Die Todesnacht in Stammheim - Helge Lehmann - E-Book

Die Todesnacht in Stammheim E-Book

Helge Lehmann

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Beschreibung

Auf Veranlassung des damaligen Bonner Krisenstabes verschickte die Deutsche Presseagentur am 18. Oktober 1977, um 8.53 Uhr folgende Eilmeldung: »baader und ensslin haben selbstmord begangen.« Diese Mitteilung über den Tod von Häftlingen aus der RAF im Hochsicherheitsbereich der JVA Stuttgart-Stammheim legte noch vor Beginn der kriminaltechnischen und gerichtsmedizinischen Ermittlungen die Richtung fest, der die Ermittler und die meisten Medien folgten. Der kollektive Selbstmord der Häftlinge« scheint demnach bis heute die in Stein gemeißelte Wahrheit über die damaligen Ereignisse zu sein. Dieses Buch stellt die offizielle Darstellung auf den Prüfstand. Nach jahrelanger Recherche aller zugänglichen Materialien, Auswertung neuer, da erstmals freigegebener Dokumente, sowie mit Hilfe praktischer Versuchsaufbauten entwickelt der Autor eine Art Indizienprozess. Er kommt dabei einer Vielzahl von Unterlassungen, Mängeln und einander widersprechenden Schlussfolgerungen in den amtlichen Untersuchungen auf die Spur. Konnten Anwälte Waffen und Sprengstoff in das »sicherste Gefängnis der Welt« schmuggeln? Hatten die Gefangenen ein funktionierendes Kommunikationssystem? Entsprachen die Obduktionsergebnisse und Tatortermittlungen dem damaligen Stand der Wissenschaft, sind sie umfassend und in sich widerspruchsfrei? Welche Rolle spielten Kronzeugen für die Ermittlungsrichtung? Waren die Waffen- und Sprengstoffverstecke so möglich wie dargestellt? Was hatte es mit den in jener Nacht im Gefängnishof beobachteten Autos auf sich? Dies sind nur einige der Fragen, denen in dieser Untersuchung akribisch nachgegangen wird. Erstmals wurden hierfür zusätzlich materielle Testaufbauten geschaffen, um amtliche Behauptungen zu überprüfen. Der Autor rekonstruierte die »Aktencontainer«, die dem Waffenschmuggel gedient haben sollen, baute die angeblich funktionstüchtige Kommunikationsanlage nach, überprüfte die Möglichkeit eines Waffenversteckes im Plattenspieler Baaders anhand eines baugleichen Modells, nahm Schussvergleiche zu Bestimmung der Lautstärke von Schüssen in einem vergleichbaren Gebäude vor und präzisierte mit neuen Methoden die sehr wagen amtlichen Angaben über die Todeszeitpunkte von Baader und Ensslin. Zu diesem Buch hat der Autor die Webseite www.todesnacht.com eingerichtet, auf der Dokumente und weiterführende Materialien zum Thema einsehbar sind.

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Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Zuerst ein Dankeschön

Die Ziele

Ein Anruf im September 2007

Das Puzzle

Die offizielle Version

Der Waffenschmuggel

Das Kommunikationssystem

Lichtzeichen, Geräusche und Autos im Hof

Nachrichten von draußen.

Der Krisenstab

Die Nachrichtensperre

Die Kontaktsperre

Der Feuerzauber

Die Schüsse

Der Nachtdienst

Der Morgen des Achtzehnten

Widersprüche der Ermittlungsergebnisse

Andreas Baader

Gudrun Ensslin

Jan-Carl Raspe

Irmgard Möller

dpa, die Folgen, die Ermittlungsrichtung

Die Feuertreppe und Videoüberwachung

Die Rolle der westlichen Geheimdienste

counterinsurgency

Isolation, Sensorische Deprivation

RAF-Kronzeugen

Waffen? Patronen? Sprengstoff?

Hinter den Sockelleisten

Das Versteck für den Colt Detective Spezial

Patronen im Estrich

Gefundener Sprengstoff

(

Pulverisierung von Beweismitteln

(

Manipuliertes Tondokument

(

Parallelen bei Ulrike Meinhof

Jan Carl Raspe

Horst Bubeck

Die Folgen bis heute

Ein Nachtrag vorweg

Das Finale und Abschlussplädoyer

Wichtige Ergänzungen zur Indizienkette

Die Waffen

Zellenbelegungsplan 1977

Angeordnete Zellendurchsuchungen ´74 - `77

Die dpa Meldung am 18.10.1977

Bücher, Filme, Tonmitschnitte

BGH, §129

Brief zur Nachrichtensperre

Das Gesetz zur Kontaktsperre

Das 24-Punke-Programm

Folgen der sensorischen Deprivation

Hanns-Martin Schleyer an Helmut Kohl

Entführung der „Landshut“ - zeitlicher Ablauf

Das Todesermittlungsverfahren

Einstellungsverfügung der Todesermittlung

Untersuchungsausschuss Landtag BW

Antworten auf Anfragen zur Akteneinsicht

Das Informationsfreiheitsgesetz

Informationen zu den Geheimdiensten

Das Celler Loch

Ein Antrag im Landtag BW 2007

Antworten vom Landtag BW 2007

gefundene Tonbänder

Die Archive

Bibliothek des BGH (Bundesgerichtshof)

