Schlaf müssen Sie uns schon gönnen.“
„Nichts gegen Ihren Schlaf, Patrick, ich wurde aber durch die Morning News von dem neuen Fall unterrichtet und nicht durch Sie oder Roberta.“
„Oh, Entschuldigung, Sir.“
Gallagher drehte sich wieder weg und blickte weiter auf den Parkplatz.
„Da kommt sie endlich. Bitte holen Sie sie, damit sie nicht auch noch Zeit am Getränkeautomaten verplempert. Schicken Sie sie gleich zu mir hoch in mein Büro. Und Sie können auch mitkommen.“
Etwas erschrocken lief Balmer zu Foster. Sie erkannte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.
„Patrick, was ist los?“
„Der Chef will uns sofort sehen. Wir haben versäumt, ihn noch heute Nacht zu verständigen.“
„Und da macht er solch einen Aufstand?“
Sie liefen gleich die Treppe hinauf, ein Stockwerk direkt bis zu Gallaghers Zimmer. Die Tür stand offen, er blickte zum Fenster hinaus. Sie ahnte, was jetzt kam.
„Schließen Sie bitte die Tür und setzen Sie sich.“
„Guten Morgen, Ron“, sagte sie in beherztem Ton.
„Wieso muss ich von unserem neuen Fall aus den Nachrichten erfahren? Es wäre doch nicht zu viel verlangt gewesen, mir eine SMS zu schicken?“
„Sorry, Ron. Ich war einfach nur müde.“
„Nur eine SMS, sonst nichts“, betonte er noch einmal. „Stattdessen rief Leach mich schon um 8 Uhr an und wollte dies und das und Geheimhaltung et cetera. – Und jetzt erzählen Sie mir endlich, was geschehen ist.“
Foster atmete tief durch und fasste zusammen, was sie in der letzten Nacht vorgefunden hatten. Sie fügte hinzu, dass sie natürlich alles tun werde, um der Firma nicht zu schaden.
„Davon gehe ich aus“, meinte Gallagher. „Ich gebe Ihnen recht, es könnte einfach nur ein Racheakt gewesen sein. Es könnte allerdings auch mehr dahinterstecken. Industriespionage vielleicht. Auf jeden Fall unterrichten Sie mich über jeden Ihrer nächsten Schritte.“
„Das machen wir, Ron. Wie immer“, fügte sie noch hinzu und schielte zu ihm hinüber. Sie meinte ein leichtes Grinsen zu erkennen. Balmer hatte die ganze Zeit ruhig auf seinem Stuhl gesessen und gehofft, dass der Kelch an ihm vorübergehen würde. Gallagher öffnete ihnen die Tür und ging zurück in sein Zimmer. Die beiden Inspectoren verstanden den Wink und verließen den Raum.
„Jetzt brauche ich aber doch einen Kaffee“, meinte Roberta und hielt beim Automaten an.
„Ich fand bemerkenswert, wie ruhig Sie geblieben sind“, merkte er an.
„Das nennt man Entwaffnung.“ Sie schlürfte ihren heißen Kaffee. „Lassen Sie uns anfangen. Am besten mit diesen Laborbüchern.“
Roberta Foster war nun schon vier Jahre bei der Mordkommission in Birmingham. Als sie hier begonnen hatte, unterstand sie dem damaligen Chief Inspector Steve Brennan, der zwar ein brummiger und manchmal schlecht gelaunter Mensch war, aber überzeugend in seinen analytischen Fähigkeiten. Gleich zu Beginn hatten sie einen verzwickten Fall mit Giftmördern zu lösen.
Ihr alter Chef hatte sich manchmal über ihr Äußeres amüsiert, wenn sie mit Kleid oder Rock am Tatort unterwegs war. In ihrem Wagen lagen aber immer feste Schuhe. Er gewöhnte sich daran, manchmal hatte sie das Gefühl, dass er ihr Outfit sogar gut fand. Ihre Ehe mit Paul, mit dem sie wegen ihres neuen Jobs nach Birmingham gezogen war, ging bald in die Brüche. Seit bald einem Jahr war sie mit dem Journalisten Lennart McQuinn liiert.
Brennan ging sechs Monate nach ihrem Einstieg in Pension und Foster bekam seine Stelle. Sie war selbst darüber überrascht, sie hatte das nach einigen Fauxpas nicht erwartet. Ihr ehemaliger Chef blieb für sie weiterhin ein geschätzter Berater.
Bald bekam sie Patrick Balmer als Inspector zugewiesen. Der zweifache Familienvater machte am Anfang einen zögerlichen, manchmal ängstlichen Eindruck, was wahrscheinlich der Grund war, dass er mit seinen 45 Jahren immer noch nicht befördert worden war. Die Zusammenarbeit mit Foster stärkte allerdings sein Selbstbewusstsein und sie schätzte ihn bald als guten und engagierten Mitarbeiter.
Sie saßen bereits mehrere Stunden zusammen und blätterten durch die Laborbücher, als Kincaid erschien.
„Hallo, ihr beiden. Ein erster Bericht gefällig?“
„Natürlich. Abwechslung tut gut“, meinte Balmer.
„Also, Burns ist mit Blausäure umgebracht worden. Er starb an Sauerstoffmangel. Symptome: Der typische Geruch, und: Der gesamte Körper ist blau gefärbt. Bei dieser hohen Konzentration an Blausäure trat sofortige Bewusstlosigkeit und nach nur wenigen Atemzügen der Tod ein. Das liegt daran, dass das Gift sehr schnell über die Schleimhäute der Atemwege und des Mundraums aufgenommen wird. Zuvor wurde er mit Chloroform betäubt. Wir haben Spuren davon in der Leber gefunden.“
„Woher kenn ich den Namen von diesem Zeug?“, fragte Balmer.
„Vielleicht aus dem Chemieunterricht in der Schule“, vermutete Kincaid, „aber auch, weil es als Waffe im Ersten Weltkrieg verwendet wurde; die Nazis ermordeten damit die Juden in den Konzentrationslagern“, sagte er. Dann setzte er zu einer ausführlichen Erklärung an. „Die primäre Giftwirkung besteht in der irreversiblen Hemmung der Cytochrom-c-Oxidase der Atmungskette in den Mitochondrien der Zelle. Durch die Inaktivierung dieses Enzyms kommt die Zellatmung zum Erliegen, die Zelle kann den Sauerstoff nicht mehr zur Energiegewinnung verwerten und es kommt damit zur sogenannten inneren Erstickung.“
„Grässlich“, sagte Foster.
