Die Technik reicht nicht - Gernot Gwehenberger - E-Book

Die Technik reicht nicht E-Book

Gernot Gwehenberger

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Beschreibung

Anlass für das Buch ist die Frage: Reicht die Kreativität der Menschheit für ihr langfristiges, gutes Fortbestehen? Eine abschließende Antwort gibt’s natürlich (noch) nicht. Vieles spricht jedoch dafür, dass die technologische Kreativität nicht ausreicht, für besagtes Ziel. Um dieses Ziel zu erreichen, sind daher zusätzliche Kreativitäts-Potentiale nötig. Solche werden im vorliegenden Buch vorgeschlagen und vorgestellt: das „biographische“, das „mythologische“ und eine spezielle Anwendung des „technologischen“ Potentials. Der Autor verweist auf die Möglichkeiten des biographischen Potentials, indem er Episoden aus der eigenen bunten Familiengeschichte erzählt, bei denen es vor allem ums Erfahren von Grenzen geht. Er experimentiert mit dem mythologischen Potential, indem er Prometheus begleitet, wie er mit einschlägigen Vertretern der griechischen Götterwelt diskutiert. Es geht ums Verteilen der Verantwortung für eine gute Zukunft. Anschließend geht es ums Strukturieren des einschlägigen Wissens mittels des technologischen Potentials. Im letzten Kapitel geht es um aktuelle Fragen.

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Reicht die Kreativität der Menschheit, für ein langes, gutes Fortbestehen? Auf diese Frage wird wohl erst die ferne Zukunft eine abschliessende Antwort geben. Doch vieles spricht schon heute dafür, dass die technische Kreativität und der technische Fortschritt nicht ausreichen für besagtes, gutes Fortbestehen.

Daher sind zusätzliche Potentiale gefordert. Solche werden im vorliegenden Buch vorgeschlagen. Sie werden als „biographisches“ und als „mythologisches“ Potentials bezeichnet.

Der Autor verweist auf die Möglichkeiten des biographischen Potentials, indem er Episoden aus der eigenen bunten Familiengeschichte erzählt, bei denen es vor allem ums Erfahren von Grenzen geht.

Er experimentiert mit dem mythologischen Potential, indem er Prometheus begleitet, wie er mit anderen Vertretern der griechischen Götterwelt diskutiert. Es geht ums Verteilen der Verantwortung für eine gute Zukunft.

Anschliessend geht es ums Strukturieren des einschlägigen Wissens mittels des technologischen Potentials. Im letzten Kapitel geht es um aktuelle Fragen.

Autor

Gernot Gwehenberger (*1941), ist Mathematiker, Statistiker und Informatiker, Erfinder einer vielseitigen IT-Methode. Sein Vater war ein Wirtschaftsflüchtling aus einem entlegenen Salzburger Alpendorf, seine Mutter war eine in Bosnien geborene Pfarrerstochter.

Im biographischen Teil des Buchs werden weitere Vorfahren erwähnt, etwa David Gloxin (vertrat als Bürgermeister von Lübeck die Hanse am Westfälischen Frieden) oder Gritli, Tochter eines Dekans aus St. Gallen.

Inhalt

1. Prolog: Grenzen der Technik

1.1 Eine einfache Überlegung

1.2 Drei Fragen

1.3 Was darf erwartet werden?

1.4 Turmbau aus Kieselsteinen

2. Vom biographischen Potential

2.1 Gedichte eines Schulmädchen vor 1900

2.2 Vorfahren aus Salzburg und Bosnien

2.3 Vorfahren aus St. Gallen

2.4 Vorfahren aus Mannheim und Konstanz

2.5 Vorfahren aus Lübeck und Halle

2.6 Software und Weltgesellschaft

2.7 Schlussfolgerungen

3. Vom mythologischen Potential

3.1 Prometheus, Verführer und Retter?

3.2 Zwischen Justitia und EVO

3.3 Prometheus bei Zeus

3.4 Prometheus bei Hera

3.5 Busbesichtigung

3.6 Ein Bus mit Defekten

3.7 Die Götter träumen

3.8 Pluto erscheint, es wird gestritten

3.9 Masslose Verheissungen der Götter

4. Vom technischen Potential

4.1 Start einer neuen Technologie

4.2 Stichwort ‘Menschheit’

4.3 Stichwort ‘müssen’

4.4 Stichwort ‘Realität’

4.5 Stichwort ‘anpassen’

4.6 Stichwort ‘überleben’

5. Modelle zur Zukunftsfähigkeit

5.1 EVOs Modell: Vorbild Natur

5.2 Justitias Modell: Fünf Gesetze

5.3 Modell des Prometheus: Symmetrien

5.4 Plutos Modell: Regelkreise nutzen

5.5 Heras Modell: Weniger ist mehr

5.6 Modell des Zeus: Glaube und Einsatz

6. Epilog

6.1 Illusionen

6.2 Beispiele

6.3 Motive

6.4 Fussabdruck, Bürgergeld, Klima

6.5 Gefühle

6.6 Kreisläufe der Wirtschaft

6.7 Dialog mit den Religionen

6.8 Dialog über die Menschenrechte

6.9 Ausblick

1.Prolog: Grenzen der Technik

1.1Eine einfache Überlegung

Mal angenommen, die Erde wäre zehnmal kleiner, wäre dann die Menschheit längst untergegangen? Oder umgekehrt, wäre ihr eine gute Zukunft gesichert, wenn unser Planet zehnmal grösser, zehnmal reicher wäre?