Bundesanwaltschaft in Karlsruhe

BKA Wiesbaden

Justizministerium Stuttgart

OLG Stuttgart

Landtag Baden-Württemberg

Hamburger Institut für Sozialforschung

Das Bundesarchiv, Koblenz

Landtag Hessen

Staatsarchiv Ludwigsburg

Antrag zur Neuaufnahme des TEV vom 18.10.2012

Verfügung Staatsanwaltschaft vom 11.4.2013

Dokumente auf beiliegender CD

Leichenschau 18.10.77, ab 15:00 Uhr

Dokument

1

Spurensicherungsbericht Zelle 719, Baader

Dokument

2

Sicherstellungsbericht Zelle 719, Baader

Dokument

3

Spurenauswertebericht Zelle 719, Baader

Dokument

4

Schussentfernungsgutachten Baader

Dokument

5

Untersuchung Schusswaffe Baader

Dokument

6

Spurensicherungsbericht Zelle 720, Ensslin

Dokument

7

Spurenauswertebericht Zelle 720, Ensslin

Dokument

8

Neuropathologisches Gutachten Ensslin

Dokument

9

Neuropathologisches Gutachten Baader

Dokument

10

BKA Pulverschmauchgutachten Baader

Dokument

11

BKA Pulverschmauchgutachten II Baader

Dokument

12

Neuropathologisches Gutachten Raspe

Dokument

13

BKA-Pulverschmauchgutachten Raspe

Dokument

14

BKA-Pulverschmauchgutachten II Raspe

Dokument

15

Untersuchung Schusswaffe Raspe

Dokument

16

Waffenversteck Zelle Raspe

Dokument

17

Untersuchungsbericht Kleidung Möller

Dokument

18

Untersuchungsbericht Pullover Möller

Dokument

19

Die Nachtobduktion

Dokument

20

Offizielles Gutachten zur Todeszeit

Dokument

21

Zellenkommunikation

Gutachten tech. Kommunikationsmöglichkeit

Dokument

22

Vorgefundene elektronische Materialien

Dokument

23

Beschaltung der Rundfunksteckdosen

Dokument

24

Gutachten Plattenspieler etc. aus den Zellen

Dokument

25

Beschreibung der Feuertreppe, KM Stumm

Dokument

26

Überprüfungsbericht Überwachungsanlage

Dokument

27

Vernehmung Vollzugsdienstleiter Rudolf Hauk

Dokument

28

Vernehmung Rudolf Hauk zur Telematanlage

Dokument

29

Vernehmung Ulrich Schreitmüller

Dokument

30

Vernehmung Amtsinspektor Horst Bubeck

Dokument

31

Ergänzende Vernehmung Horst Bubeck

Dokument

32

Vernehmung Heinz Münzing

Dokument

33

Niederschrift Anstaltsleiter Hans Nusser

Dokument

34

Die Kontrollen, Anstaltsleiter Hans Nusser

Dokument

35

Vernehmung Regierungsrat Bernd Buchert

Dokument

36

Aufsichtsbeamte Tagesdienst

Vernehmung Hauptsekretär Klaus Miesterfeldt

Dokument

37

1. Ergänzende Vernehmung Klaus Miesterfeldt

Dokument

38

2. Ergänzende Vernehmung Klaus Miesterfeldt

Dokument

39

Vernehmung Aufsichtsbeamte Horst Grießinger

Dokument

40

Vernehmung Obersekretär Peter Grossmann

Dokument

41

Vernehmung Justizassistent Ernst Hermann

Dokument

42

Vernehmung Assistent Klaus Giebler

Dokument

43

Vernehmung Hauptsekretär Willi Stapf

Dokument

44

Ergänzende Vernehmung Willi Stapf

Dokument

45

Der Nachtdienst

Vernehmung Obersekretär Viktor Zecha

Dokument

46

Vernehmung Justizsekretär Siegfried Andersson

Dokument

47

Vernehmung Justizassistent Hans Springer

Dokument

48

Vernehmung Vollzugsbeamtin Renate Frede

Dokument

49

Vernehmung Hauptsekretär Wilhelm Kölz

Dokument

50

Vernehmung Hauptsekretär Horst Gellert

Dokument

51

Die Besuchsüberwachung

Vernehmung Amtsinspektor Erich Götz

Dokument

52

Korrektur der Aussage Amtsinspektor Erich Götz

Dokument

53

Vernehmung Obersekretär Klaus Konrad

Dokument

54

Vernehmung Obersekretär Paul Lees

Dokument

55

Vernehmung Vollzugsangest. Marianne Göbel

Dokument

56

Untersuchung „Ebinger“ Metallsuchgeräte

Dokument

57

Vernehmung Dr. Wolf Majerovicz

Dokument

58

Vernehmung Justizassistent Hans-Dieter Pianka

Dokument

59

Vernehmung Vollzugsbeamter Helmut Koutny

Dokument

60

Vernehmung Justizobersektetär Gerhard Stoll

Dokument

61

Vernehmung Obersekretär Richard Soukop

Dokument

62

Vernehmung Justizsekretär Christoph Listner

Dokument

63

Vernehmung Justiz-Obersekretär Edgard Jost

Dokument

64

Vernehmung Assistent z.A. Peter Busch

Dokument

65

Vernehmung Assistent Kurt Gmeiner

Dokument

66

Vernehmung Oberwachtmeister Ernst Lödel

Dokument

67

Auszug Vernehmung Assistent Klaus Dieter Ott

Dokument

68

Auszug Vernehmung Karl-Heinz Lösch

Dokument

69

Auszug Vernehmung Emil Hofer

Dokument

70

Auszug Vernehmung Martin Besserer

Dokument

71

Aussage KHK Berger

Dokument

72

Durchsuchung Anwälte im MZG, KOK Geißler

Dokument

73

Kräfteverteilung Polizei beim Prozess

Dokument

74

Vernehmung KHK Josef Ring zum 5./6.9.77

Dokument

75

Vernehmung KHM Rainer Pohl zum 5./6.9.77

Dokument

76

Hausverfügungen

2. August 1976

Dokument

77

9. November 1976

Dokument

78

6. Juli 1977

Dokument

79

4. Oktober 1977

Dokument

80

Sprengstoff-, Waffen- und Patronenfunde

Durchsuchungsbericht Zelle 723

Dokument

81

Spurensicherungsbericht zur Zelle 723

Dokument

82

Sicherstellungsbericht „Revolver Colt“

Dokument

83

Josef Fruhstuck zum Sprengstofffund Zelle 721

Dokument

84

Günter Köder zum Sprengstofffund Zelle 721

Dokument

85

Spurenauswertebericht Zelle 721

Dokument

86

Fotos Sprengstofffund u. Zündkapseln Zelle 721

Dokument

87

Spurensicherungsbericht Versteck Zelle 715

Dokument

88

Fotos der Waffenverstecke

Dokument

89

Bericht und Fax zu den Patronen im Estrich

Dokument

90

Telefax zum Munitionsfund vom BKA Wiesbaden

Dokument

91

Beschwerdebrief Andreas Baader

Dokument

92

Richterliche Vernehmung Volker Speitel

Dokument

93

Obduktionsberi t Jan-Carl Raspe

Dokument

94

Obduktionsberi t Andreas Baader

Dokument

95

Angeordnete Zellendurchsuchungen '74 - `77

Dokument

96

Das Gesetz zur Kontaktsperre

Dokument

97

Das 24-Punkte-Programm

Dokument

98

Folgen der sensorischen Deprivation

Dokument

99

Das Informationsfreiheitsgesetz

Dokument

100

Das Celler Loch

Dokument

101

Ein Antrag im Landtag BW 2007

Dokument

102

Antworten vom Landtag BW 2007

Dokument

103

Informationen zu den Geheimdiensten

Dokument

104

Das Tagebuch

Dokument

105

Chronik 1977

Dokument

106

Die Archive

Dokument

107

»Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, daß sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben.«

Bundeskanzler Helmut Schmidt im Januar 1979

Zuerst ein Dankeschön

Ich möchte dies nicht ans Ende verbannen, zu wichtig war mir die Mitarbeit und Akzeptanz für dieses Thema seitens anderer. Zuerst vielen Dank an meine Frau und Familie, ohne deren unendliche Geduld ich nicht die Zeit gefunden hätte, mich so intensiv in dieses Thema zu vertiefen und in Archiven zu recherchieren. Jetzt gebe ich euch die mir geschenkte Zeit zurück.

Danke an all die Kontakte und die interessanten Gespräche, die mir häufig eine weitere Tür für meine Gedankengänge geöffnet haben. Ein wichtiger Punkt für mich sind und waren die Sichtweisen, Erlebnisse und Erfahrungen von Zeitzeugen.

Vielen Dank an die Archivare, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Akten zur Verfügung gestellt haben und mir in unzähligen Gesprächen, gerade zu Beginn meiner Arbeit, den ein oder anderen Tipp zukommen ließen.

Ein besonderer Dank gilt meinem Verleger, der mir meinen zeitlichen Rahmen immer wieder erweiterte, um am Ende eine handfeste Version der recherchierten Indizien vorliegen zu haben. Das Ergebnis in diesem Buch zeigt, dass sauber recherchierte Informationen einer vorschnellen Veröffentlichung vorzuziehen sind.

Eine erhebliche Bereicherung war mein Lektor Olaf Zander. Als Journalist mit viel Erfahrung und Kontakten ausgestattet, gab er mir unendlich viel Stoff während der Recherche und Auswertung der vorliegenden Akten und anderen Materialien. So manches Mal entstanden in Gesprächen neue Wege, andere Wege. Hin und wieder wurde einer wegen der Unmöglichkeit einer Verifizierung verworfen, meistens aber verfolgt. Ohne eine solche Unterstützung ist es unmöglich, ein kompaktes Thema wie dieses im Griff zu haben. Danke Olaf.