„Letztendlich Tod durch Ersticken“, beendete Kincaid seine Ausführung.
„Haben Sie sonst noch etwas gefunden, Ken? Gibt es Anzeichen für einen Kampf?“
„Nein, gar nichts. Er wurde von hinten überrascht. Burns war ein komplett unsportlicher Mensch. Ein typischer Forscher, der viel gesessen hat.“
„Danke, Ken.“
Sie durchsuchten weiter die Laborunterlagen.
„Patrick, haben Sie etwas herausgefunden?“
„Ja, etwas Auffallendes. In dem Berichtsheft hier stehen die Beschreibungen der Synthesen, ob erfolgreich oder nicht. Und dann die Ergebnisse der mikrobiologischen Untersuchungen, jeweils mit Verweis auf ein anderes Berichtsheft. Da gibt es eine Substanz mit der Bezeichnung LP3416. Die hemmte offenbar nicht das Wachstum des Bakteriums, sondern veränderte es so, dass Versuchstiere, die ihm ausgesetzt wurden, schnell starben.“ Balmer blätterte hektisch von einer Seite zu anderen, in die er Sticker geklebt hatte. „Ich kann die Aufzeichnungen nur so verstehen.“
„Danke, Patrick. Geben Sie die anderen Bücher bitte Ed und Dan. Sagen Sie ihnen, worauf sie achten müssen. Und machen Sie bitte für heute Nachmittag um 2 Uhr einen Termin bei Leach aus.“
„Vielen Dank, Dr Leach, dass Sie Zeit gefunden haben, sich mit uns zu unterhalten.“ Foster und Balmer saßen im Direktionszimmer bei einer Tasse Tee und Gebäck. Leach machte einen gesetzten, aber doch leicht nervösen Eindruck.
„Was war Dr Burns für ein Mensch? Wie lange arbeitete er schon für Sie?“ Foster begann, sich Aufzeichnungen zu machen.
„Burns war absolut integer. Er war Wissenschaftler durch und durch. Er hat fast sechzehn Jahre bei uns gearbeitet. Insgesamt gehen 134 Veröffentlichungen und 21 Patentanmeldungen auf sein Konto.“
„Also sehr erfolgreich“, ergänzte Balmer.
„Auf jeden Fall.“
„Hatte er Familie?“, wollte sie wissen.
„Er war nicht verheiratet. Eigentlich erzählte er fast nie etwas über sein Privatleben. Selbst wenn er aus dem Urlaub zurückkam, hatte er schon wieder eine Mappe mit neuen Ideen bei sich.“
„Wie war Ihr Verhältnis?“
„Sehr gut. Aber noch einmal, wir haben eigentlich nur über unsere Arbeit gesprochen.“
„Wie oft?“
„Wenn es sein musste, täglich.“
„Hatte Burns Feinde?“
„Nicht dass ich wüsste.“
„Auch innerhalb der Firma nicht?“
„Ich habe nie etwas in dieser Richtung gehört. Wenn ich ihn einmal im Labor besuchte, hatte ich immer das Gefühl, dass er einen guten Umgang mit seinen Mitarbeitern pflegte.“
„Und mit anderen Kollegen?“
„Bei den Meetings höre ich nie ein böses Wort.“
Balmer schaute kurz zu Foster, die nickte.
„Dr Leach. In den Laborunterlagen haben wir Einträge zu einer Substanz LP3416 gefunden, die offenbar die Yersinia-pestis-Bakterien noch gefährlicher macht. Wer wusste noch von diesen Experimenten?“
Leach saß plötzlich sehr angespannt in seinem Bürostuhl. Seine Mimik hatte sich versteinert. Diese Veränderung war beiden Inspectoren nicht entgangen.
„Natürlich sämtliche Mitarbeiter der Forschungsabteilung. Wir haben aber bald nach den ersten Untersuchungen die Bücher darüber geschlossen und sämtliche Materialien vernichtet. Die Unterlagen befinden sich im Firmensafe.“
„Sind Sie sicher? Wir haben diese Information aus den Laborbüchern.“
Leach war sichtlich überrascht, schluckte, überlegte.
„Burns hatte mir versprochen, sämtliche Unterlagen dazu zu vernichten oder in den Safe zu tun. – Kann ich die Unterlagen sehen, in denen Sie von LP3416 gelesen haben?“
„Warum?“, wollte Foster wissen.
„Ich möchte wissen, ob er noch weitere Experimente dazu gemacht hat.“
„Die letzten Einträge dazu sind vier Monate alt“, sagte Balmer. „In den Unterlagen findet sich ab und zu eine Anmerkung mit dem Kürzel PC. Wer könnte das sein?“, fragte er weiter.
„PC dürfte für Dr Philipp Carter stehen. Er war Chemiker und hatte ebenso Kenntnis von den Experimenten. Er hat über zwei Jahre mit Burns gearbeitet, hat vor sechs Monaten gekündigt und arbeitet jetzt bei der Konkurrenz.“
„Wissen Sie, was er dort macht?“
„Sie arbeiten nicht auf den gleichen Gebieten wie wir.“
„Warum hat Carter gekündigt?“
„Er wollte sich weiterentwickeln.“
„Und sein Verhältnis zu Burns?“ Sie hatte das Gefühl, dass sie hier auf etwas gestoßen war.
„Hm, kleinere Probleme. Er beschwerte sich einmal bei mir, dass Burns ihn bei seinen Publikationen nie als Co-Autor beteiligen würde.“
„Sonst noch etwas?“
„Hm, mir fiel auf, dass Carter nie selber Ergebnisse präsentierte.“
„War Burns der Vorgesetzte von Carter?“
„Ja.“
„Dr Leach, wir würden uns jetzt gerne mit den Mitarbeitern von Dr Burns unterhalten.“
Eine Stunde später verließen Foster und Balmer das Gebäude. Sie hatten interessante Details über das Verhältnis von Burns zu Carter gehört, die sie veranlassten, über das Thema Rache nachzudenken. Carter musste als Nächster verhört werden.