Geht man diesen Fragen nach, wird man finden, dass Grösse und Reichtum der Erde nicht entscheidend sind für die Überlebensfähigkeit der Menschheit. Daraus ergibt sich aber auch, dass der technische Fortschritt nicht reicht, diese Überlebensfähigkeit zu sichern. Denn die übliche Leistung der Technik besteht darin, immer mehr nötiges und unnötiges verfügbar zu machen und dadurch gleichsam die Erde grösser zu machen, was – wie gesagt – nicht entscheidend ist1.

Was für den technischen Fortschritt gilt, gilt leider auch für die sich dank dem technischen Fortschritt ergebenden Möglichkeiten wie Entwicklungshilfe, soziale Netze, Reagieren auf die Klimaerwärmung, etc. Auch diese Dinge können die Erde zwar gleichsam grösser machen, aber das reicht nicht, der Menschheit ein langfristiges, gutes Fortbestehen zu sichern.

Die Technik kann allerdings Zeit gewinnen, um zusätzliche Kreativitäts-Potentiale zu nutzen für die wichtigste Aufgabe der Menschheit, nämlich sich selbst Grenzen zu setzen. Solche Potentiale findet man, indem man Fragen zur Zukunft der Menschheit stellt, welche die übliche Technik nicht beantworten kann. Daran anschliessend muss man nach Kreativitäts-Potentialen suchen, die das können.

1.2Drei Potentiale

Erste Fragen, erstes Potential

Wie kann sich die Menschheit die nötigen Grenzen setzen, um ihre Lebensgrundlagen zu erhalten? Wie kommt man auf gleiche Augenhöhe zwischen Norden und Süden? Was kann man aus bisherigen Erfahrungen lernen?

Dazu folgendes: Die Kopfzahl der Menschheit wurde Jahrtausende lang durch Hunger, Seuchen und Kriege in Grenzen gehalten. Doch das ist nicht alles. Weltweit gab’s noch ein geringfügig humaneres Mittel, nämlich Zwang, der die Familiengründung für Unterprivilegierte erschwerte, oft auch verhinderte.

Das Erinnern daran ist wichtig. Denn heute wie damals geht es ums Setzen von Grenzen. Im Unterschied zu früher sind heute faire und wirksame Lösungen möglich. Die heute geforderten Einschränkungen sind weit geringer als die damaligen. Es geht dabei auch um Augenhöhe zwischen Erster und Dritter Welt beim fairen Verteilen der Verantwortung.

Als Beispiele für früheren Zwang werden hier biographische Erfahrungen vorgestellt. Ich beschränke mich auf Beispiele aus der eigenen Familienbiographie. Diese ist meiner Meinung nach so vielseitig und bunt, dass sie eine repräsentative Auswahl ermöglicht.

Trotzdem nutze ich die eigenen Familien Biographie nur weil ich über kein besseres Auswahlverfahren verfüge, um auf die Erfahrungen der vielen Menschen zu verweisen, die gezwungen waren, auf Nachkommen zu verzichten. Denn diese Erfahrungen sind schwer zugänglich, weil Menschen ohne Erfolg und ohne Nachkommen wenig Spuren hinterlassen. Diese Erfahrungen sind aber unverzichtbar, weil sie die heute nötigen Einschränkungen als fair erscheinen lassen. Beim Thema des Buches (Grenzen setzen) geht es auch um Gefühle und nicht nur um Zahlen. Daher wird auch auf Details eingegangen.

Zusätzlich zu den Beispielen, die gesellschaftlichen Zwang und dessen Auswirkungen zeigen, werden andere Beispiele aufgeführt, die zeigen, wie Privilegierte sich einsetzten fürs Gemeinwohl und speziell für die Benachteiligten.

Zweite Frage, zweites Potential

Die Geschichte der Menschheit wird bestimmt durch ihr Bestreben Kopfzahl und Konsum immer wieder zu verdoppeln. Dies ergibt ein Spiel von Druck und Gegendruck. Die «Mächte», die den Lauf der Menschheit beeinflussen, tun dies, indem sie in dieses Spiel eingreifen.

Wie können diese Mächte «ins Gespräch mit einander kommen», um gute Wege in die Zukunft aufzuzeigen? Die Antwort des vorliegenden Buchs lautet: Diese Mächte lassen sich durch mythologische Figuren repräsentieren, die miteinander diskutieren und streiten. Prometheus als Initiator des Fortschritts wird konfrontiert mit dessen bedrohlichen Nebeneffekten. Er wird beauftragt, gemeinsam mit den Vertretern der anderen Mächte Wege aus dem Schlamassel zu finden.

Diese anderen Mächte werden repräsentiert durch Göttin Justitia, die das Rechtswesen und auch die Menschenrechte vertritt; durch EVO, die für die Evolution und die Naturgewalten steht; durch Hera und Zeus als Vertreter der Emanzipation und der Religionen sowie schliesslich durch Pluto, der die Wirtschaft repräsentiert. Am Rande erwähnt wird auch Apoll als Vertreter der Kunst.

Zum dritten Potential

Beim dritten Kreativitäts-Potential geht es ums Realisieren. Ausgangspunkt ist folgende Erfahrung: Für einfache Probleme genügt normaler Verstand. Für Schwierigeres braucht man «Werkzeug». Schliesslich, für komplexe Aufgaben, an denen viele Menschen beteiligt sind, braucht man eine «Technologie».

Als Resultat ihrer Gespräche beschliessen die oben genannten Götter, eine solche Technologie zu bauen. Sie soll nach folgendem Leitmotiv strukturiert werden: «Die Menschheit muss sich der Realität anpassen, um zu überleben» Für das Klarkommen mit jedem der fünf Schlüsselworte im Motiv (Menschheit, müssen, Realität, anpassen und überleben) wird im «Götter-Gespräch» jeweils eine Methode vorgeschlagen, als Grundausstattung der neuen Technologie.

1.3Was darf erwartet werden?