Helge Lehmann

April 2011

Bemerkung zur 3. Auflage

Durch zahlreiche Hinweise von interessierten Leserinnen und Lesern sowie auf Grund einer Reihe von Gesprächen sind in dieser Auflage Fehler ausgemerzt worden sowie in einigen Kapiteln neue Informationen eingearbeitet worden. Dank an alle, die mir Hinweise und Kritik zukommen ließen. Ich bin auch weiterhin an Hinweisen, Einladungen zu öffentlichen Gesprächen und Kritik interessiert. Am besten erreicht man mich über: [email protected]

Durch die Insolvenz des Verlags Pahl-Rugenstein, bei dem das Buch zuerst aufgelegt wurde, musste ich mir nach den Jahren die verschiedenen Text-Versionen mühsam zusammensuchen. Aus drei Word- und vier PDF-Dokumenten konnte ich die letzte aktualisierte Version wieder herstellen. Durch die unterschiedlichen Formate konnte nicht durchgängig ein einheitliches Format erzegt werden. Dafür muss ich um Verständnis bitten.

Helge Lehmann

Juni 2017

Die Ziele

Im Sommer 2006 stand ich als unpolitischer Mensch vor einem Tisch auf einem Flohmarkt und sah das Buch von Stefan Aust »Der Baader Meinhof Komplex«. Gehört hatte ich schon von diesem Buch und, weil ich bald in den Urlaub fahren wollte, nahm ich es als »Strandlektüre« mit. Das Interesse an diesem Thema wurde dann so groß, dass ich bereits im Urlaub anfing, mir Fragen zu stellen, hervorgerufen u.a. durch die dürftige Anzahl von Quellenangaben. Auch irritierte mich die wörtliche Rede in Situationen, bei denen der Autor Aust meiner Meinung nach auf keinen Fall hatte dabei gewesen sein können. Insgesamt hörte sich alles um die Todesnacht sehr unwahrscheinlich an und so stellte sich mir am Ende des Buches eine große Frage: Was ist wahr und was nicht? Weitere Bücher sollten folgen.

Mehr als vier Jahre habe ich intensiv recherchiert und alles zusammen getragen, wozu ich in der Lage war. Akten aus den verschiedenen Archiven, Bücher zur RAF, Tonmitschnitte aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg und Gespräche mit Zeitzeugen wurden ergänzt durch eigene Testaufbauten zum Nachweis der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der offiziellen Version rund um die Todesnacht in Stammheim.

Alle wichtigen Akten und sonstigen Dokumente sind zum Nachvollziehen meiner Indizienpunkte in die beiliegende CD aufgenommen, Quellennachweise zu diesen Akten und zu weiteren externen Quellen untermauern die dargestellten Fakten.

Als ich über die offizielle Darstellung näher nachdachte, kamen mir viele dort beschriebenen Vorgänge im Hochsicherheitstrakt von Stammheim als höchst fragwürdig vor. Dieses Gefängnis wird in allen Medien damals wie heute als eines der am besten bewachten und sichersten Gefängnisse in Deutschland bezeichnet.1

Und schließlich fanden die Ereignisse dieser Nacht nicht im luftleeren Raum statt.

Am 17./18. Oktober 1977 ging es um 82 Passagiere und 5 Besatzungsmitglieder der Lufthansa Maschine »Landshut«, um den entführten Hanns-Martin Schleyer und um die Häftlinge im 7. Stock der JVA. Es wurden innerhalb weniger Tage, weniger Stunden, vielleicht sogar Minuten durch Handlungen Schicksale besiegelt. Über die Befreiung der »Landshut« ist scheinbar so gut wie alles geschrieben und berichtet worden. Fehlanzeige. Eine der wenigen politischen Kräfte, die sich ab 1977 mit der Aufklärung rund um Stammheim bemühten, war der Kommunistische Bund (KB).2 In den Augen des KB handelte es sich bei der Befreiung der Lufthansamaschine »Landshut« um eine geheimdienstliche Aktion unter vollkommenem Ausschluss aller im Grundgesetz vorgesehenen Organe. Die Entführung der »Landshut« ist nicht das zentrale Thema in diesem Buch, wird aber im Zusammenhang mit Stammheim eine Rolle spielen. Dabei werden bisher nicht bekannte Abläufe darstellt.3

Die Entführung Hanns-Martin Schleyers4 scheint bis auf den finalen Schuss ebenfalls ausführlich dargestellt. Aber an einem entscheidenden Punkt klafft eine Lücke: Tatsächlich ist der breiten Öffentlichkeit bis heute nicht bewusst, warum Schleyer sterben musste.5

Zwei Tage nach der Entführung von Hanns-Martin Schleyer wurden in der Presse Überlegungen angestellt, welche Entscheidungen der Bonner Krisenstab treffen könne. So schrieb etwa der Kommentator der Frankfurter Rundschau: »Es gibt gewiss Forderungen, die in ihrer Maßlosigkeit unerfüllbar sind. Trotzdem geht vielen Menschen das nachdenkliche Wort von Bundesinnenminister Maihofer nicht aus dem Kopf, das beschädigte Ansehen des Staates könne man immer reparieren, den Tod von Menschen dagegen nicht. Maihofer hat dies seinerzeit im Zusammenhang mit der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz gesagt. Lorenz wurde ausgetauscht. Als später die Bundesregierung durch den Überfall auf unsere Botschaft in Stockholm wieder erprobt werden sollte, blieb der Staat hart. Aber ein Erfolg bei der Bekämpfung des Terrorismus war auch dies nicht.

Noch weiß niemand genau, was mit Hanns-Martin Schleyer geschehen ist und welche Forderungen zu erwarten sind. Doch angesichts dieser Entführung werden wohl auch manche Apologeten der absoluten Staatsraison, die in der Mehrzahl Schleyer politisch nahestehen, noch einmal darüber nachdenken, welche entsetzliche Verantwortung es bedeutet, einen Menschen seinen potentiellen Mördern ausgeliefert zu lassen. Ich bekenne mich jedenfalls weiter zu denen, die eine Aufopferung von Geiseln nicht in ihre Überlegungen einbeziehen können.«6

Es gab staatlicherseits Möglichkeiten, Schleyers Tod zu verhindern. Aber selbst Helmut Kohl, damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag und ein guter »Freund« von Hanns-Martin Schleyer, hat nach dessen letzter verzweifelter Botschaft an ihn persönlich nicht versucht, Schleyers Leben zu retten.7

»Stattdessen eiserner Konsens bei allen Verantwortlichen: Staatsraison über alles.«8

Auch dieser Punkt ist nicht das zentrale Thema dieses Buches, aber Teil meiner Recherchen. Der Kern dieses Buches sind meine Untersuchungen in Form eines Indizienprozesses gegen die offizielle staatliche Darstellung der Abläufe rund um die Todesnacht in Stammheim.

Nach Ablauf der 30-jährigen Sperrfrist für die Akteneinsicht im Jahr 2007 besteht die Möglichkeit für jedermann, das bisher nicht zugängliche Aktenmaterial zur RAF aus dem Jahr 1977 einzusehen. Diese Sperrfristen betreffen alle Bundes- und Landesarchive wie z.B. das Bundesarchiv in Koblenz und das Staatsarchiv in Ludwigsburg.9 Dennoch gab es erhebliche Schwierigkeiten bei der Einsicht wichtiger Akten.

