Die Systemische Therapie mit der Inneren Familie mit Kindern - Lisa Spiegel - E-Book

Die Systemische Therapie mit der Inneren Familie mit Kindern E-Book

Lisa Spiegel

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Beschreibung

Die Systemische Therapie mit der Inneren Familie (Internal Family ­Systems Model = IFS) hat sich als wirksame psychotherapeutische Methode etabliert. Dieses Buch beschreibt erstmals ausführlich, wie IFS in der ­Therapie mit Kindern eingesetzt werden kann. Es erklärt Schritt für Schritt, wie der IFS-Prozess vor sich geht, und illu­s­triert mit zahlreichen Fallbeispielen das Heilpotenzial dieser Methode. Mit dieser Anleitung können sich alle, die therapeutisch mit Kindern arbeiten, mit IFS vertraut machen oder ihr Verständnis vertiefen.

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LISA SPIEGEL

Die Systemische Therapie

mit der Inneren Familie mit Kindern

LISA SPIEGEL

Die Systemische Therapie

mit der Inneren Familie mit Kindern

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Bongartz

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel: Internal Family Systems Therapy with Children bei Routledge, einem Imprint von Taylor & Francis Group, New York.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2020

Copyright der deutschen Ausgabe © 2020 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2017 Taylor & Francis

All rights reserved. Authorised translation from the English language edition published by Routledge, a member of the Taylor & Francis Group LLC.

Lektorat: Judith Mark, Freiburg

Titelfoto: ©Roygbiv/freepik.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-322-8

Für Audrey und Maris –

für alle ihre Teile, die großen und die kleinen.

Inhalt

Vorwort

1 Meine Einführung in die Systemische Therapie mit der Inneren Familie (IFS)

2 Schlüsselkonzepte in der IFS-Therapie

3 Das IFS-Protokoll

4 Teile finden und Freundschaft mit ihnen schließen

Percy, Charlotte und Kathleen

5 Mit Beschützern verhandeln

Esther und Talia

6 Teile externalisieren

Hailey und Rain

7 Polarisierungen

Hazels und Amelias in Opposition stehende Teile

8 Teile entlasten

Juliana und Henry

9 IFS und Elterntherapie

10 Barts IFS-Therapie

Schlussbemerkung

Dank

Glossar

Quellen

Die Autorin

Vorwort

Es ist mir eine sehr große Freude, die einleitenden Worte für dieses wunderbare Buch von Lisa Spiegel zu schreiben. Ich entwickelte das Modell der Systemischen Therapie mit der Inneren Familie (IFS) in den frühen 1980er-Jahren. Zu jener Zeit arbeitete ich hauptsächlich mit innerstädtischen Jugendlichen und ihren Familien am Institute for Juvenile Research in Chicago. Während manche die Idee von Persönlichkeitsanteilen sofort mit Begeisterung aufnahmen, erschloss sie sich anderen nur schlecht, und es erforderte viele Sitzungen, ehe die Jugendlichen sich dazu bereit erklärten, sich auf ihre Innenwelten einzulassen. Die wenigen Male, bei denen ich IFS auf Kinder anwenden durfte, waren dagegen beeindruckend. Ich bat ein Kind zum Beispiel, mir von einem bestimmten Teil seiner Persönlichkeit zu erzählen, und der Junge oder das Mädchen berichteten mir dann ganz spontan von vier anderen Teilen und wie diese zueinander in Beziehung standen. Die Kinder hatten viel Spaß daran, ihre Teile für mich aufzumalen oder Handpuppen zu benutzen, um mit den Teilen zu sprechen.

Ich hatte mich im Aufbaustudium mit den traditionellen Einsichten zur kindlichen Entwicklung beschäftigt und erwartete daher nicht, dass Kinder über die nötigen inneren Ressourcen verfügen würden, um auf die gleiche heilende Weise wie Erwachsene mit ihren Teilen umzugehen. Es war daher sehr überraschend für mich, dass ich schnell auf das gleiche Niveau an Selbstmitgefühl und Neugier in ihrem sich entwickelnden Geist zugreifen konnte, wie bei meinen erwachsenen Patienten. Die Kinder konnten sich um ihre Teile kümmern und sich so selbst heilen, auch wenn dies häufig auf konkretere, deshalb jedoch nicht weniger effiziente Art und Weise geschah als bei Erwachsenen. Diese Entdeckung bestärkte meine Vermutung, dass diese inneren Ressourcen, die ich das Selbst nannte, nicht erlernt werden, sondern ein jedem von uns innewohnendes Geburtsrecht sind.