Beim Einsatz der drei Potentiale muss folgendes herauskommen:

1.) Alle Menschen, die das wollen, können sich vorstellen, wie sich der Weg der Menschheit in die Zukunft auf gute Weise fortsetzen lässt.

2.) Das Wirken der Mächte, die diesen Weg mitbestimmen, ist transparent. Die positiven Einflüsse können genutzt, die negativen kontrolliert werden.

3.) Eine leistungsfähige «Technologie» stellt dazu Methoden zur Verfügung.

1.4Turmbau aus Kieselsteinen

Warum befasse ich mich mit dem Thema? Da wäre zunächst mal die Familien-Geschichte zu nennen. Einige Vorfahren haben einiges erreicht, beim Streben nach Fortschritt und Gerechtigkeit. Doch gerade die wirksamsten Beiträge zum Fortschritt gleichen Kieselsteinen, die einen Turm bilden. Neu hinzu gefügte Steine können den Turm erhöhen aber auch wieder teilweise zum Einsturz bringen.

Dazu kam als weiterer Anlass die Mitarbeit in einer aus Freiwilligen bestehenden Gruppe, die zu Ende der Achtzigerjahre (1987–1990) die Asylanten betreute, die meinem Wohnort (Dornach bei Basel) zugewiesen worden waren. Dabei war ich für Öffentlichkeitsarbeit zuständig und schrieb vier Artikel fürs örtliche Wochenblatt.

Ansonsten war ich Informatiker und Statistiker in einer Grossfirma. Auch diese Arbeit weckte Zweifel am technischen Fortschritt. Einerseits eröffnet er uns viele Möglichkeiten. Andererseits erzeugt er neuartige Konflikte, die unsere scheinbar heile Erste Welt vor grosse Herausforderungen stellen.

Als Techniker bin ich verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass die Technik nicht reicht für eine gute Zukunft. Davon sind schlussendlich alle Menschen betroffen. Es braucht eine tabufreie Diskussion, selbst auf die Gefahr hin als egoistisch und unmenschlich gesehen zu werden.

1 Vermutlich wäre eine kleinere, übersichtlichere Erde günstiger für die Überlebensfähigkeit der Menschheit.

2.Vom biographischen Potential

2.1Gedichte eines Schulmädchen vor 1900

Noch während ihrer Schulzeit schrieb meine Grossmutter mütterlicherseits (Gertrud Doell, geb. Niemeyer, 1879–1957, Tochter des Verlegers Max Niemeyer) ein paar Gedichte. Drei davon zitiere ich, weil sie typisch sind fürs Bemühen der Menschen, die Zukunft zu erfassen und zu gestalten. Es geht ums Nachsinnen, ums Herausfordern der Wahrheit und ums Fragen. Hier das erste Gedicht aus einem Heftchen mit etwa 50 Gedichten:

Der Brunnen.

Im Walde des Lebens ein Brunnen rinnt.

Dran sitzt ein Mädchen, es sinnt und sinnt.

Der Brunnen rauscht so klar und hell.

Das Mädchen lauscht. Die Zeit flieht schnell.

Im Walde des Lebens ein Brunnen rinnt.

Dran sitzt die Greisin, sie sinnt und sinnt.

GN (= Gertrud Neomarius, wie sich die kleine Dichterin bezeichnete)

Das Sinnen reichte schon damals nicht. Heute muss ein konkretes Ziel angepeilt werden: Wir sollen uns aufführen als bewahrende Besucher unseres schönen Planeten. Wenn nur genug Menschen nach einem guten Weg der Menschheit suchen, muss ein gutes Resultat heraus kommen.

Nach diesem nachdenklichen Gedicht ein trotziges. Es geht ums Erfassen und Akzeptieren der Realität als Grundlage für erfolgreiches Handeln.

An die Wahrheit.

Tritt her zu mir du nacktes Weib.

Mit deiner Fackel roten Glut.

Öffne den Blick mir gross und weit.

Ich hab zum Sehen Mut.

Du weist mir Kampf, du weist mir Not

Hier Hass, hier Liebe, dort Verrat;

Auch Freude glühend, flammenrot

Hingabe, Irrsinn, Freveltat

Tritt her zu mir du nacktes Weib.

Ich habe Herz und habe Mut.

Zum Lebenskampf bin ich bereit,

mich schreckt nicht deiner Fackel Glut.

GN

Das letzte Gedicht ist eine einzige Frage.

An die Sphinx

Ich steh vor dir, du rätselhaftes Wesen. Ich frag: «Was soll das Leben, was ist Tod?» Wozu Geburt, das Wachsen, Ringen, Werden, das Streben nach Vollendung, einem Ziel?

Ist doch das Endziel Finsternis und Sterben. Es ringt der Geist ein ganzes, langes Leben. Er ringt und kämpft, er sinkt und strebt empor. Um wieder nur zu fallen, sich zu heben;

Zuletzt doch sinkend in ein Nichts. Dem Tod verfallen, dem kein Blühen folgt. Ist Werden nur ein Kampf, geweiht dem Tod nach ewigen Gesetzen, die sich streng erfüllen?

Gib Antwort mir, du rätselhaftes Wesen. In stiller Grösse ruhest du unnahbar, unerforschlich unserm Geist, der nie ergründet, was die Tiefe birgt.

GN

Den drei Gedichten meiner damals jungen Oma ist gemeinsam, dass sie nach Sinn und Perspektiven suchen. Es geht um Fragen, auf die es damals keine breit akzeptierten, guten Antworten gab. Es gab vor 1914 keine Perspektiven, die den Krieg verhindern konnten.

Wie steht es heute mit der Sinnsuche? Auch heute gibt es eine grosse Aufgabe: die Suche nach der Zukunftsfähigkeit der Menschheit. Das vorliegende Buch gibt kein Patentrezept. Es verweist jedoch auf drei Potentiale, die ausreichen sollten.

