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Städte haben Konjunktur. Sie verkörpern die Maximalisierung des Lebens. In Städten entstehen die Trends, die Moden, die Stile und die Konzepte der Veränderung. Sie sind vielfältig und vielschichtig. Sie sind synonym mit Zivilisation. In zwölf Kapiteln heftet sich der Autor an die Fersen von ausgesuchten Städtern, die als Baedeker durch die jeweils ganz besondere Phase im Leben einer bestimmten Metropole führen. Die Reiseführer heißen u.a. Sokrates und Horaz, Augustinus und Dürer, Mascha Kaleko und Lina Bo Bardi; die Kultur- und Zivilisationsgeschichte führt von der Geburt der Demokratie in Athen über die Gottesstädte des Monotheismus der späten Antike zur Entstehung von Gotik und Universität im mittelalterlichen Paris und ins Katastrophenjahr 1666 nach London. Mozart scheitert an der feinen Gesellschaft in Wien um 1790 und Manet führt im Paris des zweiten Kaiserreichs vor, was Modernität meint; gegen Armut und Verelendung engagiert sich Jacob Riis in New York um 1900; Mascha Kaleko wiederum erlebt in Berlin um 1930 das Phänomen der Massenkultur. Anhand von Bodys Isek Kingelez' Kinshasa schließlich lässt sich das Prinzip der Mega-Städte begreifen, der Global und der Arrival City, die Landflucht und Ungebrochenheit der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Stadt.
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Die StadtVom antiken Athen bis zu den MegacitysEine Weltgeschichte in Geschichten
Rainer Metzger
Vom antiken Athen bis zuden Megacitys
Eine Weltgeschichte inGeschichten
Mit 70 Abbildungen
Spurensicherungen
Ironie und Urbanität:Sokrates im Athen der Antike
Zufällig, und das aus Gewohnheit:Horaz und Rom zur Zeit des Augustus
Die Stadt und ihr Jenseits:Augustinus und der Fanatismus der Spätantike
Ein monströses Spektakel:Abélard und Héloise im Paris des 12. Jahrhunderts
Hier ein Herr, daheim ein Schmarotzer:Albrecht Dürer und drei Weltstädte der Zeit um 1500
Pest, Brand, Privates:Samuel Pepys und das Londoner Katastrophenjahr 1665/66
Die feine Gesellschaft und das Populäre:Mozart und Wien im späten 18. Jahrhundert
Mode und Modernität:Édouard Manet und das Paris des Zweiten Kaiserreichs
Das Leben der anderen Hälfte:Jacob Riis und New York um 1890
„Die bittre Medizin, sie hieß Berlin“:Mascha Kaléko und ihr Großstadtleben um 1930
Wolkenkratzer und Elfenbeinturm:Lina Bo Bardi, São Paulo und der Städtebau der Nachkriegszeit
Megacity und Modell:Bodys Isek Kingelez und Kinshasa in der Gegenwart
Zum Schluss
Anmerkungen
Zusätzliche Literatur
Bildnachweis
Stadt ist Stakkato, Stadt ist Stabilität: Im typischen Faible des Futurismus für das Simultane zeigt Paul Citroen in seiner Fotomontage aus den frühen 1920ern „Metropolis“ – ein Gemeinwesen, das den Aufeinanderprall liebt, aber auch das Komponierte, das Chaos, in dem eine Ordnung liegt.
Am 9. Oktober 1872 erreichte Phileas Fogg, der sich nach dem Willen seines Erfinders Jules Verne in achtzig Tagen um die Welt aufgemacht hatte, das ägyptische Suez. Seine Ankunft erfolgte so, dass sie „mit der vorgeschriebenen Ankunftszeit verglichen weder einen Gewinn noch Verlust nachwies. Darauf ließ er sich in seiner Cabine ein Frühstück auftragen. Die Stadt zu besehen, fiel ihm nicht ein, denn er gehörte zu der Sorte von Engländern, welche die Länder, durch welche sie reisen, von ihren Bedienten besehen lassen.“1 Fogg, ganz Gentleman, ganz distinguierter Brite, verlegte sich beim Besichtigen aufs Delegieren. Man war schließlich Reisender, Passant, ein Vorübergehender, einer, der sich eingerichtet hat in der Distanz. Die Erfahrung, ausgesetzt zu sein, ausgesetzt zu werden in der Körperlichkeit einer Umgebung, überließ der buchstäbliche Tourist gerne anderen.
Ein wenig tut dieses Buch es Fogg gleich. Es setzt zum Kennenlernen gewisser Orte seinerseits Bedienstete ein, auch wenn es Einheimische sind und vor allem keine Lakaien. In zwölf Kapiteln heftet es sich an die Fersen von ausgesuchten Städtern und benutzt sie als Fremdenführer beim Gang durch Situationen quer durch die Jahrhunderte, die Jahrtausende. Hier das Dutzend an Geschichten, Episoden, historischen Momenten mit ihren prominent hervorgehobenen Bewohnern: Sokrates und Athen um 400 vor unserer Zeitrechnung; Horaz und Rom zur Zeit von Kaiser Augustus; Augustinus und die Gottesstädte des Monotheismus der späten Antike; Abélard und Héloise und das Paris des Mittelalters; Albrecht Dürer und die drei Weltstädte Nürnberg, Venedig und Tenochtitlan um 1500; Samuel Pepys und London um 1660; Mozart und Wien um 1800; Édouard Manet und das Paris des Zweiten Kaiserreichs; Jacob Riis und New York vor der Wende zum 20. Jahrhundert; Mascha Kaléko und Berlin in den Jahren um 1930; Lina Bo Bardi, São Paulo und die Verstädterung der Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; schließlich Bodys Isek Kingelez, Kinshasa und das Phänomen der Megastädte in der Gegenwart.
