Die Stunde der Inseltöchter - Sarah Morgan - E-Book
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Die Stunde der Inseltöchter E-Book

Sarah Morgan

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Beschreibung

Vier Frauen. Drei Generationen. Eine Insel der Offenbarungen.

Lauren liebt ihre Bilderbuchfamilie, ihr organisiertes Leben und ihr Haus in Notting Hill. Nur manchmal, wenn sie über die makellosen Wände streicht, fühlt es sich an wie ein Kartenhaus, das jeden Moment in sich zusammenfallen könnte. Dann denkt sie an die ungeheuerliche Lüge, die sie und ihre Tochter für immer entzweien würde. Und an ihre Familie auf der malerischen Insel Martha’s Vineyard, der sie den Rücken gekehrt hat. Lauren wahrt den schönen Schein. Doch als eine Tragödie sie für einen Sommer zurück auf ihre Heimatinsel führt, treten schicksalhafte Wahrheiten ans Tageslicht – und Lauren muss herausfinden, was Familie und Liebe wirklich bedeuten …

»Gefühlvoll, mitreißend und hoffnungsvoll. Wenn Sie eine Schwester haben, müssen Sie dieses Buch lesen!« SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery

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Seitenzahl: 594

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Zum Buch

Nancy Stewart weiß, dass sie ihren Töchtern nicht immer die beste Mutter war. Aber wie könnte sie ihnen jemals die Gründe dafür gestehen? Während die beiden Schwestern Lauren und Jenna unzertrennlich sind und füreinander einstehen, spürt Nancy die Kluft, die sie von ihnen trennt. Wäre da nicht das historische Kapitänshaus an der Küste von Martha’s Vineyard, das seit Ewigkeiten im Besitz ihrer Familie ist, würden sie sich vermutlich kaum noch sehen. So viele Erinnerungen, verstörende Gefühle und folgenschwere Geheimnisse streifen durch seine Zimmer. Nun zwingt eine Notlage Nancy dazu, die geliebte alte Villa zu verkaufen und die letzten Bande ihrer Familie vor eine Zerreißprobe zu stellen, die das Ende ihrer Familie bedeuten könnte … »Gefühlvoll, mitreißend und hoffnungsvoll. Wenn Sie eine Schwester haben, müssen Sie dieses Buch lesen!«SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery

Zur Autorin

Sarah Morgan startete ihre Karriere bereits als Kind – mit einer Biografie eines Hamsters. Als Erwachsene arbeitete sie zunächst als Krankenschwester, bis sie nach der Geburt ihres ersten Kindes die Schriftstellerei erneut für sich entdeckte. Ihre Liebesromane wurden in über 30 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als 15 Millionen Mal verkauft. Die preisgekrönte Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London.

Lieferbare Titel

Sommerzauber in Paris Die Zeit der Weihnachtsschwestern Wenn zwei sich finden, freut sich das Glück

HarperCollins®

Ungekürzte Ausgabe im HarperCollins Taschenbuch Copyright © 2020 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Copyright © 2018 by Sarah Morgan Originaltitel: »How to keep a secret« Erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with HARELQUIN ENTERPRISES II B.V./SARL

Covergestaltung: Bürosüd Coverabbildung: David R. Frazier Photolibrary, Inc. / Alamy Stock Photos, www.buerosued.de Lektorat: Anne Schünemann E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959674515

www.harpercollins.de

Zitat

Denn ob in ruhiger oder stürmischer Zeit,

Keine bessere Freundin gibt’s als eine Schwester,

Dich aufzuheitern in des Alltags Plagen,

Dich heimzuholen von verirrten Pfaden,

Dir aufzuhelfen, wenn du strauchelst,

Dir standhaft beizustehen an deiner Seite.

Christina Georgina Rossetti

Prolog

Schwestern

»Was machen wir jetzt? Wir haben hier nichts zu suchen.«Ich zupfte meiner Schwester am Rock, um sie vom Fenster wegzuziehen. »Wenn wir erwischt werden, kriegen wir einen Riesenärger.«

Ich hatte nicht vor, hier abzuwarten, bis es tatsächlich passierte.

Wenn meine Schwester wie jetzt stoßweise atmete, kündigte das meist einen Heulkrampf an.

Ein letztes Mal zerrte ich an ihr, bis ich mich dann auf alle viere fallen ließ. Dankbar für den Schutz der Dunkelheit, huschte ich auf dem Weg, den wir gekommen waren, zurück. Ich wollte aufstehen und wegrennen, aber dann hätte man uns gesehen. Also blieb ich unten und kroch vorwärts. Es war ein langer, heißer Sommer gewesen, und die Erde war trocken und voller Risse. Erst als ich kühle Tropfen auf meinen Handrücken spürte, bemerkte ich, dass ich weinte. Kleine Steinchen bohrten sich mir in die Handflächen und Knie, und ich biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Ich streifte die wild wuchernden Heckenkirschen, deren lieblicher Duft mich beinahe würgen ließ. Was wir gesehen hatten, war alles andere als lieblich gewesen, und ich wusste, wenn ich erwachsen war und ein eigenes Haus hatte, würde ich niemals Heckenkirschen im Garten anpflanzen.

Hinter mir raschelte etwas. Ich hoffte, dass es meine Schwester war und nicht irgendein Nachtwesen mit scharfen Zähnen und großem Appetit.

Ich konnte das Tor nicht erkennen, aber ich wusste, dass es da war. Hinter der Gartenpforte befand sich der Fußweg. Wenn wir es bis dahin schafften, wären wir durch die hohe Hecke geschützt. Ich hörte das Blut in meinen Adern rauschen, die Wellen, die sich am Ufer brachen. Sie klangen dichter als gewöhnlich, lauter, als wollten die Gezeiten uns helfen, die Geräusche unserer Flucht zu übertönen. Der salzige Wind trocknete meine feuchten Wangen und kühlte meine fieberheiße Haut.

Schließlich erreichte ich das Tor und schlüpfte durch die Lücke. Ich ignorierte die Zweige, die sich in meinen Rücken bohrten. Dort, direkt vor mir, lag der Fußweg. Wenn meine Knie nicht sowieso schon geblutet hätten, wäre ich auf die Knie gefallen und hätte den Boden geküsst. Unsere Fahrräder lehnten an der Hecke, wo wir sie stehen gelassen hatten. Ich wollte meins schnappen und ohne mich umzusehen so schnell wie möglich in die Nacht hinausfahren, doch auf keinen Fall würde ich meine Schwester zurücklassen.

Ich würde meine Schwester niemals zurücklassen.

Wieder raschelte es, ehe sie durch das Tor kam, das Haar zerzaust nach der hektischen Flucht durch den verwilderten Garten.

Jetzt, da unsere Rettung in greifbarer Nähe war, siegte der Zorn über meine Angst.

»Es war deine Idee, hierherzukommen.« Die Wut, die sich in mir aufgestaut hatte, schnürte mir fast die Kehle zu. »Warum tust du immer das, was du nicht darfst?«

»Weil das, was ich nicht tun darf, immer mehr Spaß zu machen scheint.« Das Beben in ihrer Stimme erinnerte mich daran, dass dies alles andere als ein Spaß gewesen war.

Ich spürte, wie sie ihre Hand in meine schob, und vergab ihr sofort. Einen Moment standen wir so da und suchten Trost beieinander.

Meine Schwester drückte sich enger an mich. »Wenn ich mir eine Schwester hätte aussuchen können, ich hätte dich gewählt.«

Ich hätte sie ebenso gewählt. Auch wenn ich in dem Moment wünschte, ihrer Abenteuerlust wären Grenzen gesetzt.

»Ich wünschte, wir hätten das nicht gesehen.«

»Ich auch.« Ausnahmsweise klang meine Schwester kleinlaut. »Wir dürfen es nie jemandem erzählen. Erinnerst du dich, was mit Meredith passiert ist?«

Natürlich erinnerte ich mich. Meredith sollte uns eine Warnung sein.

»Ich hasse es, Geheimnisse zu haben.«

»Es ist ein kleines Geheimnis, das ist alles. Kleine Geheimnisse sind erlaubt.«

Ich schluckte, mein Hals war so trocken, dass er schmerzte. Wir wussten beide, dass dies ein viel größeres Geheimnis war als alle anderen, die wir hatten. Hierbei ging es nicht darum, nach Einbruch der Dunkelheit an den Strand zu schleichen, aus dem Garten von Mrs. Hill Blumen zu pflücken oder Mrs. Maxwells Erdbeerenbeet zu plündern. Das hier war etwas anderes. Was wir gesehen hatten, wog so schwer, dass es mich beinahe erdrückte. Tief im Innersten fühlte ich mich dazu gezwungen, es zu erzählen, aber wenn wir das taten, würde das alles verändern. Wir hatten an jenem Fenster unsere Kindheit zurückgelassen, und es gab keine Möglichkeit, sie zurückzuholen.

»Ich werde nichts sagen. Ich werde dich beschützen. Wir sind Schwestern. Schwestern halten immer zusammen. Ich habe es versprochen.«

Natürlich hatten die meisten Menschen, die so etwas versprachen, nicht so eine Schwester wie ich.

ERSTER TEIL

1. Kapitel

Lauren

Vorahnung: das starke Gefühl, dass etwas geschehen wird, insbesondere etwas Unangenehmes

Man konnte für das, was geschah, nicht die Party verantwortlich machen, auch wenn Lauren sich später wünschte, sie hätte nicht so einen Aufwand dafür betrieben. Wenn sie nicht so sehr mit all den kleinen Einzelheiten beschäftigt gewesen wäre, hätte sie vielleicht bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Hätte sie das? Um zu bemerken, dass etwas nicht stimmt, muss man genau hinsehen, und sie hatte nicht hingesehen. Sie hatte sich auf den Moment und den Trubel des großen Tages konzentriert.