Mein Interesse blieb jedoch weiterhin darauf ausgerichtet, verhaltensauffälligen Jugendlichen und ihren Eltern zu helfen und später erwachsene Überlebende sexueller Gewalt zu behandeln. Daher konnte ich das Gesamtpotenzial des IFS-Modells mit Kindern nicht näher erkunden. Mit der Zeit wurde das IFS-Modell bekannter, und einige talentierte Kindertherapeutinnen schlossen sich der IFS-Bewegung an und berichteten von beeindruckenden Ergebnissen in frühen Therapiesitzungen. Eine solche Therapeutin war Pam Krause. Heute ist sie eine unserer führenden Ausbilderinnen. Sie erstellte vor Kurzem die erste Beschreibung der IFS-Therapie mit Kindern in einem Kapitel des Buches Internal Family Systems Therapy: New Dimensions. Ich bin für dieses Kapitel sehr dankbar, denn ich werde bei meinen weltweiten Präsentationen zur IFS-Therapie immer wieder gefragt, wie der Ansatz mit Kindern funktioniert. Ich murmele dann meist vor mich hin, Kinder seien nicht von ihren Teilen wegsozialisiert und könnten diese leicht abrufen und die Therapie sei leicht in eine Spieltherapie integrierbar. Jetzt kann ich die Fragenden auf Pams Kapitel verweisen. Es ist ausgezeichnet, aber es ist kurz und behandelt das Thema daher nur in eingeschränkter Weise. Ich wünschte mir ein Buch zur IFS-Therapie mit Kindern, befürchtete jedoch, es würde nie geschrieben. Denn für dessen Erfolg müsste sein Verfasser erstens ein Experte auf dem Gebiet der Psychotherapie mit Kindern sein und Spieltherapie einsetzen; er oder sie müsste sich zweitens sehr gut mit IFS auskennen und, drittens, über die Fähigkeit verfügen, den Zauber und die Ehrfurcht gebietende Wirkweise der IFS-Therapie mit Kindern zu Papier zu bringen.

Auftritt Lisa Spiegel. Sie hat über 30 Jahre Erfahrung in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und beschäftigt sich seit 2010 mit IFS. Sie gründete gemeinsam mit Jean Kunhardt Soho Parenting und wird aufgrund ihrer Fachkenntnis, was Kinder und Eltern betrifft, häufig in den Medien zitiert. Als sie mir zum ersten Mal erzählte, dass sie an diesem Buch arbeitete, hielt sich meine Begeisterung in Grenzen, denn ich wusste nicht, ob sie schreiben konnte. Dann schickte sie mir ihr Manuskript, und ich war begeistert. Ihre Fallbeispiele entsprechen nicht nur genau der Theorie und dem praktischen Ansatz von IFS, sondern sind auch spannend zu lesen. Dieses Buch ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur wachsenden Literatur zu IFS, sondern auch zur Psychotherapie mit Kindern im Allgemeinen. Dafür bin ich immens dankbar.

DR. RICHARD C. SCHWARTZ

1 Meine Einführung in die Systemische Therapie mit der Inneren Familie (IFS)

Im Alter von 17 Jahren saß ich für meine jährliche Vorsorgeuntersuchung im Wartezimmer meines Kinderarztes. Ich fühlte mich ausgesprochen fehl am Platz. Das Wartezimmer war voll: ausgelassene Jungen im Grundschulalter, Mütter mit Babys auf dem Arm und ein Mädchen im Kleinkindalter.

Ich verdrehte die Augen und meinte zu meiner Mutter: »Ich mag Dr. Fox wirklich sehr, aber heute bin ich zum letzten Mal hier. Ich fühle mich wie eine Außerirdische.«

Meine Mutter nickte: »In Ordnung. Du kannst ab heute dann zu einem Erwachsenen-Arzt gehen.«

Mit einer Kinderzeitschrift in der einen und einem Hochglanzmagazin über Stars in der anderen Hand sah ich mich im Zimmer um. Ich bemerkte, dass das kleine Mädchen mich ansah. Ich erwiderte ihren Blick, und so begann der Weg, der mich zur Systemischen Therapie mit der Inneren Familie und zum Schreiben dieses Buchs führte.

Die großen braunen Augen des kleinen Mädchens schienen so viel sagen zu wollen. Sie stand abseits von ihrer unkonzentrierten Mutter, ihr Arm war auf die Stuhllehne gestützt. Dieses so kleine Kind schien alleine zu sein, und ich sah, sie war traurig. Sie hob ihren Kopf und blickte mich an, und ich nahm ihren verstummten Geist in der Stille ihres Körpers wahr. Ich erinnere mich daran, wie ich ihr mit meinen Augen sagte: »Ich sehe, dass etwas nicht stimmt.« Ich lächelte sie an, um eine fürsorgliche Verbindung herzustellen. Sie schien die Geste in sich aufzunehmen und hielt den Blickkontakt unseres wortlosen Dialogs so lange, bis ich aufstand. Ich winkte und sie hob die Hand, als wollte sie mich ein letztes Mal zum Arzt meiner Kinderjahre schicken.

