Giftiges Blut - Uwe Trostmann - E-Book

Giftiges Blut E-Book

Uwe Trostmann

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Beschreibung

Spannende Kriminalgeschichte, die ihren Ursprung im 15. Jahrhundert in Schottland hat. Was haben ein Skelett aus dem Mittelalter, eine Tote, die vor 27 Jahren ermordet wurde, und eine Leiche im Kofferraum miteinander zu tun - außer dass sie alle ein markantes Zeichen auf der Stirn haben? Während Chief Inspector Steve Brennan und seine Assistentin Inspector Roberta Foster an der nördlichen Küste von Schottland die Untersuchungen aufnehmen, werden weitere Frauen in England umgebracht. Alle wurden mit dem Gift des Bilsenkrautes getötet. Nach längerer Fahndung und Verfolgung können die Inspectoren den Täter festnehmen, trotzdem geht das Morden nach dem gleichen Muster weiter: diesmal an jungen Männern. Sind es Ritualmorde oder steckt eine uralte Familienfehde dahinter? Werden Steve Brennan und Roberta Foster dieses Mysterium aufklären?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Uwe Trostmann

Giftiges Blut

Kriminalroman

www.tredition.de

Impressum

© 2020 Uwe Trostmann

COVER DESIGN: Jochen Pach, www.oryxdesign.de

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-17387-3

Hardcover:

978-3-347-17388-0

e-Book:

978-3-347-17389-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Mein besonderer Dank gilt meiner Lektorin Frau Friederike Schmitz (www.prolitera.de) für ihre Ausdauer und Geduld bei der Überarbeitung des Textmaterials für meinen ersten Kriminalroman und ihre wertvollen Anmerkungen und Korrekturen.

Ebenso gilt mein Dank Frau Claudia Chmielus für die aufmerksame Korrekturlesung.

Hamlet, Act 1 Scene 5, William Shakespeare

Claudius to poison King Hamlet:

Sleeping within mine orchard,

My custom always of the afternoon

Upon my secure hour thy uncle stole,

With juice of cursed hebenon in a vial,

And in the porches of mine ear did pour

The leprous distillment, whose effect

Holds such an enmity with blood of man

That swift as quicksilver it courses through

The natural gates and alleys of the body…

… Thus was I, sleeping, by a brother's hand

Of life, of crown, of queen, at once dispatch'd:

Cut off even in the blossoms of my sin.

Da ich im Garten schlief,

beschlich dein Oheim meine sichre Stunde

Mit Saft verfluchten Bilsenkrauts im Fläschchen,

Und träufelt' in den Eingang meines Ohrs

Das schwärende Getränk, wovon die Wirkung

Somit des Menschen Blut in Feindschaft steht,

Daß es durch die natürlichen Kanäle

Des Körpers hurtig wie Quecksilber läuft…

… So ward ich schlafend und durch Bruderhand

Um Leben, Krone, Weib mit eins gebracht,

In meiner Sünden Blüte hingerafft.

Hexentanz

Die Saat geht auf

Der Kommissar und der Fisch

Merkwürdige Zeichen

Erkenntnisse

Der Zug kommt an

Der Auftrag

Die Leiche im Kofferraum

Das Skelett vor der Mauer

Brennan-Tochter-Wochenende

Alte Unterlagen

Ein nicht geplanter Mord

Eine Familientragödie?

Neue Anhaltspunkte

Das Gift

Brennan fasst zusammen

Ein Problem für Roberta Foster

Die Tote im Kino

Die Spur

Die Jagd beginnt

Ein Wochenende voller Unsicherheiten

Brennans Risiko

Die Falle schnappt zu

Was ist die Wahrheit – Verhörtag 1

Foster in Bedrängnis

Verhörtag 2

Verhörtag 3

Verhörtag 4

Ein Dossier

Heimliche Tänze

Margareth Dunn

Verhörtag 5

Wer ist George Dale?

Verhörtag 6

Eine Entführung

Verhörtag 7

Ohne Spur

Verhörtag 8

Ein neuer Giftmord

Verhörtag 9

George wird gesucht

Verhörtag 9, nachmittags

Opfer 8 wird entführt

Der Plan geht nicht auf

Der Gejagte

Verhörtag 10

Michael Glenn wehrt sich

Verhörtag 11

Das Gift wirkt noch

Hexentanz

Die langen Kleider bauschten sich, die Tanzenden drehten sich um das Feuer, die Flammen stiegen meterweit nach oben, schnell schlugen die Trommeln den Takt. Die gesamte Szene zeichnete ein gespenstisches Bild in dieser mondbeschienenen Nacht. Sie hatten sich mit dieser Salbe eingerieben, Margareth hatte es ihnen gezeigt. Ihre Haut kribbelte, brannte, sie drehten sich schneller und schneller. Margareth, sich wiegend zwischen den anderen, sprach Sätze in einer anderen Sprache, sagte, sie wäre mit den Ahnen verbunden, sie sprächen durch ihren Mund: „Viele aus der Familie der Donn mussten sterben, sie waren ein Opfer der Rache. Ihr Tod wird heute gerächt.“

Sie reichte den Kelch herum, jeder trank einen Schluck, sie tanzte jetzt neben Diane Glenn, reichte ihr den Kelch noch einmal und noch einmal. Diane drehte sich weiter, ihr Ausdruck war glücklich, ihr Geist schon weit weg, ihr Körper wirbelte wie rasend. Als Margareth merkte, dass Diane sich nicht mehr lange auf den Füßen halten konnte, führte sie sie ein wenig weg vom Platz, neben einen Busch, hielt sie nicht, als sie fiel, und bewegte sich selber im Takt der Trommeln zurück zu den anderen. Verzückte Gesichter, lachende sich Drehende, die sich jetzt mehr und mehr um den Hals fielen; nun legten sie sich auf den Boden oder setzten sich mit geschlossenen Augen, waren weit weg in ihren Gedanken, das Gift entfaltete seine Wirkung, den Rausch. Die züngelnden Flammen und der volle Mond taten ein Übriges. Diane Glenn war nicht mehr bei ihnen.