Und der Tag hatte früh begonnen.

Noch bevor der Wecker klingelte, wachte sie auf, drehte sich zu Ed und küsste ihn. »Herzlichen Glückwunsch.«

Sollte sie das Wort »vierzig« aussprechen? Wie ging es ihm damit? Wie ging es ihr damit?

Ihr blieben noch fünf Jahre bis zu dieser Zahl, was ihr lang genug erschien, um sich noch keine Sorgen darüber zu machen. Und vierzig war schließlich nicht alt, oder?

Vielleicht stimmte das, doch als sie am Tag zuvor den Geburtstagskuchen in Empfang genommen und die vierzig Kerzen gesehen hatte, die nur noch daraufgesteckt werden mussten, war ihr einziger Gedanke gewesen, der Kuchen könnte womöglich zu klein sein.

Ed döste noch im Halbschlaf, also blieb Lauren einen Moment lang still liegen, umhüllt von der friedlichen Ruhe ihres Schlafzimmers. Als sie eingezogen waren, hatte sie diesen Raum zuerst eingerichtet. Sie hatte ihn als Zufluchtsort gestaltet, eine harmonische Oase aus Weiß mit grauen und silbernen Akzenten. Im Sommer flutete das warme Sonnenlicht den Raum, und sie schlief bei offenem Fenster, um die Vögel hören zu können. Jetzt im Januar, da in London eine eisige Kälte herrschte, hatte sie die Fenster fest verschlossen. Ihr Haus, das in einer exklusiven und sehr nachgefragten halbmondförmigen Häuserreihe im angesagten Notting Hill lag, grenzte zur Rückseite an Privatgärten. Schon seit ein paar Wochen waren die Bäume jeden Morgen von einer Frostschicht bedeckt. Wenn man das Fenster öffnete, traf einen die kalte Luft wie eine Ohrfeige, als wolle sie die Menschen davor warnen, die Gemütlichkeit ihres Heims zu verlassen.

Lauren, die auf Martha’s Vineyard aufgewachsen war, einer kleinen Insel vor der Küste von Massachusetts, konnte schlechtes Wetter nichts anhaben.

Sie schob die Decke zurück und fuhr Ed mit den Fingern durchs Haar. »Kein einziges graues Haar. Falls es dich tröstet: Du siehst keinen Tag älter aus als sechzig.« Er reagierte nicht, und sie beugte sich vor, um ihn erneut zu küssen. »Ich mache nur Spaß. Du siehst nicht mal wie vierzig aus.« Obwohl er in letzter Zeit zu bestimmten Tageszeiten, wenn das Sonnenlicht hell und hart war, tatsächlich älter aussah. Arbeitete er zu hart? Ed hatte schon immer lange gearbeitet, doch in letzter Zeit war er später und später nach Hause gekommen, und er wirkte ungewöhnlich müde. Sie hatte vorsichtig angedeutet, ob er vielleicht einen Arzt aufsuchen sollte, doch er hatte alle Hinweise ignoriert. Es war leichter, ein Kleinkind davon zu überzeugen, Brokkoli zu essen, als Ed zu einem Arztbesuch zu überreden.

Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass es schon nach sechs war, und noch immer gab Ed kein Lebenszeichen von sich.

Lauren stupste ihn sanft an. Ihr Tag war bis auf die Minute geplant, und alles startete um exakt sechs Uhr fünfzehn.

Sie hörte ein Stampfen auf der Treppe. »Mack ist wach. Wie kann ein einziger Teenager nur einen Lärm wie eine ganze Elefantenherde veranstalten?«

Sie fragte sich, ob Mack ins Schlafzimmer kommen würde, doch dann verklangen die Schritte, und sie hörte die Küchentür zuschlagen.

Warum schaute Mack nicht zumindest kurz herein, um ihrem Vater zum Geburtstag zu gratulieren?

Beklommenheit stieg in Lauren auf und trübte ihre Fröhlichkeit. Eine Tochter im Teenageralter brachte ebenso viel Freude wie Leid mit sich. Es war noch nicht lange her, da wäre Mack ins Schlafzimmer gestürzt und hätte ihrem Vater voller Stolz die selbst gebastelte Geburtstagskarte präsentiert. Sie hätte sich in die Mitte des Bettes geworfen, und sie alle drei hätten sich zusammengekuschelt und aufgeregt das Geschenk ausgepackt, bis sie unter Verpackung und Umschlägen begraben gewesen wären. Sogar als sie in die Pubertät kam, war Mack umgänglich gewesen.

Vor einem Monat hatte sich all das verändert. Über Nacht hatte ihre Tochter sich in diese mürrische, launische Karikatur eines Teenagers verwandelt, und Lauren wusste nicht, woran es lag. Soweit sie sich erinnern konnte, war zu Hause nichts vorgefallen. Vielleicht in der Schule?

Während der Weihnachtsferien hatte eine angespannte Stimmung im Haus geherrscht, und Ed, der sich nur selten freinahm, hatte schlecht darauf reagiert. Lauren war in die Rolle der Friedensstifterin geschlüpft und hatte infolgedessen den größten Teil der Feiertage mit einem unguten Gefühl im Bauch verbracht.

Einen Teenager zu ergründen war schwieriger als ein Sudoku, und manchmal ging die Gleichung einfach nicht auf.

»Glaubst du, es ist nur eine Phase, oder bleibt das jetzt einfach so?«

Ed regte sich. »Was bleibt so?«

Die Art, wie sie uns den Rest ihres Lebens behandeln wird.

Sie sprach den Gedanken nicht aus. Es war nicht fair, Ed mit ihren Sorgen zu belasten, erst recht nicht heute.

Er hatte Geburtstag, und sie musste eine Party vorbereiten.

Wenn sie daran dachte, was sie noch alles für die perfekte Feier erledigen musste, wurde sie ganz unruhig.

Da es Freitag war, würde sie ihre Freundinnen Ruth und Helen um zehn Uhr in ihrem liebsten Kaffeeladen treffen, der zufälligerweise nur fünfunddreißig Schritte von dem Friseur entfernt lag, bei dem Lauren genau fünfundvierzig Minuten später einen Termin hatte. Um halb zwölf würde sie beim Floristen sein, und nach einem fünfzehnminütigen Spaziergang nach Hause – womit sie die Punkte Bewegung und Sonnenlicht abgehakt hätte – würde sie sich den Rest des Tages den letzten Vorbereitungen für die Party widmen.

»Ed …« Sie stupste ihn wieder an. »Wach auf, Liebling. Ich muss dir dein Geschenk geben, bevor ich runtergehe. Heute wird es stressig. Ich habe jede Minute verplant.«

Ed öffnete schließlich die Augen. »Wann hast du mal nicht jede Minute des Tages verplant? Wenn ich jemals eine Organizer-App erfinde, nenne ich sie Lauren.«

War das Kritik?

»Es ist wichtig, die Kontrolle zu behalten, sonst fliegt die Zeit dahin, und bevor du dich’s versiehst, ist der Tag vorbei, und du hast nichts geschafft.«

Natürlich hatte Lauren andere Gründe, die Kontrolle im Leben zu behalten, doch sie und Ed sprachen nie darüber. Manchmal fragte sie sich, ob er sich überhaupt daran erinnerte. Die Zeit ließ Ereignisse verblassen, bis sie weit entfernt und verschwommen erschienen. Als hätte man ein Gemälde ins Sonnenlicht gehängt. Die Konturen verblassten, und die Farben verloren ihre Leuchtkraft.

Gelegentlich wanderten ihre Gedanken dorthin zurück, doch meistens gelang es ihr, in der Gegenwart zu bleiben.

In der Hoffnung, dass er sich rührte, schlug sie die Decken um und stand auf. Normalerweise startete sie mit ein paar Yoga-Übungen, doch heute war sie abgelenkt, weil Mack nach unten in die Küche gegangen war.

Warum war sie so früh auf?

Vielleicht bereitete sie ein Überraschungsfrühstück für Ed vor. Jeden Moment würde sie an die Tür klopfen und mit einem Tablett mit frischem Orangensaft, knusprigen Croissants und starkem Kaffee hereinkommen.

Oder vielleicht war das Wunschdenken.

Lauren ging zum Fenster und blickte hinaus auf die Straße.

Mit Glück würde es heute einer dieser perfekten sonnigen Wintertage werden, doch da dies London war, schien es unwahrscheinlich. Solange ihre Gäste sich nicht durch den Schnee kämpfen mussten, würde sie sich nicht beklagen. England, das hatte sie vor Jahren festgestellt, konnte mit Schnee nicht gut umgehen. Zehn große Schneeflocken reichten, um das ganze Land in Panik zu versetzen.

Ed erhob sich schließlich ebenfalls und setzte sich auf.

Lauren drehte sich um und musterte seinen gebeugten Körper. »Ist alles in Ordnung?«

Er wandte ihr den Kopf zu, wirkte aber abwesend. »Was?«

»Du siehst müde aus.«

»Ich bin müde. Ich könnte einen ganzen Monat im Bett liegen bleiben, ohne mich zu rühren.«

Sie entschied, dass die Zeit der zarten Andeutungen vorbei war. »Ich glaube, du solltest zu einem Arzt gehen.« Warum musste man Männern das nur immer wieder sagen?

