Die Stimmung der Welt - Jens Johler - E-Book

Die Stimmung der Welt E-Book

Jens Johler

4,8

Beschreibung

Dritte, um "Fiktion und Fakten" erweiterte Auflage. Jeder hat von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier gehört - aber über seine Reise nach Fis-Dur weiß kaum jemand etwas. Im März des Jahres 1700, kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag, macht Johann Sebastian Bach sich auf den Weg. Sein Ziel: die vollkommene Musik zu schaffen, eine Musik, die Himmel und Erde in Harmonie vereint. Seine Suche führt ihn schließlich nach Lübeck, wo er Andreas Werckmeister und die wohltemperierte Stimmung kennenlernt. In dieser Stimmung - das ist neu! - kann man alles spielen, alle Tonarten, in Dur und in Moll. Aber die Vollkommenheit hat ihren Preis: Alle Töne werden ein bißchen 'temperiert', das heißt verfälscht, die Musik hat von nun an einen Hauch von Künstlichkeit. Und nicht nur die Töne, auch die Natur und die Menschen werden temperiert. Gärten werden mit geometrischer Exaktheit angelegt, Flüsse kanalisiert, Städte neu entworfen. Die Nacht wird durch die Straßenbeleuchtung zum Tag, die Taschenuhr erlaubt es, die Zeit mitzunehmen, die Stimmgabel den Chorton. Der Weg in eine künstliche Welt hat begonnen. Als Bach das Wohltemperierte Klavier vollendet hat, befällt ihn der abgrundtiefe Zweifel: Ist dieses Werk nicht 'nur von dieser Welt', perfekt, künstlich, profan? 'Bachs Leben besteht für uns vor allem aus biographischen Lücken. Man weiß einiges, aber man weiß vieles nicht. Diese Lücken sind die Chance für den Romancier. Die Fakten waren meine Fessel, aber sie waren auch meine Inspirationsquelle. Frei im Sinne von willkürlich erfunden habe ich nichts.' Jens Johler

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Celestial Monochord, Robert Fludd 1618

Jens Johler

DIE STIMMUNG DER WELT

Roman

Nach einer Idee von Johler & Burow

Alexander Verlag Berlin | Köln

© für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2013

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.

Zeichnungen der Quintenzirkel: Norbert W. Hinterberger

Gestaltung und Satz: Antje Wewerka

ISBN 978-3-89581-368-9 (eBook)

»Hätten ihn die Lebensumstände an einen großen katholischen Hof oder in eine unabhängige bürgerliche Stellung gebracht, und er hätte eine solche Entwicklung sicherlich begrüßt, wäre er unbedingt zum größten Opernkomponisten seiner Zeit geworden.«

Nikolaus Harnoncourt

»Was Newton als Weltweiser war, war Sebastian Bach als Tonkünstler.«

Christian Friedrich Daniel Schubart

März 1722

ER SCHLUG DIE AUGEN AUF und starrte auf die Balken an der Zimmerdecke. Der Mond warf ein bläulich-fahles Licht durchs Fenster.

Er wollte aufstehen, aus dem Bett heraus, ins Arbeitszimmer, in die Komponierstube, ein wenig Musik machen, irgendetwas spielen, um die Gespenster zu vertreiben, die ihn im Traum heimgesucht hatten, aber er konnte sich nicht rühren. Die Beine gehorchten nicht, die Arme nicht, nicht ein einziger Finger.

Was ist los mit mir?

Er spürte immer noch den Druck auf seiner Brust. Jemand hatte ihm im Traum einen Stiefel darauf gesetzt und ihn niedergedrückt. Es fühlte sich an, als presste der Stiefel ihn immer noch, die Brust war wie eingeschnürt, das Atmen fiel ihm schwer.

Ich kriege keine Luft.

Er lauschte auf ihren Atem neben sich, der gleichmäßig und ruhig ging. Beim Ausatmen gab sie einen leisen, pfeifenden Ton von sich, ein hohes Gis. Er wollte sie wecken und darum bitten, ihm beim Aufstehen zu helfen. Er öffnete den Mund, um zu sagen, hilf mir bitte, ich kann mich nicht bewegen, ich kriege keine Luft, aber er brachte keinen Ton heraus.

Er konnte nichts tun, gar nichts. Er konnte nur daliegen und die Balken anstarren.

Lieber Gott, mach, dass ich nicht gelähmt bin.

Er schloss die Augen und versuchte, sich wieder in den Traum zurückzuversetzen. Wer war es, der ihm den Stiefel auf die Brust gesetzt hatte? Und wie war es dazu gekommen? Sein Gefühl sagte ihm, irgendetwas sei in dem Traum passiert, das zu seiner Lähmung geführt hatte. Er hatte die Vorstellung, er müsse zurück und dafür sorgen, dass er einen anderen Verlauf nahm. Mit einem anderen Ausgang.

Nur von dieser Welt.

Erdmann hatte es nicht so gesagt, aber er hatte es gemeint.

Dein Werk ist nur von dieser Welt.

Er musste zurück.

Bilder aus seinem Traum stiegen in ihm hoch. Die Kutsche. Die Straße. Der Kanal. Er erinnerte sich jetzt an den Schrecken, der ihn ergriffen hatte, als die Kutsche zu sinken begann, immer weiter, immer tiefer, bis das Wasser über ihm zusammenschlug. Aber das Wasser drang nicht in die Kutsche ein, sie setzte ihren Weg ungehindert unter der Wasseroberfläche fort. Es war, als hätte er im Bauch eines Fisches gesessen wie Jona im Bauch des Wals.

Ich bin in die falsche Richtung gegangen, dachte er. Keine Offenbarung des Himmels auf Erden. Keine Jakobsleiter, die nach oben führt. Nur irdische Musik, die nichts anderes ist als eben dies. Ich habe versagt. Nein, schlimmer.