Die ersten Gäste der Hexennacht waren eingeschlafen, andere wiegten sich noch in Trance, die Flammen waren zur Glut geworden, als sich die ersten Wolken vor den Mond schoben. Margareth, den vollen Überblick behaltend, sah das Wetter kommen und packte im Schein des restlichen Feuers ihre Sachen, die Trommler taten dasselbe. Es begann zu regnen. Sie weckte die Schlafenden und der ganze Tross folgte ihr in ihr Haus nach Port Isaac. Auf dem Boden, andere auf einer Couch, schliefen sie ihren Rausch aus.

„Guten Morgen zusammen, oder sollte ich besser sagen Guten Tag?“ Constable Settler hatte an der Tür geklingelt.

Margareth hatte den Constable vom Fenster aus gesehen und war ihm schon entgegengegangen.

„Was kann ich für Sie tun? Falls wir heute Nacht etwas liegen gelassen haben, so räumen wir das noch heute weg.“

„Sie haben eine Person da oben liegen gelassen. Eine tote. Laut Papieren in ihrer Tasche heißt sie Diane Glenn. War die bei Ihrer Party gestern Nacht dabei?“

„Ja“, kam es zögerlich aus Margareths Mund. „Sie sagen tot? Das ist ja entsetzlich! Wie ist sie denn gestorben?“

„Das wissen wir noch nicht. Haben Sie nicht gemerkt, dass sie nicht dabei war, als sie zurückliefen?“

„Es gehen immer wieder Gäste weg, ohne sich zu verabschieden.“

„Sie kommen bitte alle auf die Wache mit.“

„Sind wir verhaftet?“

Constable Settler ging auf diese Frage nicht ein. Draußen wartete ein Polizei-Transporter, der die ganze Gesellschaft auf die Wache brachte.

Margareth Dunn wurde ein halbes Jahr später wegen unerlaubten Drogenbesitzes zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem wurde ihr verboten, ähnliche „Hexenfeste“ noch einmal durchzuführen. Sämtliche Beteiligten hatten ausgesagt, dass sie das Getränk mit dem Bilsenkraut freiwillig zu sich genommen hatten. Niemand hatte sie dazu gezwungen. Der Richter ging davon aus, dass Diane Glenn selber die tödliche Dosis eingenommen hatte.

Die Saat geht auf

Es war eine lange Reise gewesen. Erst mit dem Bus nach Plymouth und dann mit dem Zug nach Birmingham. Gerald Dunn fühlte sich krank und wusste nicht, wie lange er noch leben würde. Alt war er mit seinen 56 Jahren noch nicht, doch die Arbeit auf dem Kutter hatte ihre Spuren hinterlassen. Mit seinen tiefen Falten im Gesicht, seinem leicht gebeugten Rücken und seinem langsamen Gang mache er den Eindruck eines 66-Jährigen.

„Irgendwann müssen wir die Familienehre rächen. So wie früher auch“, hatte seine Cousine Margareth ihm vor Jahren erklärt. „Wenn du dich zu schwach dazu fühlst, wird es vielleicht Winston später machen.“

„Aber der ist doch erst zwei Jahre alt“, hatte Gerald Dunn entgegnet.

„Ich habe noch genug Zeit, ihn darauf vorzubereiten.“

„Nein. Ich will das tun! Es ist an der Zeit, dass es endlich getan wird.“ Gerald Dunn teilte Margareths Meinung.

Vom Bahnhof in Birmingham hatte er den Bus nach Oldbury genommen, von dort aus lief er bis zu dem kleinen Reihenhaus von Claire Glenn und klingelte. Einmal, zweimal.

„Sie hat doch geschrieben, dass sie um diese Zeit zu Hause ist“, murmelte er vor sich hin.

Endlich ein Geräusch. Sie kam die Treppe hinunter und öffnete. Die junge Frau mit den großen braunen Augen und dem halblangen blonden Haar lächelte ihm entgegen:

„Sie sind Gerald Dunn? Kommen Sie herein.“

Sie hatten Briefe ausgetauscht und Claire freute sich darauf, etwas über ihre Vorfahren zu erfahren.

„Haben Sie die Briefe noch?“, wollte Gerald wissen.

„Na klar. Ich habe sie alle hier auf dem Wohnzimmertisch gestapelt.“

Mit einem Blick vergewisserte sich Gerald Dunn, dass alle vier Briefe auf dem Tisch lagen.

Claire hatte gerade die Tür geschlossen und wollte sich umdrehen, als Gerald Dunn ihr ein Tuch mit Chloroform auf das Gesicht drückte. Sie wurde sofort ohnmächtig. Er schleppte die junge Frau in den Keller. Von einer früheren Beobachtung wusste er, dass der Keller keine Fenster hatte. Und so manches mehr hatte er über Claire Glenn herausgefunden, was ihm jetzt nützlich war. Er holte Fesseln und einen Knebel aus der Aktentasche und das kleine Gefäß mit der öligen Substanz.

Claire wachte auf. Gerald Dunn hatte sie auf einen alten Stuhl gesetzt und festgebunden. Sie wusste erst einmal nicht, was geschehen war, erkannte dann aber ihre Situation und bekam Panik. Angst war in ihren Augen zu erkennen.

„Du darfst nicht schwach werden, wenn sie dich anschaut“, hatte Margareth immer wieder bekräftigt. „Schaue ihr nicht in die Augen, wenn du es nicht aushältst.“

„Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen“, begann Gerald Dunn.