Von diesem Tag an arbeitete ich mit Kindern: als Gruppenleiterin für psychisch beeinträchtigte Kinder, als Erzieherin am Vassar College, in einem therapeutischen Kindergarten für Säuglinge und Kleinkinder minderjähriger Mütter am Bellevue Hospital und als Mutter eigener Kinder. Für meinen Hochschulabschluss in Entwicklungspsychologie am Lehrerseminar der Columbia University tauchte ich in das Studium der sozio-emotionalen, sprachlichen und kognitiven Entwicklung ein, dies jeweils vor dem Hintergrund der Bindungsbeziehung, wie John Bowlby (Bowlby, 1975) und Mary Ainsworth (Ainsworth, 1982) sie verstehen.

Seit 1987 arbeite ich mit Kindern und Eltern am Soho Parenting, dem von meiner Kollegin und Geschäftspartnerin Jean Kunhardt und mir gegründeten Eltern- und Psychotherapiezentrum. Jean und ich trafen uns bei der gemeinsamen Arbeit in der Kinderabteilung der pädiatrischen Ambulanz des Bellevue Hospital. Das Bellevue Hospital stand in den 1980er-Jahren an vorderster Front bei der Behandlung von Familien, die von Armut, AIDS und der Kokain-Epidemie betroffen waren. Jean und ich leiteten Gruppen minderjähriger Mütter, stellten Kindern, die Opfer sexueller Gewalt waren, Spieltherapie zur Verfügung und arbeiteten mit Kinderärzten, Gynäkologen und Geburtshelferinnen zusammen, um Familien fächerübergreifende Hilfe anzubieten. Wir lernten, was menschliche Resilienz angesichts enormer Traumata und Schwierigkeiten ist.

Jean und ich wurden 1986 dann zufälligerweise beide fast zur gleichen Zeit schwanger. Wir beschlossen, das Bellevue zu verlassen, um uns auf unsere Familien zu konzentrieren. Unsere Erfahrung als Leiterinnen der Gruppen für minderjährige Mütter lieferte Ideen für unsere weitere berufliche Laufbahn. Wir entwickelten den Plan, solche Müttergruppen gewissermaßen »umzurüsten« und einer anderen Bevölkerungsschicht anzubieten. Wir erstellten ein Curriculum, das gleichermaßen praktische Informationen zur Entwicklung von Babys und die Untersuchung psychologischer Veränderungen während der Mutterschaft enthielt. Wir nannten unsere Praxis ParenTalk und hielten unsere ersten Gruppensitzungen in meinem Wohnzimmer an der Upper West Side von Manhattan ab. Die Hilfe und Beratung, die diese Mütter in den Gruppen erhielten, nahmen eine zentrale Stelle in ihrem Leben ein. Diese Gruppen waren zu jener Zeit die ersten ihrer Art in New York. Wir fühlten uns dazu inspiriert, unser therapeutisches Angebot auszubauen und einem größeren Publikum anzubieten. Eine Kollegin am Bellevue Hospital stellte den Kontakt zu Dr. Marie Keith und Dr. Robert Coffey von der Kinderarztpraxis Soho Pediatrics her. Diese vorausdenkenden Kinderärzte wollten ihren Patienten psychologische und erzieherische Unterstützung zur Verfügung stellen. Und so begann eine erfolgreiche Partnerschaft mit Soho Pediatrics. Wir boten den Eltern Elterngruppen und Therapiesitzungen an. Während unsere Praxis größer wurde und sich unsere Beziehungen zu unseren Patienten und Patientinnen vertiefte, wurde klar, dass die Eltern ebenfalls einen sicheren Ort brauchten, an dem sie ihren eigenen Herausforderungen in ihren Ursprungsfamilien und Ehen auf den Grund gehen konnten. Unser Aufgabenfeld wuchs. Jean und ich schrieben zusammen mit Jeans Schwester Sandra K. Basile Mother’s Circle (Kunhardt, Spiegel & Basile, 1996), ein Buch über das erste Jahr als Mutter. Gemeinsam mit Soho Pediatrics zogen wir in eine neue schöne Praxis, und aus unserem Baby ParenTalk wurde Soho Parenting, ein übergreifendes Eltern- und Psychotherapiezentrum.

Während dieser Jahre widmete ich mich meiner eigenen Weiterentwicklung und bildete mich in neuen therapeutischen Methoden weiter. Die letzten 25 Jahre sind durch ein immenses Wachstum im Bereich der Psychotherapie gekennzeichnet. Die Hirnforschung, die Körper-Geist-Verbindung und die Integration östlicher Praktiken und Einsichten in unser westliches Leben sowie kognitive Verhaltensinterventionen erlebten einen Boom. Meine eigene berufliche Evolution verlief parallel zu dieser Entwicklung.