»Weil ich müde bin? Was wird der Arzt wohl deswegen unternehmen? Sein Rat wird lauten: ›Gehen Sie früher zu Bett.‹ Seine Diagnose liegt auf der Hand, dafür habe ich keine Zeit.«

»Ihre Diagnose.«

»Wie bitte?«

»Wir haben eine Ärztin«, sagte Lauren. »Eleanor Baxter. Wenn du nicht zu ihr gehen willst, lass es wenigstens ein bisschen langsamer angehen. Mach früher Feierabend.«

»Es langsamer angehen lassen? Lauren, hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wie mein verdammter Job aussieht?«

Er schloss die Augen und strich mit der Hand über sein Kinn. »Es tut mir leid, Liebling. Ich wollte nicht – nimm es mir bitte nicht übel. Mir geht es nicht gut.«

»Schon in Ordnung.« Aber es war nicht wirklich in Ordnung, oder?

Ed fluchte nie, zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Er war immer höflich und zuvorkommend – zu Freunden, zu den Lehrern an der Schule ihrer Tochter und sogar zu dem Postboten, wenn sie sich zufällig über den Weg liefen. Gerade wegen seiner Ausgeglichenheit und seiner unerschütterlichen Ruhe hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt. Er war absolut verlässlich. Mit Ed hatte sie nie das Gefühl, die Fassung oder die Kontrolle zu verlieren. Sie musste sich keine Sorgen machen, dass er ihr Herz brechen oder ihr die Luft zum Atmen nehmen könnte. Wenn es je einen Teil von ihr gegeben hatte, der sich nach etwas anderem sehnte, war das höchstens ein winziger Fleck in ihrer Vergangenheit, der für das bloße Auge kaum sichtbar war.

»Ich weiß, dass du viel zu tun hast.« Sie versuchte, versöhnlich zu klingen – in erster Linie, weil sie keine Zeit für einen Krach oder eine Wiedergutmachung hatte. Und es stimmte ja, dass er eine Menge Arbeit bewältigen musste.

Ed war ein hervorragender Broker, der in der Stadt mit einem großen Hedgefonds ein Vermögen gemacht hatte und anschließend sein eigenes Portfolio verwaltete. James, ein alter Collegefreund, der das Büro mit ihm teilte, hatte ihn sogar einmal zum Finanzgenie erklärt. Lauren hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, da sie umgeben war von den Zeugnissen seines finanziellen Scharfsinns.

Das Haus, Mackenzies Schule, ihr perfektes Leben – all das hatte einen Preis: Eds Bürozeiten waren extrem lang.

Einst hatte sie auch hohe Ambitionen gehabt, aber das war, bevor sie am Strand Sex gehabt hatte und schwanger geworden war. Nicht dass sie den Anteil unterschätzte, den sie selbst für die Familie leistete. Im Gegenteil, sie sah sich in jeder Beziehung als gleichberechtigt und wusste, dass ihre Rolle genauso wichtig war wie die von Ed. Sie war das Öl in seiner Maschine, der Tonic in seinem Gin, der Yorkshire-Pudding zu seinem Roastbeef, um einen britischen Vergleich heranzuziehen. Was sie immer wieder versuchte, um sich bei ihrer furchtbaren Schwiegermutter beliebt zu machen, die selbst nach sechzehn Jahren noch erschüttert war, dass ihr kostbarer einziger Sohn eine Amerikanerin geheiratet hatte.

Ed saß immer noch auf dem Bett und starrte auf den Boden, und Lauren öffnete die Schublade des Nachttisches und holte die Schachtel heraus, die sie sorgfältig eingepackt hatte.

»Herzlichen Glückwunsch.« Sie überreichte ihm das Geschenk und spürte die freudige Erwartung in sich. »Ich wollte es dir jetzt geben, weil es später so hektisch sein wird, wenn das Haus voller Leute ist, die alle etwas von dir wollen.«

Ed öffnete die Schachtel und starrte auf den Inhalt. »Du hast mir einen Regenwald gekauft?«

»Keinen ganzen Regenwald. Ein Stück Regenwald. Ich weiß, wie sehr dir der Umweltschutz am Herzen liegt. Du fährst überall mit dem Rad hin, sprichst immer davon, den Planeten zu retten. Ich dachte …«

»Das ist ein Schwindel, Lauren.« Er klang müde. »Ich kann nicht glauben, dass du dafür Geld ausgegeben hast. Dir ist klar, dass du vermutlich die Kokain-Industrie bezuschusst hast?«

»Es ist kein Schwindel. Ich bin nicht blöd.« Und er kannte sie. Er wusste, dass sie die Highschool als Jahrgangsbeste abgeschlossen und einen Platz an einem Ivy League College ergattert hatte, bevor ihre Welt zusammengebrochen war. Ed war derjenige, der sie ermutigt hatte, ihre Träume wieder zu verfolgen, als Mack die Grundschule beendet hatte. »Ich habe es sorgfältig recherchiert. Wir können hinfahren und es uns ansehen, wann auch immer wir wollen.«

»Genau. Weil ein Flug nach Brasilien der Erde so guttut.« Er warf die Schachtel auf das Bett, und Lauren spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte.

»Ich wollte dir etwas Originelles und Besonderes schenken.«

»Es ist etwas Besonderes …« Er fuhr sich mit der Hand über die Brust. »Es liegt nicht an dir, sondern an mir. Beachte mich gar nicht. Ich bin einfach falsch in den Tag gestartet.«

Er hievte sich vom Bett hoch, ging ins Badezimmer und schloss die Tür.

Kurz darauf hörte sie das Wasser rauschen.

Perplex stand sie da.

Hier ging es nicht um ein Stück Regenwald, dessen war sie sicher.

Stand er am Rand einer Midlife-Crisis? Würde er bald enge Jeans tragen und eine Affäre mit einer jungen Frau beginnen, die kaum älter war als Mackenzie?

Während sie versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken, machte sich Lauren auf die Suche nach Mack.

Sie fand ihre Tochter in der Küche. Mack saß an der Kücheninsel und beugte sich über ihr Handy. Ein Paar überdimensionale pinkfarbene Kopfhörer waren über ihre Ohren gestülpt.

Mack hasste Pink. Die Kopfhörer waren ein Versuch, sich der Clique an ihrer Schule anzupassen, die sie gehänselt hatte, weil sie nicht »mädchenhaft« genug sei. Mack nannte sie »die Prinzessinnen«. Sie schienen beschlossen zu haben, ihr das Leben schwer zu machen.

Falls Mack sie hereinkommen hörte, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken.

Es stand kein Tablett mit Orangensaft bereit und auch kein Kaffee. Keine Anzeichen einer Geburtstagsüberraschung.

Nichts außer einer übervollen Schüssel mit Frühstücksflocken, die Mack in sich hineinschaufelte.

Lauren wischte die Erinnerungen daran beiseite, wie Mack ihr morgens immer entgegengehüpft war, um sie zu umarmen. Stattdessen überlegte sie, was sie sagen konnte, ohne einen Wutausbruch heraufzubeschwören. »Hey, Liebling. Du hast Daddys Geburtstag nicht vergessen?«

Mack sah von ihrem Handy auf und schob mit einer übertriebenen Geste die Kopfhörer zurück.

»Was?«

»Dads Geburtstag. Heute.«

»Ja?«

»Willst du ihm nicht gratulieren?«

»Will er daran erinnert werden? Vierzig ist ziemlich alt. Er gehört zwar noch nicht zur Seniorengruppe, aber sie winkt schon am Horizont.« Mack schaufelte einen weiteren Löffel Frühstücksflocken in sich hinein. »Ich dachte, er würde den Geburtstag vielleicht lieber ignorieren. Jedenfalls würde ich das tun, wenn ich in seinem Alter bin. Und außerdem ist es Viertel nach sechs. Ich bin kein Morgenmensch. Vermutlich hätte ich ihm einen Tee kochen können, aber er kann meinen Tee nicht ausstehen. Er jammert immer, er wäre ihm zu schwach.« Sie schob sich die Kopfhörer zurück auf die Ohren und widmete sich wieder Snapchat. In ihrem Oversized-Shirt sah sie jünger als sechzehn aus. Ihr Haar hatte das gleiche helle, sonnige Blond wie Laurens, doch Mack trug ihres so, dass es ihr ins Gesicht fiel, um die hartnäckigen Pickel auf ihrer Stirn zu verbergen. Vor ein paar Monaten war ihre Zahnspange entfernt worden, doch sie lächelte immer noch mit zusammengepressten Lippen, weil sie vergessen hatte, dass sie sich nicht länger unsicher fühlen musste wegen ihrer Zähne.

Erst als Mack ihre leere Schüssel nahm und in den Geschirrspüler stellte, fielen Lauren die beiden pinkfarbenen Strähnen in ihrem Haar auf.

»Was hast du mit deinem Haar gemacht?«

»Ich bin heute so aufgewacht. Merkwürdig, nicht? Feen oder Gremlins.«

»Mack …«

Ihre Tochter seufzte auf. »Ich habe es gefärbt. Und bevor du ausflippst: Jeder färbt heute sein Haar. Alle anderen Mütter sind damit einverstanden. Abigails Mutter hat ihr sogar dabei geholfen.«

Lauren wusste, dass dies ihr Stichwort sein sollte – wie »alle anderen Mütter« zu sein. Den Test bestand man oder nicht, und Lauren wusste, dass sie heute durchfallen würde. »Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«

»Weil du so ein Kontrollfreak bist und Nein gesagt hättest.«

»Du hast so schönes Haar. Willst du dich den anderen anpassen, weil du dazugehören willst?«

»Es ist mir egal, ob ich dazugehöre.«

Sie wussten beide, dass das eine Lüge war.