Claire versuchte, sich zu befreien. Sie zerrte an den Fesseln an Händen und Füßen. Sie wollte schreien. Der Knebel in ihrem Mund ließ keinen Laut hinaus.

„Im Jahre 1457 weigerte sich Aleen Glean, Gilmore Donn zu heiraten, so wie es die Familien beschlossen hatten. Aleen lief erst weg und wurde dann ermordet, vergiftet. Die Leute sagten, dass es der Bruder von Gilmore war. Die Gleans schworen Rache und begannen über Generationen alle jungen Mädchen aus der Familie Donn zu vergiften. Viele wurden umgebracht. Kennen Sie diese Geschichte?“

Claire schüttelte den Kopf. Sie konnte schlecht atmen mit dem Knebel im Mund.

„Ich nehme jetzt den Knebel weg. Hier in Ihrem Keller können Sie schreien, so viel Sie wollen. Es hört Sie niemand. Und um diese Zeit sind die Nachbarn alle bei der Arbeit.“

„Was wollen Sie von mir! Ich habe Ihnen doch nichts getan!“

„Doch. Sie und Ihre Vorfahren: Sie haben unsere Familie auslöschen wollen.“

„Das ist doch nicht wahr! Ich kenne diese Geschichte gar nicht. Und wenn das wahr ist, so ist das doch schon lange her. Was wollen Sie mit mir machen?“, fragte Claire ängstlich. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht.

„Sie sind Teil meiner Rache.“

„Sie wollen mich umbringen?“

„Das werden Sie selber tun.“

Claire schüttelte den Kopf.

„Möchten Sie etwas trinken?“

„Ja“, antwortete sie leise.

Gerald Dunn ging in die Küche, füllte ein Glas mit Apfelsaft und gab den Inhalt des Fläschchens hinzu, das er mitgebracht hatte. Claire trank das Glas zu Gerald Dunns Zufriedenheit in einem Zug leer. Sie lehnte sich zurück.

„Was soll ich für Sie tun? Es muss doch einen Grund haben, dass Sie mich hier fesseln.“

„Ihnen wird es bald besser gehen.“

„Wenn es mir besser gehen soll, dann machen Sie mich gefälligst los!“

„Bald“, sagte er. Nun erzählte er von dem Ort Port Isaac an der Küste, wo er lebte, und von seiner Arbeit als Fischer.

Nach nicht allzu langer Zeit, vielleicht 20 Minuten, entspannte sich ihr Gesicht. Gerald Dunn hatte von seiner Cousine gelernt, dass das Gift dann bald seine Stärke entfalten würde. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Claire Glenn einschlief, und eine weitere halbe Stunde, bis ihr Atem aufhörte zu fließen. Er löste die Fesseln und trug die Tote die Treppe zum Eingang hinauf. Er fuhr Claires Nissan – die Autoschlüssel hingen auf einem Haken im Flur – bis dicht vor die Haustür, lud die Leiche in den Kofferraum, erinnerte sich der Briefe, die auf dem Wohnzimmertisch lagen, und packte sie in seine Tasche, holte einen Spaten aus dem Garten und fuhr zehn Kilometer bis zu einem kleinen Wald. Er schaufelte eine Grube, nahm sein Messer – es war das Messer, das er zum Aufschneiden der Fische verwendete – und begann mit viel Druck, in die Stirn der Toten das Zeichen zu ritzen.

Sie blutete immer noch, stellte er fest, er würde sich waschen müssen. Ob der Schnitt auch tief genug war, damit das Mal für immer bliebe, dieses Schandmal?

Er rollte Claire Glenn in das feuchte, waldige Grab, warf die Erde darauf und deckte es mit ein paar Ästen zu. Das Blattwerk war feucht genug, um sich das Blut von den Händen abzuwischen. Den Rest wusch er mit dem Wasser aus seiner Flasche ab. Er setzte sich wieder in den Wagen, fuhr ihn in die Nähe einer Bushaltestelle und stellte ihn dort ab. Dann fuhr er mit dem Zug zurück nach Port Isaac.

„Margareth, ich habe die Familie gerächt“, waren seine ersten Worte, als er die Tür hinter sich verschlossen hatte.

„Du hast einen Teil der Familie gerächt. Es liegt noch viel Arbeit vor uns.“

Der Kommissar und der Fisch

Steve Brennan stand seit drei Tagen wiederholt im Spy River und warf immer wieder die Angelrute in das eiskalte Wasser. Gestern war ein guter Tag gewesen. Drei Lachse und fünf Forellen hatte er an der Angel gehabt. Stunden um Stunden konnte er mit seiner Lieblingsbeschäftigung verbringen. Aber er schaffte es nicht mehr, länger in den schnell fließenden Teilen des Flusses zu stehen. Es kostete ihn inzwischen zu viel Kraft. Und er merkte auch die Kälte des Wassers. Trotz seiner gefütterten langen Angelhosen machten sich nach schon wenigen Stunden die schmerzenden Knochen bemerkbar. War es wieder einmal so weit, nahm er seine Angelrute und setzte sich an einem ruhigeren Teil des Flusses ans Ufer und versuchte von dort aus sein Glück. Heute war er bis zu einer sonnenbeschienenen Sandbank gelaufen. Die Bäume um ihn herum gaben ihm das Gefühl, hier alleine zu sein. Er liebte diese Stelle. Sein Hobby war für ihn, den Chief Inspector aus Birmingham, die Entspannung, die er in seinem nervenaufreibenden Beruf benötigte und fand.