Die Inspectoren waren gerade zurück ins Büro gekommen, als Sergeant Edmond McKannan und Constable Daniel Miller sie mit interessanten Neuigkeiten konfrontierten, die sie über die elektronische Überwachung bei Leach Pharma herausgefunden hatten: Sämtliche Aufzeichnungen vom Eingangsbereich bis in Burns’ Labor für die Zeit zwischen 8 und 9 Uhr abends waren entweder gelöscht worden oder die Kameras waren abgeschaltet gewesen. Das elektronische Zugangskontrollsystem verzeichnete keinerlei Türöffnungen in diesem Zeitraum.
„Weiß Leach davon?“, fragte Foster.
„Ich gehe davon aus“, meinte Miller. „Wir haben diese Daten in der IT-Abteilung von Leach Pharma angesehen. Je mehr wir sahen, oder besser nicht sahen, desto nervöser wurde der zuständige Mitarbeiter.“
„Das bedeutet, die haben ein größeres Sicherheitsproblem am Hals.“ Balmer machte sich Notizen.
„Also, die nächsten Schritte sind: Patrick, Sie nehmen sich Carter vor. Falls ich mich richtig erinnere, ist er jetzt bei Omnal Pharma in Cambridge. Dan und Ed, Sie gehen der Sache mit dem Kontrollsystem bei Leach Pharma weiter nach und versuchen außerdem herauszufinden, wie das Verhältnis von Burns und Carter war. Und dann sehen wir uns in zwei Tagen hier zu einer Besprechung wieder.“
Sie sah auf die Uhr. Es war schon wieder beinahe 7 Uhr abends. Heute wollte sie früher ins Bett gehen.
Mord auf der Brücke
„Es freut mich, dass alle zu unserer ersten Besprechung zum Fall Burns gekommen sind.“ Foster blickte sich im Besprechungsraum um und sah auch ihren Chef am anderen Ende des Tisches. Kincaid und Stevenson waren ebenfalls anwesend. Gerade wollte sie beginnen, als Ben Webber, der IT-Spezialist, hereinkam. Sie wartete noch einen Moment, bis auch er Platz genommen hatte, dann begann sie.
„Ich möchte kurz zusammenfassen, was uns momentan bekannt ist: Burns arbeitete als Wissenschaftler, genauer als Chemiker an der Synthese neuer Antibiotika gegen eine neue aggressive Variante des Pesterregers Yersinia pestis. Er wurde an seinem Arbeitsplatz im Labor mit Blausäure ermordet. Ken, kann Burns auch an etwas anderem gestorben sein?“
„Definitiv nicht. Es gibt auch keine Kampfspuren. Er wurde offenbar von hinten überrascht.“
„Der Täter kannte sich gut in der Firma aus. Er wusste um die Gefährlichkeit des Gases, das Burns als Reagenz zur Synthese einsetzte. Er scheint sich auch sehr gut mit der Sicherheitsanlage der Firma auszukennen: Kameras und Türsystem waren zur Tatzeit ausgeschaltet.“
Foster richtete sich an Webber: „Ben, haben Sie das alles bei Leach Pharma bestätigt gefunden?“
„Ja. Bis gestern haben IT- und Sicherheitsabteilung nicht herausgefunden, wie der Täter das Kontrollsystem überlistet haben könnte.“
„Der Täter hat aktuelle Forschungsunterlagen aus dem Labor mitgenommen. Wir haben aber im abgeschlossenen Schrank von Burns auch ältere Laborbücher gefunden, die über einen äußerst interessanten Sachverhalt berichten.“
Foster schilderte die Untersuchung mit der Substanz LP3416, die möglicherweise der Ausgangspunkt für den Mord und den Diebstahl war.
„Was der oder die Täter damit anfangen wollen, wissen wir allerdings noch nicht. Tess, haben Sie noch mehr?“
„Es ist möglicherweise auch noch anderes weggekommen. Wir fanden im Laborkühlschrank Spuren von Gläsern, die offenbar erst vor Kurzem entfernt wurden.“
„Ich möchte noch hinzufügen“, warf McKannan ein, „dass keiner der Mitarbeiter diese Gläser in letzter Zeit entnommen hat. Sie konnten sich bei der Befragung daran erinnern, dass sich in den Gläsern Vorstufen zur Synthese von LP3416 befunden haben.“
„Ich gehe davon aus, dass sich der Täter gut bei Leach Pharma auskannte und wusste, was er suchte“, ergänzte Foster.
„Gibt es einen Tatverdächtigen?“, warf Gallagher ein.
„Ja und nein“, antwortete sie und blickte ihren Chef an. „Dr Philipp Carter hat zwei Jahre lang mit Burns im gleichen Labor zusammengearbeitet. Er war vermutlich empört darüber, dass Burns ihn weder förderte noch ihn als Mit-Autor auf Publikationen nahm. Nach Aussage der Mitarbeiter von Burns hat es öfter zwischen den beiden gekracht. Carter hat vor sechs Monaten gekündigt und bei Omnal eine neue Stelle angetreten. Er hat allerdings ein Alibi und war zur Tatzeit in einer Videokonferenz bei seiner Firma.“
„Damit haben wir also erst einmal niemanden?“, fragte Gallagher.
„Richtig. Es sei denn, es gibt einen Dritten, der im Auftrag von Carter die Tat verübte. Oder wir müssen nach einer ganz anderen Spur suchen. Nachdem ich mich mit Ken über die Untersuchungen mit LP3416 unterhalten habe, könnte es durchaus sein, dass der Täter etwas Übles damit anstellen will.“
„Was meinen Sie mit Übles, Roberta?“, fragte Balmer.
„Bakterien züchten, mit denen man Menschen umbringen kann“, erklärte Foster. „Wir werden bei Leach Pharma weiter nachforschen. Ben, Sie übernehmen das. Und dann durchsuchen Sie bitte – Dan und Ed ebenfalls – das Internet nach dieser Substanz.“
Sie schaute in die Runde, und als keine weiteren Fragen aufkamen, schloss sie die Besprechung.
„Dr Leach, Sie haben uns verschwiegen, dass es zwischen Burns und Carter lautstarke Auseinandersetzungen gab. Wir hören, dass das häufig der Fall war.“ Die beiden Inspectoren saßen wieder im Zimmer von Leach.