Trotzdem ist es mir gelungen, mehr offizielle Akten auszuwerten, als dies jemals zuvor möglich war, und auch im nichtstaatlichen Bereich konnte ich fündig werden. So teilte mir beispielsweise im Februar 2008 das Hamburger Institut für Sozialforschung10 (HIS) mit, dass sich dort frisch eingetroffen 11 Aktenordner befinden, die die Recherchen des Kommunistischen Bundes zu Stammheim enthalten. Zum größten Teil bisher unveröffentlichtes Material.

Um den Umfang dieser Veröffentlichung nicht zu sprengen, finden sich zahlreiche Akten, Audio- und Filmdokumente sowie weitergehendes Informationsmaterial zu den einzelnen Punkten meiner Untersuchungen auf der beiliegenden CD. Die Webseite zu dem Buch unter htp://www.todesnacht.com ergänzt das Buch durch aktuelle Informationen.

Ich stelle mich gerne einer Diskussionen in Facebook (FB). Der Link zu der FB-Seite »Rote Armee Fraktion (RAF): Die Todesnacht in Stammheim – Eine Untersuchung« lautet: https://www.facebook.com/RAF.Todesnacht.Stammheim/

1 Vgl. Julia Giertz/Christoph Marx, STERN-online vom 19.9.2003

2 Siehe Dokument 107 auf CD

3 Siehe Kap. 8. Der Feuerzauber

4 Schleyer war seit 1. Juli 1933 Mitglied der SS. Ab April 1943 hat er im besetzen Prag die Arisierung jüdischen Besitzes verantwortlich geleitet. Vgl.: Erich Später et.al.: Hanns-Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag, Hamburg 2009

5 Vgl. Wolfgang Kraushaar: »Krisenstab – Kontaktsperre – Nachrichtensperre.pdf« auf CD

6 Werner Holzer: Frankfurter Rundschau, 7. September 1977

7 Transkript der Tonbandnachricht an Helmut Kohl vom 12. September 1977, S. 222

8 Alfred Klaus: Sie nannten mich Familienbulle, Hamburg 2008, S. 16

9 Siehe Dokument 107 auf CD

10 Siehe ebenda

Ein Anruf im September 2007

Nach einigen Monaten Recherche trat eine Verlangsamung meiner Aktivitäten ein. Einige Anfragen warteten auf Antwort, im Mittelpunkt dieser Zeit standen die Recherche und Auswertung der ersten Akten aus dem Bundesarchiv. Mit Spannung erwartete ich den in Kürze anstehenden Besuch beim HIS, wo umfangreiches Aktenmaterial zu Stammheim liegt.

Es war Freitag, der 28.9.2007, so gegen 17.00 Uhr. Ich saß am häuslichen Schreibtisch vor Akten aus dem Bundesarchiv, als mein Mobiltelefon klingelte. Meine Rufnummer kannten nur einige wenige persönliche Freunde sowie die Personen, meist Mitarbeiter von Archiven und staatlichen Institutionen, mit denen ich wegen meiner Recherchen im eMail-Verkehr stand. Die Rufnummer war Bestandteil meiner eMail-Signatur. Im Display wurde UNBEKANNT angezeigt, also hatte der Anrufer seine Rufnummer unterdrückt.

Ich nahm den Anruf an. Es meldete sich eine männliche, mir unbekannte Stimme: »Spreche ich mit Helge Lehmann?«11

»Ja, was kann ich für Sie tun?«, antwortete ich.

»Es geht um Ihre Recherche.«

»Ja, bitte.«

»Ich habe erfahren, dass sie zum Thema RAF bzw. der Todesnacht in Stammheim recherchieren.«

»Das ist richtig, woher wissen Sie das. Mit wem spreche ich?«

»Das ist im Moment unwichtig. Ich hoffe sehr, Sie sind nicht auf eine Lösung fixiert, das würde der Recherche nicht gut tun. Überlegen Sie, welche Wirkung eine konsequente Verfolgung einer These habe könnte, wenn sich diese These als falsch erweist.«

» Da haben Sie durchaus recht, ich verfolge keine These, ich möchte die Wahrheit finden. Von wo sprechen Sie?«

»Auch das ist nicht wichtig, ich habe nur wenig Zeit im Moment. Orientieren Sie sich an den vorhandenen Fakten. Nehmen Sie sich Zeit die Wahrheit zu sehen, durch Indizien. Beweise finden Sie nicht, aber genügend Indizien.«

»Ok, das ist mein Konzept. Kann ich Sie treffen?«

»Man wird sehen, im Moment nicht. Durch Mythen entsteht keine Wahrheit. Rennen Sie nicht in die falsche Richtung, das klappt nicht.«

»Ok, bei wem arbeiten Sie?«

»Ich muss aufhören, ich denke ich melde mich noch mal.«

»Hallo, bei wem arbeiten Sie? Sind Sie noch dran…?«

Dann war das Gespräch zu Ende. Wer war das? Wollte mich jemand an der Nase herum führen? Wie war das kurze Gespräch zu bewerten?

Nachdem ich mir das Telefonat aus dem Gedächtnis notiert hatte, wollte ich herausfinden, wer angerufen hatte oder wenigstens, von woher der Anruf gekommen war. Es war deutlich zu vernehmen, dass der Anrufer nicht aus einem geschlossenen Raum telefonierte, sondern sich im Freien befand. Ich hörte das typische Rauschen, wenn man im Freien steht, und ab und an schwächere Nebengeräusche, die durchaus die eines langsam vorbeifahrenden Autos sein konnten. Ich konnte mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass der Anrufer von einem Handy aus telefonierte. Ich versuchte, über meinen Provider dem Anrufer auf die Spur zu kommen. Der Mitarbeiter an der Hotline beschied mich, dass es nicht möglich sei, auf eine Datei oder Datenbank mit eingehenden Anrufen zuzugreifen. Die einzige Möglichkeit sei, eine Fangschaltung zur Anrufverfolgung zu beantragen (Kosten einmalig € 170), was ca. 2 Wochen bis zur Aktivierung benötige.

Da ich nicht davon ausgehen konnte, dass sich der Anrufer nochmals meldet, nahm ich von der Idee Abstand.

11 Es war nicht möglich, das Gespräch aufzuzeichnen, deshalb habe ich den nachfolgenden Dialog nach Ende des Gesprächs sofort aufgeschrieben.

Das Puzzle

Eingangsplädoyer

Zu welchem Zweck sollte man erfahren wollen, was an der offiziellen Darstellung und dem Todesermittlungsverfahren (TEV) nicht stimmt? Wie in allen Untersuchungen historischer Ereignisse geht es dabei um die möglichst exakte Wiedergabe der tatsächlichen Vorgänge, um das Verlangen und das Recht auf die Wahrheit. Nach 40 Jahren ist es an der Zeit, dieses mit neuen Herangehensweisen und Dokumenten auch für die Todesnacht in Stammheim zu versuchen.