Schon länger hatte es in seinem Kommissariat keine größeren Fälle mehr gegeben. Die letzten Morde, die in seinen Bereich fielen, lagen etwa ein Jahr zurück, ihre Aufklärung war nicht schwierig gewesen. Eine Kindesentführung hatte vor zwei Jahren stattgefunden, mit erheblichem Aufwand hatte er auch diesen Fall lösen können. Die jetzige Ruhe im Kommissariat empfand Brennan als angenehm, da er in spätestens eineinhalb Jahren in den Ruhestand gehen würde. Einen hoch komplizierten Fall brauchte er jetzt nicht mehr. Aber er misstraute dieser Ruhe.

Seine Gedanken wurden jäh von einem Fisch unterbrochen, der an seinen Angelhaken gebissen hatte. Es war ein größeres Exemplar, das gewaltig an seiner Angel zog und ihn zum Aufstehen zwang. Vorsichtig spannte Brennan die Angelschnur immer wieder, doch der Fisch versuchte, mit der Strömung davonzuschwimmen. Brennen spannte, rollte die Schnur auf, musste wieder etwas nachgeben, da der Zug zu groß war und die Schnur reißen konnte. Er sah den Fisch als Gegner, den es zu bezwingen galt. Der Fisch zog mehr und mehr und zwang den Angler, in den Fluss zu steigen. Brennans Größe von 1 m 87 cm erlaubte ihm, auch in die tieferen Stellen des Flusses zu gehen. Sein ganzer Körper war jetzt angespannt, seine Gesichtszüge wurden noch härter, seine recht große Nase ragte markant hervor – Brennan kämpfte mit dem Fisch.

Sie hatten eine halbe Stunde miteinander gerungen, als eine Art Gleichstand eintrat: Brennan holte den Fisch zwei Meter zu sich heran und musste ihm bald wieder die gleiche Länge zurückgeben. Dann geschah es: Die Angelschnur verfing sich in einer angeschwemmten und zwischen zwei Felsen eingeklemmten Wurzel und riss. Fluchend sah Brennan dem davonschwimmenden Fisch nach. Er lief ärgerlich zu seinem Klappsitz zurück und blickte lange auf den Fluss.

„Gut. Du hast dieses Mal gewonnen. Das nächste Mal kriege ich dich.“

Chief Inspector Steve Brennan war bekannt für seine Hartnäckigkeit. Viele seiner Kollegen und auch seine ehemalige Frau Carol unterstellten ihm Dickköpfigkeit und Inflexibilität. Er hatte aber immer recht behalten. Die meisten seiner Fälle hatte er auf seine Art lösen können. Bei so manchem Kollegen waren allerdings nicht nur zufriedene Gesichter zurückgeblieben. Mancher hatte sich übergangen gefühlt, ein anderer gedemütigt.

Er hatte sich aber jedes Mal mit ganzer Kraft in die Fälle gekniet, was von seinem Körper nicht immer gut aufgenommen wurde. Bluthochdruck und Herzprobleme waren das Resultat. Brennans Esskultur förderte diesen Zustand noch: Fertigpizza und Hamburger, schnell hinuntergespült mit mindestens einem Bier. Sein Freund und Arzt Dan Halfpenny hatte ihn schon mehrfach gewarnt, dass er seine Pension nicht viele Jahre würde genießen können, wenn er so weitermachte.

An diesem Morgen war das Wetter noch schön, aber der Wetterbericht behielt leider recht und am frühen Nachmittag begann es zu regnen. Brennan hatte, als er mit dem Fisch kämpfte, gar nicht mitbekommen, dass sich dunkle Wolken vor die Sonne geschoben hatten. Die ersten Tropfen veranlassten ihn, seine Sachen zu packen und mit seinem Fang, drei Fischen, zurück in die kleine Hütte bei Ordiequish zu fahren. Im Auto fiel ihm plötzlich ein, dass am Montag ein neuer Kommissar in seiner Abteilung antreten würde, genauer gesagt eine Kommissarin. Eine Frau, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Die wollten alles besser wissen. Und an die Regeln schien diese sich auch nicht halten zu wollen. In Edinburgh wollte sie ihre eigenen Sachen machen. „Das gibt es bei mir nicht!“ Brennan parkte seinen Wagen vor dem Ferienhaus. „Das hätte jetzt nicht auch noch sein müssen.“ Erst murmelnd, dann immer lauter hatte er mit sich selbst gesprochen.

Brennan nahm die Fische aus und fror zwei im Tiefkühlschrank ein. Den schönsten hatte er sich auf dem Grill zubereitet.

„Ich darf morgen nicht vergessen, die Fische mit nach Birmingham zu nehmen.“

Im Kamin brannte das Feuer und verbreitete eine angenehme Wärme. Brennan schob den leeren Teller von sich, nahm seine Bierflasche und setzte sich in einen Sessel in der Nähe des Kamins. Es war der letzte Tag seines Kurzurlaubes. Dieses Mal hatte ihn auch kein Telefonanruf gestört, weder aus dem Kommissariat noch von seiner geschiedenen Frau Carol noch von seinen Töchtern Judy oder Miriam.

„Die drei Frauen lernen endlich, dass es auch ohne mich gehen muss“, brummelte er vor sich hin und nahm die Zeitung zur Hand.

Doch manchmal wurde er in seiner Ruhe gestört. Vor sechs Jahren war ein Anruf auf sein Handy gekommen, der ihn beim Angeln erreichte. Jemand hatte vier Wochen vorher in Birmingham eine Bank überfallen und war jetzt, vermutlich in Schottland, in Brennans Gegend unterwegs. In Aberdeen hatte er bei einem erneuten Banküberfall seine Fingerabdrücke hinterlassen. Er sollte sich irgendwo am Spy River versteckt halten. Brennan unterbrach widerwillig seinen Urlaub und begann in den umliegenden Ortschaften zu recherchieren. Er fand ihn. Die schottische Polizei konnte den Bankräuber festnehmen. Sein damaliger Chef hatte sich bei ihm bedankt, gab ihm aber keinen Tag länger Urlaub. Brennan musste sofort wieder zurück.