„Häufig, das ist mir nicht bekannt. Es gibt oft Meinungsverschiedenheiten zwischen Wissenschaftlern.“
„Hier ging es offensichtlich nicht um unterschiedliche Meinungen über Test-Ergebnisse, sondern darum, dass sich Carter von Burns schlecht behandelt fühlte.“
„Na ja“, meinte Leach, „das gibt es oft zwischen dem Vorgesetzten und seinen Mitarbeitern.“
„Aber hier ging es um Beteiligungen an Veröffentlichungen und Patenten“, warf Balmer ein. „Wie wir aus den Laborjournalen von Carter ersehen konnten, hatte er vor Burns Experimente durchgeführt, die dann später in dessen Aufzeichnungen auftauchten.“
Leach saß versunken in seinem Chefsessel. „Ja, Burns war schon speziell. Aber ohne ihn wären wir bei der Entwicklung neuer Antibiotika lange nicht so erfolgreich.“
„Sie haben wohl immer die schützende Hand über ihn gehalten.“ Foster schaute Leach kritisch an. „Haben Sie Carter nahegelegt zu kündigen?“
„Nein, das hat er selber getan. Er war übrigens auch ein guter Wissenschaftler.“
„Wenn Burns dieses Problem hatte, gab es doch bestimmt noch andere, die nicht gut mit ihm ausgekommen sind?“
„Ist mir nicht bewusst. Waren seine Mitarbeiter im Labor unzufrieden mit ihm?“
„Das sollten Sie wissen, denke ich“, meinte Foster. „Die schienen es aber nicht zu sein, zumindest sagten sie es nicht.“
Sie verließen ohne wesentliche neue Erkenntnisse Leach Pharma und fuhren zurück zum Lloyd House.
„Patrick, machen Sie bitte einen Termin mit Carter aus. Wir sollten so schnell wie möglich mit ihm sprechen.“
Balmer lenkte den Wagen in Richtung Stadt. Foster schaute nachdenklich aus dem Wagen.
Zurück im Kommissariat schaute Foster sich bis zum späten Nachmittag noch einmal die Verhörprotokolle an, während Balmer mit Kincaid und Stevenson sprach. Sie packte gegen 18 Uhr ihre Sachen und fuhr nach Hause. Dort wartete bereits Lennart auf sie.
Sie hatten sich vor einem Jahr während eines Mord-Falles kennengelernt. Lennart McQuinn arbeitete als Journalist bei der Evening Post in Birmingham, was ihren Chef zu einer Warnung bezüglich dieser Beziehung veranlasste hatte. McQuinn und Foster war klar, dass keiner von ihnen dem anderen wichtige Informationen zuschieben durfte. Ihre Karrieren stünden auf dem Spiel. McQuinn wohnte immer wieder für ein paar Tage bei ihr.
„Hallo, du kommst heute früh nach Hause. Ist der Fall schon gelöst?“, meinte er etwas ironisch und blickte von seinem Laptop auf.
„Das wäre zu einfach“, meinte sie, hängte ihren Mantel an die Garderobe, streifte ihre Schuhe ab und legte sich auf das Sofa. „Aber was wäre ein Motiv für solch eine Tat?“, dachte sie laut.
„Du meinst, warum man einen Wissenschaftler auf so hässliche Art und Weise umbringt?“
„Genau.“ Mehr wollte und durfte sie nicht sagen, obwohl sie gerne mit ihm darüber gesprochen hätte.
Er schaute von seinem Laptop auf und meinte: „Ich habe ein paar Sachen zum Kochen mitgebracht. Wenn du noch eine Weile warten kannst, gehe ich später in die Küche.“
„Kann ich dir helfen?“, fragte sie und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.
Drei Tage nach dem spektakulären Mord an Richard Burns war sein früherer Mitarbeiter Philipp Carter nach einem langen Arbeitstag bei Omnal auf dem Weg nach Hause. Er fuhr immer die gleiche Strecke nach Birmingham, eine Landstraße mit schöner Aussicht auf die Gegend. Er wollte zu Hause noch über weitere Strategien in seinen laufenden Firmenprojekten nachdenken. Es war die richtige Entscheidung gewesen, vor mehr als einem halben Jahr bei Leach Pharma wegzugehen. Dort hätte er nie Unterstützung für seine Karriere erhalten; Burns hatte immer Angst, dass ihm jemand etwas wegnehmen würde. Vor zwei Tagen hatte er in der Zeitung von dem grässlichen Mord an Burns gelesen. Es gab wohl noch andere Leute, die ihm sein Verhalten übelgenommen hatten.
Carter war mit seinen Gedanken bei Leach Pharma, als ihn ein Lieferwagen überholte. Er wurde wütend, denn er befand sich auf einer engen Brücke, wo ein Überholverbot galt. Weiter kam er mit seinem Ärger nicht. Er merkte nur noch, dass sein Wagen mit einem kräftigen Stoß in Richtung Brückenmauer gedrückt wurde, die niedrige Steinwand durchbrach und 20 Yards in die Tiefe stürzte. Ein Aufprall, der Motorblock durchbrach die Autokabine und zerquetschte Carter binnen Sekunden.
„Chief Inspector Foster, Sergeant Furley von der West Midlands Metropolice hier. Können Sie bitte in die Nähe von Meriden kommen. Wir haben hier einen schweren Verkehrsunfall, bei dem ein Autofahrer samt Wagen von einer Brücke geflogen ist. Es könnte Mord gewesen sein. Ich schicke Ihnen gleich die Daten.“
Es war halb sieben, Foster war gerade dabei, ihre Sachen zu packen und nach Hause zu fahren. Balmer saß noch am PC und recherchierte. Sie waren im Fall des toten Wissenschaftlers noch nicht viel weiter gekommen. Mürrisch machten die beiden sich auf den Weg zur Unfallstelle.
„Lassen Sie uns mit zwei Wagen fahren. So kommen wir wenigstens etwas früher heim“, meinte Foster und stieg in ihr Auto.
An der Unfallstelle auf der Brücke erkannte sie erst einmal wenig: eine durchbrochene Mauer, ein paar Reifenspuren, wenige kleine Autoteile, die herumlagen. Erst beim Blick von der Brücke nach unten erkannte sie die Reste eines Personenwagens, Polizei und Ambulanz.