Lauren wählte ihre Worte sorgfältig. »Liebling, ich weiß, es ist hart, wenn man gehänselt wird, doch das passiert vielen Menschen und …«

»Das hilft mir übrigens kein Stück. Mir doch egal, wie viele andere Menschen das durchgemacht haben.« Mack gelang es in ihrer Lässigkeit nicht, den Schmerz zu überdecken, der in ihren Worten lag, und Lauren spürte ihn, als wäre es ihr eigenes Leid.

»Deine Individualität macht dich zu etwas Besonderem. Und vergiss nicht, dass die meisten Menschen nur an sich selbst denken und sich über andere nicht den Kopf zerbrechen.« Sie entschied, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um die Schulangelegenheit erneut anzusprechen. »Ich weiß, dass du sauer bist. Ist noch irgendetwas passiert?«

»Du meinst, abgesehen davon, dass meine Mutter mir Stress macht?«

»Ich mache dir keinen Stress. Ich versuche, dich zu unterstützen. Wir konnten immer über alles sprechen. Das hat sich geändert.«

Mack griff nach ihrem Handy. »Ja, richtig. Über alles. Genau, in diesem Haus gibt es keine Geheimnisse.«

Etwas in ihrem Ton bereitete Lauren Unbehagen.

»Mack …«

»Ich muss mich für die Schule fertig machen. Meine Mutter hatte einen Platz an einem Ivy League College, also wird nichts Geringeres als Oxford oder Cambridge gut genug für mich sein. Bildung ist schließlich alles, oder?«

Es war eindeutig zu früh am Tag, um sich mit einem trotzigen Teenager auseinanderzusetzen.

Lauren wollte Mack daran erinnern, ihrem Vater zum Geburtstag zu gratulieren, doch ihre Tochter war bereits aus der Küche gestürmt.

Eine weitere zugeschlagene Tür. Laurens Welt schien voll davon zu sein.

In diesem Haus gibt es keine Geheimnisse.

Mit einer brennenden Unruhe in der Brust ging sie hinunter in den Keller, wo sie sich einen Trainingsraum eingerichtet hatten, und versuchte, ihren Ängsten auf dem Laufband zu entfliehen. Sie schaltete CNN ein, um sich ein kleines Stück Heimat zu gönnen.

Stürme in Alabama. Ein neun Meter langer Alligator in Florida. Eine Schießerei in Brooklyn.

Die Nachrichten gaben ihr ein Gefühl von Verbundenheit und lenkten sie von den Sorgen ab, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hatten.

Eine jähe Welle von Heimweh erfasste sie. Sie sehnte sich nach einer morgendlichen Jogging-Runde am Südstrand, nach dem Geruch des Meeres, dem Geschmack von frisch gefangenen Meeresfrüchten, dem Sonnenuntergang in der Nähe des Hauses ihrer Schwester in Menemsha.

Zwanzig Minuten später tauchte Ed wieder auf. Er trug Fahrradkleidung und hielt sein Handy in der Hand.

Lauren atmete erleichtert auf. Es gehörte zu seiner Routine, mit dem Fahrrad ins Büro zu fahren und sich dort umzuziehen. Offenbar war es heute nicht anders, außer dass er etwas später dran war als sonst.

»Hab einen schönen Tag, Geburtstagskind.«

Er antwortete nicht, also schaltete sie den Fernseher aus und stoppte das Laufband. Sie war außer Atem, ihr Herz pochte, doch Lauren vermochte nicht sicher zu sagen, ob das nur ihrem Training geschuldet war.

»Macht es dir zu schaffen, vierzig zu sein?«

»Was?« Er sah von seinen E-Mails auf.

»Vierzig.« Vielleicht hatte sie die ganze Sache zu leichtfertig betrachtet. Sie musste ihm versichern, dass er noch immer gut aussehend und begehrenswert war. Mehr Sex würde nicht schaden. Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, das einzuplanen. Manchmal rasten die Tage nur so dahin, und dann bemerkte sie, dass es schon eine Woche her war. Manchmal länger. Tatsächlich war der Sex zwischen ihnen immer eher gemütlich als dringlich gewesen. Etwas, das sie eher genossen hatten, als danach zu lechzen, was bedeutete, dass er zwischen all den Anforderungen des Alltags manchmal vergessen wurde.

War das normal? Sie hatte keine Ahnung. Lauren käme es nie in den Sinn, solche privaten Dinge mit ihren Freundinnen zu diskutieren.

Vielleicht hatte er tatsächlich eine Affäre?

Allein bei dem Gedanken daran beschleunigte sich ihr Puls. Nein, so war Ed nicht. Sie logen einander nicht an. Niemals. Das hatten sie in jener ersten Nacht vereinbart, als sie sich kennenlernten. Lauren vertraute Ed grenzenlos.

Vor allem waren sie glücklich. Glückliche Paare hatten keine Affären.

»Machst du dir Gedanken wegen Mack? Ich weiß, sie ist seit Kurzem sehr schwierig.«

Sie entschied, dass dies nicht der richtige Moment war, um Ed von den pinkfarbenen Strähnen zu erzählen. Sollte er sie später selbst entdecken.

»Alle Teenager sind schwierig. Ich erinnere mich an deine Mutter, die mal meinte, deine Schwester sei ein Albtraum gewesen.«

Lauren fiel ein, dass sie vergessen hatte, am Tag zuvor ihre Schwester anzurufen. Die Vorbereitungen für Eds Geburtstagsparty hatten alles andere verdrängt.

»Meine Mutter wollte immer nur malen und war genervt von allem, das sie dabei störte.« Doch wenn Lauren an die Dinge zurückdachte, die sie mit Jenna unternommen hatte, war sie noch immer entsetzt.

Sie konnten von Glück sagen, dass sie die Kindheit unbeschadet überstanden hatten. Oder größtenteils unbeschadet.

»Sie wird erwachsen.« Ed sprach in einem ruhigen Ton. »Sie muss uns nicht jede Kleinigkeit erzählen. Sie möchte ein wenig Unabhängigkeit, und dazu haben wir sie immer ermuntert. Und dass sie momentan etwas schwierig ist, hat die Natur doch so vorgesehen – damit die Teenager flügge werden und die Eltern lernen, sie loszulassen.«

»Sie ist sechzehn, Ed. Es dauert noch ein paar Jahre, bis sie auszieht. Und du weißt, was uns die Lehrer gesagt haben. Mack macht ihre Hausaufgaben nicht und fällt in Englisch durch. Sie war immer eine Einser-Schülerin. Englisch ist ihr bestes Fach.«

Ed runzelte die Stirn. »Physik ist ihr bestes Fach. Letztes Jahr wollte sie Luftfahrtingenieurin werden.«

»Das war, bevor diese Mädchen sie gehänselt und ihr gesagt haben, dass sie wie ein Junge wäre. Erinnerst du dich nicht mehr an die schreckliche Facebook-Seite? Mack, der Mann.« Lauren war so wütend gewesen, dass sie am liebsten in die Schule gestürmt wäre und den Gören mit einer rostigen Schere ihr verdammtes Prinzessinnen-Haar abgeschnitten hätte. Sie hatten lange verhandeln müssen, bis die Seite endlich verschwand, und Mack hatte wochenlang darunter gelitten. »Sie ist klug. Wenn sie hart arbeitet, kann sie alles werden, was sie möchte, aber das ist nicht der Punkt. Sie bemüht sich nicht. Nicht mehr. Wenn sie so weitermacht, wird sie ihre Prüfungen nicht bestehen.« Es sei denn, es würde eine Prüfung in Sarkasmus geben. Die würde Mack mit Bestnote abschließen.

»Es gibt mehr im Leben, als eine Einser-Schülerin zu sein, Lauren.«

»Ich weiß. Aber ich weiß auch, wie leistungsorientiert die Welt heute ist. Wenn du deine Prüfungen vergeigst, erhältst du keinen Platz in einem guten College, und ohne gutes College hast du keine Chance auf eine gute Praktikumsstelle, weil es für jede Stelle Tausende von Bewerbern gibt. Sue Millers Älteste hat letzten Sommer ihren Abschluss gemacht und seitdem hundertfünfzig Bewerbungen geschrieben, ohne zu einem einzigen Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Hundertfünfzig.«

»Beruhige dich. Sie wird das meistern, Lauren.«

Es ärgerte sie, dass er nicht einmal von seinem Handy aufsah.

»Doch was, wenn nicht? Die Schule hat mir gesagt, dass sie im Unterricht nicht den Mund aufmacht.« Und wann hatte ihre Tochter im Unterricht vorher jemals nicht den Mund aufgemacht? Mack redete, seit sie gelernt hatte, wie man zwei Worte aneinanderreihte. »Und dann war da dieser Vorfall vor einem Monat …«

»Das war ein Ausrutscher.«

»Sie war betrunken, Ed! Unsere Tochter war betrunken, und Tanyas Mutter musste sie nach Hause fahren.« Mack hatte sich geweigert, eine Erklärung dafür abzuliefern. Sie hatte ihre Eltern einfach ausgeschlossen. Das hatte Lauren mehr schockiert als alles andere. War das der Punkt, an dem sich Mack verändert hatte?