Dieses Kapitel behandelt das biographische Potential. Es kann hilfreich sein, einige Fragen zur Zukunftsfähigkeit zu behandeln: Warum ist die Weltbevölkerung bis vor ca. einem Jahrhundert nur wenig gewachsen? Was unternahmen die Privilegierten, um den Graben zwischen Arm und Reich erträglich zu machen?

2.2Vorfahren aus Salzburg und Bosnien

Die Grossmutter aus Göriach (Land Salzburg)

Zur ersten Frage. Warum wuchs die Bevölkerung früher nur wenig? Eine Ursache war gesellschaftlicher Zwang. Wie dieser im täglichen Leben wirkte, dazu im Folgenden einige Beispiele aus meiner Familie. Ich beginne mit Erinnerungen an meine Grossmutter väterlicherseits, meine Göriach-Oma (Rosina Gwehenberger, 1884 – 1975).

Göriach, ein Dorf in den Ostalpen hat knapp 400 Einwohner, verteilt auf drei Ortsteile. Dort verbrachte ich im Alter von 9 bis 13 Jahren die Sommerferien bei den nächsten Verwandten meines Vaters, der dort geboren ist. Göriach liegt über 1200m Höhe, umgeben von Wäldern und Bergen, die bis über 2800m ansteigen. Das Dorf liegt im Lungau, dem südlichsten Teil des Bundesland Salzburg, eingerahmt von zwei Alpenketten.

Die dortigen Verwandten waren meine Oma und zwei ihrer fünf Kinder, nämlich Onkel Martin und Tante Maria. Sie bewohnten eine alte Blockhütte (die Sagschneidergeusche, 1673 erbaut2). Onkel und Tante waren ledig und beide blieben ohne Nachkommen.

Oma hatte im Jahre 1912 mit 28 Jahren geheiratet. Mein Grossvater (Martin Quechenberger, 1854–1922) war da 58 Jahre alt. Oma hatte vor der Heirat als Magd zwei Kinder weg geben müssen. Nach der Heirat bekam sie drei weitere Kinder, wie erwähnt Martin, Maria und meinen Vater Josef (1916–1998).

Nach zehn Ehejahren starb Grossvater mit 68 Jahren an Lungenentzündung. Er war ein Bauernsohn ohne Erbberechtigung aus dem nördlich des Alpenhauptkamms gelegenen Tennengau. Von dort war er über die Alpen in den Lungau gegangen. Als Schindelmacher und Sägereiarbeiter hatte er ein Leben lang gearbeitet und gespart. Dadurch konnte er nach und nach ein paar handtuchgrosse, weit verstreute Felder (gerade genug für 2 Kühe) und eine uralte Blockhütte erwerben, bevor er heiraten konnte.

Früher ging’s nicht, denn im Lungau gab es faktisch ein Heiratsverbot für arme Leute.3

Meine Göriach-Oma hatte schon deshalb meine Zuneigung, weil sie beim abendlichen Gespräch in der Wohnküche meinen Vater in Schutz nahm. Das war nötig, denn da zogen Onkel und Tante lang und breit über meine Eltern her.

Vater habe mit 17 Jahren (das war 1933) seine Schuhmacher Lehre hingeschmissen4, war einem Rattenfänger nachgerannt und habe aus der Fremde eine denkbar unpassende Frau mitgebracht5: Eine Deutsche, evangelisch, mittellos und erst noch mit roten Haaren.

Oma verteidigte meinen Vater, fand gute Worte über ihn. Leider goss das zusätzlich Öl ins Feuer. Ich bat sie daraufhin, Maridl und Martin doch einfach reden zu lassen. Da meinte sie erstaunt: «Mei is der Bua gscheit.»

Tante Maria teilte diese Meinung nicht ganz, wie aus folgendem Brief hervorgeht, den sie meinem Vater schrieb: «Lieber Bruder! Heute will ich mal auch ein paar Zeilen dazuschreiben. Gernot ist ja brav und folgt, aber leider, die Arbeit lernt er so sehr schwer. Ich meine es ja gut mit ihm, aber so schwer fassen tut er. Es möchte einen direkt schrecken.…. Die Schneider Sefa ist auch nicht älter, die melkt schon, muss immer beim waschen mithelfen, die Maurer Anna kennt auch schon hübsch alle Arbeit. Viele liebe Grüsse Maridl.»

Was Tante Maria über meine Fähigkeiten schrieb, war nicht falsch. Zum Beispiel gab’s da folgende Fehlleistung. Maridl hatte mich vertrauensvoll aufs Mutschillerzl geschickt (jedes Fleckchen Acker hatte seinen uralten Namen), Kartoffeln fürs Mittagessen zu holen, und da füllte ich doch tatsächlich den ganzen Eimer. Dabei hätten ein paar Handvoll für vier Leute gereicht, und die übrigen Kartoffeln wären noch prächtig gewachsen. Ich schlug vor, die überzähligen Knollen samt dem ausgerissenen Gestrüpp wieder einzupflanzen, und wollte auch tüchtig giessen. Doch das fand keine Zustimmung. Für mich wog die Fehlleistung schwer. Nahrungsmittel waren etwas Heiliges, Vergeuden war Frevel.