Wer historisch arbeitet, kann nicht umhin, den Zuträgern zu vertrauen, die er engagiert hat. Womöglich lässt sich im Folgenden aus dieser Not eine Tugend machen. Entsprechend möchte dieses Buch Städte beschreiben, indem es das Spannungsverhältnis beschreibt, in dem seine Bewohner, temporär oder dauerhaft, zu ihnen stehen. Es geht um die Selbstbehauptung, und es geht um die spezielle Identität, die daraus entsteht. Städte verkörpern die Maximalisierung des Lebens. Verdichtung und Vermischung machen sie aus. Städte sind ein Aggregatzustand, dessen chemisches Element der Mensch ist, das Zoon politikon, wie Aristoteles es nannte, das Einzelwesen in der Polis. Diesem Aggregatzustand soll das Buch hinterher spüren, in eben der Komplexität, die das Thema verlangt. Die Zustände, die Städte ausmachen, die Umstände, die sich in ihnen ergeben, und die Abstände, die sie erfordern, sollen ermessen werden. Im Zentrum stehen die zentralen Städte: die Kapitalen, die politisch, die Metropolen, die kulturell, und die Global Cities, die ökonomisch ihre Hegemonie erweisen. In den Städten entstehen die Trends, die Moden, die Stile und dadurch die Konzepte von Veränderung. Von vornherein richten sie sich gegen alle Bedürfnisse nach Homogenisierung, Überschaubarkeit und Reduktion. Städte sind vielfältig, vielschichtig, vielförmig. Immer steht das Sowohl-als-auch gegen das Entweder-oder im Vordergrund. Städte sind synonym mit Zivilisation.
Natürlich sind die urbanen Gestalten, die hier aus ihrem Leben erzählen, auf ihre Art geschichtliche oder zeitgeschichtliche Gassenhauer. Sie müssen es sein, sonst wären schlechterdings keine Dokumente überliefert, die befragt werden können in Hinblick auf die großen und kleinen Dinge, die sich mit ihren Gewährsfiguren ereigneten. Die Hinterlassenschaften, das Werk, die Daten und Taten, die sich mit diesen Protagonisten verbinden, sprechen für sich. Aber sie sprechen auch für die spezielle zeitliche und räumliche Konstellation, sodass sich das Besondere und das Allgemeine aufeinander beziehen lassen und dieser Bezug dann auch evident erscheint. Elias Canetti hat eine solche Konstellation auf den Begriff „Glanzzeit“ gebracht: „Was ist eine Glanzzeit? Eine Zeit vieler großer Namen, in nächster Nähe voneinander, und zwar so, daß ein Name den anderen nicht erstickt, obwohl sie einander bekämpfen. Wichtig daran ist die ständige Berührung, die Stöße, die das Glänzende sich gefallen läßt, ohne zu erlöschen. Ein Mangel an Empfindlichkeit, wenn es um diese Stöße geht, eine Art Verlangen nach ihnen, die Lust, sich ihnen auszusetzen.“2 Canetti hat das Berlin der Weimarer Republik im Auge, 1928 war er für einige Monate von Wien aus hier zu Besuch, und natürlich werden die späten Zwanzigerjahre, in denen sich die Reichshauptstadt zur Metropole der Moderne schlechthin aufschwingt, auch in diesem Buch ihr Kapitel bekommen. Doch Canettis Sätze gelten generell.
Städte verkörpern die Maximalisierung des Lebens. Verdichtung und Vermischung machen sie aus.
Eine Glanzzeit ist ganz buchstäblich eine Stoßzeit. Sich ihr auszusetzen hat etwas mit Körperlichkeit zu tun, man spürt sie, denn es werden Spuren gelegt, man ist von ihr geprägt, denn Prägung entsteht durch Druck auf eine Oberfläche. Insofern sind die Gewährsleute nicht nur Augenzeugen. Ihre Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umgebung vollzieht sich, wie ein Zeitgenosse und Bekannter von Canetti, Walter Benjamin, es nannte, nach Maßgabe des „Taktilen“. Es forciert eine spezielle Art der Wahrnehmung, sagt Benjamin: „Taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit.“3 An der Architektur ist sie geschult, doch mehr und mehr überträgt sie sich auf alle Lebensbereiche. Taktilität erfordert Aneignung durch Berühren, jedenfalls ist eine physische Komponente im Spiel, ein Element der Leibhaftigkeit.
Die Dinge, die an den Schauplätzen, die dieses Buch Revue passieren lassen wird, vorkommen, sind damit immer auch Indizien. Die Schauplätze werden Tatorte, wenn auch nicht für Verbrechen, so doch für ein konkretes Handanlegen, das Menschen ihrer Umgebung zuteilwerden lassen, und dafür von dieser Umgebung etwas zurückbekommen. Stadt und Städter arbeiten sich aneinander ab, und am Ende, das sollen die geschilderten Szenerien mit ihren prominent gewordenen Figuren zeigen, sieht man es beiden an. Und bei aller historischen Bedingtheit lassen sich aus diesen Szenerien allgemeine Gültigkeiten herauslesen: Immer wieder, über die Epochen und über die Zivilisationen hinweg, begegnen der Stadt ähnliche Fragen, Probleme der Urbanistik, der Hygiene, des Umgehens mit Katastrophen und des Umgehens miteinander; und immer wieder entwickeln ihre Bewohner typische Mentalitäten, sie verhalten sich eher distanziert als aufgeregt, eher indifferent als darauf erpicht, den anderen zu kontrollieren, eher blasiert als zugänglich, eher ironisch als empört. Den Flaneur gibt es schon bei Horaz, und die Leichtlebigkeit der Roaring Twenties ist auch in der Umgebung von Sokrates dingfest zu machen.
Es gibt jedenfalls eine exemplarische Form von Teilnahme an der Stadt, ein Nonplusultra: Sie ist körperlich. Es gibt auch eine exemplarische Form von Anteilnahme an all den Situationen, die dieses Buch ausbreitet: Sie ist geistig, und Phileas Fogg wäre dafür der Patron. Während seiner Reise um die Welt, das war gleich offensichtlich, würde er seine Gewohnheit, die Dinge eher mit dem inneren als dem äußeren Auge zu betrachten, beibehalten. Als sein Schiff, die Mongolia, von Suez aus in See stach, blieb er ungerührt: „Es kümmerte ihn wenig, dies an Erinnerungen so reiche Rothe Meer, diesen Schauplatz der ersten historischen Scenen des Menschengeschlechts, zu betrachten. Es lag ihm nichts daran, die merkwürdigen Städte zu erkennen, womit beide Gestade zahlreich besetzt sind, und deren malerische Silhouetten manchmal am Horizont gezeichnet waren … Was trieb also dieses in der Mongolia eingekerkerte Original? Erstlich hielt er täglich seine vier Mahlzeiten, ohne daß eine so merkwürdig organisirte Maschine jemals durch Schwanken oder Stampfen konnte in Unordnung gebracht werden. Nachher spielte er Whist.“4 Fogg spielte Karten. Dieses Buch hat einen alternativen Vorschlag: Lesen.