Ebenso wie bei vielen anderen Klinikern und Klinikerinnen in den 1980er-Jahren fußte meine Arbeit auf der psychoanalytisch orientierten Spiel- und Gesprächstherapie. Dr. Anni Bergman, eine Schülerin von Margaret Mahler und selbst eine wichtige Stimme auf dem Gebiet der Psychoanalyse, war eine meiner maßgeblichsten Mentorinnen (Mahler, Pine & Bergman, 2008). Dieser theoretische Rahmen bildete eine solide klassische Grundlage, auf der ich meine vielschichtige und reiche klinische Praxis aufbaute. Ich bin in den folgenden Ansätzen ausgebildet: EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, deutsch: Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen; Shapiro, 1998, 2001; Parnell, 2006); LifeForce Yoga gegen Angststörungen und Depressionen (Weintraub, 2004, 2012); Relational Life Therapy, der von Terrence Real entwickelten Paartherapie (Real, 2007); sowie Trennungs- und Scheidungsmediation. Ich praktiziere seit fast 20 Jahren Yoga und beschäftige mich mit der physischen, spirituellen und psychologischen Weisheit dieses alten Systems der Selbstfürsorge.

Im Jahr 2010 nahm ich an einem einwöchigen Workshop zur Systemischen Therapie mit der Inneren Familie (IFS) teil, die von Dr. Richard Schwartz am Cape Cod Institute entwickelt wurde. Ich hatte sein Buch Systemische Therapie mit der inneren Familie (Schwartz 2018) gelesen und war sehr angetan von seiner Beschreibung der Funktionsweise der menschlichen Psyche. IFS (Internal Family Systems) ist ein psychotherapeutisches Modell, das systemisches Denken und das Konzept der Multiplizität des Geistes miteinander verbindet. Ein solcher achtsamkeitsbasierter Selbsterforschungsprozess führt zu einem besseren Verständnis, zu mehr Selbstmitgefühl und zu einer Minderung der Emotionsintensität.

Schwartz’ Einflüsse als Familientherapeut gehen sowohl auf Salvador Minuchin und die strukturelle Schule der Familientherapie (Minuchin 1977) als auch auf Jay Haley und seine strategische Familientherapie (Haley 1981) zurück. Zu Beginn seiner Karriere arbeitete Schwartz mit Patienten und Patientinnen mit Essstörungen, insbesondere Bulimie. Sein Erstansatz war, die Krankheit im Kontext der Familie zu sehen. Er benutzte Methoden aus der Familientherapie, um die familiären Ungleichgewichte zu ändern und zu therapieren, die als Ursache der Essstörung galten. Zu seiner Enttäuschung verbesserte sich die Symptomatik nur geringfügig. Schwartz beschloss daher, seinen Fokus von der äußeren Familie weg zu verlagern und den Beschreibungen der inneren Erfahrungen seiner Patienten größere Beachtung zu schenken. So erfuhr er von den nicht enden wollenden Zyklen von Essanfällen, Erbrechen, Erleichterung, Schuld und Scham, als hätten verschiedene Teilpersönlichkeiten zu verschiedenen Zeiten die Kontrolle. Schwartz zitiert eine Patientin wie folgt: »Innerhalb von zehn Minuten war ich eine ausgeglichene Berufstätige, ein ängstliches, unsicheres Kind, eine wütende Furie und eine gefühllose Fressmaschine. Ich habe keine Ahnung, wer davon ich wirklich bin. Ich weiß nur, dass ich es hasse, so zu sein.« (Schwartz 2018) Schwartz achtete genau auf solche Zyklen. Es schien, als ob sich verschiedene Teile oder Persönlichkeiten im Geist seiner Patientinnen miteinander unterhielten und stritten.

Das Konzept der Multiplizität des Geistes gibt es schon seit Jahrhunderten. Es wurde bereits von Philosophen wie Platon und Hume (Hume 2013) postuliert sowie von Psychoanalytikern wie Freud (Freud 1999) und Jung (Jung 1976) und zeitgenössischen Denkerinnen und Denkern (Satir 1975; Satir 1978 1988; Rowan, J. 1990; Carter 2008; Steinberg 2001; Schwartz 2018; Schwartz & Goulding 1995). Die Multiplizität des Geistes ist eine Möglichkeit, die Komplexität der menschlichen emotionalen Erfahrung zu verstehen. Sie erklärt, warum jeder von uns so viele verschiedene und scheinbar widersprüchliche Gefühlszustände und Gedanken in sich tragen kann. Sie umfasst die Vorstellung, dass der natürliche Zustand des menschlichen Geistes viele verschiedene Persönlichkeiten oder mehrere Selbst hat, die wiederum die Gesamtheit unseres Seins ausmachen. Obwohl diese Theorie nicht neu ist, war es Schwartz’ direkte Erfahrung mit seinen Patientinnen und Patienten, die ihn den Geist als kohärentes System verschiedener »Teile« oder Teilpersönlichkeiten betrachten ließ, jede einzelne von ihnen mit ihren eigenen Vorstellungen, Gefühlen, Handlungen und Zielen.