Abb: Meine Grosseltern aus Göriach, 1912

Zum Glück gab es Lichtblicke, etwa die von Tante Maria im Brief erwähnte Maurer Anna, etwa so alt wie ich. Ein einziges Mal war ich bei ihr eingeladen, vermutlich war gerade keine Kuh zu melken. Anna kannte ein rasantes Spiel. Es heisst: «Aussi beim Tempel» (auf Hochdeutsch: raus aus dem Tempel). Dazu braucht man einen Stapel gut gemischter Tarockkarten. Die beiden Spieler heben nacheinander immer wieder eine Karte ab. Wer als erster eine bestimmte Karte mit dem Bild eines Tempels vom Stapel abhebt, darf den anderen zur Tür rausschubsen, mit den harten Worten: «Aussi beim Tempel». Dann darf der Raus-geschmissene wieder rein, und es beginnt eine neue Runde. Für mich gab es nichts Schöneres als dieses Spiel. Nur schade, dass ich es nur an einem Tag spielen konnte. Es hat sich halt nicht öfter ergeben. Anna war ein Pflegekind. Tante Maria wusste viel später zu berichten, Anna habe einen Witwer mit vier Kindern geheiratet.

Zurück zu meiner Oma. Sie ging jeden Sonntag die fünf Kilometer über den Berg nach Mariapfarr, um dort beide Sonntagsmessen zu besuchen. Göriach erhielt erst 1973 seine Bruder Klaus Kirche. Früher ging’s nicht. Angeblich grollten die Salzburger Erzbischöfe den Göriachern, weil diese die letzten Steinböcke gewildert hatten. Für Oma waren die fünf Kilometer kein Problem. Sie war das Gehen gewohnt. Mit ihrem Leiterwagerl betrieb sie einen weit ausholenden Handel mit Eiern. Sie hatte dafür eine von der britischen Besatzungsmacht ausgestellte Bewilligung mit Foto.

Einen Sommer lang begleitete ich sie auf ihren Fahrten. Es ging von Göriach über Mariapfarr nach Mauterndorf und zurück über Tamsweg oder den umgekehrten Weg. Tamsweg ist mir dabei in besonders guter Erinnerung. Dort bekam ich von einer Kundin das schönste Geschenk meiner frühen Jugend, einen herrlichen Kohlrabi für mich ganz allein.

Wir waren den langen Sommertag unterwegs auf Feldwegen, wo heute Autostrassen sind. In St. Andrä zeigte mir Oma das Haus einer Verwandten (einer Fabrikarbeiterin), wo ihre Kinder jede Woche ein Brot abholen durften, damals in den 20er Jahren, nach dem Tod ihres Martins. Ein anderes Mal zeigte sie mir von weitem den Hof ihres Bruders Peter Winkler in Fanningberg und erzählte, Peter habe mal einen Sommer auf der Schanzl-Alm verbracht. Schanzl-Alm, so heisst im Volksmund der graue Gefängnisbau, der an der Schanzl-Gasse in der Stadt Salzburg liegt. Die Ursache des Aufenthalts war Wilddiebstahl.

Allerdings, mit meiner Mutter hatten nicht nur Onkel und Tante sondern auch Oma Probleme. Im letzten Kriegswinter verliess meine Mutter mit uns drei Kindern die mehrfach bombardierte Stadt Salzburg. Teile der Altstadt (im Kaiviertel), direkt hinterm Häuserblock, in dem wir wohnten (Sebastian Stief Gasse 2), waren getroffen worden.6 Wir sassen bei dem Angriff im von Staub erfüllten Keller, während oben die Fensterscheiben zerbarsten, und der Ofen im Wohnzimmer Sprünge bekam. Vater war nach einem Kopfschuss (Gehirnquetschung) nicht mehr (als Gebirgspionier) an der Front, sondern in einem Ausbildungslager in Ulm, wo er seinen Meister als Schuhmacher machte. Meine jüngste, wenige Wochen alte Schwester bekam die Stollenkrankheit, (Lungenentzündung) als Folge der Aufenthalte in den feuchten Luftschutz Stollen der Salzburger Hausberge. Mehrere Babys waren an der Krankheit gestorben. Unser Arzt riet daher zum Verlassen der Stadt.

Mutter zog nach Göriach, obwohl mein Vater abgeraten hatte: «Geh überall hin, nur nicht nach Göriach.» Sie hielt sich nicht dran: «Es sind doch Deine Verwandten.» Wir bekamen eine Kammer im Blockhäuschen und Lebensmittelkarten, unter anderem für zwei halbe Liter Milch, die Mutter bei zwei Bauern, dem Hiasen und dem Hoisen auf den beiden entgegen gesetzten Talseiten holen durfte.

Fremde Kühe frassen derweil die Windeln von der Leine. Mutter wusste nicht, dass der Grund rings um die Geusche Allmend ist. Eine Windel konnte Mutter retten, indem sie das grün eingefärbte Stück aus dem Maul einer Kuh zog. Die Kartoffeln holten wir vom Hof des Ortsbauernführers. Mutter liess sich überreden, zunächst nur die Hälfte abzuholen. Denn das Hütterl hatte keinen Keller, und die kühle Vorratskammer war tabu, eine verbotene Schatzgrotte voll unvorstellbaren Köstlichkeiten. Um die Weihnachtszeit wollte meine Mutter die restlichen Kartoffeln holen. Da waren diese halt leider schon verbraucht.

Meine Mutter hatte es nicht leicht, und Oma sah das auch ein. Einmal stellte sie sich vor Mutter hin und meinte: «Ich könnte Dir ja gut helfen, aber Du sollst selber sehen, wie es ist, mit vielen Kindern.» Man darf Oma das nicht übel nehmen. Sie hatte selbst unter einer Politik gelitten, deren Ziel es war, das Bevölkerungswachstum den Ressourcen anzupassen. Im Lungau liess diese Politik das Heiratsalter massiv ansteigen7 und ebenso die Zahl der ledigen Kinder. So stieg deren Prozentsatz in der Pfarrei Mariapfarr, zu der Göriach gehört, von 8% im Zeitraum 1820–1824 (bei insgesamt 401 Geburten) auf 33% im Zeitraum 1920–1924 (bei insgesamt 351 Geburten). Die «Illegitimitätsrate» in Lessach, dem östlichen Nachbardorf von Göriach betrug 45.7%.8

Oma hatte diese Politik, unter der sie selbst gelitten hatte, akzeptiert. Und so machte sie etwas Ähnliches wie die chinesische Regierung, die Eltern mit mehr als dem einen erlaubten Kind die Unterstützung kürzt.