„Glaubst du, daß die Schönheit nur im Menschen vorhanden ist oder auch in etwas anderem?“, fragt Sokrates den Kritobulos, der für diesmal seinen Gesprächspartner abgibt. Doch, meint dieser, das gibt es auch bei Tieren oder sogar bei Gegenständen, und zwar dann, wenn sie ihren Zweck erfüllen. Damit ist der Stier schon bei den Hörnern gepackt, und die Unterhaltung gerät auf ihr eigentliches Feld. „Weißt du auch, wofür wir Augen brauchen?“, hakt Sokrates nach. „Offenbar zum Sehen“, sagt Kritobulos. „Dann dürften meine Augen schöner sein als deine. – Inwiefern? – Weil deine Augen nur in gerade Richtung sehen können, meine aber auch das Seitliche, da sie vorstehen.“ Kritobulos gibt sich geschlagen. Die frühe Form-follows-function-Ästhetik, die Sokrates da aufgebaut hat, macht aus den Glupschaugen, mit denen er geschlagen ist, Modelle an Wohlgestalt. Damit will Sokrates es allerdings noch nicht bewenden lassen. Auch seine Stülpnase wird ausgiebig in ihrer Schönheit gewürdigt, da sie nicht nur nach unten, sondern auch nach vorne riechen könne. Sokrates’ Mund mit den dicken Lippen sei zudem besser fürs Küssen geeignet, und insgesamt wäre sein Körper, der in seiner Gedrungenheit und dem Ansatz eines Bauches demjenigen eines Satyrs ähnlich sehe, ein Beleg für seine – zumindest annähernde – Göttlichkeit: „Hältst du nicht auch das für einen Beweis“, wendet sich Sokrates nochmal an Kritobulos, „daß ich schöner bin als du, daß auch die Najaden, obwohl sie Göttinnen sind, die Silenen zur Welt bringen, die eher mir als dir ähnlich sind?“1
Herrlich hat Sokrates in die Gedanken seines Gegenübers einen Knoten gewunden. Der Meister dieser Rede selbst hat nichts Geschriebenes hinterlassen. Sein Metier war die Mündlichkeit. Das gerade macht Sokrates zum Prototypen eines Städters. Mehr noch: Er ist der Archetyp des Städters, der Erste, dem dieses Prädikat verliehen werden kann. Entsprechend ist damit die Geschichte mit der Schönheit noch nicht zu Ende. Die beiden Herren standen nämlich nicht nur auf der Bühne, um zu debattieren, sondern auch, um sich taxieren zu lassen. Jungen und Mädchen, eine Art Publikum, stimmten ab, und so kam, gleichsam objektiv, doch noch zustande, was allen evident, aber dank Sokrates’ Fähigkeit, einem die Worte im Mund umzudrehen, für den Moment in Vergessenheit geraten war. Kritobulos setzte sich bei diesem Wettbewerb schließlich durch, es war eine Auseinandersetzung ganz nach dem Geschmack der Griechen, die den Wettstreit, das vitale Vis-à-vis von Kontrahenten liebten: nichts ohne Wettbewerb, kein
Sokrates selbst hat nichts Geschriebenes hinterlassen. Sein Metier war die Mündlichkeit. Das gerade macht ihn zum Prototypen eines Städters. Mehr noch: Er ist der Archetyp des Städters, der erste, dem dieses Prädikat verliehen werden kann.
Theater ohne Konkurrenz der Dramatiker, keine Spiele, bevorzugt in Olympia, ohne Sieger, und auch der Krieg, den sie in den Schlachtreihen der Phalanx führten, hatte seine sportive Seite – man prallte aufeinander, verkeilte sich ineinander und einigte sich schließlich miteinander, dass derjenige gewonnen hatte, der die Stellung hielt in Kämpfen, die oftmals nur wenige Stunden dauerten.
Sokrates war nicht der Schönste, äußerlich, und die Statuen, die von ihm erhalten sind, sprechen davon eine deutliche Sprache. Was er mit Kritobulos verhandelt hat, die hervortretenden Augen, die nach oben gezogene Nase, die die Griechen „sime“ nennen, die dicken Lippen und insgesamt die Ähnlichkeit mit Satyrn, Silenen und sonstigen Gott-Natur-Mischwesen aus dem Gefolge des Dionysos, zeigen auch die Porträtstelen. Man teilt sie in zwei Typen, knapp vierzig davon lassen sich aufzählen, und wohl allesamt sind sie postum: Als Steinbildwerke sind sie ohnedies römische Kopien, die Griechen arbeiteten meist in jener Bronze, die sich in späterer Zeit so leicht für Kanonen verwenden ließ; postum sind sie auch deswegen, weil sie für eine Art Rehabilitierung stehen, für eine nachträgliche, aus einem deutlich schlechten Gewissen resultierende Hommage an den Denker und Paradebewohner der Stadt, den die Athener im Jahr 399 in den Tod getrieben haben. So jedenfalls berichtet es Diogenes Laertios in seinen Mitteilungen über Leben und Werk der alten Philosophen, die noch viel später, im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, verfasst worden sind. Auch die Episode, die vom Schönheitswettbewerb zwischen Sokrates und Kritobulos erzählt, ist nach dem Tod ihres Helden geschrieben worden.
Sie stammt von Xenophon, aus einer Schrift mit dem Titel „Symposion“, für den auch ein anderer Autor in Zusammenhang mit Sokrates Verwendung finden wird, und sie kann immerhin für sich in Anspruch nehmen, dass sie von einem Bekannten des Beschriebenen erzählt wird. Xenophon war Athener, gut eine Generation jünger als Sokrates, und tat sich hervor mit Erinnerungen speziell an seine Heimatstadt, die er im Exil verfasste. Auf Raffaels groß angelegter Revue der antiken Athleten des Denkens, ehrfürchtig „Die Schule von Athen“ genannt, entstanden 1512, beheimatet im Vatikan, ist Sokrates mit den charakteristischen Ausstattungsstücken seines Äußeren zu sehen, im Profil, damit die Nase gut zur Geltung kommt, und er unterhält sich Finger und damit Argumente zählend mit Xenophon. Im Mittelpunkt der monumentalen Komposition, weltberühmt, die beiden Meisterdenker des Zeitalters schlechthin: Platon und Aristoteles. Beide haben sie von Sokrates berichtet. Aristoteles indes ist fast ein Jahrhundert jünger, und auch Platon, Fokus allen philosophischen Bemühens, zu dem die Nachfolger dann nur noch Fußnoten setzen konnten, verfasste einen Großteil der Texte – die sich bis auf die eine Ausnahme des spätesten, wahrscheinlich unfertigen, allesamt um Sokrates ranken – nach dessen Tod; immerhin hatte er seinen Meister im Jahre 408 noch kennenlernen können. Einzig die vierte seriösere Quelle, die Komödie „Die Wolken“ des Aristophanes, schöpft aus dem Vollen unmittelbarer Zeitgenossenschaft.