„Warum denken Sie, dass es Mord war?“, fragte sie skeptisch den Beamten, der sie empfangen hatte.
„Sehen Sie hier“, erklärte der Beamte, „die Reifenspuren deuten darauf hin, dass ein Wagen, wahrscheinlich ein Lieferwagen, den PKW zur Seite drückte.“
„Kann das nicht auch ein Fahrfehler gewesen sein?“
„Ich vermute anhand der Spuren, dass es Absicht war.“
„Wie kommen wir am schnellsten da runter?“
„Ich fahre Ihnen voraus, Madam“, sagte der Sergeant und stieg in seinen Wagen.
Ihr Navi kalkulierte drei Meilen für den Weg, der Beamte wählte allerdings einen Feldweg, und so erreichten sie die Stelle unterhalb der Brücke, wo der Wagen aufgeschlagen war, schon in fünf Minuten. Balmer kam eine Minute später und beide Inspectoren begaben sich zum Autowrack. Die Ambulanz hatte den Fahrer bereits auf die Bahre gelegt.
„Möchten Sie den Toten sehen?“, fragte der Notarzt.
„Ja“, meinte sie.
Der Notarzt warf die Decke zurück. Das Gesicht und die Brust waren zerquetscht, aber Foster und Balmer erkannten trotzdem sofort Dr Philipp Carter. Sie hatten zwar bisher nur ein Bild von ihm gesehen, aber ein Blick in seine Papiere bestätigte seine Identität. Sprachlos schauten sie sich an. Dann nahm Balmer sein Handy und rief Kincaid und Stevenson an.
Zu den Beamten sagte Foster: „Bitte belassen Sie alles, wie es ist. Hier könnte es sich um Mord handeln. Der Forensiker und die Spusi sind informiert. Sergeant, bitte beide Unfallstellen weitläufig absperren. Da es bald dunkel wird, überlegen Sie bitte, ob Sie die Landstraße bis morgen sperren können.“
„Ebenfalls ein grauenhafter Tod“, meinte sie zu Balmer, als sie die Aufprallstelle und das Wrack besahen. „Von einer Brücke zu stürzen, ist ein Albtraum für mich“, fügte sie hinzu.
Die beiden Inspectoren standen vor dem total zertrümmerten Auto und blickten schweigend abwechselnd hinein und nach oben zur Brücke. Dann setzten sie sich wortlos in Fosters Wagen. Es wurde langsam dunkel und Tropfen kündigten einen Regenschauer an.
„Wenn das, was ich denke, richtig ist, dann haben wir es mit einem größeren Problem zu tun“, überlegte er laut.
„An was denken Sie?“
„Ich konstruiere mal den Fall, dass jemand Burns umbrachte, um nicht nur an die Unterlagen, sondern auch an LP3416 zu gelangen. Carter war irgendwie daran beteiligt und musste beseitigt werden, da er ein Sicherheitsrisiko war.“
„Gute Geschichte, Patrick, aber was will derjenige mit der Substanz?“
Sie sah aus dem Augenwinkel, dass nicht weit entfernt ein ihr bekanntes Auto vor der Absperrung parkte. Heraus stieg McQuinn mit einem Fotografen.
Was will der denn hier, dachte sie, da winkte er ihr schon zu. Sie stieg aus und lief zu ihm.
„Was machst du denn hier?“
„Wir haben eine Information erhalten, dass es hier einen schweren Unfall gegeben hat. Aber da ich dich hier sehe, steckt wohl mehr dahinter.“
„Lennart, tu mir bitte einen Gefallen, schreib deine Notizen, mach deine Aufnahmen und bring sie zur Zeitung. Aber bitte keine Bemerkung darüber, dass du die Kripo hier gesehen hast.“
Er blickte sie neugierig an. „Geheimsache?“
„Lennart, bitte. Wir sind mitten in einem Fall, und ich kenne die Zusammenhänge überhaupt nicht. Und du kennst unsere Abmachung. Also bis nachher.“
Sie drehte sich um und lief zu ihrem Wagen zurück. Leicht misstrauisch beobachtete sie die Arbeit von McQuinn und seinem Fotografen. Nach fünfzehn Minuten fuhren die beiden tatsächlich ab. Balmer erkannte in Fosters Gesicht eine gewisse Anspannung. Er wusste um die Beziehung.
Kincaid und Stevenson erreichten eine halbe Stunde später die Unfallstelle unterhalb der Brücke. Es war inzwischen dunkel und der Regen verstärkte sich. Scheinwerfer der Polizeifahrzeuge beleuchteten die Szene. Zwei zusätzliche Scheinwerfer warfen ihr Licht auf das zerstörte Auto.
„Guten Abend zusammen“, sagte Kincaid. „Wissen Sie schon, um wen es sich handelt?“
„Um den ehemaligen Kollegen von Burns, Dr Philipp Carter.“
Kincaid entfuhr ein Pfiff. „Aua, hier schreckt jemand vor nichts zurück.“
„Tess, wir haben zwei Arbeitsplätze für Sie: einmal hier unten und einmal dort oben. Der Wagen von Burns wurde wahrscheinlich von einem anderen hinuntergestoßen. Vielleicht können Sie noch einige Spuren sichern.“
Foster informierte ihren Chef per SMS. Prompt bat er sie, am nächsten Morgen bei ihr vorbeizukommen. Beide Inspectoren fuhren eine Stunde später nach Hause.
Zu Hause schrieb Lennart seinen Zeitungsbericht. Er blickte kurz auf, schickte ihr ein Lächeln und ein „Guten Abend!“ entgegen und arbeitete weiter. Nach einigen Minuten kam sie umgezogen aus dem Schlafzimmer.
„Na, schon Erkenntnisse über diesen Unfall?“
Er schaute sie grinsend an: „Das wollte ich dich gerade fragen.“
„Wir sind erst ganz am Anfang“, wiegelte sie ab und begann, ein kleines Abendessen für sie beide zu richten.
„Sag mal“, fragte er. „Hatten die beiden Toten nichts miteinander zu tun?“
„Lennart, bitte. Wir haben noch nichts. Lass uns bitte vermeiden, über ungelegte Eier zu sprechen, die sich hinterher als Ente herausstellen könnten.“ Damit war für sie das Thema für heute erledigt.