Der Druck auf seiner Brust nahm zu. Eine dunkle Gestalt stand auf einmal vor seinem Bett, kerzengerade, die rechte Hand zum Himmel gestreckt. Ein Prophet. Ein Messias. Ein Herrscher über die Stimmung der Welt. Die anderen, die um ihn herum standen, schauten verängstigt zu ihm auf, zu seinen feurigen Augen, auf seinen zum Himmel empor gereckten Arm.

Nur sie blickte nicht nach oben.

Bach folgte ihrem Blick, seine Augen wanderten vom schwarzen Rock des Propheten hinunter zu der ebenso schwarzen Hose und den ledernen Stiefeln. Aber nein. Da war nur ein Stiefel. Nur der rechte Fuß war bekleidet.

Ungläubig, voller Entsetzen, verharrte Bachs Blick auf dem linken Fuß.

1. Der Aufbruch

AM FÜNFZEHNTEN MÄRZ DES JAHRES 1700, kurz vor Sonnenaufgang, machte Bach sich auf den Weg. Johann Christoph begleitete ihn bis zum Stadttor und, da es immer noch nicht hell werden wollte, auch darüber hinaus. Als sie auf der Höhe des Berges anhielten, sahen sie, wie die Sonne ihre ersten Strahlen über den Saum des Waldes schickte.

Kommst du allein zurecht?

Bach antwortete nicht. Räuber und Zigeuner waren in diesem Wald zu Hause und warteten nur darauf, ihm den Ranzen und die Geige wegzunehmen. Sowie Johann Christoph ihn allein gelassen hätte, würden sie sich auf ihn stürzen.

Du zitterst ja. Ist dir kalt?

Ihm war nicht kalt, er zitterte nur. Er würde sofort losrennen, wenn sein Bruder gegangen wäre.

Also dann, Kleiner, Gott befohlen.

Bach erwiderte die Umarmung seines Bruders und rannte los.

Warte!

Johann Christoph zog ein gerolltes Papierbündel aus seinem Wams hervor. Fast hätte ich es vergessen, sagte er. Da, nimm. Jetzt gehört es dir.

Bach wich einen Schritt zurück und starrte auf das Bündel.

Soll ich es dir in den Ranzen stecken?

Bach wischte sich, während Johann Christoph den Ranzen aufschnürte und die Rolle darin verstaute, verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.

Und immer fleißig sein, hörst du?

Er nickte.

Du sagst ja gar nichts. – Und dann, bevor er sich endgültig auf den Weg zurück nach Ohrdruf machte, sagte Johann Christoph beiläufig, mehr gemurmelt als gesprochen: Hüte dich vor Hochmut, Kleiner. Du wirst uns einmal alle übertreffen.

Bach blickte dem Bruder verwundert nach. Johann Christoph war sein Lehrer gewesen, fünf Jahre lang, ein strenger Lehrer, der kaum je ein Lob über die Lippen gebracht hatte. Und nun dies? Und was war es, das der Bruder da gesagt hatte? Eine Prophezeiung, ein Wunsch, ein Auftrag, ein Befehl?

Gerade als Johann Christoph zwischen den Bäumen verschwunden war, stieg der weißglühende Feuerball am Horizont empor. In Bachs Innerem erklang ein strahlend reiner C-Dur-Akkord, der sich alsbald nach Harfenart in einzelne Töne auflöste. Bach pfiff, während er sich wieder in Bewegung setzte, das Arpeggio leise vor sich hin. Seine Bangigkeit war mit einem Mal verflogen. Er dachte an Lüneburg, an die Lateinschule, an den berühmten Georg Böhm, der dort die Orgel spielte, er dachte an das Notenmanuskript in seinem Ranzen und an die Worte des Bruders. Und während ihm erneut die Tränen in die Augen schossen, beschleunigte er seine Schritte, um rechtzeitig nach Gotha zu kommen, wo Georg Erdmann, sein Mitschüler, schon ungeduldig auf ihn wartete.

ERDMANN SASS AUF EINEM STEIN vor dem Rathaus und sprang auf, als er Bach erblickte. Er war zwei Jahre älter als Bach, dünner als er und einen Kopf größer. Auch er trug einen Ranzen auf dem Rücken. Statt der Geige hatte er eine Laute umgehängt.

Er habe in den letzten Wochen viel gelesen, sagte Erdmann, als sie die Stadtmauer hinter sich gelassen hatten, und habe nun seine Bestimmung gefunden. Er werde Philosoph werden, der größte, den es je gegeben habe. Er werde sich das gesamte Wissen seines Zeitalters aneignen, Naturphilosophie, Moralphilosophie, Rechtsphilosophie, alles! Gerade habe er von einem Engländer gelesen, der sich Neuton nenne.

Bach horchte auf. Der Name gefiel ihm.

Dieser Neuton oder Newton, erklärte Erdmann weiter, sei ein überaus bedeutender Philosoph, manche behaupteten sogar, bedeutender als Leibniz, aber das müsse die Nachwelt entscheiden. Jedenfalls habe dieser Engländer eines Tages unter einem Apfelbaum gelegen und sei eingeschlafen. Und wie er da so friedlich vor sich hin geträumt habe, sei er auf einmal unsanft geweckt worden, und zwar von einem Apfel, der ihm direkt auf den Kopf gefallen sei. Er sei wütend und verärgert gewesen und habe seinen Zorn natürlich gegen jemanden richten wollen, aber gegen wen? Weit und breit war niemand zu sehen gewesen. Als der Engländer darüber eine Weile nachgedacht habe, sei ihm mit einem Male die Erleuchtung gekommen, wie alles zusammenhängt, das Fallen des Apfels zur Erde, die Bewegung der Erde um die Sonne, die Bewegung des Mondes um die Erde und überhaupt alle Bewegungen, die nicht von äußerer Stoßkraft herrührten. Es gäbe eben eine Kraft, die den Körpern innewohne oder auf geheimnisvolle Weise zwischen ihnen wirke, ohne dass die Körper sich direkt berührten. Und diese magische Kraft habe Newton Gravitation genannt, also Schwerkraft.