Sokrates war Athener, durch und durch. Geboren ist er um 470 – das lässt sich Platons „Apologie des Sokrates“ entnehmen, einer von vier Schriften, die seine Inhaftierung und Hinrichtung schildern. Er stammte aus einfachem Haus, sein Vater war Steinmetz, und dieses Handwerk hat der Sohn übernommen, wenn auch, in der zweiten Hälfte seines Lebens jedenfalls, nicht mehr ausgeübt. Der Stoff zum Formen waren ihm dann die Menschen selbst, die Passanten, die Stadtbewohner, auf deren Beeinflussbarkeit und daraus resultierend auf deren Einsicht er unverdrossen setzte. Diogenes Laertios zitiert diesbezüglich ein Spottgedicht eines gewissen Timon von Phleius: „Steinmetz war er sodann und weltverbessernder Schwätzer, Zauberfürst der Hellenen, spitzfindiger Rede Erfinder, Naserümpfer, Rhetorenverspotter, halbattischer Heuchler.“2 Die Erwartungen, die er an seine – und hier passt das heutzutage inflationär gebrauchte Wort – Mitbürger hatte, erfüllte er selbst. Er verstand sich als gesellschaftlich zuständig, als Koautor eines Gemeinwesens, das sich in der Zuträgerschaft aller jeweils ad hoc, jeweils neu und jeweils in der unmittelbaren Aktion und Reaktion auf das, was gerade aktuell war, ständig konstruierte.
Eines der berühmtesten Werke eines der berühmtesten Maler der Kunstgeschichte: Raffaels „Schule von Athen“, inszeniert für die sogenannten „Stanzen“ des Vatikan, zeigt eine Idealversammlung antiker Philosophen – Geistesgrößen über ein knappes Jahrtausend hinweg; der Glatzkopf im Profil und grünen Gewand ist, unverkennbar, Sokrates.
In Athen ist die Demokratie entwickelt worden, und das in aller Radikalität. Die Erfahrung, die in den ersten Jahren nach der Französischen Revolution überall gemacht wurde, eine Erfahrung, die politisch erst gemeistert werden musste und die darin bestand, dass mit einfachen Mehrheiten permanent der soeben erst errungene Status quo aus den Angeln gehoben werden konnte, sie hatte ihren Präzedenzfall in Athen. Was in dieser frühen Gesellschaft waltete, war das unermüdliche Experiment, und ein Großteil derer, die als Bürger galten – den historischen Umständen gemäß nur Männer, nur Freie und nur im Territorium Geborene –, war verstrickt in dieses Experiment: als Träger von Ämtern, als Träger von Waffen, als Träger von Verantwortung. So entstand in der Stadt, deren repräsentative Sphäre den Namen Polis trug, jener Kompetenzbereich, den man seither Politik nennt.
Athen wird sich in den aufregenden, emphatischen, weltbewegenden Jahrzehnten, die Sokrates erlebte, dann gehörig verzetteln. In seiner Jugend wurde er Zeuge des Aufstiegs der Stadt: Aus der Isonomie, der Gleichheit vor dem Gesetz, war eine veritable Volksherrschaft geworden, als Perikles den Areopag entmachtete, den Ältestenrat, der hieratisch-hierarchisch auf dem Berg saß, nach dem er benannt war. Vorher schon, noch unter Themistokles, hatte eine soziale Revolution stattgefunden: Die Theten, die Bürger, die zu arm waren, um sich unter Waffen stellen zu können, wurden dadurch zu vollwertigen Soldaten, dass man sie als Ruderer einsetzte. Damit hatten sie rang-, wenn auch nicht einkommensmäßig zu den Hopliten, den Kämpfern in der Phalanx, aufgeschlossen. Die Glanzzeit Athens setzte ein, das Goldene Zeitalter, benannt nach Perikles, dem Primus inter Pares, der es als Gleicherer unter Gleichen vermochte, sein ureigenes Aristokratentum auf das Gemeinwohl hin zu vermitteln.
Die athenische Demokratie hat ein notorisch gewordenes Mittel ersonnen, um Figuren wie Perikles die Karriere schwerzumachen: das Scherbengericht. Perikles überlebte es, anders als seine Vorgänger Themistokles, die überragende Figur im Krieg gegen die Perser, der Athens Aufstieg forcierte, und Kimon, der Stratege des von Athen dominierten attischen Seebundes. Der Ostrakismos, dieser „vorbeugende zehnjährige Zwangsurlaub von der Politik“, wie der Althistoriker Christian Meier es nennt3, wurde per Abstimmung jenen verordnet, denen man die Gefahr einer Usurpation anzumerken meinte. Mindestens 6.000 Athener mussten anwesend sein, um in Urnen Scherben zu werfen, auf denen sie einen Namen notiert hatten – was nicht zuletzt auch den Grad der Alphabetisierung angibt. Der Inhaber des Namens, der am häufigsten zu lesen war, wurde ostrakisiert, außerhalb der Grenzen der Stadt geschickt, wo er, unter Beibehaltung allen Vermögens und aller sonstigen Zeichen von Ehrhaftigkeit, für eine Dekade von politischer Betätigung ausgeschlossen blieb. Der Ostrakismos war eine Maßnahme der Sozialhygiene, radikaldemokratisch und wie bei derlei plebiszitären Akten üblich in steter Gefährdung, Rattenfängereien und süßen, das heißt finanziellen Verführungen zu erliegen. Sokrates scheint ihn zu verteidigen, in der typischen Gewundenheit und Doppeldeutigkeit seiner Sätze, die ihn zum Initiator der Ironie machen: „Weiter auch wegen des Kimon“, so wendet er sich in Platons Dialog „Gorgias“ an seinen Gastgeber Kallikles, „sage mir doch, haben nicht eben die, deren Bestes er besorgte, ihn aus der Stadt verwiesen, um nur zehn Jahre lang seine Stimme gar nicht zu hören? Und haben sie nicht dem Themistokles dasselbe getan und noch obendrein gänzlich verbannt?“4 Vox populi vox Dei – Volkes Stimme ist Gottes Stimme, so liest es sich, ist die Devise des Sokrates. Zieht man die Umstände heran, unter denen er seinen von den Athenern verfügten Tod akzeptierte, bestand darin wohl tatsächlich seine politische Moral: Als Demokrat gab er dem Volk und seinen Mehrheitsbeschlüssen recht.