»Teenager experimentieren. Sie testen Grenzen aus. Tanyas Mutter hätte besser auf die Wodkaflasche aufpassen sollen.«

»Das war kein Ausrutscher. Was ist mit dem Geld, das sie aus meiner Tasche genommen hat? Unser Kind hat gestohlen, Ed.« Was, wenn Mack mit Drogen experimentierte? Je mehr Lauren sich die möglichen Horrorszenarien ausmalte, umso überraschender schien es ihr, dass aus den Teenagern heutzutage tatsächlich irgendwann Erwachsene wurden. »Ich glaube, dass sie etwas vor uns verbirgt.« Sie erkannte die Anzeichen wieder, und das gab ihr ein Gefühl des Unbehagens. Ein Geheimnis, das wusste sie, konnte einen innerlich auffressen. Es schuf eine Barriere zwischen einem selbst und den Menschen, die man liebte.

»Seit wann erzählen Teenager ihren Eltern alles? Du musst dich entspannen. Mack geht es gut. Sie ist nicht das Problem.«

Überrumpelt starrte Lauren ihn an.

»Was meinst du damit?«

»Nichts.«

»Du sagtest, sie sei nicht das Problem, was bedeutet, dass es ein anderes gibt.«

»Vergiss es.« Er widmete sich wieder seinem Handy. »Es könnte heute spät werden.«

»Du machst Witze. Heute ist die Party.«

»Die … was?« Er schaute sie verwirrt an, schloss dann kurz die Augen und fluchte leise.

»Deine Party. Hast du das vergessen?«

Die Pause vor seiner Antwort war winzig, aber sie war zweifellos da.

»Nein.«

Er log. Zum ersten Mal.

Wer vergaß die Party zu seinem eigenen vierzigsten Geburtstag?

Was beschäftigt ihn?

»Es kommen dreißig Leute, Ed. Freunde, deine Kollegen, deine Mutter …« Es gelang ihr, nicht zusammenzuzucken, als sie das sagte, und Ed nickte.

»Ich werde da sein. Wir sehen uns später.« Er holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank im Trainingsraum. Lauren musterte ihn von hinten und fragte sich, ob enge Fahrradkleidung aus Lycra für einen Mann mit vierzig wirklich noch vorteilhaft war.

Er schlug die Kühlschranktür zu und richtete sich auf.

»Danke für den Regenwald. Das war ein schöner Gedanke, und es tut mir leid, dass ich überreagiert habe.« Er küsste sie auf die Wange. Eine trockene, leidenschaftslose Geste. »Ich liebe dich. Du bist eine gute Frau, Lauren.«

Eine gute Frau? Was sollte das heißen?

»Vielleicht solltest du dir etwas Urlaub nehmen. Mackenzie hat über Ostern drei Wochen frei. Wir könnten uns irgendwo erholen.«

»Lass uns morgen darüber sprechen.«

Lauren sah ihm hinterher.

Sie ist nicht das Problem.

Als sie später das Haus verließ, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen, war sie zu dem Schluss gekommen, dass Ed einfach einen schlechten Tag hatte. Sie fühlte sich gestärkt nach ihrem Training, war froh, dass alles für die Party bereitstand, und beruhigt, weil Mackenzie immerhin acht Worte mit ihr gesprochen hatte, bevor sie zur Schule gegangen war. Glücklicherweise lag die Schule, für die sie sich entschieden hatten, nicht weit entfernt. Eine von Macks Freundinnen wohnte nur ein paar Häuser weiter, und die beiden Mädchen gingen gemeinsam zu Fuß zum Unterricht.

An den meisten Tagen widerstand Lauren der Versuchung, Macks Handy zu orten, um sicherzustellen, dass ihre Tochter in Sicherheit war.

Sie knöpfte sorgfältig den Wintermantel zu und schritt rasch die von Bäumen gesäumte Straße entlang.

Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr hatte sie auf einer Insel gelebt, und die Aussicht auf ein Leben in der Großstadt hatte sie immer abgeschreckt. Doch dieser Teil Londons hatte es ihr sofort angetan, als Ed sie damals herbrachte. Sie liebte die versteckten öffentlichen Gärten, die Eleganz der stuckverzierten Hausfronten und den bonbonfarbenen Charme von Portobello Road. Sie stöberte auf dem Markt gern nach geheimen Schätzen oder suchte in den versteckten Seitenstraßen nach vielversprechenden Souterrain-Restaurants. In diesen frühen Jahren war sie mit der kleinen Mack im Kinderwagen durch die Stadt gebummelt, hatte Galerien besucht und war durch die vielen Parks von London geschlendert. Sie hatte Stunden im Tate und in der Royal Academy verbracht, doch ihr Lieblingsort war zweifellos das Victoria and Albert Museum, das seit über hundertfünfzig Jahren eine Quelle der Inspiration für Designer und Künstler darstellte.

Lauren wäre dort am liebsten eingezogen.

Sie erreichte den Coffeeshop zur gleichen Zeit wie ihre Freundinnen.

Ruth und Helen besetzten ihren üblichen Tisch am Fenster, und Lauren ging zum Tresen, um zu bestellen. Nachdem ihre Kinder auf die gleiche private Mädchenschule gewechselt hatten und sie sich nicht mehr am Schultor miteinander unterhalten konnten, hatten sie angefangen, sich regelmäßig zu verabreden.

Sie bestellte Kaffee und zwei Gebäckstücke für ihre Freundinnen. Dann steckte sie ihre Kreditkarte in die Maschine. Sie wurde prompt abgelehnt.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung versuchte Lauren es erneut, doch die Karte wurde ein zweites Mal abgelehnt.

»Ich zahle bar.« Sie steckte die Karte wieder ins Portemonnaie und suchte nach Bargeld. Mit roten Wangen trug sie das Tablett hinüber zum Tisch und stellte es vor ihren Freundinnen ab.

»Danke.« Ruth nahm einen Cappuccino vom Tablett. »Das nächste Mal bin ich dran. Draußen ist es klirrend kalt. Der Wetterbericht meint, wir könnten immer noch Schnee bekommen.«

Lauren ließ sich auf den freien Stuhl sinken und löste den Schal von ihrem Hals.

Als sie zum ersten Mal in London gewesen war, hatte es sie fasziniert, wie ausführlich sich Briten mit dem Wetter beschäftigten. Ganze Unterhaltungen widmeten sich ausschließlich diesem Thema, das – soweit Lauren es erkennen konnte – hier selten eine Nachricht wert war. Auf Martha’s Vineyard hatte schlechtes Wetter oft bedeutet, dass man vom Festland abgeschnitten war. Sie fragte sich, was ihre britischen Freundinnen zu einem Hurrikan sagen würden. Er würde vermutlich noch monatelang Gesprächsthema sein.

»Möchtest du die Hälfte von diesem Croissant?« Helen brach es durch, doch Lauren schüttelte den Kopf.

»Nein danke. Ich bleibe bei Kaffee.« Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schrieb Ed rasch eine Nachricht.

Kreditkarte funktioniert nicht. Problem?

Vielleicht war der Bank eine außergewöhnliche Transaktion aufgefallen, und sie hatte das Konto gesperrt. Am besten würde sie später dort anrufen.

»Ich wünschte, ich hätte deine Willenskraft.« Ruth aß die andere Hälfte von Helens Croissant. »Gibst du deinen Impulsen nie nach?«

Lauren steckte das Handy wieder in ihre Tasche. »Seinen Impulsen nachzugeben kann katastrophale Folgen haben.«

Beide Freundinnen starrten sie überrascht an, und sie wünschte, sie hätte den Mund gehalten.

»Katastrophal?« Ruth blinzelte. »Du meinst, wenn man nicht in seine Jeans passt?«

»Nein, ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Beachtet mich nicht. Ich hatte einen verrückten Morgen. Hektisch.« Es lag an Ed, weil er sie an Dinge denken ließ, an die sie nicht denken wollte.

»Ach ja, der Geburtstag. Wie hat Ed reagiert?« Helen nahm ihren Löffel und malte Kreise in den Schaum ihres Kaffees. »Als Martin vierzig wurde, ist er sofort losgestürmt und hat einen Sportwagen gekauft. So ein Klischee, aber seit ich ihn fahren darf, habe ich aufgehört, mich zu beklagen.«

Lauren nippte an ihrem Kaffee. »Es schien ihm damit gut zu gehen.«

Sie ist nicht das Problem.

»Ich hatte eine Krise, als ich vierzig wurde«, sagte Ruth. »Und Mutter einer sechzehnjährigen Tochter zu sein erinnert einen daran, wie alt man ist. Noch beneide ich meine Tochter nicht um ihr Alter, aber ich kann verstehen, wie es dazu kommt. Du hast dieses Problem ja nicht«, sie sah Lauren an, »weil du Mack bekommen hast, als du noch in der Kinderkarre gesessen bist – oder wie ihr das Ding da drüben nennt.«

Lauren lachte. »Ich war neunzehn. So jung war ich nun auch wieder nicht.«

Allerdings war sie mit achtzehn bereits schwanger gewesen. Damals war sie nur zwei Jahre älter, als Mack heute war.

»Und du siehst immer noch wie einundzwanzig aus, was Mordgelüste in mir weckt.« Ruth machte eine abwehrende Geste. »Immerhin denkt deine Tochter nicht, dass du zu alt bist, um irgendetwas zu verstehen.«

Bei dem Gedanken an einige Gespräche, die sie kürzlich mit Mack geführt hatte, lächelte Lauren verkniffen. »Oh doch, das tut sie.«

»Aber du hast Energie. Ich bin zu müde, um mit einem Teenager fertigzuwerden. Ich dachte, die schrecklichen Zwanziger sollen die schlimmsten Lebensjahre sein, und jetzt entdecke ich, dass sechzehn das furchtbarste Alter ist. Gruppendruck, Pubertät, Sex …«

Lauren stellte ihren Becher ab. »Abigail hat Sex?«

»Es würde mich nicht überraschen. Sie hat einen ›Freund‹.« Ruth malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Das Handy vibriert die ganze Zeit, wenn er ihr Nachrichten schreibt.«

War das Macks Problem? Ging es um einen Jungen?