Vier Tage hatte er sich jetzt freigenommen und war die lange Strecke von Birmingham hier heraufgefahren. Seit bald dreißig Jahren machte er das. Früher waren Carol oder die Töchter dabei gewesen. Das war nie gut gegangen. Sie hatten ihn nie in Ruhe gelassen. Er wollte angeln, sie suchten Abwechslung beim Wandern und Sightseeing. Bis er eines Tages beschlossen hatte, dass er ab sofort nur noch alleine hierherfahren würde. Sehr zum Ärger von Carol. Aber das war Geschichte.

Morgen musste er wieder zurück – aber nur noch für die nächsten eineinhalb Jahre. Dann würde er sein Haus in Birmingham verkaufen und hierherziehen. Der Chief Inspector legte seine Beine auf die Sesselablage und vertiefte sich in seine Zeitung.

Merkwürdige Zeichen

Es war nicht ihre Gewohnheit, aber an diesem Morgen war Roberta Foster sehr früh aufgestanden. Und sie hatte keinen Kater. Ganz bewusst hatte sie am Abend vorher auf ihren Gin verzichtet und es bei einem Glas Wein belassen. Sie wollte auf keinen Fall bei ihrer neuen Dienststelle als unpünktlich und verschlafen auffallen. Sie hatte ihre Prüfungen gut bestanden und die Zeit als Sergeant erfolgreich hinter sich gebracht. Die neue Stelle würde ihre erste Stelle als Inspector sein.

„Du siehst schick aus heute Morgen“, kam es aus dem Badezimmer. „Hoffentlich ist das Arbeitsklima in Birmingham besser.“ Paul stellte den Föhn zurück in den Badezimmerschrank.

„Ich hoffe auch, dass sich der Umzug nach Birmingham gelohnt hat. In Aberdeen hat jeder den anderen angemault.“ Roberta Foster sah sich im Spiegel an. Ihr dunkelrotes Kleid saß sehr gut und passte zu ihren dunkelbraunen Haaren. Sie hatte sie vor zwei Tagen auf halblang kürzen lassen und so musste sie sie heute nicht zusammenbinden – zu ihrem ersten Arbeitstag. Sie blickte im Spiegel nach unten und stellte fest, dass die Schuhe mit den halbhohen Absätzen ebenso passten.

„Und was für ein Glück, dass ich hier sofort eine Stelle in der Bank bekommen habe. Aber sei bitte etwas zurückhaltender“, meinte Paul noch.

„Wie meinst du das?“

„Du weißt schon. Dein Temperament geht dir manchmal durch. Und das vertragen nicht alle“, erklärte Paul und zog sich seinen dunkelblauen Anzug an.

„Du magst es aber wohl, wenn ich Temperament im Bett zeige.“

Foster trank langsam den heißen Kaffee. Der letzte Fall, an dem sie in Aberdeen mitgearbeitet hatte, wäre beinahe zu einer Katastrophe für sie geworden. Erst wenige Monate zuvor hatte sie die letzten Prüfungen als angehender Inspector auf der Polizeischule hinter sich gebracht. Sie wollte sich so bald wie möglich auf eine entsprechende Stelle bewerben. Sie wollte alles besonders gut machen. Dabei hatte alles ganz normal angefangen: Ein Überfall auf eine Tankstelle, ein Mitarbeiter war getötet worden, die Hinweise sprachen für einen Überfall durch eine Rockergruppe. Foster war bei den Untersuchungen dabei, es konnte keine ortsbekannte Gruppe gewesen sein. Der Täter, der den Mann erschossen hatte, wurde erst einmal nicht gefunden. Aber eine Freundin erzählte ihr, dass sie eine andere Gruppe gesehen haben wollte, die sonst noch nicht groß in Erscheinung getreten war. Doch sie kamen mit ihren Untersuchungen bei den ortsbekannten Leuten nicht weiter, weil Rocker sich gegenseitig nicht verpfeifen. Foster hatte sich daraufhin entschlossen, ohne mit ihrem Chef gesprochen zu haben, privat Kontakt zu den Hell Waves aufzunehmen. Sie hatte sich dazu Urlaub genommen, hing mit ihnen den einen oder anderen Abend in einer Bar herum und durfte auch mit ihnen auf Tour gehen. Sie hängte sich an Will, er schien ihr die geeignete Person zu sein. Auf einer der Touren wollte die Gruppe wieder eine Tankstelle überfallen. Dick hatte die Pistole gezogen, drohte, wollte mit Gewalt die Kasse erbeuten und war schon dabei, den Tankwart zu erschießen, als Foster sich als Sergeant zu erkennen gab und Dick festnehmen wollte. Sie warf ihn zu Boden, doch seine Kumpel halfen ihm. Es kam zu einem kurzen Handgemenge, in dem sie gefesselt und geschlagen wurde. In der Zwischenzeit hatte der Tankwart den Alarmknopf drücken können. Keine fünf Minuten später war die Polizei vor Ort. Sechs Rocker konnten erst einmal abhauen. Dick war überwältigt worden, bevor er seine Pistole auf Foster richten konnte. Sie hatte nicht nur eine Rüge, sondern auch einen Eintrag in ihre Personalakte erhalten. Ihre Beförderung war um sechs Monate verschoben worden.

Paul nahm seine Frau in die Arme und gab ihr einen dicken Kuss.

„Dann bis heute Abend“, verabschiedete sie sich, zog die Tür hinter sich zu, setzte sich in ihren Wagen und fuhr zum Lloyd House, Colmore Circus Queensway, ihrer neuen Arbeitsstelle.