In dem Kinofilm »Der Baader-Meinhof Komplex«12 wird die staatsoffizielle Darstellung vertreten und gezeigt. Ignes Ponto, die Witwe des von der RAF getöteten Bankiers Jürgen Ponto, gab aus Protest gegen diese Darstellung der Ereignisse ihr 1988 verliehenes Bundesverdienstkreuz zurück. »Hier werden die Menschenwürde meiner Mutter und der ganzen Familie in ihrem Kern getroffen sowie Pietät und Andenken eines Toten in geschmacklosester Weise verletzt«, so die Tochter von Ignes Ponto, Corinna Ponto, in einem Interview mit Bettina Röhl. »An der Darstellung unserer Geschichte ist so gut wie alles falsch!«13 Aber nicht nur die damit angesprochene Filmpassage verdreht die Tatsachen. Da der Film auf der staatlichen Darstellung beruht, wird durch die von mir vorgelegten Indizien zugleich deutlich, dass der Film nicht nahe an der Realität ist, wie in der Werbung behauptet wird.14

Ich werde zahlreiche Punkte der offiziellen Darstellung durch eine Indizienkette widerlegen. Weiter wird in dieser Indizienkette bewiesen, dass im Todesermittlungsverfahren (TEV) unsauber gearbeitet wurde und daher die Begründung der Einstellungsverfügung des TEV vom 18. April 197815 nicht haltbar ist. Warum steht seit mehr als 30 Jahren die offizielle Darstellung mehr oder minder unhinterfragt im Raum? Die einfachste Antwort wäre zu behaupten, dass die zuständigen Justiz- und Polizeibehörden und der Untersuchungsausschuss des badenwürttembergischen Landtages die Vorgänge in Stammheim damals nicht besser haben ermitteln können. Das ist falsch, wie ich an Hand der zahlreichen Widersprüche, Unterlassungen und Schlampigkeiten der Ermittlungsbehörden nachweisen werde. Eine andere Antwort wäre, dass damals nur in Richtung Selbstmord ermittelt wurde und es aus Staatssicht Einiges zu verbergen gibt.

Ein Indiz für Letzteres ist, dass eine ganze Reihe meiner Anfragen bei offiziellen Stellen auf Einsicht in wichtige Akten abgelehnt wurden.16 Es werden nur die Teile von als »geheim« gekennzeichneten Akten über die Abläufe zur Einsicht freigegeben, so mittlerweile meine Erfahrung, die schon durch »unglückliche Zufälle« oder besser gesagt durch sehr gute journalistische Arbeit in der Presse veröffentlicht wurden. So sind Teile der Akten zur Abhöraffäre in der JVA Stammheim, zum Lauschangriff im »Fall Traube« und Einzelheiten zum »Celler Loch«17 erst auf den dadurch erzeugten Druck freigegeben bzw. von offizieller Seite bestätigt worden.

Ein Jahr nach den ersten Archivbesuchen und vielen Stunden intensiver Aktenauswertung liegen auf meinem Schreibtisch einzelne noch unsortierte Indizien als Puzzleteile. Ein Indizienprozesses ist laut Bundesgerichtshof (BGH) möglich. Laut BGH wiegt in der deutschen Rechtsprechung ein Indiz mehr als eine Behauptung, allerdings weniger schwer als ein Beweis. Finden sich mehrere schlüssige Indizien, um einen Sachverhalt aufzuklären, und kann man diese Indizien überzeugend zusammenführen, gilt diese Indizienkette als Beweis.18

Am Morgen des 18.10.1977 werden in der JVA Stuttgart Stammheim die Häftlinge Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen aufgefunden. Bereits 70 Minuten später ist die staatliche Darstellung durch eine Meldung von dpa und somit an alle Medien weltweit verbreitet: »baader und ensslin haben selbstmord begangen«.19 Ich werde zeigen, dass durch diese Meldung eine einseitige Ermittlungsrichtung des TEV wie auch im Untersuchungsausschuss des Landtages von Baden-Württemberg vorgegeben wurde.

Die Indizienkette beruht nicht auf Behauptungen, Vermutungen oder Annahmen, sondern auf Aktenmaterial und Aussagen, die ich mit Quellennachweisen belegen werde. Untermauert werden einzelne Indizien durch verschiedene Testaufbauten.

»Deshalb ist eine rasche Klärung notwendig. Dies ist nicht die Zeit für kleinkarierten Streit.«20

Die offizielle Version

Diverse verbotene Gegenstände sollen von Arndt Müller und Armin Newerla, zwei Anwälten der RAF-Häftlinge Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller, während des Gerichtsprozesses, der im Mehrzweckgebäude der JVA Stammheim stattfand, in Hohlräumen von präparierten Handakten in die Zellen der vier Angeklagten eingeschmuggelt worden sein. Darunter auch die beiden Waffen, mit denen sich zwei der Häftlinge in der Nacht vom 17. auf den 18.10.1977 erschossen haben sollen. Später werden noch weitere Waffen, Patronen und Sprengstoff gefunden, die auf dem gleichen Weg in den 7. Stock gelangt sein sollen. Volker Speitel, ein Mitarbeiter der Anwaltskanzlei Croissant, will die Handakten präpariert haben.

Jan-Carl Raspe soll am 18. Oktober 1977 gegen 00.40 Uhr in seiner Zelle aus seinem Radio von der Erstürmung der Lufthansamaschine »Landshut« erfahren haben, die von einer palästinensischen Gruppe entführt worden war, um die Passagiere gegen die Stammheimer RAF-Häftlinge auszutauschen. Daraufhin soll er die anderen drei Gefangenen mittels einer von ihnen selbst installierten Kommunikationsanlage darüber informiert haben. Die vier RAF-Häftlinge sollen nach der Befreiung der »Landshut« die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkannt haben. Über die Kommunikationsanlage hätten sie daraufhin die Verabredung zum Selbstmord getroffen, woraufhin alle vier in derselben Nacht versucht haben sollen, sich umzubringen.

Am Morgen des 18.10.1977 gegen 7.40 Uhr schloss Justizobersekretär Gerhard Stoll die Zelle von Jan-Carl Raspe auf. Drei weitere Beamte waren anwesend. Jan-Carl Raspe saß mit ausgestreckten Beinen auf seinem Bett, mit dem Rücken lehnte er an der Wand. Er blutete aus Mund, Nase und einer Schusswunde in der rechten Schläfe. Neben seiner Hand soll eine Waffe gelegen haben. Jan-Carl Raspe atmete noch und wurde in ein Krankenhaus gebracht, starb aber gegen 9.40 Uhr. Danach öffneten die Beamten die Zelle von Andreas Baader. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden in einer großen Blutlache und hatte eine Schusswunde im Genick. Andreas Baader war tot. 40 Zentimeter neben ihm lag eine Pistole. Gudrun Ensslin wurde, an einem Kabel am Fenstergitter hängend, tot aufgefunden. An demselben Fenster soll sich Ulrike Meinhof ein Jahr zuvor auf die gleiche Art das Leben genommen haben. Irmgard Möller wurde in einer Blutlache auf ihrem Bett aufgefunden. Sie lag gekrümmt auf ihrer Matratze und war bewusstlos. Sie hatte in der Herzgegend vier Stichverletzungen. Nach einer Notbehandlung vor Ort wurde sie ins Krankenhaus gebracht und überlebte. Soweit in Zusammenfassung die offizielle Darstellung.

(1) Der Waffenschmuggel

Ein zentraler Punkt der offiziellen Darstellung ist die Behauptung, Waffen und Sprengstoff seien in den 7. Stock des Hochsicherheitsgefängnisses zu den dort einsitzenden RAF-Häftlingen geschmuggelt worden. Dies soll während der Gerichtsverhandlung im Mehrzweckgebäude (MZG) von Anwälten der Angeklagten bewerkstelligt worden sein, die Hohlräume in präparierten Handakten als Verstecke benutzt hätten, ohne dass dies den kontrollierenden Beamten des LKA aufgefallen sei.