Gallagher stand bereits hinter seinem Schreibtisch und erwartete sie.
„Guten Morgen, Roberta. Ich wollte Sie noch einmal kurz sprechen, bevor Sie an die Arbeit gehen und wahrscheinlich auch an den Tatort fahren. Bitte setzen Sie sich.“
Während er die Tür hinter ihr schloss, fuhr er fort: „Sie sind sich sicher, dass es sich bei dem Toten, ich möchte ihn momentan als Unfallopfer bezeichnen, um Dr Philipp Carter handelt?“
„Ja, wir sind uns absolut sicher. Wir haben seine Papiere.“
„Wenn das so ist, könnte einiges mehr hinter dieser Angelegenheit stecken. Ich spreche Sie deshalb darauf an, weil Leach Pharma ein wichtiger Arbeitgeber in unserer Gegend ist. Dr Leach ist kein leicht zu nehmender Mensch. Wir hatten schon einmal mit ihm zu tun, als es um zwei schwer verletzte Unfallopfer in der Produktion ging. Für den damaligen Inspector hatte es nach Mordanschlag ausgesehen. Einige Anhaltspunkte sprachen dafür. Ein Mord konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Wenige Wochen später verließen einige Mitarbeiter aus diesem Bereich die Firma. Was ich sagen will, ist, dass Leach damals nicht besonders kooperierte und wir den Eindruck hatten, dass er uns etwas verschwieg.“
„Wie lange ist das her?“
„Etwa 20 Jahre. Sie finden bestimmt die Akten im Archiv, falls es von Wichtigkeit ist.“
„Bis jetzt haben wir nicht den Eindruck, dass er uns Steine in den Weg legt. Er ist allerdings sehr um den Ruf seiner Firma bemüht, was auch verständlich ist.“
„Dennoch, seien Sie vorsichtig, wenn Sie in seiner Firma sind. Ist eigentlich schon etwas über einen möglichen Täter herausgefunden worden?“
„Nein, überhaupt nicht. Wir tappen noch im Dunkeln. Wir werden heute die Wohnung von Carter durchsuchen.“
„Hatte der Familie?“
„Soweit wir wissen, lebte er mit einer Partnerin zusammen.“
Bevor Foster an den Unfallort fuhr, ging sie in der Forensik bei Kincaid vorbei.
„Ken, gibt es schon etwas über den toten Carter?“
„Noch etwas früh, Roberta. Ich werde eine Zeit lang brauchen, bis ich etwas sagen kann. Sie haben gestern den Zustand der Leiche ja gesehen. Ich gebe Ihnen so schnell wie möglich Bescheid.“
Dann fuhr sie mit Balmer an den Unfallort unter der Brücke. Die Spusi war dabei, den total zerstörten Wagen und die weitverstreuten Teile zu verladen.
Sie sah Stevenson und sprach sie an: „Hallo Tess. Haben Sie auch schon die Spuren von der Brücke gesichert?“
„Meine Mitarbeiter sind noch dabei. Bei dem zweiten Wagen könnte es sich um einen weißen Ford-Transporter handeln.“
„Benedikt, geben Sie eine Fahndung raus, und Ed und Dan sollen Bewohner im Umkreis befragen, ob sie gestern gegen Abend einen solchen Wagen gesehen haben. Wir schauen uns hier noch ein wenig um und fahren dann zu Carters Wohnung.“
Das kleine Haus von Dr Philipp Carter lag nur wenige Meilen entfernt in Hampton-in-Arden. Seine Lebenspartnerin Jenny Leftward war bereits am Vorabend vom Tod Carters informiert worden. Die beiden Inspectoren fanden eine verzweifelte, trauernde Frau vor. Sie führte die Beiden in ihr Wohnzimmer und bat sie, Platz zu nehmen. Foster sah die Frau freundlich an.
„Ms Leftward, wir müssen Ihnen leider einige Fragen stellen. Wie lange leben Sie schon mit Dr Carter zusammen?“
„Beinahe sechzehn Jahre.“
„Dann haben Sie auch seine Zeit bei Leach Pharma mitbekommen?“
„Sie meinen den dauernden Streit mit Burns?“
„Ja. Wie ist das bei Ihnen angekommen?“
„Er kam oft abends total frustriert heim. Am Anfang sagte er sich noch, dass Burns ihn so behandelte, weil er neu war. Aber es fand kein Ende.“
„Hat Carter sich rächen wollen?“
„Wieso fragen Sie das? Er ist doch tot!“
„Hat er oder hat er nicht?“
„Ja, aber nicht ihn umbringen.“
„Wie dann?“
„Er suchte Beweise, dass Burns Ergebnisse gefälscht hat.“
„Und? Hat er Beweise gefunden?“
„Ich glaube nicht. Zumindest noch nicht, sagte er.“
„Wie hat Carter reagiert, als er von Burns’ Tod hörte?“
„Er sagte, dass er so etwas einmal erwartet hat.“
„Gab es noch andere, die über ihn verärgert waren?“
„Philipp sprach davon.“
„Nannte er Namen?“
„Nein, nicht, dass ich wüsste.“
„Wussten Sie, an welchem Projekt Ihr Partner bei Leach Pharma arbeitete?“
„Er sprach selten über seine Arbeit. Ich weiß nur etwas von Antibiotika. Aber warum fragen Sie das alles? War es denn kein Unfall?“
Foster zögerte. Balmer schaute zu ihr hinüber.
„Wir ermitteln auch wegen Mord, Ms Leftward.“
„Das ist ja grässlich. Wer sollte denn Philipp umbringen?“
„Genau das wollen wir herausfinden. Wir werden jetzt Ihr Haus durchsuchen müssen. Die Spusi wird auch bald hier eintreffen.“
„Suchen sie denn etwas Spezielles?“
„Wir suchen nach Hinweisen, wer Ihren Partner hat umbringen wollen, Ms Leftward.“
Die beiden Inspectoren durchstreiften die Räume, machten sich ein Bild von der Wohnung. Sie waren vor allem an Carters Büro interessiert.