Bach war fasziniert. Er sprach das Wort leise vor sich hin, Gravitation, Gra-vi-ta-tion, das Wort faszinierte ihn ebenso wie der Gedanke, dass das Nahe und das Ferne, der Himmel und die Erde, der Mond und der Apfel, durch eine geheimnisvolle Kraft miteinander verbunden waren. Gra-vi-ta-tion – er probierte verschiedene Betonungen des Wortes aus, um seiner Bedeutung näher zu kommen, er dehnte die einzelnen Silben und erweiterte sie, er variierte Melodie und Rhythmus, und je ausgiebiger er das tat, desto mehr geriet er in den Sog des Wortes, stampfte mit den Füßen auf, klatschte in die Hände, schnippte mit den Fingern, bis er bemerkte, wie Erdmann irritiert zu ihm herüber schaute.

Gravitation, sagte er noch einmal nüchtern und machte eine entschuldigende Handbewegung.

Erdmann verstand das als Ermutigung und fing an über Johannes Kepler zu reden, einen Astronomen, der gewisse Gesetze über die Bewegung der Planeten aufgestellt hatte.

Bach lauschte, während er dem Freund mit einem Ohr zuhörte, auf den fernen Ruf eines Kuckucks und fragte sich, was es bedeutete, dass er mal eine kleine Terz, mal eine große hervorbrachte. Es klang nach Abschied und Verlust.

KURZ VOR EINBRUCH DER DUNKELHEIT erreichten sie Langensalza. Ein kleiner Junge, barfuß, in zerlumpter Kleidung, heftete sich an ihre Fersen. Er zeigte ihnen den hohen Turm der Marktkirche und erklärte ihnen stolz, dass die Postkutschen, die neuerdings hier Station machten, von Moskau bis nach Amsterdam fuhren. Als sie zum Haus von Erdmanns Onkel kamen, schenkten sie ihm einen Pfennig, und er rannte sofort davon, als müsste er das Geld vor ihnen in Sicherheit bringen.

Das Haus des Onkels sah grau und freudlos aus. Es war aus Holzbalken und Lehmziegeln gemauert, hatte kleine, schiefe Fenster und ein Dach aus grauen Ziegeln. Durch einen hohen Torbogen neben dem Haus sah man einen gepflasterten Hof und dahinter die Schmiede.

Erdmanns Onkel war der Hufschmied der Stadt. Er war ein kräftiger Mann mit einem mächtigen Schädel und traurigen Augen. Widerwillig wies er Bach und Erdmann einen Platz zum Schlafen an und rief sie zum Abendessen in die Küche.

Die Brotsuppe und das Kohlgericht mit Hirsebrei aßen sie schweigend. Es war, als herrschte in diesem Haus ein schwarzer Zauber, der alle Worte, alle Töne, alle Gedanken zum Schweigen brachte. Bach spürte nur quälende Dumpfheit in seinem Kopf. Erdmann ging es offenbar ähnlich. Immerhin taute der Onkel etwas auf, nachdem er ein Glas Branntwein getrunken hatte, freilich ohne ihnen etwas davon anzubieten. Wer denn sein Vater sei, fragte er Bach.

Ambrosius Bach, Stadtpfeifer in Eisenach, antwortete er. Aber sein Vater lebe nicht mehr. Er sei vor fünf Jahren gestorben. Erst die Mutter, dann der Vater.

Seine Frau sei auch gestorben, sagte der Onkel. Vor einem halben Jahr.

Bach nickte. Er wusste es von Erdmann. Der Onkel hatte keine Kinder. Er war jetzt ganz allein.

Wenn er morgens mit dem Hammer auf das rotglühende Eisen schlage, sagte der Onkel, dann wisse er manchmal nicht, auf wen … der Herrgott möge ihm verzeihen.

Bach dachte daran, wie seine Mutter gestorben war. Er stand neben dem Bett, auf dem sie aufgebahrt war, und hatte den Eindruck, sie bewegte sich ganz leicht, sie atmete. Wach auf, hatte er geflüstert, wach auf. Er konnte nicht glauben, dass es nicht in ihrer Macht stand. Da war er neun. Ein paar Monate später starb der Vater. Sein Glück war noch, dass er nicht ins Waisenhaus kam, sondern zu seinem Bruder Johann Christoph, der damals schon Organist in Ohrdruf war.

Warum sie denn nicht weiter die Schule in Ohrdruf besuchten, fragte der Onkel.

Man habe ihnen den Freitisch gestrichen, erklärte Erdmann. In Lüneburg würden sie alles umsonst bekommen, Wohnen, Essen, Unterricht. Dafür müssten sie im Mettenchor mitsingen.

Was für ein Unsinn aber auch, sagte der Onkel. Es war unklar, ob er die Streichung des Freitisches in Ohrdruf meinte oder das Mitsingen im Mettenchor von Lüneburg.