Multiplizität stellt ein Kontinuum dar, und »eine gesunde Differenzierung zwischen den inneren Teilen des Selbst erlaubt es uns, unseren psychologischen und emotionalen Reichtum zu genießen und uns an die Anforderungen des Alltags anzupassen. Wir können tagträumen und dennoch unser Kind baden. Wir können wütend auf einen Freund sein und dennoch einen Vortrag auf der Vorstandssitzung halten.« (Goulding & Schwartz, 1995) Am anderen Ende des Kontinuums befindet sich die dissoziative Identitätsstörung, bei der die Multiplizität so ausgeprägt ist, dass es keine kohärente Identität, sondern nur noch autonom funktionierende Teile gibt, welche kein Gewahrsein vom jeweils anderen Teil mehr haben. (American Psychiatric Association, 2013)

In der Mitte dieses Kontinuums befinden sich die Bulimie-Patientinnen von Schwartz. Für diese Frauen standen die Teilpersönlichkeiten im Konflikt miteinander. So sehr Schwartz auch aufmerksam und beherzt versuchte, Änderungen zu bewirken, ihre Symptome blieben. Und wie es so oft der Fall ist, führte Frustration zu Kreativität. Schwartz begann, damit zu experimentieren, direkt mit den disparaten Stimmen zu reden und sie nach ihrer Sicht des Problems zu befragen. Wenn viele Teile gleichzeitig zu reden und im Konflikt miteinander zu stehen schienen, bat Schwartz bestimmte Teile, in ein imaginäres Wartezimmer zu gehen, genauso wie er während einer Familientherapiesitzung ein Familienmitglied aus Fleisch und Blut bat, den Raum zu verlassen.

Stellen Sie sich eine Familientherapiesitzung mit dem Fokus auf einer Bulimie-Patientin vor. Die Therapeutin bittet den kritischen Vater, den Raum zu verlassen und ins Wartezimmer zu gehen, damit der Rest der Familie offener und ehrlicher reden kann. So treten neue Informationen zutage, mit denen die Therapeutin dann arbeiten kann. Als Schwartz einen kritischen Persönlichkeitsteil bat, sich in das virtuelle Wartezimmer zu begeben, trat das gleiche Phänomen ein. Die anderen Teile fühlten sich nun sicher, ihre Ansichten auszudrücken. Obwohl dieser Ansatz unkonventionell war, sprachen Schwartz’ Patientinnen sofort darauf an. Schwartz begann, diese Stimmen oder Einheiten als ein inneres System zu sehen, welches ganz so wie ein Familiensystem funktionierte.

Er kam darüber hinaus zu der Erkenntnis, dass es eine weitere Präsenz gab – ein gesundes, kluges, mitfühlendes Zentrum oder »Selbst«, das in jedem Patienten und jeder Patientin existierte. Immer wieder berichteten Patienten, nachdem ihre Teile sich bereit erklärt hatten, beiseitezutreten, dass sie in ihrem »wahren Selbst« waren oder dass sie sich nun wie »sie selber« fühlten. Diese klinische Erleuchtung führte zu einem maßgeblichen Konzept von IFS: zur Überzeugung, dass es ein Selbst gibt. Schwartz machte die Erfahrung, dass diese nicht wertende, liebevolle und gesunde Präsenz in der Lage war, den Persönlichkeitsteilen des Patienten Mitgefühl und ein tiefes Gefühl der Fürsorge und Verbundenheit entgegenzubringen. Wenn eine Beziehung zum Selbst hergestellt wurde, war es offensichtlich, dass sogar die aggressivsten Teile oder solche, die beim Patienten zu einer Selbstsabotage führten, ihre positive Absicht für den Patienten bestätigten. Sowie das Selbst in der Lage war, diese positive Absicht zu verstehen und wertzuschätzen, beobachtete Schwartz eine Veränderung bei seinen Patientinnen und Patienten. Sobald das Selbst anstatt der reaktiven und extremen Teile die Leitung dieses inneren Systems übernahm, gab es mehr Akzeptanz, Mitgefühl und Teamarbeit zwischen den Teilen. Es war bemerkenswert: Schwartz und seine Patientinnen stellten fest, dass die Symptome abnahmen. Schwartz sah sich von der sich vollziehenden psychischen Veränderung inspiriert und fing an, sein Modell auf der Basis dieser therapeutischen Begegnungen sowie der positiven Veränderungen zu erweitern. Dieses Experiment im inneren Labor des Geistes seiner Patienten führte zur Entwicklung des IFS-Protokolls.

Viele psychotherapeutische Ansätze und unsere Kultur im Allgemeinen gehen davon aus, dass das, was uns verletzt – Angst, Suchterkrankungen oder auch Aggression –, unser Feind ist und verbannt oder gemieden werden muss. Im Gegensatz dazu postuliert Schwartz, dass diese Teile auf ihre ganz eigene Art versuchen, uns zu beschützen und sich um uns zu kümmern. Direkt und mitfühlend mit diesen Teilen zusammenzuarbeiten hilft ihnen, ihre Aktivität abzuschwächen und gibt ihnen das Gefühl, dass man sich um sie kümmert. Schwartz erkannte, dass unser inneres Familiensystem sich beruhigt und unsere Persönlichkeitsteile harmonischer zusammenarbeiten, wenn wir alle unsere Teile willkommen heißen, auch jene, die in unserem Leben Chaos anrichten.