„Tess soll sämtliche Unterlagen hier einpacken.“
Nach einer Stunde läuteten die Kollegen von der Spusi an der Tür. Balmer gab eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Durchsuchung und Stevenson meinte: „Wir arbeiten immer von unten nach oben. Ich sehe hier eine Kellertreppe. Dort unten werde ich anfangen.“
Die beiden Inspectoren waren gerade wieder bei Ms Leftward im Wohnzimmer, als ein Ruf aus dem Keller ertönte. „Roberta, Patrick, kommen Sie doch bitte nach unten!“
Sie folgten Stevensons Stimme, gingen die Treppe hinunter und standen vor einer Stahltür. Dahinter: ein Chemielabor.
„Grandios!“, meinte Stevenson. „Der hat sich ein komplettes Labor mit Abzug eingerichtet.“
„So langsam lichtet sich der Nebel“, meinte Balmer und machte sich gleich auf den Weg zum Schreibtisch, wo er Unterlagen liegen sah. Sie entdeckten ein großes Notizbuch und begannen darin zu blättern. Sie suchten nach etwas Bestimmtem. Elf Seiten weiter fanden sie den Eintrag über die Synthese von LP3416.
Sie hatten ihr Kommen nicht bemerkt. Ms Leftward stand plötzlich hinter ihnen und erklärte: „Das war Philipps Reich. Oft hat er hier am Wochenende gearbeitet, und auch im Urlaub. Es war sein ganzer Stolz.“
Die beiden Inspectoren schauten sich sprachlos an.
„Wussten Sie, was er hier herstellte?“, wollte Balmer wissen.
„Philipp sagte, es sind Sachen, die er gut verkaufen kann.“
„Er hat also nicht mit Ihnen über das geredet, was er hier machte?“
„So gut wie nie.“
Stevenson stellte sich zu ihnen.
„Unglaublich, wie gut er ausgerüstet ist. Es sieht allerdings so aus, als ob einige Geräte von Leach Pharma und Omnal Pharma wären.“ Balmer schaute sich die Gravur auf einem Glaskolben an.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Diese Kennzeichnungen im Glas – auf jeden Fall werden wir hier noch länger beschäftigt sein.“
Foster und Balmer stiegen wieder die Treppe nach oben.
„Gehen wir kurz nach draußen“, schlug sie vor.
„Unglaublich, worauf wir hier gestoßen sind.“
„Wenn der nicht auch noch illegale Drogen hier gekocht hat! Und seine Lebenspartnerin. Ist die wirklich so naiv? Ben soll das gesamte Internet nach Carter durchsuchen, und Tess soll sämtliche Computer aus dem Haus mitnehmen.“
Dann gingen sie wieder hinunter in das Labor. Sie sahen sich weiter um. Stevenson war offenbar begeistert von der Laborausstattung. Sie hatte in der Zwischenzeit zwei ihrer Mitarbeiter nach unten gerufen, die jetzt von jeder Substanz Proben entnahmen. Balmer schaute sich weiter um.
„Wo hat er nur das ganze Zeug versteckt?“, fragte er laut.
„Was meinen Sie?“, fragte Stevenson und schaute ihn an. Auch Foster sah ihn an.
„Das, was er hergestellt hat. Das muss doch irgendwo sein.“ Balmer suchte zusätzliche Türen, schaute in Schränke, dann fiel sein Blick auf eine Regalwand, deren Ränder einen Spalt zeigten. Er lief dorthin und drückte vorsichtig erst an der einen, dann an der anderen Seite. Die Wand bewegte sich leicht, aber nicht so weit, dass sie sich drehte. Dann entdeckte er eine kleine metallene Vertiefung, die vielleicht zu einem Schloss gehörte.
„Tess, haben Sie einen Schraubenzieher in Ihrem Koffer?“
Sie kam mit einem Werkzeugkasten an. Dann nahm sie einen Schraubenzieher, steckte ihn in die Vertiefung und drehte ihn vorsichtig. Gleichzeitig drückte Balmer sachte – das Regal schwang zur Seite.
„Wow“, sagte er zu Foster. „Jetzt können Sie einen weiteren Raum betreten.“
Sie stand dabei und staunte. Auch die anderen waren verwundert, als sie den Durchgang zu einem weiteren Raum entdeckten.
„Hier ist ein Lichtschalter“, sagte Balmer und lief als Erster hinein. Sie standen in einem weiteren Raum in der Größe des ersten Labors. Außer, dass sie elektrische, Wasser- und Abwasser-Leitungen sahen, entdeckten sie eine Anzahl von Kühlschränken, einen Schreibtisch und einen Computer. Foster schaltete ihn an, ein Passwort versperrte ihnen den weiteren Zugang.
„Den wird Ben schon knacken“, meinte Stevenson und war schon dabei, die Kabel zu lösen. Foster öffnete den größeren der beiden Kühlschränke und war erst einmal ohne Worte: Schön aufgereiht fand sie Boxen mit der Aufschrift „Speed“, „Angel Dust“ und „Killer Queen“.
„Kommen Sie mal: ein ganzer Einkaufsladen für Drogen!“
Sie standen sprachlos vor dem offenen Schrank.
„Da muss Dean ran. Ich rufe ihn gleich an“, erklärte Foster. Sie liefen weiter zu einem Tiefkühlschrank. Er war mit Gläsern und gefüllten Reaktionskolben bestückt.
„Hier bewahrt er seine Zwischenstufen auf“, erklärte Stevenson und schaute sich den einen oder anderen Glasbehälter an. „Halt!“, rief sie, als Foster ihre Hand nach einem bestimmten Glas ausstreckte. „Ich hole Ihnen das. Sie sollten ohne Schutzhandschuhe hier nichts anfassen.“
Dann hatte sie das Glas in der Hand. Die Aufschrift war eindeutig: LP3416. Sie stellte es zurück, überlegte und rief Sergeant Miller an.
„Dan, wir benötigen mindestens vier Mann Bewachung eines illegalen Drogenlabors, Tag und Nacht. Und arbeiten Sie mit Rogers zusammen.“
„Ist der wieder bei uns?“
„Ja, er hat sich nach Birmingham versetzen lassen.“
Dann ging sie nach oben in die Wohnung und suchte Jenny Leftward. Die war dabei, Tee zu kochen.