Ich werde an Hand von Aussagen der Vollzugsbeamten in Stammheim, Aussagen von Beamten des LKA Baden-Württemberg sowie durch einen Test wider jeden begründeten Zweifel zeigen, dass ein Waffenschmuggel, wie in der offiziellen Darstellung beschrieben, nicht möglich war. Ebenso werde ich die Aussage des Kronzeugen21 Volker Speitel vor Gericht22 berücksichtigen, in der er beschreibt, wie er Waffen und andere Gegenstände über die Anwälte in das MZG eingeschleust haben will. Diese Aussage ist für die Ermittler der einzige Beweis im Todesermittlungsverfahren und im Gerichtsverfahren gegen die Rechtsanwälte Müller und Newerla und gegen Speitel selbst. Lediglich auf die Aussage eines Kronzeugen gestützt wird von staatlicher Seite der Waffenschmuggel erklärt. Generalbundesanwalt Rebmann teilt am 10.1.1978 dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg schriftlich mit, dass das Rätsel gelöst sei. Er sagt dann am 12.1.1978 vor diesem Ausschuss aus, der Verteidiger Arndt Müller habe unter anderem die bei Andreas Baader und Jan-Carl Raspe gefundenen Waffen in präparierten Aktenordnern ins MZG geschmuggelt.23 Mit dem am 14.12.78 ausgesprochenen Urteil gegen Volker Speitel24 wurde nicht nur die Selbstmordthese zur aktenkundigen Wahrheit, es stand darüber hinaus auch unumstößlich fest, dass die Anwälte Arndt Müller und Armin Newerla aus der Anwaltskanzlei Croissant wegen Waffenschmuggels verurteilt werden mussten.25

Woher stammten die im 7. Stock gefunden Waffen?

In drei Zellen wurden Handfeuerwaffen gefunden. Mit der FEG Kaliber 7,65 mm soll sich Andreas Baader in seiner Zelle 719 den tödlichen Schuss gesetzt haben, mit einer HK4 Kaliber 9 mm von der Firma Heckler & Koch soll sich Jan-Carl Raspe in seiner Zelle 716 tödlich verletzt haben und der Colt Detective Special Kaliber .38 wurde am 10.11.1977 in der Wand der Zelle 723 gefunden. Konnten die Ermittler eindeutig feststellen, woher die Waffen stammten?

Die Herkunft der Waffe aus der Zelle von Andreas Baader ist gänzlich unklar. Auf der linken Seite des Griffstücks der FEG befindet sich normalerweise die Waffennummer, mit der die Herkunft hätte geklärt werden können. Diese war allerdings durch mechanische Bearbeitung unkenntlich gemacht worden und konnte auch bei weiteren Versuchen des BKA nicht lesbar gemacht werden.

Die Waffennummer der HK 4 aus der Zelle von Jan-Carl Raspe war ebenfalls unkenntlich gemacht worden. Die Nummer auf den Lauf der Waffe war dagegen völlig unbearbeitet. Diese Nummer taucht in den Geschäftspapieren einer Schweizer Waffenhandelsfirma auf, der Käufer dieses Laufs selbst konnte nicht ermittelt werden.

Die Nummer des Colt aus der zum Zeitpunkt der Todesnacht nicht belegten Zelle 723 war auch entfernt worden und konnte ebenfalls nicht lesbar gemacht werden. Nur ein auswechselbares Teil, die Deckplatte, trägt eine Nummer, die von den Ermittlern mit allerdings nicht definitiv erwiesenen Waffenkäufen eines RAF-Mitglieds in der Schweiz zusammengebracht wurde.26

Es bleibt festzustellen, dass lediglich aufgrund der Nummer auf dem Lauf der HK 4, ohne den Endkunden zu kennen, sowie der Nummer einer leicht austauschbaren Deckplatte die Herkunft aller drei Waffen als gesichert angesehen wurde. Denn der Staatsanwaltschaft Christ stellt in der Einstellungsverfügung zum TEV unter Punkt 4 fest, dass »die gefundenen drei Handfeuerwaffen höchstwahrscheinlich aus Terroristenkreisen stammen«27 und folgert daraus unter Punkt 4, Abschnitt C: »Die von Baader und Raspe zur Selbsttötung benutzten Pistolen standen demnach in der Verfügungsgewalt der terroristischen Gefangenen, also nicht dritter Personen.«28

Eine überaus apodiktische Formulierung des verantwortlichen Staatsanwalts Christ in der Einstellungsverfügung des TEV, die durch die hier aufgeführten Tatsachen stark erschüttert ist.

Bevor ich mit der Darstellung der (Personen-)Kontrollen in der JVA Stammheim beginne, müssen wir uns kurz die Situation der beteiligten Beamten vor Augen führen. Alle Beamten der JVA Stammheim und die Polizei standen wegen des außergewöhnlichen Medieninteresses unter einem enormen Druck und waren sich außerdem ihrer eigenen Bedrohung bewusst. Sie waren sich durchaus klar darüber, dass Fehler bei den Kontrollen im Zellentrakt sowie während der Verhandlungstage durchaus ihr eigenes Leben in Gefahr hätten bringen können. Man darf also annehmen, die Beamten haben versucht, möglichst fehlerfrei zu arbeiten.

Hier die Übersicht über die durchgeführten Kontrollen:

Punkt (A), Durchsuchung der Zellen

Jede einzelne Zelle der III. Abteilung im 7. Stock wurde regelmäßig durchsucht. Es gab zwei Arten der Kontrollen: Regelmäßige Sicherheitskontrollen und anlassbezogene Durchsuchungen. Bei den Sicherheitskontrollen wurden Fenstergitter, Türen und Schlösser auf ihre Funktionsfähigkeit hin geprüft, auch wurden z.B. alle Behältnisse für Kaffee, Tee oder Gewürze, Betten etc. durchsucht. Man hat ebenso darauf geachtet, ob Sockelleisten locker sind und dahinter Hohlräume als Versteck benutzt werden könnten.29 Bei den Sicherheitskontrollen wurden auch die Zellenböden und -wände auf Veränderungen hin untersucht, so der Obersekretär Peter Grossmann30 gegenüber dem LKA. Kurt Gmeiner, der laut eigenen Angaben öfters an solchen Kontrollen teilgenommen hat, sagt aus, dass in seinem Beisein nie unerlaubte Gegenstände gefunden wurden.31

In den Zellen wurden bis zum 6. Juli 1977 täglich Sicherheitskontrollen durchgeführt32 und danach mindestens dreimal pro Woche33, was möglichst in Abwesenheit der Häftlinge stattfand, also während die Gefangenen beim Hofgang waren. Wollte ein Häftling nicht am Hofgang teilnehmen, wurde in dieser Zelle an diesem Tag keine Sicherheitskontrolle durchgeführt.34

Bei den Durchsuchungen wurden sehr genau die in der Zelle vorhandenen Sachen der Häftlinge inspiziert, und wurde gezielt nach Versteckmöglichkeiten gesucht. Durchsuchungen erfolgten bei besonderen Anlässen wie der Lorenz-Entführung (27. Februar 1975), dem Attentat auf die BRD-Botschaft in Stockholm (24. April 1975) und nach der Entführung von Schleyer am 5. September 1977.35 Dabei wurden ausschließlich Beamte des LKA in Stuttgart eingesetzt.36 Bei diesen intensiven Durchsuchungen waren die Häftlinge für den Zeitraum der Durchsuchung in anderen Zellen untergebracht. So auch während der Durchsuchung aufgrund der Entführung von Hanns-Martin Schleyer.