Sie schliefen auf Strohsäcken in einer Kammer neben der Küche. Bach dachte vor dem Einschlafen an die Zeit in Eisenach zurück. Was für ein Glück war es gewesen, den Vater zu begleiten, wenn er zum Abblasen der Turmstückchen vom Balkon des Rathauses antrat oder unter der Leitung des Kantors in der Georgenkirche spielte. Was für ein Glück, mit ihm hinauf zur Wartburg zu wandern, wo einst Luther Asyl gefunden hatte, und ihn davon sprechen zu hören, dass alle Wesen ihre eigene Melodie hatten, die Menschen, die Tiere, ja, auch die Pflanzen. Was für ein Glück war es gewesen, mit den Lehrlingen und Gesellen zu musizieren, die immer bereit waren, ihm ihre Kunst zu zeigen, auf der Geige, auf der Laute, auf der Trompete, am Clavichord. Und was für ein Glück, den Onkel Christoph auf der großen Orgel spielen zu hören, der die Gesetze der Harmonie so vollkommen beherrschte, dass er ohne Mühe fünf Stimmen zugleich nebeneinander herlaufen lassen konnte. Dass er auch eines Tages so würde spielen können wie der Onkel, das war von Anfang an sein größter Wunsch.

AM MORGEN erschütterten gewaltige Hammerschläge das Haus. Bach wähnte im Halbschlaf, sein eigener Kopf läge auf dem Amboss, und der nächste Schlag würde ihm den Schädel spalten. Er sprang von seinem Strohsack auf, streifte Hose und Wams über, schnallte den Ranzen um, warf die Geige über die Schulter und beeilte sich ins Freie zu kommen.

Erdmann war bereits reisefertig und erwartete ihn vor dem Haus. Pythagoras, sagte er.

Bach schaute ihn fragend an.

Schmiedehämmer, sagte Erdmann. Dadurch ist Pythagoras auf das Geheimnis der Harmonie gestoßen.

Ach ja, sagte Bach. Habe davon gehört.

Je weiter sie ins Land hinaus gingen, desto mehr Menschen kamen ihnen auf der Landstraße entgegen. Bauern, die auf Eseln zu ihren Feldern ritten oder schwerfällige Ackergäule am Zügel führten. Zerlumpte Kinder, denen man nicht ansah, ob sie nur aufs Feld zur Arbeit wanderten oder Waisenkinder waren, die ihr Glück in der Welt suchten, bevor man sie aufgriff und ins Zuchthaus sperrte. Handwerkergesellen auf der Walz in der Tracht ihrer Berufe. Und immer wieder Bettler und Diebe, denen man eine Hand abgeschlagen hatte oder sogar Hand und Fuß. Einmal überholten sie einen Lahmen und einen Blinden. Der Lahme stützte sich auf den Blinden, der Blinde führte den Lahmen. Bach hätte ihnen gern ein Almosen gegeben, aber er hatte ja selbst kaum etwas. Hin und wieder wurden sie von herrschaftlichen Kutschen überholt und mussten aufpassen, dass die Kutscher ihnen nicht von oben herab die Peitsche über den Rücken knallten, nur so zum Spaß. Gelegentlich preschte ein einzelner Reiter im Galopp an ihnen vorbei und erwartete, dass sie rechtzeitig beiseite sprangen. Manchmal begegneten ihnen auch zwielichtige Gestalten, die begehrliche Blicke auf ihre Instrumente warfen, Bachs Geige und Erdmanns Laute. Wenn sie, was nicht nur einmal vorkam, nach dem Weg gefragt wurden, mussten sie zugeben, dass sie sich auch nicht auskannten. Immerhin hatte Erdmann eine Liste der Orte angefertigt, die sie auf ihrer Wanderung nach Lüneburg passieren mussten. Es war eine ziemlich lange Liste für eine ziemlich lange Wanderung.

2. Endlicher Rechtstag

AM SAMSTAG, GEGEN MITTAG, erreichten sie die Grenze zum Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Sie zeigten ihre Pässe und Begleitbriefe vor, das Schreiben ihres Kantors Elias Herda und die Einladung des Michaelisklosters in Lüneburg, und durften passieren. Auf beiden Seiten des Schlagbaums standen Kutschen und konnten nicht mehr weiter. Die Spurweite der Straßen, die nur aus zwei parallel verlaufenden gepflasterten Bändern bestanden, war in beiden Ländern verschieden. So hatten die Kutscher ordentlich damit zu tun, die Achsen auszuwechseln und die Spurweite zu verkleinern oder zu vergrößern, je nachdem, woher sie kamen und wohin sie wollten, während die Fahrgäste am Wegesrand standen und ihnen ungebetene Ratschläge gaben.

Erdmann und Bach stellten sich dazu, und Erdmann fing an, über die Zersplitterung Deutschlands in lauter winzige Fürstentümer zu räsonieren. Jeder ein kleiner Sonnenkönig! Jeder auf seiner eigenen Spur! Aber warten wir es ab! Am Ende dieses Saeculums wird Deutschland ebenso vereint sein wie England oder Frankreich! Dann wird es diesen Unsinn nicht mehr geben. Dann wird man neue Straßen bauen, die im ganzen Lande einheitlich sind, schnurgerade und im rechten Winkel zueinander, konstruiert nach den Gesetzen der Vernunft. Dafür lege er seine Hand ins Feuer!

Die herumstehenden Fahrgäste drehten sich misstrauisch nach den beiden Wanderburschen um. Wer waren die? Was hatten die hier zu suchen? Wie kamen die dazu, hier aufrührerische Reden zu halten?

Bach packte Erdmann am Ärmel seines rostfarbenen Rocks und zog ihn energisch mit sich fort.

AM NÄCHSTEN ABEND, knapp eine Woche, nachdem sie losgewandert waren, machte Bach den Vorschlag, ins Wirtshaus zu gehen und sich zur Feier des Tages einmal richtig satt zu essen, auf seine Kosten, er lade ein.

Du hast Geburtstag?, fragte Erdmann.