»Phoebe ist auch immer an ihrem Handy«, sagte Helen. »Wie kann es sein, dass sie keine Energie zum Abwaschen haben, aber ein Handy halten können? Als ich es ihr gestern Nacht endlich entrissen und ihr gesagt habe, dass ich elektronische Geräte im Schlafzimmer verbiete, hat sie gesagt, dass sie mich hasst. Eine wahre Freude.«

In Laurens Mitgefühl mischte sich Erleichterung. Selbst bei ihren hitzigsten Auseinandersetzungen war Mack niemals über die Lippen gekommen, dass sie sie hasste. Die Dinge könnten schlimmer sein.

»Sie meinen es nicht so«, sagte Ruth. »Das ist einer dieser typischen Sätze aus dem Phrasenbuch für Teenagersprache, genau wie: Ich hasse mein Leben oder Mein Leben ist so scheiße.«

»Und: Aber all meine Freundinnen tun das.«

»Niemand macht diesen Kram, Mom. Vor allem ihre Launenhaftigkeit macht mich fertig. Ich weiß, dass es an den Hormonen liegt, aber das nützt mir auch nichts.« Helen trank ihren Kaffee aus. »Es bereitet mir Schuldgefühle, weil ich weiß, dass ich zu meiner Mom genauso war, ihr nicht auch?«

Ruth nickte. Lauren sagte nichts.

Solange sie nichts unternommen hatten, was sie bei ihrer Malerei störte, hatte ihre Mutter sie und Jenna in Ruhe gelassen. Das war einer der Gründe, warum Lauren ihrer Schwester so nahestand.

»Das einzige berechenbare Wesen in unserem Haushalt ist der Hund.« Ruth sah sie an und lächelte verschmitzt. »Habt ihr euch je gefragt, wie euer Leben aussehen würde, wenn ihr euren ersten Freund geheiratet hättet?«

»Ich wäre geschieden«, sagte Helen. »Mein erster Freund war ein kompletter Albtraum.«

Beide schauten zu Lauren, die spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. »Ed war mein erster richtiger Freund.«

Das war keine richtige Lüge, sagte sie sich. Der Begriff Freund bezeichnete jemanden, mit dem man eine Beziehung hatte. Das Wort beschwor Bilder von ersten Küssen, Ausflügen ins Kino und peinlichen Fummeleien herauf. Ein Freund war etwas Öffentliches. Ich gehe heute Abend mit meinem Freund aus.

Wenn man diese Definition berücksichtigte, war Ed ihr erster Freund gewesen.

»Ernsthaft? Du warst dein ganzes Erwachsenenleben nur mit einem Mann zusammen? Kein Techtelmechtel? Keinen verrückten, unartigen Teenager-Sex?«

Lauren spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Das zählte nicht, redete sie sich ein. »Für mich gab es immer nur Ed.«

»Na ja …« Helen wirkte perplex. »In dem Fall sage ich lieber nichts, bevor ich mich selbst belaste.«

»Also ich habe eine Menge Männer gecastet, bevor ich meinem David die Rolle des Ehemanns gegeben habe.« Ruth aß den letzten Bissen ihres Croissants. »Ich gehe jetzt besser. Ich habe das Haus im Chaos zurückgelassen.« Sie griff nach ihrer Tasche. »Wir sehen uns heute Abend bei der Party, Lauren. Bist du sicher, dass wir dir nicht helfen sollen?«

»Es ist alles erledigt.«

»Kommt deine Schwester aus den Staaten herüber?«

»Nein, sie kann im Moment nicht von der Schule weg.«

Lauren verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen. Als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, hatte Jenna gestanden, dass ihre Periode überfällig war. Lauren hatte die Vorfreude in ihrer Stimme gehört und sich mit ihr gefreut. Sie wusste, wie verzweifelt ihre Schwester sich ein Baby wünschte und wie aufgelöst sie jeden Monat war, wenn es nicht geklappt hatte. Sie hatte Jenna anrufen wollen, doch über die Party-Planung hatte sie es einfach vergessen.

»Was ist mit deiner Mutter? Kommt sie auch nicht?«

Lauren behielt ihr Lächeln bei. »Nein.«

Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass sie nicht eingeladen war.

Lauren hatte nie eine enge Beziehung zu ihrer Mutter gehabt, doch bei ihrem letzten Besuch zu Hause war das Verhältnis besonders angespannt gewesen. Ihre Mutter hatte geistesabwesend gewirkt und noch distanzierter als gewöhnlich.

Als ihr Vater vor fünf Jahren gestorben war, hatte Lauren erwartet, dass ihre Mom am Boden zerstört wäre.

Lauren war für die Bestattung nach Hause geflogen und überrascht gewesen, wie stark ihre Mutter sich gezeigt hatte. Ihr Vater war ein sehr beliebtes Mitglied der Ortsgemeinschaft gewesen, und viele Menschen hatten bei der Beerdigung geweint. Ihre Mutter gehörte nicht dazu. Nancy Stewart stand aufrecht wie der Mast eines Schiffs da, mit trockenen Augen, als ob sich ein Teil von ihr an einem anderen Ort befände. Lauren nahm an, dass sie mit der Trauer genauso umging wie mit allem anderen, was das Leben ihr zumutete – indem sie in ihr Atelier verschwand und sich in ihren Bildern verlor.

Sie starrte in ihren Kaffee.

Als Jenna und sie klein waren, hatte ihr Vater immer die Rolle des »lustigen« Elternteils übernommen.

»Lasst uns zum Strand gehen«, hatte er gesagt und sich die Mädchen geschnappt, ohne sich darum zu kümmern, was sie gerade taten, seien es Schulaufgaben oder Hausarbeit. Weit nach ihrer regulären Schlafenszeit brachte er sie zurück, mit sandigen Füßen, verbrannter Haut und salzverkrustetem Haar. Sie hatten sich hungrig und übermüdet gefühlt, und es war ihre Mutter, die diese Folgen ausbaden musste.

Meist wartete Nancy schmallippig am Tisch, vor ihr die Teller, auf denen das Abendessen, das sie vorbereitet hatte, wieder aufgewärmt worden war. Schweigend servierte sie das inzwischen nicht mehr ganz frische Essen und steckte dann beide Mädchen unter die Dusche, wo Jenna schrie und kreischte vor Schmerz, wenn das Wasser auf ihre verbrannte Haut traf.

Am Ende des Sommers waren ihre Haare fast weiß gebleicht von der Sonne, und Jennas Gesicht war mit Sommersprossen übersät. Für Lauren ähnelten sie kleinen Sandkörnern auf ihrer Haut, doch ihre Schwester fühlte sich schmutzig. Jenna schrubbte ihre Haut, bis sie rot und wund war und die Sommersprossen verschwanden.

»Du könntest wenigstens an Sonnencreme denken«, hatte Nancy eines Abends zu Tom gesagt, und Lauren hatte ihn lachen gehört.

»Habe ich vergessen. Entspann dich mal.«

Je öfter ihr Vater zu Nancy sagte, sie solle sich entspannen, desto angespannter wurde sie, schien es Lauren damals.

Seitdem hatte sie es längst aufgegeben, sich ein anderes Verhältnis zu ihrer Mutter zu wünschen.

Sie und Ed kehrten jeden Sommer für zehn Tage nach Martha’s Vineyard zurück, doch Lauren fühlte sich dort die ganze Zeit über unruhig. Das war ein Teil ihres Lebens, den sie hinter sich gelassen hatte, und der Aufenthalt dort gab ihr ein unbehagliches Gefühl, als ob sie alte Kleider trug, die nicht mehr passten. Dass ihr Vater mit seinen endlosen Witzen und seiner Energie nicht mehr da war, machte die Besuche noch unangenehmer.

Das einzig Gute daran war, dass sie ihre Schwester sah.

Lauren bemerkte, wie Helen aufstand, und erkannte, dass sie die Hälfte des Gesprächs verpasst hatte.

Ihre Freundin griff nach ihrer Tasche. »Haben eure Mädchen dieses verdammte Vorfahren-Projekt beendet? Martin wünschte sich, wir hätten eine andere Schule für sie ausgesucht. Eine, die Bildung nicht ganz so ernst nimmt.«

Lauren griff ebenfalls nach ihrem Mantel. »Welches Vorfahren-Projekt?«

Helen und Ruth tauschten Blicke.

»Deshalb beneiden wir dich«, sagte Ruth. »Deine Mack ist so klug, dass sie all diese Dinge ohne deine Hilfe erledigt.«

»Mack findet so etwas tatsächlich meist allein heraus.« Trotzdem nahm sie sich vor, ihre Tochter nach dem Projekt zu fragen, nur zur Sicherheit.

»Ist alles in Ordnung mit Mack?« Helen hielt ihr die Tür auf, und sie tauschten die warme, wohlduftende Luft gegen den eisigen Wind, der draußen wehte. »Keinen Ärger mehr mit diesen Zicken aus dem Jahrgang über ihr?«

Lauren war versucht, die pinkfarbenen Strähnen zu erwähnen und den Umstand, dass sich irgendetwas nicht richtig anfühlte, doch sie entschied sich dagegen. Sie hoffte immer noch, dass es keinen Grund zur Sorge gab.