Am ersten Tag des Workshops in Cape Cod erzählte Schwartz uns von seinen beruflichen Erfahrungen. Ich war fasziniert und wollte das Modell in Aktion sehen. Zu Beginn führte Schwartz die Gruppe durch eine Meditation, mit deren Hilfe sie Zugang zu einem oder mehreren Persönlichkeitsteilen finden, sie vielleicht im Körper fühlen, ein Bild des Teils sehen oder einen inneren Dialog hören sollte. Das war mein erster Kontakt mit IFS im empirischen Sinn. Vielleicht möchten Sie auch eine Übung ausprobieren. Bitte lesen Sie die nachfolgende Anleitung. Schließen Sie dann die Augen. Vielleicht gelingt es Ihnen auch, auf einen Teil von Ihnen zuzugreifen.

ÜBUNG: EINEN TEIL FINDEN

• Nehmen Sie eine bequeme Haltung ein und kommen Sie zur Ruhe. Die rechte Hand liegt auf der linken in Ihrem Schoß, die Daumen berühren sich. Atmen Sie zehnmal tief durch die Nase ein und aus. Zählen Sie beim Ein- und Ausatmen jeweils bis vier.

• Achten Sie auf jede Empfindung in Ihrem Körper und auf den Fluss Ihrer Gedanken.

• Rufen Sie sich ein Ereignis ins Gedächtnis, bei dem Sie auf jemanden oder etwas wütend waren, und lassen Sie die Situation vor Ihrem inneren Auge Revue passieren.

• Achten Sie genau auf jede Veränderung in Ihrem Körper. Vielleicht spannen sich Muskeln an, vielleicht ist es ein Gefühl im Bauch oder Ihr Atem oder Herzschlag verändert sich. Nehmen Sie diese Empfindungen einfach nur wahr.

• Versuchen Sie, sich auf den Teil Ihrer Persönlichkeit zu konzentrieren, der in diesem Szenario aufgebracht ist. Vielleicht sehen Sie ein Bild von sich selbst oder ein Bild, das die aufgebrachten Gefühle repräsentiert. Bitten Sie dieses Bild oder diesen Teil mit Mitgefühl und Neugier, Ihnen den Grund für seine Aufgebrachtheit mitzuteilen.

• Lassen Sie den Teil wissen, dass Sie hören möchten, worüber er aufgebracht ist. Wenn Sie bemerken, dass andere Reaktionen zwischen diesen Aspekt und Ihr neugieriges, offenes Herz treten, dann bitten Sie sie bestimmt und mit Mitgefühl, beiseite und in ein Wartezimmer zu treten, damit Sie dem aufgebrachten Teil zuhören können.

• Fragen Sie den aufgebrachten Teil, wie er Ihnen helfen möchte. Was will er Sie wissen lassen? Verbringen Sie etwas Zeit mit diesem Teil.

• Fragen Sie ihn, wie Sie ihm helfen können.

• Nachdem er Ihnen von seinen Gefühlen und Überzeugungen erzählt hat, danken Sie ihm für seinen Besuch.

• Hat es geklappt und konnten Sie einen Teil von sich visualisieren? Verspürten Sie während dieser Übung irgendwelche körperlichen Empfindungen? Hatten Sie das Gefühl, dass es eine Einheit in Ihnen gab, die mit Ihnen kommunizierte? Haben Sie etwas über sich selbst erfahren, das Sie vorher nicht wussten?

Als ich diese Übung in Cape Cod machte und Schwartz’ geführter Meditation folgte, kam das Bild eines Gesprächs mit meiner Schwester auf. Ich sah uns beide vor meinem geistigen Auge. Ich spürte, wie sich mein Brustkorb verengte und meine Körpertemperatur anstieg. Ich sah den gebeugten Kopf meiner Schwester und die Bewegungen meiner Arme. Während ich den Anweisungen der Meditation folgte, trat ich mit diesem Teil von mir in Kontakt, der aufgebracht schien. Ich fragte ihn, was nicht stimmte und warum er so erregt sei. Er teilte mir mit, dass er meinte, sich um eine Situation im Leben meiner Schwester kümmern zu müssen, und dass, wenn er meiner Schwester nicht sage, was sie zu tun habe, etwas Schreckliches geschehen würde. Ich fragte den Teil, ob er sah, dass meine Schwester traurig war. Er verneinte. Er fühle nur das dringende Bedürfnis, sie zu erreichen. Ich ließ diesen Teil wissen, dass ich sehr gut verstand, wie viel Verantwortung er empfand. Daraufhin setzte sich dieser Teil hin und neigte seinen Kopf nach vorn! Er sagte, er fühle sich, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern. Ich konnte neben ihm sitzen und meine Hand auf seinen Rücken legen. Gegen Ende der Meditation bat er mich, mit ihm in Kontakt zu bleiben, und ich erwiderte, dass ich das tun würde.