Sokrates erlebte dann auch den Abstieg der Stadt, als sie sich im Imperialismus verfing und die Nachbarn, die sie unterworfen hatte, schamlos ausbeutete. Gegen Sparta, das als Militärdiktatur in streng gegliederter Organisation einer eigentümlichen Form von Unveränderlichkeit verhaftet war und damit in allen Belangen das Gegenteil des eigenen Selbstverständnisses verkörperte, brach man 431 den Peloponnesischen Krieg vom Zaun. Die Begleiterscheinungen stellten sich bald ein, Epidemien, Hunger, Flüchtlingswellen, und Athen wurde zurückgestuft von der Groß- zur Mittelmacht. Die Episoden, in denen Sokrates als Sprachjongleur und Denkakrobat ganz bei sich ist, spielen letztlich in dieser Zeit. Hier wird er auch erstmals aktenkundig, als Teilnehmer von athenischen Feldzügen, die den Orten Potidaia (432/429), Amphipolis (422) und Delion (421) galten. Tapfer soll er gewesen sein, doch das war bei einem Mann seiner Abstammung, sei es im Nahkampf oder in der Legende, nicht anders zu erwarten. Er war Athener, durch und durch.
„In diesem Mann kamen“, so Christian Meier in seiner Gesamtdarstellung Athens in der Antike über Sokrates, „die Anstöße des Athens des fünften Jahrhunderts zu ihrer letzten Konsequenz. Die Schnelligkeit der Veränderung dieser Stadt, die Weise, wie sie in raschester Folge immer neuen Erfahrungen und vor allem auch: Entscheidungsnotwendigkeiten ausgesetzt war, die Vielfalt der Gesichtspunkte, die sich da plötzlich auftaten und nicht nur das Handeln und Entscheiden, sondern besonders auch das Denken schwierig machten. Mithin die Erschütterung des ganzen Grundes, auf dem man bisher gelebt hatte.“5 Die Anstöße des Athen des 5. Jahrhunderts: Es ist atemberaubend, was in dieser erstaunlich geringen Zeit gleichsam vom Himmel gefallen kam, Dinge, die nicht nur neu waren, sondern bleibend, gültig auf eine Art, dass es keines großen, künstlichen, ins Kanonische verpackten Klassizismus bedarf, um die Qualitäten zu würdigen. Als da sind: eine Architektur in Gestalt vor allem des Parthenon, des zentralen Tempels der Stadt, der zum Vorbild wurde für Hunderte von Parlamenten, Rathäusern, Kirchen, Repräsentationsbauten über die Welt verteilt; ein Theater, Komödien und vor allem die Tragödien der großen drei, Aischylos, Sophokles, Euripides, nach wie vor und mehr denn je Bewährungsproben für alle Ehrgeizigen unter den Regisseuren; eine Idee von Geschichtsschreibung, inauguriert von Herodot, weitergeführt von Thukydides, die früheste überhaupt, der man glaubt, was sie schildert; ein Menschenbild, das auf Ab-Bildung setzt, auf Nachahmung, und das im Gegenzug Techniken und Virtuositäten entwickelt, diesem Prinzip der Mimesis in den Darstellungen auch zu entsprechen; eine Philosophie, verkörpert von Sokrates, in die Fasson gebracht von Platon, differenziert in vielerlei Schulen – die Stoiker, die Skeptiker, die Peripatetiker –, an deren Methoden man sich bis heute orientiert; schließlich, alles überwölbend, die Grundlage für den Innovationsschub, die Demokratie.
Am Gründungsort der Demokratie artikuliert sich bis heute Volkes Meinung und ufert, wie früher, bisweilen auch aus: Demonstration im Sommer 2011 auf dem Syntagma-Platz, an dem das Parlament des modernen Griechenland liegt.
Einmal geht Sokrates mit seinem Freund und Förderer Phaidros am Ufer des Ilissos, eines Baches, der an Athen entlang fließt, spazieren. Es hat die beiden tatsächlich nach außerhalb der Stadt verschlagen, was Platon, dessen nach Phaidros benannter Dialog die Szene schildert, die Gelegenheit gibt, eine der frühesten Landschaftsdarstellungen der Literatur einzuflechten. Letztlich aber befinden sich die beiden doch nicht auf dem Land, denn Sokrates ist ein notorischer Städter, der die Urbanität, die mit ihm denn auch beginnt, in der Seele trägt. Die zentrale Passage liest sich so: „Phaidros: In der Tat, wie du auch sagst, einem Fremden gleichst du, der sich herumführen läßt, und nicht einem Einheimischen. So wenig wanderst du aus der Stadt über die Grenze, noch auch selbst zum Tore scheinst du mir herauszugehen. – Sokrates: Dies verzeihe mir schon, o Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.“6 Die Menschen in der Stadt, in griechischen Worten „astei anthropoi“: Auf sie hat Sokrates es abgesehen, und natürlich ist er dadurch immer auch ein Fremdling, denn sie verkörpern das Unvorhergesehene, das Neue, das Vorübergehende, das nicht Fixierte. An ihnen übt er sich. Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn in einem anderen der platonischen Dialoge, im „Theaitetos“, Sokrates als der Ortloseste überhaupt, als „atopatos“ bezeichnet wird; wobei der Superlativ von „atopos“, dem Begriff für die Nicht-Sesshaftigkeit, verwendet wird. Sokrates ist ortlos, weil er sich durch die Straßen bewegt, und er ist ortlos, weil er keine fixen Ideen von sich und der Welt hat, sondern allem mit seinem notorischen Drängen nach Nicht-Wissen begegnet.