»Es scheint alles in Ordnung zu sein.«

»Abigail hat nichts erwähnt, und sie hatte ja die Facebook-Seite entdeckt, als sie veröffentlicht wurde.« Ruth drückte anteilnehmend ihren Arm. »Ich bin sicher, es ist vorbei und erledigt.«

Das hoffte Lauren inständig. Sie wusste, dass sie dazu tendierte, die Dinge überzubewerten. Ihr Ehemann nannte es einen Hang zur Dramatisierung.

Wenn er damit recht hatte, dann sollten seine Worte zuvor nur ein flüchtiger Kommentar gewesen sein, auf den sie keine Gedanken verschwenden sollte.

Wenn sie ein Problem hatten, hätten sie darüber gesprochen.

Sie sah auf ihr Handy und bemerkte, dass es Zeit für ihren Friseurtermin war. »Ich sehe euch beide später.«

Mit Ed war alles in Ordnung und mit Mack ebenso. Sicher, ihre Tochter verhielt sich merkwürdig, aber vermutlich war das nicht mehr als eine Phase.

Es bedeutete nicht, dass sie Geheimnisse hatte.

Lauren versuchte, die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren, die sie daran erinnerte, dass sie und ihre Schwester immer Geheimnisse gehabt hatten.

2. Kapitel

Schwestern

Loyalität: die Fähigkeit, in einer Freundschaft oder der Unterstützung für etwas oder jemanden beständig zu bleiben

»Bitte tu es nicht.« Ich sah zu, wie sie auf die Reling kletterte. Darunter lag das Wasser, dunkel und tief.

Es war früh am Morgen, und der Strand war leer. Später in der Saison würde es hier vor Touristen wimmeln, die sich alle anstellten, um von der Jaws Bridge zu springen – von allen so genannt, weil sie in Steven Spielbergs Film Jaws – Der weiße Hai auftauchte. Doch jetzt am frühen Morgen waren wir die Einzigen hier.

Und wir sollten nicht hier sein.

Unsere Fahrräder lagen einsam am Rand des Weges. Die Strände an beiden Seiten der Brücke waren verlassen. Kein einziges Auto war an uns vorbeigefahren, seit wir vor fünf Minuten angekommen waren.

»Wenn du Angst hast, geh nach Hause.« Sie warf ihren Kopf herausfordernd zurück, und ihre Augen blitzten.

Meine Schwester, die Rebellin.

Sie hatte recht, ich hätte nach Hause gehen können. Aber wer hätte sich dann um sie gekümmert? Was, wenn sie irgendwo aufschlug und bewusstlos wurde oder ins Meer abtrieb? Die Strömung war ziemlich stark, und man musste mit viel Kraft von der Brücke wegschwimmen, nachdem man gesprungen war. Ich lief hinunter an den Strand, weil ich davon ausging, dass ich nur von dort aus in der Lage wäre, sie zu retten.

Das Seegras unter meinen Füßen war rutschig, und der Wind umhüllte mich kalt.

Ich zitterte, auch wenn ich nicht sicher war, ob es an der Kälte oder meiner Angst lag. Ich wollte überall sein, aber nicht hier.

Wie alle Familien hatten wir Regeln.

Meine Schwester hatte sie alle gebrochen.

War ich die Beschützerin meiner Schwester? Nun, ja, das war ich. Zugegebenermaßen eine selbst ernannte Beschützerin. Welche Wahl hatte ich denn? Ich liebte sie. Wir erzählten einander alles. Sie war meine beste Freundin. Ich wäre für sie gestorben, auch wenn es mir lieber war, wenn dies der letzte Ausweg blieb.

Ich versuchte es noch einmal. »Auf den Schildern steht: Springen von der Brücke verboten.«

Sie schaute zu mir herüber und zuckte mit den Schultern. »Dann sieh nicht hin.«

»Mom bringt uns um.«

»Sie wird es nicht erfahren. Sie weiß nichts von den Dingen, die wir tun. Sie interessiert sich nur für ihre Malerei.«

»Wenn es ihr jemand erzählt, wird es sie interessieren.«

»Dann hoffen wir lieber, dass es ihr niemand erzählt.«

Das war ihre Antwort auf alles.

Ich wand mich bei den Mahlzeiten vor Angst, dass Mom fragen könnte, was wir den ganzen Tag getan hätten. Die Schuld klebte so sehr an mir, dass ich sicher war, sie könnte sie sehen. Ich hatte das Gefühl, wie ein Neonschild zu leuchten.

Mein Glück, dass unsere Mutter normalerweise mit anderen Dingen beschäftigt war.

»Es ist nicht sicher. Komm im Sommer zurück, wenn mehr Menschen da sind.«

»Ich hasse die Menschenmengen.« Sie kletterte auf die oberste Strebe der Reling und balancierte darauf wie eine Seiltänzerin mit in die Höhe gereckten Armen. »Bei drei geht’s los. Eins, zwei …«

Mit einem schelmischen Grinsen in meine Richtung stieß sie sich ab.

Sie segelte durch die Luft und landete klatschend im Wasser, wo sie verschwand. Einen Moment lang war ich von purem Schrecken erfüllt. Würde ich stark genug sein, sie zu retten, wenn sie in Schwierigkeiten kam? Die Vorstellung in meinem Kopf war so lebhaft, dass ich fast fühlte, wie ihr Körper meinen Händen entglitt. Erst als ihr Kopf auftauchte und ich erleichtert aufseufzte, bemerkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte. Meine Zehen schmerzten, weil ich sie in die Schuhe gekrallt hatte, um mich jederzeit von den Felsen ins Wasser stürzen zu können.

Sie schwamm auf mich zu und kämpfte dabei mit der Strömung, die sie ins Meer ziehen wollte.

»Mir ist fast das Herz stehen geblieben.« Ich warf ihr das Handtuch zu, während meine Beine vor Erleichterung zitterten. Ein weiteres wildes Abenteuer meiner Schwester, und wir waren noch am Leben. An manchen Tagen fühlte ich mich eher wie ihre Mutter. »Wir müssen nach Hause, bevor dich jemand mit nassem Haar sieht.«

»Niemand wird uns sehen.« Sie kam aus dem Wasser. Ihre Kleidung tropfte und klebte an ihren dünnen Armen und Beinen. »Dad ist fort, und Mom ist im Atelier.«

»Und was sagen wir, wenn sie uns fragt, was wir heute gemacht haben?«

»Sie wird nicht fragen.« Meine Schwester rubbelte mit dem Handtuch durch ihr Haar und warf den Kopf zurück. Sie wirkte beschwingt und freudig wie immer, wenn wir etwas Verbotenes getan hatten. »Aber falls sie es tut, sagen wir ihr, dass wir eine Radtour gemacht haben.«

Das war Teil unserer Abmachung. Wir stellten immer sicher, dass es keine Fehler in unserer Geschichte gab.

Was auch immer passierte, sie wusste, ich würde sie beschützen.

Sie war meine Schwester.

3. Kapitel

Jenna

Sehnsucht: ein starkes oder übermächtiges Verlangen

Nicht schwanger.

Konnte es zwei niederschmetterndere Worte geben?

In dem kleinen Badezimmer ihres Drei-Zimmer-Cottages auf der Insel Martha’s Vineyard ließ Jenna den Schwangerschaftstest auf den Boden fallen und widerstand der Versuchung, ihn unter ihren Füßen zu zermalmen.

Sie wollte fluchen, doch sie versuchte, so etwas sogar in der Ungestörtheit ihres eigenen Badezimmers zu vermeiden, damit es ihr nicht eines Tages vor ihrer Klasse von beeinflussbaren Sechsjährigen entschlüpfte.

Mrs. Sullivan hat Scheiße gesagt, Mommy. SCHEISSE. Es war ihr Wort des Tages.

Erst mussten wir es buchstabieren und dann einen Satz damit bilden.

Nein, fluchen kam nicht infrage, und sie würde keinesfalls anfangen zu weinen. Sie musste sich schon gegen Sommersprossen behaupten. Da konnte sie zusätzlich nicht noch rote Augen gebrauchen.

»Jenna?« Gregs Stimme drang durch die Badezimmertür. »Geht es dir gut, Liebes?«

»Alles in Ordnung. Ich komme gleich raus.«

Sie starrte auf ihr Spiegelbild und verbot sich, auch nur eine der Tränen zu vergießen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten.

Es ging ihr nicht gut.

Ihr Körper tat nicht, was er tun sollte. Seine Aufgabe bestand darin, beim ersten Versuch schwanger zu werden oder zumindest beim zweiten, das Baby neun Monate lang sorgsam zu pflegen und es dann ohne Zwischenfälle oder Drama zur Welt zu bringen.

All diese Male, die sie in einer Mischung aus Panik und Hoffnung auf den Streifen gepinkelt und gebetet hatte, dass er nicht »Positiv« anzeigen würde. Als sie das erste Mal mit Greg Sex hatte, beide ungeschickt und unbeholfen am Strand, war sie eher ängstlich als erregt gewesen. Bitte lass mich nicht schwanger sein.

Nun wollte sie unbedingt, dass der Test positiv ausfiel, und es geschah nicht.

Sie hatten den ganzen Winter lang Sex gehabt, wobei man fairerweise sagen musste, dass man auf Martha’s Vineyard nicht viel anderes machen konnte, wenn die Temperaturen fielen. Sex war eine sinnvolle Alternative zur Verbrennung fossiler Energien. Vielleicht sollte sie das in der Klasse unterrichten. Hey, Kinder, es gibt Sonnenenergie, Erdwärme, Windenergie und Sex. Fragt eure Eltern danach.