Einundzwanzigster März, sagte Bach. Bin jetzt fünfzehn. Obwohl …

Es war nicht so ganz sicher, ob er jetzt wirklich fünfzehn war. Genau genommen fehlten noch elf Tage. Man hatte zu Beginn des Jahres den Kalender umgestellt, vom julianischen auf den gregorianischen, den es in den katholischen Landen schon seit hundert Jahren gab, und die Anpassung hatte erfordert, dass elf Tage aus dem Jahr herausgekürzt wurden. Auf den achtzehnten Februar folgte nicht der neunzehnte, sondern der erste März. Elf Tage einfach ausradiert, perdu! Man könnte darüber ins Grübeln kommen, sagte er, ob ich heute fünfzehn werde oder erst am ersten April.

Dann sollten wir am besten zweimal feiern, sagte Erdmann.

Das könnte dir so passen, sagte Bach.

Im Gasthaus Zur Linde waren noch Tische frei. Sie suchten sich einen Tisch im hinteren Teil des mit Kerzen und Öllampen erleuchteten Raumes, und Bach bestellte Hasenbraten und Wein.

Nach dem zweiten Glas erzählte er dem Freund von dem Notenmanuskript, das ihm der Bruder in den Ranzen gesteckt hatte. Es waren Abschriften von Noten, die der Bruder in einem verschlossenen Schrank aufbewahrt hatte. Noten von Pachelbel, Böhm, Buxtehude und auch von einigen italienischen Komponisten. Bach hatte die Stücke heimlich bei Mondschein kopiert, und als der Bruder dahinter kam, nahm er ihm die Kopien wieder weg und verschloss sie nun auch im Schrank.

Aber warum?, fragte Erdmann

Warum was?

Warum hat er sie dir weggenommen?

Weil er’s verboten hatte, sagte Bach.

Und warum hatte er’s verboten?

Weil sie kostbar sind. Er hat für die Kopien viel Geld bezahlt. Und je mehr es davon gibt, desto weniger sind sie wert.

Verstehe, sagte Erdmann. Aber immerhin bist du sein Bruder.

Ja freilich, sagte Bach, deswegen hat er sie mir ja auch zurückgegeben.

Unterdessen war der Wirt an ihren Tisch gekommen und hatte ihnen zwei weitere Becher Wein hingestellt.

Mit Verlaub, Herr Wirt, sagte Erdmann, die haben wir nicht bestellt.

Die sind von dem Tuchhändler dort, sagte der Wirt und wies mit dem Kopf auf einen gut gekleideten Gast. Er lässt fragen, ob die Herren eine Musik spielen können. Ein Lied zur Laute. Mit Begleitung der Fidel. Vielleicht auch mit Gesang?

Ein Lied? Nun ja, warum nicht? Sie hatten gut gespeist und einiges getrunken, aber nicht so viel, dass sie nicht hätten musizieren können. Und wer weiß, vielleicht würde der Wirt sie sogar umsonst übernachten lassen, wenn sie dafür sorgten, dass noch mehr Wein getrunken wurde. Sie packten ihre Instrumente aus und stellten sich in die Mitte des Raumes.

Die Lust hat mich bezwungen, sang Erdmann, zu fahren in den Wald, wo durch der Vögel Zungen - die ganze Luft erschallt. Bach sang die zweite Stimme dazu und fidelte melodische Figuren darum herum.

Die Gäste klatschten verhalten.

Erdmann zögerte nicht lange und spielte das zweite Lied:

Bist du des Goldschmieds Töchterlein

Bin ich des Bauren Sohn, ja Sohn

Der Beifall wurde stärker. Einige der Gäste hatten ein paar Zeilen mitgesungen. Die Stimmung steigerte sich, und bald wollte man sie nicht mehr aufhören lassen. Immer neue Liedwünsche wurden ihnen zugerufen, und Erdmann kannte sie alle: Der Winter ist vergangen oder Es ging ein Mönch ins Oberland, mit einer Nonn’ ward er bekannt, was allerdings ein ziemlich schlüpfriges Lied war, Bach schämte sich regelrecht, als er hörte, wie es hieß Er führet sie an den Altor, da las er ihr den Psalter vor oder gleich darauf Er führt sie für den Glockenstrang und beutelt sie fünf Stunden lang, nein, das ging entschieden zu weit, zumal die Gäste johlten und ihre eigenen Schlüpfrigkeiten dazu grölten. Bach stimmte einen Zigeunertanz an, den er auf einer Bauernhochzeit in der Nähe von Ohrdruf aufgeschnappt hatte, mit atemberaubend schnellen Läufen und rasch abwechselnden Staccato- und Legatopassagen, und dazu stampfte er mit den Füßen auf die hölzernen Dielen. Kaum hatten sie begonnen, schnappte sich einer der Gäste die Kellnerin und tobte mit ihr so wild im Kreis herum, dass man fürchten musste, alle beide würden alsbald von einem Schwindel ergriffen und zu Boden stürzen, aber sie stürzten nicht, sie fielen einander nur ausgelassen um den Hals, als es zu Ende war, und lachten, und die anderen Gäste freuten sich mit ihnen und klatschten in die Hände, und in den allgemeinen Lärm hinein rief der Tuchhändler: Da capo! Da capo! Die nächste Runde geht auf mich!

KOST UND LOGIS seien umsonst, sagte der Wirt am nächsten Morgen, als er ihnen das Frühstück servierte, und falls sie mal wieder vorbei kämen und zum Tanz aufspielen wollten, seien sie jederzeit willkommen.

Der Tuchhändler kam an ihren Tisch und bot ihnen an, sie in seiner Kutsche mitzunehmen. Er sei auf dem Weg nach Wernigerode.

Erdmann warf einen Blick auf seine Liste und sagte, sie nähmen das Angebot gerne an.