Den letzten Sommer, den ich in Göriach verbrachte – ich war dreizehn - gab es auf den Schlägen der umliegenden Gebirgswälder viele Erdbeeren. Also zog ich fast jeden Morgen los mit einer leeren Milchkanne, dazu ein Stück Brot und ein Stück Speck. Barfuss tauchte ich ein in die dunklen Bergwälder mit ihren Inseln aus sonnigen Schlägen. Am Abend war die Kanne voll, die am nächsten Tag von Oma per Leiterwagen nach Mariapfarr gebracht wurde. Dort verkaufte sie die Beeren für 15 Schilling einem Gasthaus. Am Ende der Ferien waren 360 Schillinge zusammengekommen (das Resultat von 24 Erntetagen). Tante Maria nähte das Geld in eine Jacke, die sie heimlich für mich gestrickt hatte. Tante Maria weinte beim Abschied.

Einiges spricht dafür, dass auch Tante Maria und Onkel Martin gerne eigene Familien mit Kindern gehabt hätten. Die ersten beiden Kinder von Oma, die sie hatte weggeben müssen, konnten dieses Ziel erreichen. Omas erstes Kind, unsere Tante Kathl (Katharina Klingler 1904 bis 1980), hatte acht Kinder. Ein Sohn, Josef Klingler (1947–1999) war 6 Jahre lang Präsident der österreichischen Richtervereinigung. Er starb mit 52 Jahren bei einem Fahrrad-Unfall.

Die Grossmutter aus Bosnien

Gertrud Doell, meine Grossmutter mütterlicherseits wohnte in Herrnhut (in der Oberlausitz), damals in der sowjetischen Besatzungszone. Die Stadt Salzburg hingegen gehörte zur amerikanischen Zone in Österreich. Diese unterschiedliche Zugehörigkeit ergab ein Problem, als uns Oma im Jahre 1950 besuchte. Oma kam zunächst nur bis Freilassing auf der deutschen Seite der Grenze, gegenüber von Salzburg. Als meine Mutter sie abholen wollte, wurde ihr mitgeteilt, dass Oma nicht nach Österreich dürfe.

Meine Mutter fragte, was man da machen könne. Der Zollbeamte murmelte etwas von bösen Menschen, die einfach über die grüne Grenze gingen. Meine Mutter wollte genaueres wissen. Der Beamte meinte: «Das ist ja, wie wenn man einen Polizisten um Tipps zum Klauen fragt.» Dann beschrieb er den Weg.

Oma blieb drei Wochen in Salzburg. Sie war kaum eine Woche bei uns, da wurde ich zur anderen Grossmutter nach Göriach geschickt. Ich erfuhr per Brief (datiert vom 16.7.1950) von Omas Abreise nach Herrnhut.

Diese eine Woche im Juni 1950 war die einzige Zeit, in der ich mit Oma Gertrud zusammen war, und so kann ich mich nur schwach an sie erinnern. Viel später wurde sie mir vertraut durch ihr «Bosnisches Tagebuch». Sie hatte es begonnen, als ihr Mann, mein Grossvater Georg Doell (1886–1966) im Jahre 1910 mit 23 Jahren seine erste Pfarrstelle in Schutzberg, Bosnien antrat.

Das Tagebuch beginnt mit der Schilderung eines einsamen Abends in Schutzberg, während Grossvater mit dem Pferd in der weiten Pfarrei unterwegs ist.9

«Schutzberg, Sonntag den 22. Januar 1911

Es ist etwas Eigenartiges um die absolute Einsamkeit. So wie ich jetzt und schon öfters einsam bin. Leer ist das ganze Haus, nur die Uhr tickt und das Feuer im Ofen vollführt sein heimeliges Geräusch. Doch einsam sein ist nicht betrübend, wenn man gute Gedanken hat, frohe Zuversicht und Mut im Herzen. Und vor allen Dingen auf einen lieben Menschen wartet, der bald zurückkehrt. Heute scheint die liebe Sonne und vergoldet Berge und Täler und die Häuser unseres Dorfes. Unser Dorf, wo all unser Wirken liegt, all unsere Liebe. Und die bange Frage taucht wohl manchmal auf: Wie wird unser Wirken hier Früchte tragen?

Die Zustände hier sind zerrüttet, die Menschen oft rau, unehrlich, trunksüchtig. Dann muss man wohl auf Gott schauen und sagen: „Herr ohne Deine Hilfe vermögen wir nichts.“ Dann kommt Mut ins Herz, und man sehnt sich nach mutiger Arbeit.10 Es gibt hier auch Menschen, die man lieben und achten muss. Doch nicht die brauchen uns am nötigsten…»

Omas Tagebuch beginnt mit der Beschreibung ihrer Situation als Pfarrersfrau im neuen, noch feuchten Pfarrhaus. Doch abgesehen davon, dass sie sich beklagt, dass ein Teil der Decke runterkam und ihre Möbel Schimmel ansetzten, ist sie voll Zuversicht.

Bald jedoch zeichnet sich doppeltes Unheil ab: der Beginn des Ersten Weltkriegs und der wachsende Graben zu ihrem Jürg. So schreibt sie:

«Schutzberg den 30. Juni 1914.