„Guten Morgen zusammen. Mein Name ist Roberta Foster. Ich bin der neue Inspector.“ Sie stand in einem Großraumbüro und sah sich um. Was sie suchte, waren Einzelbüros, die sie zu ihrem Entsetzen nicht fand.

Ach du liebe Güte. Großraum mochte sie besonders. Wie in Aberdeen, stellte sie mit Erschrecken fest, und sie lief geradewegs auf einen Schreibtisch in der Nähe der Eingangstür zu. Elli Lightfoot lächelte zurück, begutachtete diese gut angezogene junge Frau. Overdressed, fand sie spontan. Bin gespannt, was der Chief Inspector dazu sagt.

Elli stellt sich ebenfalls vor: „Ich bin die Sekretärin. Willkommen bei uns. Ich mache Sie gleich mit den Kollegen bekannt.“ Elli machte mit ihr die Runde. Alle schauten interessiert, die Männer besonders.

„Der Chief Inspector Steve Brennan kommt manchmal etwas später. Ich stelle Sie ihm sofort vor, sobald er hier ist.“

Foster musste über diese Bemerkung lächeln. Noch jemand, der nicht so gerne pünktlich war. Brennan war ihr neuer Chef. Sie machten weiter ihre Runde, Elli führte sie zu den Constables und Kollegen von der Spurensuche und vom IT-Bereich und wies Foster einen Schreibtisch zu. Inspector Roberta Foster begann ihren ersten Arbeitstag.

Mit einem kurzen „Morgen!“ betrat der Chief Inspector das Großraumbüro. Wie gewöhnlich trug er einen grauen Anzug.

„Elli, gibt es etwas Neues?“, warf er in den Raum und begab sich direkt zu seinem Schreibtisch.

„Ms Foster ist da, der neue Inspector.“

„Aha, frisch von der Schule und noch nie eine Leiche gesehen“, knurrte Brennan in den Raum, machte aber kehrt und begrüßte sie.

Die hat wohl das falsche Outfit gewählt. Wir sind hier doch nicht in der Oper, kam ihm beim Anblick ihrer Kleidung in den Sinn.

„Ich war schon an einigen Fällen beteiligt“, entgegnete sie prompt.

„Ich kenne Ihre Geschichte. Aber nehmen Sie meine Kommentare nicht persönlich – sie werden gegen Ende der Woche wieder netter. Trotzdem willkommen.“

Sie hatte schon einige Geschichten über ihren neuen Chef Steve Brennan gehört. Sie solle sich auf einiges vorbereiten. Das Leben bei diesem alten Chief Inspector sei kein Honigschlecken, aber er sei tüchtig und hätte schon viele komplizierte Fälle gelöst. Man könne bei ihm viel lernen. Foster hatte im Übrigen keine Wahl. Ihr Bewerbungsschreiben war nur hier in Birmingham positiv aufgenommen worden.

Die beiden Inspectoren unterhielten sich bei einer Tasse Kaffee über die Polizeischule, deren Lehrer, die Brennan auch kannte, und kamen dann zur alltäglichen Arbeit.

„Momentan ist hier nicht viel los. Ich meine, keine großen Sachen. Hier ein Einbruch, dort ein Überfall. Ein Haufen Papierkram“, erklärte er.

„Wann hatten Sie denn den letzten großen Fall? Ich meine, einen Mord?“, wollte sie wissen.

„Das ist etwa ein Jahr her. Aber vor zwei Jahren hatten wir diesen Fall mit der Kindesentführung. Die Leiche des Kindes wurde später gefunden und für uns ging es dann richtig los. Ein ganzes Jahr haben wir den Mörder gesucht.“

„Der sich nach Italien abgesetzt hatte“, wusste Foster zu ergänzen.

Dieser Fall hatte Brennan beinahe das Genick gebrochen. Er hatte ihn lösen können. Aber die Androhung von Folter war vom Gesetz nicht gedeckt. Er wollte nichts unversucht lassen, um das Kind retten. Sie hatten einen der Entführer, Berry Duff, ergreifen können. Der redete aber nicht. Brennan drohte mit Waterboarding, ließ eine Wanne in das Verhörzimmer bringen und sie mit Wasser füllen; er packte den Entführer und schleppte ihn voller Wut zur Wanne. Da begann Duff zu reden. Seine Aussage zum Fundort erwies sich als richtig. Nur war das Kind schon seit zwei Wochen tot. Der Entführer beschuldigte nachher Brennan der Folter. Die Presse stand hauptsächlich hinter dem Chief Inspector. Aber Folter war Folter, das wusste er, und auch die Androhung war verboten. Er war mit einem Verweis davongekommen. Brennan kramte in seinem Stapel, zog die eine oder andere Akte hervor und meinte: „Nehmen Sie sich diese Fälle vor. Es geht um eine Einbruchsgang, wahrscheinlich vom Kontinent.“

„Chief Inspector, ein Anruf von der Metropolitan Police.“ Elli kam mit einem Zettel aus der anderen Ecke des Büros.

„Wanderer haben oberhalb des Botanischen Gartens ein Skelett gefunden. Kollegen sind vor Ort.“

„Na, kaum sind Sie da, gibt es schon eine Tote. Dann packen Sie mal Ihre Sachen, Roberta. Wir machen einen kleinen Ausflug.“

Die Fundstelle lag an einem Hang am Waldrand neben einer kleinen Straße. Foster mit war ihrer Kleidung auf diesen Einsatz nicht vorbereitet. Brennan grinste bei ihrem Versuch, mit den hochhackigen Schuhen den Hang hinaufzulaufen. Die Tote war wohl vergraben worden, aber nicht tief genug, sodass Regen den Boden langsam abgetragen hatte und möglicherweise auch Tiere dort herumgewühlt hatten.