Nachdem sie einander eine Weile schweigend und vom Wein noch müde gegenüber gesessen hatten, begann der Tuchhändler ein Gespräch über den Endlichen Rechtstag, der morgen in Wernigerode stattfände. Den wolle er nicht verpassen. Die Hexe, die verbrannt werden solle, habe gestanden, dass sie in allen vier Anklagepunkten schuldig sei, Teufelsbund, Teufelsbuhlschaft, Teilnahme am Hexensabbat und Schadenzauber. Dieses Geständnis werde morgen öffentlich verlesen. Im Übrigen habe es des Geständnisses eigentlich gar nicht bedurft. Die Hexe habe nämlich flammend rote Haare, was ja für sich genommen schon verdächtig sei, und vor allem eine Warze in der linken Achselhöhle, die, wenn man hinein steche, weder schmerze noch blute. Das sei ein untrügliches Zeichen.

Wem die Hexe denn geschadet habe, fragte Erdmann.

Darauf komme es gar nicht an, sagte der Händler. In der Landesordnung sei ausdrücklich festgelegt, dass eine Person, die mit dem Teufel ein Verbündnis eingegangen sei, mit dem Feuer vom Leben zum Tode gerichtet und gestraft werden solle, auch wenn sie mit ihrer Zauberei niemandem Schaden zugefügt habe. Aber da der junge Herr schon danach frage: Die Hexe habe das Vieh krank gezaubert, wovon einige Kühe sogar gestorben seien.

Ob die Hexe das von Anfang an gestanden habe, wollte Erdmann wissen, oder erst nach peinlicher Befragung.

Nun, sagte der Tuchhändler, es habe, nachdem die Hexe angezeigt worden war, zunächst ein Amtmann in Wernigerode inquiriert und den Fall alsdann vor das Gericht gebracht, und das habe entschieden, dass Anklage erhoben werden solle, was auch vom Grafen abgezeichnet worden sei. Daraufhin sei die Hexe verhaftet, in den Turm geworfen, vollständig entkleidet, depiliert und zunächst gütlich befragt worden. Sie habe aber so hartnäckig geleugnet, dass man ihr die Instrumente gezeigt habe, Daumenschrauben, Streckbank, Beinschrauben und so fort, immer noch vergeblich. Schließlich habe das Spruchkollegium auf peinliche Befragung entschieden, und daraufhin sei es sehr bald zur Urgicht gekommen, also zum Geständnis, und diese Urgicht werde morgen öffentlich verlesen. Das wolle er sich natürlich nicht entgehen lassen. Besonders, was die Hexe in Bezug auf die Teufelsbuhlschaft gestanden habe. Da könne man vielleicht noch etwas lernen, fügte er hinzu, ohne zu bemerken, wie Erdmann die Miene verzog. Aber, fuhr er fort, auch was die Hexen bei ihren Zusammenkünften am Hexensabbat auf dem Blocksberg so alles trieben, wolle er unbedingt erfahren. Und natürlich auch, wie sie es anstellten, auf dem Besen durch die Lüfte zu reiten. Das Fliegen sei ja ein alter Traum der Menschheit. Ob die jungen Herren dem Endlichen Rechtstage auch beiwohnen wollten?

Bach sah Erdmann fragend an. Erdmann schüttelte den Kopf.

Aber wieso?, rief der Händler verständnislos aus. So etwas lasse man sich doch nicht entgehen. Hatte nicht auch Martin Luther gepredigt, dass man die Zauberinnen nicht am Leben lassen dürfe? Dass sie Milch, Butter und alles aus einem Hause stehlen und geheimnisvolle Krankheiten im menschlichen Knie erzeugen könnten, wovon der Körper verzehrt werde? Dass sie Tränke und Beschwörungen verabreichten, um Hass hervorzurufen, Liebe, Unwetter, alle Verwüstungen im Haus und auf dem Acker, und dass sie sogar über eine Entfernung von einer Meile und mehr mit ihren Zauberpfeilen Hinkende machten, die niemand heilen könne?

Mit Verlaub, sagte Erdmann, Luther hin – Luther her: diese ganze Hexenverbrennerei sei doch ein ausgemachter Unfug. Er halte absolut nichts davon. Er sei nicht einmal davon überzeugt, dass es überhaupt so etwas wie Hexen gäbe. Das seien doch Hirngespinste! Man habe zum Beispiel die Mutter von Johann Kepler angeklagt, eine Hexe zu sein, nur weil man geglaubt habe, sie in seinem Roman über die Reise zum Mond wiedererkennen zu müssen. Jahre seines Lebens habe dieser große Mann damit zugebracht, seine Mutter zu verteidigen. Dann endlich habe man sie freigelassen, aber da sei sie bereits in einem erbärmlichen Zustand gewesen. Ein Jahr darauf sei sie an Entkräftung gestorben. Das müsse man sich mal vorstellen! Die Mutter von Johann Kepler!

Dieser Kepler sei ihm nicht bekannt, sagte der Händler.

Dann sei ihm vermutlich auch Christian Thomasius nicht bekannt?

Er kenne einen Christian Sartorius, sagte der Händler, den meine er wohl nicht?

Nein, sagte Erdmann, er meine den Magister Thomasius von der Universität in Halle. Der habe unwiderleglich bewiesen, dass jegliche Art von peinlicher Befragung nicht nur unmenschlich, sondern auch nutzlos sei. Wer gefoltert werde, gestehe alles, was seine Peiniger in ihn hineinfragten, die Wahrheit komme dabei nicht ans Licht. So sei es zum Beispiel vorgekommen, dass man für einen Raubüberfall auf eine Postkutsche sieben Männer gehängt habe; alle sieben hätten auf dem Streckbett die Tat gestanden, obwohl, wie sich später herausgestellt habe, nur vier Räuber an dem Überfall beteiligt waren. Aber es seien nicht nur drei zuviel gehängt worden, sondern sieben. Die richtigen vier habe man nämlich bei einem weiteren Raubüberfall in flagranti erwischt. Und natürlich auch gehängt. Da waren es schon elf.