Gestern verlebten wir einen harmonischen Sonntag. …Am Nachmittag ging Rosemarie (Anm.: Omas 1911 in Sarajevo geborene erste Tochter) mit zu Ziers, um mit Mariechen zu spielen. Und nun hatte ich meinen Jürg mal ganz für mich. Wir tranken gemütlich Tee und setzten uns dann in den Garten mitten in die Nelkenpracht hinein. Ich vergass alles um mich her und erschrak als es schon Essenszeit war. Rosemarie kam ganz glücklich hier an. Nach dem Essen gingen wir wieder in den Garten, und erzählten uns von früheren Zeiten. Der Mond schien und Glühwürmchen flogen vereinzelt herum. Es war ein milder Abend, wie er selten hier ist.

Heute war nun ein Trauertag. Gleich früh erfuhren wir, dass der österreichischen Thronfolger mit Gemahlin in Sarajevo ermordet ist. Wir waren tief ergriffen.»

Dann der nächste Eintrag:

«Schutzberg den 2. Juli 1914

Heute kam der neue Bezirksvorsteher zu uns. Er hat mir den Eindruck eines tüchtigen, energischen Mannes gemacht. Gott gebe es, dass er dem schweren Amt gewachsen ist, auch gesundheitlich. Als wir am Tisch sassen, kam ein Gendarm herein mit einem Telegramm. Das Standrecht ist wieder über Bosnien verhängt.»

Abb: Kirche und Pfarrhaus Schutzberg/Bosnien 1910–1942 Die Herrnhut Oma mit ihren Kindern ca. 1916

Zwei spätere Einträge ins Tagebuch lauten:

«Schutzberg den 28. Juli 1914.

In einer kritischen Zeit leben wir gegenwärtig. Krieg oder Frieden. Hier werden schon die Leute samt Wagen und Pferden eingezogen. Eine allgemeine Erregung herrscht. Und allerlei Gerüchte dringen zu uns. Zum Beispiel, dass Belgrad erobert sei von Österreich. Fast jeder spricht nur von Krieg, und der Schrei nach Rache ist allgemein. Dazwischen erleben wir so gemütliche Stunden mit unsern Gästen aus Schottland. Es wird musiziert und erzählt von Reisen, Büchern und Kunstschätzen. Schade, dass sie übermorgen schon fort wollen.

Schutzberg den 29. Mai 1915

Am 30. März wurde uns in Teslić das zweite Töchterchen geschenkt (Anm.: meine Mutter). Über 3 Monate war ich in Teslić gewesen. Jetzt droht uns auch Italien mit Krieg. Wie soll das Ende sein? Doch mit Gott vorwärts. Alles liegt in seiner Hand. …..Am 7. Mai wurde unsere Kleine getauft. Anna Luise, Hertha. Sie ist ein goldiges Kindchen und für uns eine Quelle der Freude.»

Danach verschwinden die Tagebucheintragungen. Oma füllt die Seiten mit Gedichten. Es geht um die Sehnsucht nach Frieden und um die Entfremdung von ihrem geliebten Jürg, die schliesslich zur Scheidung führte.

«Sehnsucht

Oh Vogel der Sehnsucht.

Wie weit, wie weit

Eilst du über die Erde

Blutig und tränenschwer dein Kleid

Ach, dass es Friede werde.

Oh Vogel der Sehnsucht

Wie kling, wie klingt

Dein Ruf so voller Trauer

Die ganze Erde leise singt

Erfasst von tiefstem Schauer.

Oh Vogel der Sehnsucht

Wie tropft, wie tropft

Dein Herzblut für uns alle

Du hast an jede Brust geklopft.

Oh lass die Friedensglocke schallen.

Das Tagebuch meiner Grossmutter enthält etwa 40 Gedichte. Diese befassen sich mit ihrem persönlichen Schicksal und mit der Betroffenheit durch den Weltkrieg. Ihre Briefe hingegen handeln von den privaten Dingen des Alltags. Es geht um die Kinder und um die Eltern und Geschwister im fernen Halle.

Die eigentliche Geschichte von Schutzberg wird beschrieben in einem Buch von Pfarrer Ferdinand Sommer, der von 1922 bis 1942 und damit bis zur Evakuierung von Schutzberg dort gewirkt hat. Die Evakuierung wurde durch die katastrophale Sicherheitslage erzwungen, die gekennzeichnet war durch einen Belagerungsring. Das Bebauen der Felder war nur noch unter Lebensgefahr möglich.11

So endete die Geschichte des Dorfes, wie sie begonnen hat: mit Katastrophen. Nach der 1897 erfolgten Gründung von Ukrinskilug, der Vorgänger-Siedlung von Schutzberg «nahm der Friedhof in wenigen Monaten 91 Tote auf.12» Der Ort lag in einer sumpfigen, von Hochwasser und Malaria bedrohten Waldlandschaft, die mühsam gerodet wurde. Beim Umzug der 106 Siedlerfamilien ins höher gelegene Schutzberg starben 1902/03 im ersten Winter 38 Kinder. Die neuen Häuser waren noch nicht fertig. «Eine Siedlerfamilie lebte über den Winter in einem hohlen Eichbaume.13»

2.3Vorfahren aus St. Gallen

Gritli aus St. Gallen

In unserer Salzburger Wohnung hing ein Bild von einem Schloss in der Schweiz. Urgrossvater Karl Doell aus Freiburg im Breisgau hatte folgendes auf die Rückseite geschrieben: «Dieses farbenfrohe Bild von Schloss Altenklingen soll nach unserem Ableben an unseren Sohn Georg übergeben werden und in dessen Familie sich weitervererben zur Erhaltung des Andenkens an seine Urgrossmutter Margarethe Doell geborene Zollikofer von Altenklingen.»