Bei keiner der vielen Sicherheitskontrollen und Durchsuchungen wurden Waffen, Verstecke hinter den Sockelleisten oder Sprengstoff gefunden. Schlurigkeit, bewusstes Wegsehen? Oder gab es nichts, was man hätte finden können?37

»Es war im ureigenen Interesse der Vollzugsbeamten den Schmuggel einer Waffe, welcher Art auch immer, zu unterbinden. Hätte ein Häftling eine Waffe gehabt, wäre jeder im 7. Stock tätige Beamte unmittelbar betroffen und bedroht gewesen.«38

Punkt (B), Kontrollen beim Hofgang

Vor oder nach dem Hofgang auf dem kleinen Dachhof gab es keine Leibesvisitation der Häftlinge. Das war aus Sicht der Anstaltsleitung nicht nötig, denn der Dachhof wurde vor und nach einem Hofgang immer durchsucht.39

Die Häftlinge wurden einzeln zum Dachhof der JVA Stammheim gebracht, auf dem vor dem 6.7.1977 mindestens drei, danach zwei Vollzugsbeamte zur Überwachung eingesetzt waren.40

Im Untersuchungsausschuss wird der Hofgang ebenfalls erwähnt. Auf die Zwischenfrage eines Abgeordneten der CDU, ob die Gefangenen Gegenstände zum Hof hätten mitnehmen können, antwortete der Zeuge Miesterfeldt wörtlich: »Ja! Bloß – das ist jetzt meine eigene Meinung – die enge Kleidung, die sie getragen haben, also die hautengen Jeans und nur so T-Shirts und ganz enge Hemden, da wäre es kaum möglich, irgendwelche… aber wie gesagt: Die Möglichkeit bestand, etwas aus dem Haftraum mitzunehmen, wenn man damit rechnen musste, die gehen jetzt hinein und kontrollieren, dass man das am Körper oder in Akten versteckte oder mitgenommen hat.«41

Tatsächlich dürfte diese Aussage von Klaus Miesterfeldt den Kern des Problems zutreffend beschreiben. Die Gefangenen konnten die später aufgefundenen Tatwaffen sowie den Revolver Marke »Colt« samt Munition und die nicht unerhebliche Menge an Sprengstoff42 bei den häufigen Hofgängen nicht jedes Mal bei sich tragen. Das wäre auch ohne eine körperliche Durchsuchung der Häftlinge aufgefallen. Da die Waffen laut offizieller Darstellung während des bis zum 24. April 1977 andauernden Gerichtsverfahrens durch das MZG eingeschleust worden sein sollen, hätten die Häftlinge mehr als sechs Monate lang mindestens dreimal pro Woche die vorhandenen Waffen und den Sprengstoff mit zum Hofgang nehmen müssen, um sie danach wieder in die Verstecke zu legen.

Noch eine andere Tatsache spricht gegen die offizielle Version des Waffenschmuggels: Die Hofgänge fanden nicht regelmäßig an den gleichen Wochentagen statt und waren daher nicht planbar.43

Obwohl die Hausverfügungen der JVA Stammheim zum Umgang mit den RAF-Gefangenen dem Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages vorlagen und die Befragung der Vollzugsbeamten ein anderes Bild ergibt, steht im Bericht des Untersuchungsausschusses die offensichtlich falsche Behauptung: »Diese Kontrollen fanden grundsätzlich während des Hofgangs der Gefangenen statt und waren deshalb für diese jederzeit voraussehbar. Da die Gefangenen vor und nach dem Hofgang nicht durchsucht wurden, konnten sie die Auffindung verbotener Gegenstände in den Zellen dadurch verhindern, dass sie diese Gegenstände zum Hofgang mitnahmen.«44

Völlig unerwähnt bleiben in dem Abschlussbericht die für die Häftlinge unvorhersehbaren intensiven Durchsuchungen durch das LKA. Wie hätten sich die Gefangenen darauf vorbereiten können?

Punkt (C), Durchsuchung Dachhof

Nach jedem Hofgang wurde der Dachhof durchsucht.45 Eine Übergabe von Gegenständen durch Häftlinge aus anderen Stockwerken an die RAF-Häftlinge bzw. umgekehrt war daher hier nicht möglich.

Punkt (D), Identifikation am Eingang der JVA Stammheim

Am Eingang wurden alle Besucher aufgefordert, sich durch Vorlage ihres Personalausweises oder des Reisepasses zu identifizieren.46 Nach erfolgreicher Identifikation folgte die Leibesvisitation sowohl bei Besuchern als auch Anwälten.47

Bei Besuchen für die RAF-Häftlinge verständigten die Beamten des Haupttors die III. Abteilung telefonisch. Der Besucher wurde von einem Beamten bis in den 7. Stock begleitet und dort von einem Vollzugsbeamten empfangen und zum Besucherraum geführt. Außer bei Anwaltsbesuchen waren immer ein Vollzugsbeamter und ein Beamter des LKA bei den Besuchen anwesend.

Punkt (E), Anwaltsbesuch bei den Häftlinge im 7. Stock

Das gleiche Kontrollsystem wie beim Zugang zum MZG galt auch bei Besuchen der Anwälte. Für die Besuchsüberwachung im 7. Stock waren vier Vollzugsbeamte der JVA Stammheim verantwortlich.48 Die Vollzugsbeamten tasteten die Kleidung ab, Tascheninhalte wurden heraus gelegt und untersucht. Dann wurde mit einem »Ebinger«-Metallsuchgerät der gesamte Körper abgescannt und mitgeführte Akten aus den Aktentaschen der Anwälte entnommen. Die Taschen wurden weggeschlossen und die Akten, ohne den Inhalt zu lesen, durchsucht und umgeheftet.49 Der Rechtsanwalt Peter O. Chotjewitz gab am 9.1.1978 in seiner Stellungnahme zu den Vorfällen gegenüber der Staatsanwaltschaft Stuttgart an, »dass ich selber bei Besuchen in der Anstalt immer sehr gründlich und detailliert untersucht worden bin und dass die Sonde zum Teil sogar auf Nägel in den Schuhen reagiert hat.«50

Das sogenannte Hosenladengesetz trat Anfang 1977 in Kraft. Bis dahin hatte keine rechtliche Möglichkeit zu einer weiteren Untersuchung bestanden, wenn der Metallreißverschluss einer Hose am Metallsuchgerät anschlug. Nach diesem Zeitpunkt wurde nun nach einem Signalton des Metallsuchgerätes am Reisverschluss vom Besucher verlangt, den Reißverschluss zu öffnen, um den Genitalbereich nochmals abzuscannen. Damit wollte man erreichen, dass in der Hose versteckte Metallgegenstände bei geöffnetem Reisverschluss stärker anschlagen.51 Bei den Metallsuchgeräten konnte man die Empfindlichkeit der Sonde einstellen. Nach der Erhöhung der Empfindlichkeit beim Prüfen des Genitalbereichs hätten größere Metallgegenstände daher stärker angesprochen, es wäre also ein lauterer Signalton ertönt, als bei vergleichweise kleinen Reißverschlüssen.52