Nun ja, bemerkte der Tuchhändler gleichgültig, wahrscheinlich war es um die anderen auch nicht schade.

IN WERNIGERODE waren die Vorbereitungen für das Spektakel in vollem Gange. Händler aus Nah und Fern bauten ihre Stände auf. Eine hölzerne Tribüne für die Ratsherren und angereisten Notabeln wurde gezimmert. Der Scheiterhaufen war auch schon errichtet, obwohl der Endliche Rechtstag erst für morgen angesetzt war.

Der Tuchhändler konnte seine fiebrige Erwartung kaum verbergen. Auch Bach war für einen Augenblick versucht, sich davon anstecken zu lassen. Erdmann drängte darauf, so schnell wie möglich aus Wernigerode herauszukommen. Er habe eine Verabredung in Wolfenbüttel, sagte er.

Eine Verabredung? Mit wem?

Nun ja, sagte Erdmann ausweichend. Mit einer hochgestellten Persönlichkeit.

Potz Tausend, sagte Bach. Wohl gar mit dem Fürsten?

Mit einem Geistesfürsten, sagte Erdmann schließlich. Mit einem Philosophen.

Da bin ich aber gespannt, sagte Bach.

3. Der Philosoph

SCHON DER GANG DURCH DAS DAMMTOR über den riesigen Schlossplatz sowie der Anblick des gewaltigen Schlosses, das alle anderen Häuser am Platz überragte, flößte ihnen Respekt ein. Und nun nicht weniger die stattliche Erscheinung des Philosophen, der sie in der Bibliothek empfing! Er trug eine wallende Perücke mit einer Fülle schwarzer Locken, einen prächtigen Rock nach französischer Mode, seidene Strümpfe und silberne Schnallen auf den Schuhen. Erdmann erstarrte vor Ehrfurcht. Bach fühlte sich unbehaglich. Er war versucht, einen Kratzfuß vor dem hohen Herrn zu machen und konnte sich gerade noch beherrschen.

Als der Philosoph ihnen die Räume der berühmten Bibliothek zeigte, kam Bach aus dem Staunen nicht mehr heraus. So viele Bücher, tausende! Und alle edel eingebunden in hellbraunes Kalbsleder mit goldnen Gravuren, eines wie das andere! Bis zur gewaltig hochgezogenen Decke des Raumes reichten die Regale, vollgestellt mit naturphilosophischen, moralphilosophischen und theologischen Werken.

Er sei gerade dabei, die Bibliothek auf ein neues System umzustellen, sagte der Philosoph. Bisher habe man die Bücher nach ihrem mehr oder weniger willkürlichen Standort in den Regalen katalogisiert. Nun aber wolle er ein neues Ordnungssystem einrichten, alphabetisch, nach den Namen der Verfasser, von A wie Aristoteles bis Z wie Zwingli. Das sei praktischer. Man finde die Bücher schneller und spare Zeit. Überhaupt sei ja das Zeitalter, in dem sie sich befänden, ein Zeitalter der Neuordnung und der umwälzenden Erfindungen. Ob sie schon von seiner Rechenmaschine gehört hätten?

Erdmann nickte.

Bach schüttelte den Kopf.

Hier, sagte der Philosoph, und wandte sich zu einem Tisch, auf dem ein länglicher Gegenstand von einem Tuch verdeckt war. Mit einer behänden Bewegung zog er das Tuch beiseite und gab den Blick auf eine golden funkelnde Maschine frei, die verwirrende Details aufwies: Bach erkannte an der Oberseite des Apparats die Zahlen 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. Sie waren kreisförmig um einen verstellbaren Zeiger in der Mitte angeordnet. Acht solche Zahlenkreise schmückten die Oberseite und waren mit weiteren acht senkrecht dazu stehenden Zahlenscheiben verbunden, die offenbar durch eine große Kurbel bewegt werden konnten.

Der Bratenwender, sagte der Philosoph scherzhaft und betätigte die Kurbel. Le Tournebroche.

Bach und Erdmann blickten verwirrt und fasziniert auf diesen rätselhaften Apparat.

Der Philosoph konnte seine Genugtuung kaum verbergen. Dies, sagte er voll Stolz, sei eine Erfindung, die die Welt verändern werde. Schluss mit der stupiden Rechnerei. Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division – kein Problem mehr. Zehnmal so schnell, als wenn Sie es allein mit Ihrem Kopf machen.

Und wie, fragte Bach zweifelnd, funktioniert das?

Schauen Sie hier, sagte der Philosoph, und bedeutete den beiden näher zu kommen. Das Wichtigste ist die Staffelwalze. Die Zähne verschiedener Länge sind verschiebbar und somit können alle Stellen des Summanden ins Resultatwerk übertragen werden.

Bach kratzte sich am Kopf.

Leibniz lachte amüsiert. Mit dieser Maschine, meine Herren, rief er aus, werden wir in nicht allzu weiter Ferne alles berechnen und in Formeln darstellen können.

Alles?, fragte Bach erstaunt. Mit dieser Maschine?

Natürlich nicht mit diesem noch sehr unvollkommenen Exemplar, sagte der Philosoph, aber mit den Prinzipien, auf denen sie beruht. Er sei, nebenbei bemerkt, gerade dabei, eine ganz andere Art von Rechenmaschine zu erfinden. Ob sich die Herren vorstellen könnten, was für eine?

Erdmann gab seiner Ratlosigkeit mit einem schwer berechenbaren Seufzer Ausdruck.