Sie verbrannte im Schlafzimmer mehr Kalorien, als sie das jemals auf dem Laufband getan hatte.

Sie war zweiunddreißig.

Mit zweiunddreißig hatte ihre Mutter bereits Lauren gehabt.

Jennas Schwester, Lauren, war mit neunzehn schwanger gewesen. Sie hatte zu ihrem frisch angetrauten Ehemann kaum Ja gesagt, da verkündete sie schon, dass sie ein Kind erwartete. Jenna schien es, als wäre ihre Schwester allein durch seine Berührung schon schwanger geworden.

Und ja, das machte sie neidisch. Sie liebte ihre Schwester, doch sie hatte festgestellt, dass Liebe nicht reichte, um sich diese unangenehmen Gefühle vom Leib zu halten.

Seit ihre Mutter ihr zum sechsten Geburtstag eine Kreidetafel geschenkt und Jenna Lauren gedrängt hatte, Schule zu spielen, hatte sie Lehrerin werden wollen.

Jeder wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihre eigene Familie haben würde.

Zuerst war sie ganz entspannt damit umgegangen, doch mit jedem Monat, der verstrich, wuchs ihre Verzweiflung.

Sie hatte alles versucht, um ihre Chancen zu erhöhen – vom täglichen Temperaturmessen bis hin zu der Verordnung, die sie Greg erteilt hatte, nur noch weite Boxershorts zu tragen. Sie hatten Sex in jeder vorstellbaren Stellung gehabt und dazu in einigen nicht vorstellbaren, was zu einer zerbrochenen Lampe geführt hatte und Greg brummeln ließ, dass er sich wie ein Zirkusartist fühle. Nichts hatte funktioniert.

Die Ungerechtigkeit schnitt ihr ins Herz, doch noch schlimmer war das Gefühl von völliger Leere. Sie schämte sich ein bisschen dafür, weil sie wusste, wie viel Glück sie hatte. Sie hatte so viel. Sie hatte Greg, um Himmels willen. Greg Sullivan, den jeder einzelne Mensch auf der Insel liebte, Jenna eingeschlossen. Greg, der als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte und bei allem, was er tat, der Beste war.

Sie liebte ihn seit ihrem fünften Lebensjahr, als er sie aus einem Bach gezogen hatte, in den sie tollpatschig hineingefallen war. Er war ihr Held. In der Oberschule saßen sie nebeneinander und brachten zusammen die Schulzeitung heraus. Die Leute sprachen von ihnen, als wären sie eine Person. Sie waren Jenna und Greg.

Bis vor Kurzem hatte sie nichts anderes gewollt, als mit Greg zusammen zu sein.

Plötzlich schien das nicht mehr genug zu sein.

Am schlimmsten war, dass sie mit niemandem darüber sprechen konnte. Das hatte zu einigen fast schon peinlichen Situationen geführt, weil es ihr nicht leichtfiel, Dinge für sich zu behalten. »Geschwätzig« hatte in ihren Zeugnissen gestanden – sehr zur Verärgerung ihrer Mutter. Du bist dort, um zu lernen, Jenna.

Sie mochte geschwätzig sein, doch sogar Jenna machte halt davor, zwischen den Regalen im örtlichen Supermarkt über ihr Sexualleben zu sprechen.

Hi, Mary, schön, dich zu sehen. Übrigens, wie oft hattest du mit Peter Sex, bevor du schwanger wurdest?

Hi, Kelly, ich würde ja gern für ein Schwätzchen stehen bleiben, aber ich habe meinen Eisprung und muss rasch nach Hause, um über Greg herzufallen. Bis bald!

»Jenna?« Er rüttelte am Türgriff. »Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, also mach die Tür auf, damit wir reden können.«

Was gab es da zu reden?

Sie wünschte sich verzweifelt ein Baby, und darüber zu reden würde keine Abhilfe schaffen.

Sie öffnete die Tür. Sie war »Jolly Jenna«. Eine junge Frau, die immer lächelte. Eine junge Frau, die immer versucht hatte, Dinge, die nicht zu ändern waren, zu akzeptieren. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase, Haare, die sich kräuselten, egal, wie sie frisiert wurden, und einen Körper, der keine Babys produzieren wollte.

Greg stand da mit jenem Gesichtsausdruck, den sie heimlich seine Zuhörer-Miene nannte. »Negativ?«

Sie nickte und drückte sich an seine Brust. Er roch gut. Nach Zitronen und frischer Luft. »Sag nichts.« Greg war Therapeut. Er konnte gut mit Menschen umgehen, doch in diesem Moment gab es nichts zu sagen, wodurch sie sich besser fühlen würde, und sie hatte Angst, dass sein Mitgefühl ihre Fassung zum Wanken bringen würde.

Sie spürte, wie er die Arme um sie legte.

»Wie wäre es mit: Ich liebe dich?«

»Das funktioniert immer.« Sie liebte die Art, wie er sie umarmte. Ganz fest und nah, als ob er es so meinte. Als ob sich nie etwas zwischen sie drängen könnte.

»Wir sind jung, und wir versuchen es noch nicht so lange, Jenna.«

»Siebzehn Monate, eine Woche und zwei Tage. Meinst du nicht, dass wir allmählich mal mit einem Arzt sprechen sollten?«

»Das brauchen wir nicht.« Er löste sich von ihr. »Denk an all den großartigen Sex, den wir haben können, während wir dieses Baby machen.«

Aber es funktioniert nicht.

»Ich möchte gern jemanden konsultieren.«

Er seufzte. »Du bist die ganze Zeit so angespannt.«

Sie konnte nicht schwanger werden. Was erwartete er?

»Wenn du mir sagen willst, dass ich mich entspannen soll, haue ich dich.«

Er zog sie erneut in seine Arme. »Du arbeitest so viel. Du gibst alles, was du hast, den Kindern in deiner Klasse …«

»Ich liebe meinen Job.«

»Vielleicht könntest du zum Yoga oder so was gehen?«

»Ich kann nicht lange genug still sitzen für Yoga.«

»Dann irgendwas anderes, ich weiß nicht …«

Dieses Mal löste sie sich aus der Umarmung. »Wage es bloß nicht, mir ein Buch über Achtsamkeit zu kaufen.«

»Verdammt, jetzt hast du mein Weihnachtsgeschenk erraten.« Er umfasste ihr Gesicht und küsste sie sanft auf den Mund. »Halte durch, Liebes.« Bei dem Ausdruck in seinen Augen hätte sie am liebsten geweint.

»Wir kommen zu spät zur Arbeit.«

Zwanzig hyperaktive Sechsjährige warteten auf sie. Die Sechsjährigen von anderen Leuten. Sie schlichtete Streitereien, wischte Tränen ab, erzog sie und versuchte, sich nicht vorzustellen, wie es wäre, wenn eines dieser Kinder ihres wäre.

Jeden Tag brachte sie den Kindern in der Schule ein neues Wort bei. Deshalb tauchten gern Definitionen in ihrem Kopf auf, selbst wenn sie es nicht wollte. So wie jetzt.

Enttäuscht: traurig, weil eine Erwartung sich nicht erfüllt hat.

Frustriert: Unzufriedenheit oder fehlende Erfüllung verspüren.

»Es wäre leichter, wenn die Leute mich nicht immer fragen würden, wann ich ein Baby bekommen werde.«

»Tun sie das?«

»Die ganze Zeit.« Sie griff nach ihrem Make-up. »Das muss eine Frauensache sein. Vielleicht sollte ich nicht länger ausweichen. Wenn mich das nächste Mal jemand fragt, sollte ich sagen, dass wir ständig Sex haben.«

»Das wissen sie schon.«

»Woher?«

Er grinste. »Vor ein paar Wochen hast du mir eine Nachricht geschickt, als ich bei der Arbeit war.«

»Viele Frauen schicken ihren Männern bei der Arbeit eine Nachricht.«

»Aber normalerweise steht in diesen Nachrichten nicht: Hey, scharfer Typ. Ich bin nackt und bereit für Sex.«

»Was ist falsch daran?«

»Nichts, außer dass Pamela mein Handy hatte.«

»Nein!« Scham überkam sie. »Warum?«

»Sie ist meine Empfangsdame. Ich war bei einem Klienten. Ich habe es für einen eventuellen Notfall bei ihr gelassen. Ich konnte nicht wissen, dass du ein Sex-Notfall sein würdest.«

»Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.« Jenna schlug die Hand vor den Mund. »Pamela war mein Babysitter. Sie behandelt mich heute noch, als ob ich sechs Jahre alt wäre.«

»Wir können davon ausgehen, dass sie nun weiß, dass du erwachsen bist.«

»Was hat sie gesagt?«

»Nichts. Sie hat mir das Telefon zurückgegeben, aber ich hege keinerlei Zweifel, dass unser Sexualleben oberstes Gesprächsthema in der Strickgruppe, im Buchclub und bei den Treffen des Naturschutzkomitees sein wird. Wenn wir Glück haben, steht es bei der jährlichen Gemeindeversammlung vielleicht nicht auf der Tagesordnung.«

»Meinst du, sie wird es meiner Mutter gegenüber erwähnen?«

»In Anbetracht der Tatsache, dass deine Mutter sowohl dem Buchclub als auch dem Naturschutzkomitee angehört, ganz zu schweigen von diversen anderen Komitees auf dieser Insel, schätze ich, dass die Antwort Ja lautet. Aber was soll’s.«

»Das wird ein weiteres Vergehen auf einer sowieso schon langen Liste sein.«