„Ms Leftward, kann ich Sie einen Moment sprechen? Sie wissen, was sich hinter dem Labor befindet?“
„Ein Abstellraum?“
„Hm, Sie wissen es wirklich nicht? Sie waren nie dort?“
„Nein. Philipp sagte einmal, dass er dort Material lagert.“
„Bei welcher Gelegenheit erzählte er Ihnen das?“
„Ich durfte normalerweise nicht in sein Labor. Als er vor circa einem Jahr etwas dort umbaute, durfte ich mir das danach ansehen. Er war sehr stolz darauf.“
„Was war das?“
„Dieser Labortisch mit Abzug.“
„Sie wussten wirklich nicht, dass Ihr Lebenspartner dort unten illegale Drogen herstellte?“
„Wie bitte? Das kann doch nicht sein!“
„Was hat er Ihnen denn erzählt, was er im Labor herstellt?“
„Er machte mir zum Beispiel eigene Cremes und Make-up. Sie stehen im Badezimmer.“
„Und was noch?“
„Er hat aus den Kräutern im Garten Extrakte gemacht. Die hat er dann verkauft. Aber Drogen?“
Foster stellte erst einmal keine weiteren Fragen. Ein paar Minuten später erreichte Inspector Dean Rogers vom Rauschgiftdezernat Carters Haus. Sie führte ihn ohne Kommentar nach unten.
„Da bin ich aber gespannt, Roberta, was Sie mir zeigen wollen.“ Unten kam er aus dem Staunen nicht heraus. „Das ist ja mal ein Fund!“, rief er erstaunt und machte seine Runde.
„Es ist allerdings nur eine Entdeckung neben dem, was wir eigentlich gesucht haben“, erklärte Foster. „Und das haben wir tatsächlich auch gefunden.“
„Und das ist?“, fragte Rogers.
„Eine Substanz, die Bakterien zu einer tödlichen Waffe macht.“
„Oh! Und die hat der Typ hier auch hergestellt?“
„Offensichtlich. Aber uns ist immer noch nicht klar, was er damit wollte.“
„… und ob er möglicherweise dafür umgebracht wurde“, erklärte Balmer.
Rogers war schon wieder in den Drogenfund vertieft. Er registrierte, dass die Spusi dabei war, den PC abzubauen.
„Haben Sie Webbers Leute schon informiert?“, fragte er.
„Warum? Die bekommen die Geräte.“ Stevenson schaute kurz auf. Sie war unter den PC-Tisch gekrochen.
„Schauen Sie, wo die Kabel hinführen. Da gibt es noch mehr.“
„Ich sage Ben Bescheid“, kam es unter dem Tisch hervor.
Foster hatte vier Tage später zu einer großen Besprechung geladen. Gallagher saß in der ersten Reihe, was er immer tat, wenn er etwas Spannendes erwartete.
„Ich möchte mit einer Zusammenfassung der Ermittlungen beginnen.“ Sie zeigte eine Folie:
„Erstens: Carter wurde durch einen fingierten Unfall getötet. Wir kennen den Verursacher noch nicht. Er fuhr einen weißen Ford-Transporter, der an der linken vorderen Seite stark beschädigt ist. Der Wagen ist einem Tankstellenbesitzer aufgefallen, als er kurz nach der vermuteten Tatzeit um 19:10 Uhr bei erhöhter Geschwindigkeit in der Nähe der Tankstelle die vordere Stoßstange verlor. Dem Transporter fehlte das hintere Kennzeichen. Wir haben ihn noch nicht gefunden.
Zweitens: Carter hatte ein sehr gut ausgestattetes Chemielabor im Keller seines Hauses. Er produzierte dort hauptsächlich Amphetamine, die er im Darknet verkaufte. – Danke, Ben, für die gute Arbeit! – Was für mich im Moment allerdings wichtiger ist, ist, dass er ebenfalls eine Substanz herstellte, die ursprünglich aus der Firma Leach Pharma kam, LP3416. Mit dieser Substanz kann man Yersinia-pestis-Bakterien, also Pestbakterien, so verändern, dass sie weder Ratte noch Floh zur Übertragung benötigen. Und noch brisanter ist, dass keines der bekannten Antibiotika dagegen wirkt. Carter hat diese Substanz ebenfalls im Darknet angeboten.“ Foster hielt inne und blickte in die Runde.
„Heißt das“, fragte Stevenson, „dass man mit solcherart hergestellten Mutanten Menschen sehr krank machen und töten kann?“
„Das heißt es“, erklärte Kincaid. „Sie erinnern sich vielleicht an den Milzbranderreger. In den Jahren 1942 bis 1943 hat unsere Regierung Experimente damit gemacht und die Insel Gruinard verseucht. Erst nach aufwendigen Reinigungen kann sie heute wieder betreten werden.“
„Wer würde denn so etwas machen?“, kam es aus der Runde.
„Hoffentlich niemand“, kam die Bemerkung von Gallagher. „Wie haben bislang keine Ahnung, was Carter oder sonst jemand damit vorhat.“
„Warum wurde diese Substanz überhaupt hergestellt?“ Miller saß ungläubig am Tisch.
„Sie ist ein Zufallsprodukt der Antibiotikaforschung“, erklärte Kincaid. „Bei Leach Pharma wurde entdeckt, dass aus den Bakterien mittels LP3416 Mutanten entstehen, die diese neuen, hochgefährlichen Eigenschaften haben. Die Firma hat daraufhin weitere Versuche eingestellt und alle Unterlagen, die Substanz und die Mutanten vernichtet.“
„Bis auf Reste von LP3416, die Burns entgegen den Anweisungen zurückbehielt“, fügte Foster an.
„Hatte Carter Pestbakterien in seinem Labor?“
Alle drehten sich zu McKannan um, dann zu Foster.
„Haben wir nicht gefunden“, entgegnete sie. „Oder, Tess?“
„Nein. Aber die Substanz LP3416.“
„Ich komme jetzt zum dritten Punkt: Carter kann nicht der Mörder von Burns sein. Er war zur Tatzeit in einer Videokonferenz bei Omnal, seinem neuen Arbeitgeber. Es muss eine weitere Person geben, die sich sehr gut mit dem Sicherheitssystem von Leach Pharma auskennt. Sollte es einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden geben, so können wir immer noch nicht verstehen, warum die Unterlagen von Burns gestohlen wurden, wenn sie bei Carter vorhanden waren.“
„Weil er sie angeboten hat“, kam es von Balmer.
„Aber warum wurde Carter dann ermordet?“, fragte Foster zurück.