„Die liegt aber schon etwas länger hier.“ Mit seinen Untersuchungen beschäftigt und ohne aufzuschauen meinte der Forensiker Dr Kincaid weiter: „So etwa dreißig Jahre, möchte ich vermuten. Genaues kann ich erst in ein paar Tagen sagen. Tiere haben hier leider auch schon herumgeschnüffelt und geknabbert. Das macht die genaue Analyse schwer. Da werden wir noch ein paar Tage hier am Fundort beschäftigt sein, bis wir sämtliche Reste identifiziert haben.“

„Irgendwelche Zeichen von Gewaltanwendung?“ Foster meinte schon ihren ersten Fall zu sehen. Sie hoffte, ihn übernehmen zu können.

„Viel zu früh, junge Dame. Wir sehen ja jetzt erst ein paar Knochen und den Schädel.“

„Das ist übrigens unsere neue Kollegin Inspector Roberta Foster. Sie hat heute ihren ersten Arbeitstag“, stellte Brennan sie vor.

„Na, dann willkommen zu Ihrem ersten Fall!“

„Das sieht ja wie eingeritzt aus“, meinte der Chief Inspector.

„Was meinen Sie? Das auf dem Stirnknochen? Na, warten wir mal ab. Wir melden uns, sobald wir mehr wissen. Aber wie gesagt, das kann schon noch eine Zeit lang dauern.“ Die beiden Inspectoren setzten sich in ihr Auto und fuhren zurück ins Büro.

„Sie können sich da mal nützlich machen, Roberta. Bleiben Sie mit der Spusi und dem Forensiker in Kontakt und berichten mir die Neuigkeiten. Mehr können wir momentan nicht tun. Ach ja, suchen Sie mal die Akten von Leuten heraus, die vor ungefähr 30 Jahren als vermisst gemeldet worden sind.“

„Alle? Das sind doch eine Menge.“

„Fangen Sie mit denen hier aus der Gegend an.“

Im Büro bekam Foster fünfunddreißig Fälle auf den Tisch, die vor plus/minus dreißig Jahren im Umkreis von fünfzig Kilometern als vermisst gemeldet und nie gefunden worden waren. Aber bevor sie mit der Schreibtischarbeit begann, ging sie in die Toilettenräume und brachte ihre Schuhe wieder in Ordnung. Der Schlamm hing überall.

„Ab morgen komme ich in Jeans und Stiefeln“, entschied sie sich und frischte ihr Make-up auf.

Sie ging die Fälle oberflächlich durch, denn es schien ihr keinen Sinn zu machen, ohne weitere Anhaltspunkte auf die Suche zu gehen. Sie erinnerte sich aber an dieses Zeichen auf der Stirn. Es war nicht gut zu sehen gewesen, aber es gehörte nicht dahin. Sie suchte nach weiteren Fällen, in denen die Opfer gekennzeichnet worden waren, ohne Erfolg. Während der folgenden Tage rief sie wiederholt in der Forensischen Abteilung an, um Neues zu erfahren. Nach fünf Tagen erhielt sie in Kincaids Büro endlich die erhofften Angaben.

„Es handelt sich um eine junge Frau, circa fünfundzwanzig Jahre alt, mit mittellangen, glatten, wahrscheinlich blonden Haaren, bei der es auf den ersten Blick keine Anzeichen von Gewaltanwendung gibt, wenn man von dem Zeichen auf dem Stirnknochen einmal absehen will. Was wir natürlich nicht ausschließen können, ist, dass sie zum Beispiel erdrosselt oder vergiftet wurde. Doch dafür finden sich keine Anzeichen mehr.“

„Kein Arsen.“

„Es gibt noch viele andere Gifte, wie Sie wissen“, entgegnete Kincaid.

„Das ist leider nicht sehr viel.“ Brennan trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Aber was ist mit dem Zeichen auf der Stirn?“, fragte er.

„Da haben wir vielleicht etwas“, begann Kincaid. „Es wurde tatsächlich etwas in die Stirn geritzt, und zwar so, dass es im Knochen zu sehen ist."

„Also ziemlich brutal“, meinte Foster.

„So kann man sagen. Ob vor oder nach dem Tod, kann ich nicht beurteilen. Schauen Sie sich dieses Fotos einmal an. Auf der Röntgenaufnahme sind die Zeichen noch besser zu sehen. Die Linien stellen möglicherweise ein Haus und einen Stab dar. Ob das am unteren Ende vom Stab dazugehört, da bin ich mir nicht sicher.“

„Das ist doch schon einmal was. Roberta, jetzt können Sie die Zahl der Akten reduzieren.“

„Wir sind noch dabei, DNA zu finden und zu analysieren. Vielleicht wissen wir dann mehr. Und hier eine Aufnahme vom Gebiss. Vielleicht finden Sie den Zahnarzt, bei dem sie kurz vorher war.“

„Wieso kurz vorher?“, wollte Foster wissen.

„Ein Zahn ist nicht lange vor ihrem Tod plombiert worden.“

„Ungefähr 25 Jahre, weiblich, mittellange blonde Haare, offenbar ermordet, sonst hätte sie nicht dieses Zeichen in der Stirn“, fasste Brennan zusammen, während er von der Forensischen Abteilung in seine zurücklief. „Gibt es schon was Neues von der Spusi?“

„Noch nichts gehört.“

„Dann gehen wir jetzt direkt da vorbei“, bestimmte Brennan und lenkte seine Schritte in Richtung der Abteilung.

Tess Stevenson, Leiterin der Spurensicherung, kam ihnen mit einem Lächeln entgegen.

„Sie hat bestimmt etwas für uns“, meinte Foster.

„Ich bin die neue Kollegin, Inspector Roberta Foster“, stellte sie sich vor.