Natürlich stellt sich die Frage, für wie verlässlich der Gewährsmann Platon, auf den derlei Beschreibungen zurückgehen, gelten darf: Platon, der Dogmatiker, der Verfechter der immer schon gegebenen Ideen, der kristalline Denker, der unaufhörlich von Sokrates’ Bemühen um Durchlässigkeit Bericht erstattet. Die Interpretationen haben sich darauf eingespielt, die frühen Schriften, in denen der Umgang mit dem Lehrer eine Art Authentizität beanspruchen darf, als Quellen zu nehmen, während dann die späteren, nach Sokrates’ Tod entstandenen, mehr und mehr den ureigenen Platonismus ihres Verfassers verkörpern. Auch Sokrates wird darin irgendwann zum Prinzipienreiter. Immerhin gibt es noch andere Gewährsleute, und zumindest die Situationen, in denen Sokrates sich als beispielgebender Städter bewährt, laufen durchaus parallel. Das Stück „Die Wolken“ des Komödiendichters Aristophanes setzt Sokrates in den Mittelpunkt der Handlung, es wurde 423 aufgeführt und schildert mithin eine Figur aus dem unmittelbaren Leben; angeblich hat die Hauptperson der Vorstellung auch beigewohnt und ist mitten im Stück aufgestanden, um die Bühnen- mit der aktuellen Gestalt vergleichbar zu machen.
Gehandelt wird in „Die Wolken“, für das sein Dichter den dritten Preis bei den Dionysien, den Wettspielen zu Ehren des Gottes der Orgien und Mysterien, errang, von dem Großbauern Strepsides. Er hat einen Sohn, der, wie gern einmal bei komischen Konstellationen, zu nichts zu gebrauchen ist, und schickt ihn nun zu Sokrates, damit der ihn zu einem Menschen forme. Wie üblich im antiken Theater, hebt ein Chor die Handlung eine Reflexionsebene höher, und so wendet er sich an Sokrates: „Weil du stolz in den Gassen herumflanierst / und die Augen rundum lässest schweifen / Stets barfuß und ohne Empfindlichkeit / und im Glauben an uns voller Dünkel“.7 Einfach im Habit, anspruchsvoll im Habitus, so geht Sokrates durch die Stadt. Er flaniert, sagt die im 20. Jahrhundert entstandene Übersetzung und verwendet ein Wort, das natürlich einen Anachronismus darstellt, auch wenn es die Haltung des zielgerichtet ziellosen Präsentseins über die Zeiten hinweg auf den Punkt bringt. Das griechische Wort dafür, „brenthuomai“, lässt Despektierlichkeit anklingen, das Stück, das es anführt, ist immerhin eine Komödie: Sokrates, so besagt das Wort, trägt den Kopf ein wenig hoch, wenn er umhergeht; Blasiertheit, Selbstbewusstsein bis an die Grenze zum Schnöseligen gehörten schon damals zur urbanen Kondition.
Die scheinbare Gleichgültigkeit ist aber offenbar eine Gleich-Gültigkeit. So hat sich die einschlägige Geschichte mit Simon dem Schuster überliefert, wobei den Gewährsmann dafür allerdings der römische, also mehr als ein halbes Jahrtausend später aktive Autor Aelian abgibt. Sokrates, so will es die Episode, war mit seinem Schüler und Schützling Alkibiades, einem notorischen Vertreter einer städtischen Jeunesse dorée, unterwegs zu seinem Freund, dem Schuster. Das vornehme Söhnchen rümpft die Nase, was Sokrates Gelegenheit gibt, seine ureigene Überzeugung von Gleichheit zu formulieren: „Verachtest du diesen Schuhmacher hier? … Das ganze Volk von Athen ist solch ein Volk. Wenn du diesen einen verachtest, dann verachtest du sie alle.“8
Plan der Akropolis aus dem 19. Jahrhundert: Vermerkt sind vor allem die diversen Kultorte der Stadtgöttin Athene, darunter der alles überragende Parthenon; das Erechtheion ist der Ort der „Athena Polias“, die „Athena Promachos“ war ein fast zehn Meter hohes Standbild; der Eingang befindet sich ganz links unter der Eintragung „Propylaia“.
Sokrates hat sich von Leuten wie Alkibiades auch aushalten lassen. Sein Beruf war das öffentliche in Gespräche Verwickeln, eine notwendig auf Kontroverse angelegte Tätigkeit, und da bedurfte es zur Organisation der Ressourcen durchaus gewisser Förderer. Auch hier verkörpert Sokrates’ städtische Identität ein Moment des Zeitlosen: Im nächsten Kapitel wird dann ein Förderer aufscheinen, dessen Name Pars pro Toto für den Zuständigkeitsbereich insgesamt steht, Maecenas, der exemplarische Mäzen. Kallias heißt nun einer von Sokrates’ Finanziers. Wie üblich in diesem Metier, hatte er sich um eine ganze Reihe von notleidenden freischwebenden Existenzen zu kümmern, Athen quoll über von ihnen, die den Sammelnamen Sophisten bekamen. Kallias’ Pförtner jedenfalls, so wird berichtet, war unfreundlich zu Sokrates, zu viele seiner Sorte hatten schon ans Tor geklopft. Die Kehrseite, wie sollte es anders sein, tut sich gleich mit auf.
„Die Häuser pflegten zur Straße hin keine Front zu haben“, beschreibt Christian Meier ein beispielhaftes der ungefähr 6.000 Häuser Athens, „es konnten freilich Läden und Werkstätten in ihre Mauern eingelassen (oder ihnen vorgelagert) sein. Sie öffneten sich auf einen Hof, an dem neben Vorratskammer, Küche, oft auch Stallung und/oder Werkstatt … der Männerraum lag, der zugleich für die Mahlzeiten dienen mochte. Auf dem Hof stand der Altar für die Opfer der Familie. Frauenraum und Schlafzimmer waren wohl zumeist in einem zweiten Stockwerk untergebracht. Kaum viel Platz war für Sklaven vorgesehen. Die Häuser standen dicht nebeneinander, wenn sie nicht sogar gemeinsame Wände hatten. In der Mehrzahl werden sie recht klein gewesen sein.“9 So hat man sich also vorzustellen, wie Sokrates untergebracht war, wenn er denn, was bestenfalls zum Schlafen geschah, zu Hause war: daheim bei Xanthippe, seiner Frau, mit der sich ein legendär zänkisches Wesen verbindet, was indes weniger ihrem Charakter als der allgemeinen Frauenfeindlichkeit der Geschichtsschreibung geschuldet sein dürfte. Bei Aristophanes zündet Strepsiades das Haus des Denkers an – aus Rache, dass der Sohn nicht reüssierte; historisch ist dieser Bühnen-Zwischenfall nicht. Der athenischen Demokratie entsprechend „können die Größenunterschiede zwischen den Häusern nicht sehr bedeutend gewesen sein. Kaum anzunehmen, daß die Adeligen und Reichen den eigenen Rang und Anspruch durch besonders prächtige, großartige Gebäude hätten demonstrieren können.“10
Das Haus von Simon dem Schuster hat man angeblich identifiziert, an der südwestlichen Ecke der Agora. Das Haus von Kallias lag „im vornehmen Stadteil Mellite, westlich der Agora“.11 Agora: Für heutige Begriffe ist es der Marktplatz der Stadt, dort, wo das geschäftige Treiben schon aus wirtschaftlichen Gründen ganz bei sich war. Die Agora war umgeben von Kolonnaden, hinter die man sich bei schlechtem Wetter oder bei Bedürfnis nach Schatten flüchten konnte, sie markierten die Stoen, die Wandelhallen, nach deren Angebot, sich im Gespräch leichtfüßig zu ergehen, eine philosophische Schule in der Nachfolge des Sokrates benannt ist. Die Agora war der Mittelpunkt der Handels-, man könnte sagen: der Bürgerstadt Athen, sie lag in der Ebene, und von hier aus ließ und lässt es sich bis heute hochblicken zur Akropolis. Diese burgartige Anlage formulierte die Antithese und verkörperte den Ort der repräsentativen Handlungen, jener Haupt- und Staatsaktionen, in denen die Stadt ihre Sympathien mit den Göttern, aber auch ihre Antipathien mit all denen inszenierte, denen die athenische Hegemonie nicht passte. Agora und Akropolis bilden die urbanistische Achse, als Zentren von Ökonomie hier und Politik dort. Damit liefern sie das Vorbild für eine polare Struktur, wie sie sich etwa zwischen Dom und Piazza della Signoria in Florenz oder, ganz vortrefflich, zwischen City of London und City of Westminster wiederholt.