Ich weiß schon lange um das schwierige Gefühl der Verantwortung in meiner Ursprungsfamilie und hatte über Jahre in meiner eigenen Therapie daran gearbeitet. Doch niemals zuvor hatte ich erlebt, direkt von einem Teil von mir zu hören. Es war beeindruckend, zu sehen, wie dieser Teil auf meinen Trost reagierte. Ich sah, wie mein überlasteter Zustand dazu führen konnte, dass ich mich anderen gegenüber rechthaberisch und unsensibel verhielt.

Die Übung beeindruckte und inspirierte mich. Ich war gespannt auf die Erfahrungen meiner Kolleginnen und Kollegen. Judy Bernstein, eine erfahrene Kinderpsychologin und in der buddhistischen Psychologie verankerte Meditationslehrerin, hatte anders auf die Übung reagiert als ich. Judy sah keinen Teil der eigenen Persönlichkeit, mit dem sie interagieren konnte. Die Vorstellung, voneinander getrennte Persönlichkeits-Einheiten zu haben, beunruhigte sie. Sie lief dem buddhistischen Konzept zuwider, dass der Glaube an ein Getrennt-Sein genau das ist, was zu Leiden führt. Im Buddhismus gilt: Je größer die Anhaftung an das Selbst ist, desto mehr menschliches Leid erfahren wir. Judy war also nicht allzu sehr von Schwartz’ Theorie angetan, sie war aber interessiert und wollte wissen, was diese Workshop-Woche bringen würde. Jean, meine Geschäftspartnerin, hatte einen sehr skeptischen Teil in sich selbst wahrgenommen. Er schien in ihrem Kopf zu sein. Sie sah ihn als männlich, er verdrehte die Augen und machte sich sarkastisch über die Übung lustig. Jean stellte mit einer gewissen Belustigung fest, dass die Skepsis sich als getrennter Teil über innere Bilder, körperliche Empfindungen und Sprache manifestierte.

Unsere unterschiedlichen Reaktionen dienten uns als nützliche Erinnerung an die Vielfältigkeit der Gefühle (oder wage ich, sie als Teile zu bezeichnen?), die ausgelöst werden, wenn wir mit neuen Informationen konfrontiert werden. Ich bin normalerweise offen und neugierig in Bezug auf neue Ideen und Konzepte. Nichtsdestotrotz löste das Erlernen eines komplett neuen Modells, das übliche Praktiken in der Psychotherapie auf den Kopf stellte, eine komplexe Reaktion aus. Wenn wir Therapeutinnen, die wir Jahre und vielleicht sogar Jahrzehnte in unsere Ausbildung und klinische Praxis investiert haben, von einem neuen Heilungsmodell erfahren, kann das Teile von uns aktivieren, die abschätzig, defensiv, skeptisch, unsicher sind oder sich unzulänglich fühlen. In meiner Laufbahn gab es mehrere Momente, in denen solche Gefühle aufkamen.

Ich erinnere mich, wie es war, als ich 1999 zum ersten Mal von EMDR hörte. EMDR wurde von Francine Shapiro (Shapiro 1998) entwickelt und ist eine psychotherapeutische Methode zur Verarbeitung von Traumata, die seitliche Augenbewegungen zusammen mit dem Fokus auf verstörende Gedanken oder Erinnerungen einsetzt. Eine meiner Patientinnen hatte eine Beratung mit einem EMDR-Therapeuten und verließ die Sitzung mit einem Gefühl der Erleichterung, die sie so in der psychoanalytischen Gesprächstherapie mit mir nicht erlebt hatte. Sie beschloss, ihre Therapie mit mir zu beenden und auf EMDR umzusteigen. Obwohl ich ihr alles Gute wünschte und sie in ihrer Entscheidung unterstützte, war ich innerlich am Boden zerstört: Ich fühlte mich unzulänglich, verwirrt und unsicher. Ich erinnere mich auch an eine sarkastische innere Stimme, die unverzüglich kommentierte: »Sicher – gehen Sie nur zu diesem Finger-Voodoo.«

Betrachte ich diese Erfahrung durch das IFS-Objektiv, verstehe ich sie nun ganz anders. Heute weiß ich, dass die sarkastische Stimme ein Beschützer-Teil war, der versuchte, meine Verletzung zu lindern. Meine Reaktion ist, so glaube ich, vielen Therapeuten und Therapeutinnen geläufig, die neue Methoden erlernen. Glücklicherweise blieb ich nicht in meiner abschätzigen und sarkastischen Haltung. Meine Neugier und meine Verpflichtung, mich über Neues in der Psychotherapie auf dem Laufenden zu halten, setzten sich durch und führten dazu, dass ich mich schon im darauffolgenden Jahr in EMDR ausbilden ließ. EMDR ist heute eine vom Department of Veteran Affairs anerkannte Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen sowie ein gut recherchiertes psychotherapeutisches Modell (van der Kolk 2018). Die EMDR-Therapie gehört heute zu den vielen nützlichen Werkzeugen, die ich bei meiner Arbeit mit Patienten einsetze. Meine Gefühle der Unsicherheit und der Skepsis zu tolerieren hat es mir ermöglicht, zu lernen, innerlich zu wachsen und meinen Patientinnen und Patienten ein vielfältiges Spektrum an therapeutischen Interventionen anzubieten.