Der Chief Inspector berichtete über die Funde von Kincaid.

„Das passt ganz gut zu dem, was wir gefunden haben. Die wenigen Gewebereste der Kleidung deuten darauf hin, dass es eine dünne Bekleidung war, was für eine warme Jahreszeit spricht. Das Kleid, das die junge Frau trug, war aus mittelblauem Stoff. Sie trug Pumps und offensichtlich keine Strümpfe. Wir haben keine Tasche oder sonstige Hinweise gefunden, wer sie war.“

„Das spricht dafür, dass es ein geplanter Mord war. Nur war die Tote nicht tief genug vergraben“, ergänzte Foster.

„Warten wir einmal ab“, knurrte Chief Inspector Brennan und sie machten sich auf den Rückweg ins Büro.

„Sie meinen, es könnte auch ein Unfall gewesen sein? Und das Zeichen auf der Stirn irgendjemand später eingeritzt haben?“

„Könnte sein“, war seine kurze Antwort.

Foster hatte jetzt in der Tat genug zu tun. Obwohl die Informationen über die Tote nun um einiges genauer waren, musste sie den Radius für ihre Suche ausweiten. Keine der Vermissten im Umkreis von fünfzig Kilometern entsprach den Kriterien. Umfragen, die Foster in der näheren und weiteren Umgebung des Fundorts durchführen ließ, brachten keine Neuigkeiten. Sie weitete das Gebiet auf hundert Kilometer aus. Alles sah danach aus, als ob der Fundort nicht der Ort des Verbrechens war.

Erkenntnisse

Zwei Wochen später führte der Weg die beiden Inspectoren erneut in die Forensische Abteilung. Kincaid war immer noch mit der Untersuchung des Skeletts beschäftigt, das um die dreißig Jahre in der Erde gelegen hatte.

„Kommen Sie rein. Schauen Sie mal. Der größte Teil ist ganz gut erhalten.“ Er schlüpfte in einen weißen Kittel, zog sich Gummihandschuhe über und entfernte ein Tuch, das über das Untersuchungsobjekt gelegt war. Foster warf nur einen kurzen Blick darauf. Ihr Magen begann zu rebellieren.

„Wissen wir schon etwas Genaueres zum Alter der Person?“

„Ich möchte es auf ungefähr 27 Jahre schätzen, plus minus ein, zwei Jahre. Haben Sie schon einmal bei Zahnärzten nachgefragt? Ach richtig, ich wollte Ihnen noch eine bessere Aufnahme vom Gebiss mitgeben. Und, Roberta, hier habe ich noch einen interessanten Fund: Die junge Frau kaufte einiger ihrer Kleidungs- und Wäschestücke bei einem Laden namens „Top Fashion“, die Etiketts sind noch gut lesbar. Schauen Sie mal.“

Dr Kincaid berichtete noch weitere Einzelheiten, die die beiden Inspectoren zum derzeitigen Zeitpunkt nicht als relevant ansahen.

Foster ging alleine ins Büro zurück, Brennan verließ das Haus. Fein, dann kann ich in Ruhe recherchieren, dachte sie und begann im Internet zu suchen. „Top Fashion“-Läden gab es mehrere im Umkreis von fünfzig Kilometern. Diesen Radius hatte sie sich erst einmal gesetzt. Mit sechs Firmennamen auf ihrem Notizblock ging sie online ins Handelsregister. Es musste eine Firma sein, die schon vor dreißig Jahren existierte, kombinierte sie. Das Resultat ihrer Suche war gleich null. Keine der Firmen oder Läden war schon so alt.

Also gut, Roberta. Dann eben bei denjenigen, die nicht mehr existieren, sagte sie sich. Nach weiteren zehn Minuten wurde sie fündig. „Top Fashion in Coventry“, das passte von der Entfernung. Die ehemalige Besitzerin war eine Eve Porter. Hoffentlich lebte die noch. Foster fand die Adresse, legte Brennan eine kurze Notiz auf den Schreibtisch und setzte sich in ihren Wagen.

Sie drückte den Klingelknopf an der Haustür. Erst einmal tat sich nichts. Sie drückte noch einmal. Von innen kamen Geräusche:

„Ja, ja, ich komme.“ Es hörte sich nach einer älteren Dame an.

„Was wünschen Sie?“ Eine kleine ältere Dame mit bläulichschimmernden Dauerwellen öffnete die Tür einen Spalt. „Ich kaufe nichts“, sagte sie.

„Ich bin Inspector Roberta Foster von der Kriminalpolizei in Birmingham. Hier ist mein Ausweis.“

Die vorsichtige Eve Porter nahm den Ausweis, schloss die Tür hinter sich und verschwand im Haus. Nach zwei Minuten öffnete sie wieder.

„Was wollen Sie wissen? Kommen Sie wegen dieser Nachbarin?“

„Nein, Ms Porter. Wegen etwas ganz anderem. Gehörte Ihnen früher der Laden Top Fashion?“

„Ja, aber das ist schon lange her.“

„Darf ich reinkommen? Ich denke, wir können uns in Ihrer Wohnung besser unterhalten.“

Eve Porter zögerte, doch sie ließ Foster hinein.

„Wir suchen eine frühere Kundin von Ihnen. Sie war vor dreißig Jahren etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hatte vermutlich mittellange blonde Haare und hat außer Unterwäsche auch ein blaues Kleid bei Ihnen gekauft, das in etwa so aussah …“ Foster zeigte ihr ein Bild, das Tess ihr zur Verfügung gestellt hatte.

„Oh, wir hatten viele Kundinnen, die solche Kleider kauften.“

„Ich denke, es war jemand, der öfters kam. Sie hat ja auch die Unterwäsche bei Ihnen gekauft.“