Es gehört zur Selbst-Deklarierung der Stadt, aus der eine Selbst-Werdung entsteht, die in dieser Rasanz bis dato undenkbar war, dass bestimmte Aktualitäten mythisch verankert werden. Im Jahr 442 war die „Antigone“ des Sophokles aufgeführt worden. Die Tragödie leistet die Vermittlung von konkreter Daseinsbehauptung in eine Sphäre hinein, die vom Willen der Götter und vom Eigensinn des Menschen, von Hybris und Nemesis, von Aufbegehren, von Reue und von Rache abgezirkelt ist. In der „Antigone“ kommt zum ersten Mal das Wort „autonomos“ vor, in jenem Sinn von Eigengesetzlichkeit und Selbstermächtigung, wie es heute gebraucht wird: „Als Einzige der Sterblichen“, ruft der Chor der Heldin zu, „gehst du in den Hades hinab.“12 Antigones Brüder, Söhne des Ödipus, dürfen auf Geheiß des neuen Königs von Theben nicht bestattet werden, sie setzt sich darüber hinweg, autonom, selbstverantwortlich, auch um den Preis der Unterwelt. Gegen tyrannische Verfügung wird das Beharren auf Recht und Moral gesetzt: Athen arbeitet sich damit auch an der eigenen autokratischen Vergangenheit ab.
An zentraler Stelle in Sophokles’ Stück steht, nicht weniger revolutionär, ein Loblied auf menschlichen Erfindergeist: auf seine Fähigkeiten, sich die Natur untertan zu machen und Befangenheiten in Meisterschaft umzumünzen. Der Chor zählt einige der technischen Leistungen auf, Ackerbau, Zähmung der Tiere, Fischfang, und landet schließlich bei einer speziellen Virtuosität: Friedrich Hölderlin übersetzt es mit „städtebeherrschendem Stolz“, Wolfgang Schadewaldt mit „städteordnendem Sinn“, in der Schulausgabe heißt es „staatsordnende Satzungen“. Im Original steht: „astynomous orgas“. Das Wort für Stadt ist „asty“, so wie es bei Sokrates’ Eloge auf die Stadtmenschen, die ihn mehr lehren als Flusswanderungen, geheißen hatte „astei anthropoi“. Asty ist die Stadt der, so könnte man sagen, normalen Bürger gegenüber jener der Amtsträger, die Stadt des täglichen Treibens gegenüber jener der zeremoniellen Verfügungen, die Stadt der Menschen gegenüber der Polis der repräsentativen Verpflichtungen. Asty ist die Stadt des Sokrates, auch wenn Athen in seinem Anspruch auf generelle Zuständigkeit natürlich beides beansprucht. Aus der Polis hat sich der Begriff für die Organisation kollektiven Zusammenlebens entwickelt, Polis ist der Begriff fürs Ganze der Bürgerschaft. Asty allerdings ist die im Athen der Antike übliche Bezeichnung für die allgemein zugänglichen Areale täglicher Beschäftigtheit, für den Ort der Urbanität, für die Straßen und Plätze und den Zusammenhang, den sie stiften. Noch heute heißt die griechische Polizei Elliniki Astynomia.
Jedes Jahr, in jedem vierten noch in hervorgehobener, umfangreicherer Weise, feierten die Athener ihr Stadt- und Staatsfest. Höhepunkt der Panathenäen war eine Prozession, bei der die Bewohner durch ihre Stadt zogen und dabei Punkte absolvierten, die an Zerstörungen gemahnten und dadurch dem umso schöneren und neueren Wiederaufbau huldigten. Die Athener betrieben Selbstvergewisserung, wie herrlich weit sie es gebracht hatten: Bei aller Rasanz der Veränderung sollte für den zeremoniellen Augenblick der Anker in die Tradition geworfen werden. Der Zug begann am westlichen Stadttor, überquerte die Agora, machte am Prytaneion, dem Sitz der Institution, die man Stadtrat nennen könnte, und Ort des Heiligen Herdes, einen Knick, um sich dann den Hügel zur Akropolis hinaufzuarbeiten. Ziel war das Erechtheion, jene spät erst, um 406, vollendete Kultstätte, die das angeblich vom Himmel gefallene Urbild der Stadtgöttin Athene beherbergte. Kurz davor hatte der Zug den Parthenon passiert, den alles überragenden Signaturbau, dorischer Tempel par excellence, der Jungfrau, als die man Athene verstand, geweiht. Der Parthenon beherbergte zugleich die Geldbestände des attisch-delischen Bundes, die sich Athen, man kann das so sagen, unter den Nagel gerissen hatte.