Ich möchte Sie dazu ermutigen, sich beim Lesen dieses Buchs und der in ihm vorgestellten Konzepte der Bandbreite der in Ihnen entstehenden Emotionen bewusst zu werden. Bemerken Sie Ihre Neugier, Ihre Geringschätzigkeit, Ihre Skepsis oder alle Emotionen zusammen. Nehmen Sie Ihre Reaktionen und Gedanken wahr und versuchen Sie dann, ihnen zu erlauben, einfach nur zu sein. Wenn wir alle unsere Gefühle willkommen heißen, stellen wir eine innigere Beziehung zu unserer authentischen inneren Erfahrung her. Und das kann schlussendlich zu einer noch größeren Offenheit gegenüber den vielfältigen Erfahrungen unserer Patienten führen.

Während der Woche in Cape Cod hörten wir Vorträge, trafen uns in kleinen Gruppen mit IFS-Therapeuten und sahen praktische Demonstrationen der Methode. Judy Bernstein, Jean und ich beobachteten weiterhin unsere Reaktionen auf dieses neue Modell. Jeans skeptischer Teil war sehr aktiv, und sie beschloss, an einer Demonstration mit Schwartz vor 75 Klinikern teilzunehmen. Wir alle sahen, wie Jean einen »Hüterin«-Teil und einen »Skeptikerin«-Teil identifizierte. Schwartz bat Jeans »Skeptikerin«, beiseitezutreten und Jean zu ermöglichen, mit ihrer »Hüterin« zu arbeiten, damit sie selbst entscheiden konnte, ob IFS half. Wir sahen, wie Jean offen mit einem Teil von ihr arbeitete, dem die Verantwortung oblag, sich in ihrer Ursprungsfamilie um viele jüngere Geschwister zu kümmern. Dieses Erlebnis war zutiefst bewegend. Am Ende der Sitzung bat Schwartz die »Skeptikerin«, zurückzukommen und die Sitzung zu kommentieren. Die »Skeptikerin« sagte: »Ich brauche nun einmal Beweise, und die habe ich jetzt bekommen.« Jean war von da an überzeugt und ist heute selbst eine versierte IFS-Therapeutin.

Judy betrachtete einige ihrer Kindheitserfahrungen durch das IFS-Objektiv und fand dies sehr hilfreich. Obwohl sie dann doch keine IFS-Ausbildung machte, wendet sie bis heute Konzepte aus dem IFS-Modell mit ihren Patientinnen an. Meine Reaktion auf den Workshop war ein komplettes Überwältigt-Sein angesichts der scheinbar großen Gemeinschaft, die in meinem Kopf lebte und deren Mitglieder meine Aufmerksamkeit verlangten. Ich bat meine Gruppenleiterin Joanne Gaffney um eine Einzelsitzung. Ich wollte wissen, ob das Arbeiten mit einigen dieser nunmehr aktivierten Teile helfen würde. Aus erster Hand erlebte ich den fließenden Verlauf einer IFS-Sitzung: das meditative Tempo, die Arbeit mit jeweils nur einem Teil, das Gefühl der tiefen Verbundenheit mit einem Teil der eigenen Persönlichkeit. Die Sitzung beruhigte meine innere Familie und bestärkte mich in meinem Entschluss, mich in IFS ausbilden zu lassen. Der wichtigste Schritt war für mich, selbst eine IFS-Therapie zu machen. Ich fing an, regelmäßig mit Joanne zu arbeiten. Joanne ist meine wichtigste IFS-Lehrerin. Sie half mir, persönliche Wunden zu heilen, und sie hat mir das Potenzial von IFS vermittelt.

Eine persönliche Erfahrung vom Beginn meiner eigenen Therapie veranschaulicht dieses Modell möglicherweise besser. Die meisten von uns haben innere selbstkritische Stimmen. IFS bezeichnet diese Stimmen als »Innere Kritiker«. Trotz meiner beruflichen Erfolge und tiefen Verbundenheit mit geliebten Menschen war mein Innerer Kritiker sehr aktiv. Joanne half mir, diesen Inneren Kritiker näher zu erkunden und mich auf ihn als inneren Teil zu konzentrieren. Ich war überrascht und zugleich belustigt, dass, wenn ich die Augen schloss, um mich auf diesen Teil einzustimmen, dieser sich als der höhnische Bösewicht Snidely Whiplash aus einem Zeichentrickfilm meiner Kindheit manifestierte! (Bild 1.1)

Bild 1.1: Mein Innerer Kritiker: der höhnische Bösewicht »Snidely Whiplash«