Nun, sagte der Philosoph in vertraulichem Ton, es werde eine Rechenmaschine für Worte sein. Jawohl, sie hätten richtig gehört, für Worte und Sätze, für den Diskurs! Dafür müsse man allerdings zuerst die Worte, Sätze und ihre Beziehung zueinander in eine rechenhafte Form bringen. Er nenne das die Universal-Charakteristik. Man könne ja, wie den Herren Scholaren nur allzu gut bekannt sei, aus den vierundzwanzig Elementen des Alphabets sämtliche Wörter konstruieren. Richtig?

Erdmann nickte.

Bach enthielt sich der Äußerung.

Nun, fuhr Leibniz fort, auf eine ähnliche Weise, wie man die Worte auf vierundzwanzig einfache Elemente zurückführen könne, werde er alle Gedanken auf ihre Grundbegriffe zurückführen. Diese elementaren Grundbegriffe werde er mit je einem Symbol oder einer Zahl bezeichnen – und schon könne man alle Gedanken ebensogut auf diese Weise ausdrücken. Unsere Sprache wäre dann so exakt und unfehlbar wie die Mathematik.

Faszinierend! – Bach hatte es nicht sagen wollen, es entfuhr ihm. Er hatte eine Idee, traute sich aber nicht sie auszusprechen. Sie hing damit zusammen, dass die Zahl vierundzwanzig auch in der Musik eine Rolle spielte. Es gab zwölf Töne und damit zwölf Tonarten, und wenn man Dur und Moll auseinanderhielt, dann kam man auch auf vierundzwanzig.

Ja, faszinierend, nicht wahr?, sagte der Philosoph. Wenn wir in Zukunft über eine Sache miteinander streiten, dann werden wir nicht mehr endlos debattieren und uns am Ende gar noch die Köpfe einschlagen, sondern einfach nur sagen: Calculemus! Rechnen wir!

Aber, sagte Bach und traute sich nun doch, könnte man so eine Maschine nicht auch für die Musik konstruieren? Zum Beispiel eine Maschine für den Kontrapunkt: Man gibt ein Thema ein, und der Rest wird einfach ausgerechnet. Kontrapunkt, doppelter Kontrapunkt, dreifacher Kontrapunkt, vierfacher Kontrapunkt, ganze Noten gegen ganze, ganze Noten gegen halbe, ganze Noten gegen viertel und so weiter?

Der Philosoph blickte mit offenem Mund von Bach zu Erdmann, von Erdmann zu Bach. Aber das ist ja …, begann er.

Bach hob entschuldigend die Hände. Er habe vermutlich etwas ganz Dummes gesagt, und er wolle sich dafür …

Aber nein!, rief der Philosoph aus. Das ist phantastisch! Das werde ich Leibniz sofort – er hüstelte, zupfte ein Spitzentaschentüchlein aus dem weiten Ärmel seines Rocks und hielt es sich vor den Mund – das werde ich, Leibniz, begann er den Satz noch einmal mit veränderter Betonung, sofort der Sozietät der Wissenschaften in Berlin vorschlagen, sobald wir sie gegründet haben. Im Juli ist es soweit. Vielleicht werden wir sogar eine Preisfrage ausrufen: Vorschläge zur Konstruktion einer Maschine, die zu einem gegebenen Thema jede mögliche Kontrapunktvariation errechnet!– Ausgezeichnet! Wie war noch mal der Name?

Bach.

Ausgezeichnet, Bach! Zumal wir ja nicht umsonst die Musik als das Rechnen der Seele bezeichnet haben. Das passt! Potz Fickerment, das passt hervorragend!

Bach hätte froh sein können, aber er schämte sich für das Lob. Er machte eine entschuldigende Geste in Richtung Erdmann, aber der nickte ihm nur anerkennend zu.

Leider, sagte der Geheime Justitien-Rath mit bedauernder Miene und zog ein Ding heraus, von dem er, wie es schien, die Zeit ablesen konnte, sei seine Zeit sehr knapp bemessen. Er werde die beiden Herren jetzt zum Ausgang begleiten und dann Gott befohlen.

Als sie ins Freie traten, mussten sie ihre Augen mit den Händen gegen das blendende Licht abschirmen. Erst als sie sich halbwegs daran gewöhnt hatten, sahen sie im Gegenlicht einen in Goldbrokat gekleideten Herrn die Freitreppe hinaufsteigen. War es der Fürst? Bach bemerkte, wie der Philosoph sich erschrocken abwandte und Anstalten machte, sich davonzustehlen.

Reinerding!, rief der Fürst hinter ihm her.

Reinerding? Der so Angesprochene blieb stehen.

Wir hätten Ihn doch ums Haar für Leibnizen gehalten, sagte der Fürst lachend, so täuschend ähnlich hat Er sich herausgeputzt.

Der andere war mit einem Male heftig errötet und stammelte nun irgendetwas Unverständliches daher, von Kalenderirrtum und Leibniz habe die Scholaren nicht enttäuschen wollen und ihn gebeten, statt seiner und so weiter, und während er noch fortfuhr Erklärungen von sich zu geben, verschwand er an der Seite des Fürsten im großen Bauch der Bibliothek.

4. Lateinschule

Was hast du nur immer mit diesem Böhm, fragte Erdmann, als sie auf dem Weg von Bienenbüttel nach Lüneburg waren.

Dasselbe, was du mit Leibniz hattest, sagte Bach, bevor er uns diesen Streich mit seinem Sekretär gespielt hat.

Du willst sagen, er ist der größte Musiker unserer Zeit?

Der größte?, sagte Bach und wiegte den Kopf hin und her. Wer weiß das schon? Mein Bruder hatte einige Stücke von ihm in seinem Schrank. Tanzsuiten in der französischen Manier, Präludien, Ouvertüren.

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