Der Kontakt mit meinem Grossvater war lange unterbrochen. Der Grund war seine Scheidung von meiner Grossmutter Gertrud, die ihm meine Mutter erst spät verzeihen konnte.14 Mutter wusste daher nichts Genaueres über besagte Margarethe. Umso mehr regte das Bild die Phantasie von uns Kindern an. Wir stellten uns vor, da wäre ein Klavierlehrer mit seiner Schülerin in einer lauen Maiennacht nach Italien abgehauen. Mutter wusste auch noch vage, es habe zu der Zeit einen italienischen Musiker, in der Familie gegeben. Das war ein Irrtum. Mutter meinte den aus Böhmen stammenden Komponisten Franz Benda. Eine Urgrossmutter (Clara Eyssenhardt, geb. Benda) meiner Mutter war eine Urenkelin des Komponisten. Anna eine Tochter von Clara war mit meinem Urgrossvater Max Niemeyer verheiratet.

Erst nach Grossvaters Tod gab mir sein altes Familienbuch,15 genauere Auskunft. Sein Vater hatte es zusammengestellt. Da steht Folgendes zur Familiengeschichte der Doells und speziell über Margarethe Zollikofer:

Die Doells kamen aus dem nürnbergschen Ort Lauf. Das Familienbuch nennt als ersten bekannten Vorfahren einen Fischer Johannes Doell. Dessen Sohn Johannes Michael zog nach Speyer, wo er als Schriftsetzer in den Hegelschen Offizien und später in Mannheim bei der kurfürstlichen Lotterie arbeitete und am 30.4.1799 starb. Am 1.2.1768 heiratete er die Küferstochter Juliane Christine Frez, geboren in Grünstadt 1748 und gestorben am 22.11.1792. Deren Sohn Ludwig Bernhard Friedrich wurde am 29.10.1773 geboren. Taufpatern waren Ludwig Bernhard Friedrich Hegel, Bürger und Stadtbuchdrucker in Speyer sowie dessen Ehefrau Anna Magdalena geb. Endressin.

Friedrich erlernte wie sein Vater die Buchdruckerkunst und ging mit 21 Jahren in die Schweiz, wo er vorwiegend in St. Gallen aber auch kürzere Zeit in Bern arbeitete. «In St. Gallen hatte er in der Zollikoferschen Buchdruckerei lange Zeit hindurch Stellung gefunden. Er war als tüchtiger Arbeiter und heiterer Gesellschafter, der nie um witzige Einfälle verlegen war, überall namentlich aber im Zollikoferschen Familienkreis ein gern gesehener Gast.

Was Wunder, dass sich zwischen ihm und einem Mitglied der Zollikoferschen Verwandtschaft nämlich der Tochter Margarethe (Gritli) des Dekans Christoph Zollikofer16 in St. Gallen bald eine stille und innige Neigung herausbildete, die in dem Masse zunahm, in welchem sich ihrer ehelichen Verbindung äussere Hindernisse entgegenstemmten. Letztere bestanden darin, dass bei dem nüchternen, in erster Linie auf das Materielle gerichteten Sinne der Schweizer die Eltern Margarethes bei der Mittellosigkeit und bescheidenen Lebensstellung des jungen Mannes von seiner Verbindung mit Margarethe nichts wissen wollten, und – so sehr sie ihn sonst schätzten – war seine Nähe ihnen nunmehr unbequem. Aber die Neigung blieb bestehen und wuchs trotz des äusseren Ungemachs, in welches Friedrich geriet, durch Krankheit und namentlich durch ein Augenleiden, das die Folge der in Kinderjahren überstandenen Blatternkrankheit war.

Friedrich rang nach einer selbständigen Lebensstellung, um sich hierdurch womöglich die Zustimmung der Eltern zur Verbindung mit Margarethe zu sichern. Da ihm sein schlimmes Auge den Beruf des Buchdruckers sehr erschwerte, seine natürliche Begabung ihn aber zu manch anderen Lebensfristungen für geeignet erscheinen lies, worunter ihm namentlich das Schulfach besonders nahe lag, so fasste er den Gedanken, sich als Schuloder Hauslehrer auszubilden. Seine Bemühungen hatten jedoch keinen günstigen Erfolg. Er blieb bei seinem erlernten Gewerbe und in St. Gallen.

Am 28.2.1805 fand endlich doch die eheliche Verbindung zwischen Friedrich und Gritli statt. Die Trauung wurde in Bürgeln im Kanton Thurgau durch den Schwager Margarethens den dortigen Pfarrer Peter Bion vollzogen. Gleich darauf siedelten die jungen Eheleute nach Mannheim ihren künftigen Wohnsitz über. Leider sollte das eheliche Zusammenleben nicht viel länger dauern als die vorangegangene Zeit des ungestillten Sehnens, denn schon am 3.6.1815 verlor Friedrich sein geliebtes Weib, das ihm 5 Kinder geschenkt hatte. Margarethe Doell, geborene Zollikofer war in St. Gallen geboren am 26.3.1773, im selben Jahr wie Friedrich.

Zehn Jahre später (1825) schloss Friedrich aufs Neue den Bund der Ehe und zwar mit Margarethe Deboussy einer Hutmacherstochter aus Mannheim. Sie stammt aus einer Hugenottenfamilie und war Witwe. Nach der Erzählung unserer Tante Caroline Doell war die zweite Frau ihres Vaters eine gute aber strenge Mutter, die ebenso wohl ihre heranwachsenden Stiefkinder mit Ernst zu Arbeitsamkeit, Ordnung und Pünktlichkeit in allen Stücken anzueifern suchte, als auch mit grosser Liebe an ihnen, namentlich an dem eifrigen und begabten Sohn Christoph - unserem teuren Vater – hing.