Der Panathenäen-Zug passierte den Parthenon und sah dabei sich selbst. Er ging die Figuren des berühmten 160 Meter langen und knapp einen Meter hohen Frieses entlang, die im Relief vorführen, wie Athener sich zum Panathenäen-Zug fügen. Bild und Realität bestätigen einander gegenseitig ihre Triftigkeit, und bedenkt man, dass Bau und Dekoration wiederum zur Gänze athenischer Produktion entstammen, dann ist der Effekt einer Selbst-Bespiegelung, die im geschlossenen Zirkel der Selbst-Vergewisserung passiert, perfekt: „Hersteller und Betrachter waren hier in einem bisher ungekannten Maß ein und dieselben: die freien Bürger Athens.“13 Und sie waren auch die Teilnehmer der Prozession. Die athenische Demokratie schließt sich in sich selbst ein und feiert ihr Funktionieren.
Man kann verstehen, dass eine nonchalante Gestalt wie Sokrates sich weigerte, an den Schrauben eines solchen kollektiven Narzissmus mitzudrehen. Meinungsfreiheit, Bürgerbeteiligung, unmittelbares Engagement konnten leicht in jene Mechanismen der Disziplinierung und Sozialkontrolle umschlagen, die autoritär werden, wenn sich der allgemeine Wille allzu selbstsicher fühlt. Sokrates ist diesem Mechanismus dann ja auch zum Opfer gefallen. In einem komplizierten Prozess, der mit den Problemen im Gefolge des Peloponnesischen Krieges zu tun hat, mit einer kurzzeitigen Diktatur, unter deren Rädelsführern Schüler und Verehrer von ihm ihr Unwesen trieben, und mit einer gewissen Halsstarrigkeit seinerseits hat sich Sokrates in die Todesstrafe manövrieren lassen. Er hätte deutlicher auf seine Unschuld hinarbeiten können, er hätte fliehen können, doch er akzeptierte letztlich ein öffentliches Bild von sich, das ihn per Mehrheitsbeschluss als gottlos und jugendgefährdend darstellte. „Wenn Sokrates es vorzieht, im Gefängnis zu bleiben und den Tod auf sich zu nehmen, so hat das seinen Grund in politischer Verbindlichkeit. Sokrates hat vor Gericht erklärt, nicht ins Exil zu wollen, was die Gesetze ihm nachdrücklich in Erinnerung rufen. Damit hat er sich ihnen noch einmal verpflichtet, und die Flucht wäre endgültig der Bruch mit Gewohnheit und Übereinkunft (‚syntheke‘ und ‚homologia‘) – ein Bruch also mit jenen beiden Bindungen, durch die Sokrates überhaupt erst zum Bürger geworden ist.“14
Sokrates hat in steter Beharrlichkeit versucht, die Athener Souveränitäten zu unterwandern; darin liegt sein Vermächtnis, das Erbe seiner ureigenen Urbanität. Berühmt ist sein Bekenntnis zum Nicht-Wissen. Etwas weniger an Überzeugtheit, im Mittelpunkt des Universums zu stehen, hätte er seinen Landsleuten allzu gern auferlegt. Deshalb sein unermüdliches, das Störrische bisweilen überschreitende Fragen, das Verstricken der Gesprächspartner in Problematiken, die dadurch oftmals überhaupt erst entstanden. Sokrates hat das Ad-hoc der Aktualisierung, die Programm war im Athener Stadtstaat, selbst über
Sokrates hat in steter Beharrlichkeit versucht, die Athener Souveränitäten zu unterwandern; darin liegt sein Vermächtnis, das Erbe seiner ureigenen Urbanität. Berühmt ist sein Bekenntnis zum Nicht-Wissen. Etwas weniger an Überzeugtheit, im Mittelpunkt des Universums zu stehen, hätte er seinen Landsleuten allzu gern auferlegt.
die Maßen beherzigt. Seine Sprache war und blieb mündlich. Er steht genau an der Schwelle zur Literarisierung, und noch sein großer Laudator Platon musste mit einer gehörigen Menge an Schriften, die sich um Sokrates rankten, der Fiktion stattgeben, er halte Dialoge und damit wiederum aus den konkreten Umständen heraus entwickelte Kurzzeitsensationen fest.
Platons berühmteste Hommage an Sokrates ist die Lobrede, die er in seinem „Gastmahl“, dem „Symposion“, dem Alkibiades in den Mund legt. Gesetzte Herren, in ihrer Mitte Sokrates, unterhalten sich gerade über die Liebe, den Eros (den auch Diotima verkörpert, als Frau eine Ausnahmeerscheinung unter den platonischen Figuren, natürlich nicht anwesend, aber über eine eingestreute Erzählung präsent). Da platzt der reiche Schönling samt Gefolge herein, nicht mehr ganz nüchtern, und überzieht die Atmosphäre mit jener sexuell aufgeladenen Libertinage, von der gerade räsoniert worden war. Alkibiades versucht Sokrates um den Finger zu wickeln, die seinerzeit allgegenwärtige Päderastie liefert ihm dabei willkommenes Vokabular. Erotik ist seinerseits ein Thema, das zur Stadt und ihren Bewohnern gehört; es ausgerechnet an Sokrates zu exemplifizieren, wäre indes dann doch zu viel der Zuständigkeit. Es soll um eine andere Passage gehen, die eine andere zwischenmenschliche Qualität beschreibt, die, wie es aussieht, mit Sokrates gerade entstanden ist: Ironie. Diese Ironie lässt Platon seinen Alkibiades folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Er hält vielmehr alle diese Dinge für nichts wert und uns für nichts und verstellt sich nur gegen die Menschen und treibt Scherz mit ihnen sein Leben lang.“15 „Eiron“ taucht als Charaktertiskum des Sokrates erstmals in „Die Wolken“ auf, doch im Zusammenhang der Komödie bedeutet es so viel wie Heuchler. Platon macht daraus ein „eironikos“, und sein Held wird zum – wieder einmal – Präzedenzfall des Ironikers. Ironie entsteht über Doppeldeutigkeit, sie ist eine Sache der Adressierung, der Unmittelbarkeit, des aus der Situation gewachsenen Auftritts. Ironie zieht im konkreten Einzelfall einen doppelten Boden ein, dabei gibt sie jedem die Freiheit, sie in ihrer Bodenlosigkeit nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Jean-Jacques Rousseau, der Chefideologe der modernen Humorlosigkeit, hätte sich ein orthografisches Hilfsmittel gewünscht, ein „Ironiezeichen“, wie er es nannte, das ihm das Verständnis erleichtern würde. Doch es hilft nichts, Ironie bedarf der Bereitschaft, der Fähigkeit, der Disposition des Gegenübers.