Die Zuverlässigkeit der Geräte gab keinen Anlass zu Klagen. Lediglich ein Vollzugsbeamter fand, dass die »Ebinger«-Sonden recht unzuverlässig seien. Durch eigene Versuche fand er heraus, dass die Geräte ab 25 cm Entfernung zum Körper ungenau arbeiteten. Tatsache ist, dass er nur aushilfsweise in der III. Abteilung eingesetzt war, genau dreimal. Während seiner sonstigen Dienstzeit hatte er nur zweimal Dienst in der Kontrollschleuse und war daher zwangsläufig auf die Erfahrung und Einweisung der anderen Kollegen angewiesen.53

Am 27.10.77 bescheinigt das LKA (BW) die fehlerfreie Funktionsfähigkeit. An zwei Geräten soll eine Art Wackelkontakt bestanden haben, der durch einfaches Lösen und Wiederbefestigen des Membranrings behoben worden war. Um solche Funktionsmängel zu erkennen, wurden die Geräte grundsätzlich vor der Inbetriebnahme überprüft. Bei der Überprüfung der Empfindlichkeit der Sonden konnten die LKA-Tester feststellen, dass die Geräte bereits bei einer Entfernung von 10 cm auf einen Nagel in einer Holzwand reagierten, ein Schlüsselbund wurde aus ca. 20-25 cm Entfernung geortet.54

Punkt (F), Kontrollen der Anwälte / Besucher beim Prozess

Die Durchsuchungen der Besucher und der Anwälte, die am Gerichtsverfahren im MZG teilnahmen, waren intensiv und wurden von speziell geschulten Beamten der Kriminalpolizei durchgeführt. So wurden alle Jacken- und Hosentaschen ausgeleert, die Jacke ausgezogen und einem Beamten übergeben. Die Jacke und der Körper wurden mit den Händen abgetastet und danach mit Hilfe einer Metallsonde durch einen Beamten abgescannt, inklusive des Genitalbereichs. Ebenfalls mit der Metallsonde erfolgte die Überprüfung der ausgezogenen Schuhe, durch Biegen wurden die Schuhe darüber hinaus auf feste Gegenstände in der Sohle untersucht.

Einige Besucher versuchten, Kugelschreiber, Fotoapparate, Tonbandgeräte oder auch Lebensmittel, wie Tomaten und Eier, mit in das MZG zu nehmen. Diese Gegenstände wurden eingezogen und dem Besucher nach dem Verlassen der Verhandlung zurück gegeben. Gefunden wurden auch ein Gramm Haschisch, ebenso eine Gaspistole bei einer Schülerin. Beides wurde von der Polizei eingezogen. Lediglich die Vertreter der Presse durften Schreibstifte für ihre Arbeit zur Verhandlung mitnehmen, die jeweils aufgeschraubt und untersucht wurden.55

Ein holländischer Journalist schreibt: »Eine Kontrolle nach der anderen. Elektronisch bediente Schleusen. Für eine x-beliebige Sitzung einer öffentlichen Verhandlung muss der Pass abgegeben werden. Und als ich in einer geschlossenen Kabine mit zwei Sicherheitsbeamten meine Hose herunterlasse, kommt mir doch der Gedanke: ›Ist öffentlich eigentlich noch öffentlich?‹ Meine Hose erzeugt offensichtlich Missbilligung, da ihre Nähte so dick sind. Und da kann man ja offensichtlich alles Mögliche drin verstecken, denken die Herren, die auch meine Geschlechtsteile sorgfältig inspizieren, obwohl der Detektor doch schon festgestellt hatte, dass ich metallfrei bin.«56

Die französische Tageszeitung »Le Monde« berichtet: »Die erste Polizeisperre ist 400 m vor dem Eingang zum Gerichtsgebäude postiert. Erste Ausweiskontrolle, während das Auto von einem Polizisten genau fotografiert wird. Ehe der akkreditierte Journalist in die Durchsuchungszelle vordringen kann, wo er – beide Hände gegen die Wand gestemmt – eine sorgfältige Filzerei durch zwei Zivile über sich ergehen lassen muss, hat er nicht weniger als drei Identitätsprüfungen hinter sich zu bringen. Erlaubt sind nur ein Notizblock und ein Bleistift. Alle anderen Sachen werden konfisziert und erst wieder am Ausgang zurückgegeben.«57

Die Anwälte hatten während der Verhandlung direkten Kontakt mit den Häftlingen und konnten ihnen auch Handakten zur Vorbereitung und Diskussion der nächsten Verhandlungstage übergeben. Um das Einschmuggeln unerlaubter Gegenstände zu verhindern, wurden daher bei den Anwälten die Kontrollen noch auf die mitgeführten Akten erweitert. Die Tasche mit den Verteidigerunterlagen wurde abgestellt und die Papiere und Ordner an einen Beamten übergeben. Da der Inhalt der Unterlagen nicht gelesen werden durfte, wurden lose Papiere durchgeblättert und Ordner mit dem Rücken nach oben gehalten und von unten durchgeblättert. Außerdem wurden die Ordner und losen Papiere mit der Metallsonde gescannt.58

Im MZG wurde zu Beginn der Verhandlung eine Sonderwache der Polizei eingerichtet. An jedem Verhandlungstag waren 16 Beamte für die Kontrolle der Besucher eingesetzt, 10 männliche und 6 weibliche. Speziell für die Kontrolle der Anwälte waren darüber hinaus zwei Beamte eingeteilt.59 Die insgesamt 30 eingesetzten Beamten wechselten und man konnte als Rechtsanwalt nicht vorhersehen, wann welcher Beamte Dienst hatte.60

Während des Prozesses waren die Aufgaben der LKA-Beamten klar definiert, jeder hatte seinen Bereich. Vor dem ersten Einsatz eines Beamten gab es eine 2 ½ bis 3-stündige Einweisung, danach gab es vor jedem Einsatztag eine weitere Unterweisung. Jeder Einzelne wurde auf die peinlich genaue Einhaltung der Anweisungen hingewiesen und war sich daher seiner Verantwortung bewusst.61

Wenden wir uns jetzt der Aussage des Kronzeugen Volker Speitel62 zu, die Waffen seien während der Prozesstage in präparierten Handakten in das MZG der JVA Stammheim geschmuggelt worden. Unter Handakten versteht man Akten aller Art, Blätter in Hängeregistern, also lose Blätter, sowie Blätter in Aktenordnern. Volker Speitel sagt während seiner Verhandlung vor Gericht aus, dass die Anwälte die relativ dünnen Handakten nie aus den Händen gegeben haben, sondern vor den Augen der Durchsuchungsbeamten selbst durchblätterten.63 Anders stellen das die bei den Kontrollen eingeteilten Beamten sowohl vor dem Untersuchungsausschuss als auch bei der späteren Verhandlung gegen die RAe Arndt Müller und Armin Newerla dar. Auf die Frage an KHM Heble, ob er die Akten immer selbst in die Hand genommen habe, antwortet er: »Ich habe sie immer selbst in die Hand genommen.« KHM Knop auf die gleiche Frage: »Die Wahlverteidiger haben die Akten, die sie in den Armen trugen, immer übergeben.«64 27 von 30 Polizeibeamten bestätigen bei der Verhandlung gegen die RAe Müller und Newerla, dass die Anwälte ihre Handakten zur Durchsuchung immer übergeben haben. Lediglich 3 Beamte geben an, dünne Handakten und lose Blätter nicht selbst in die Hand genommen zu haben, da diese zu dünn gewesen seien, um als Verstecke für Waffen hätten dienen können.65

Ich habe eine solche Handakte präpariert, um festzustellen, ob es möglich gewesen wäre, diese durch eine der oben beschriebenen Kontrollen zu bringen. Dazu habe ich entsprechend der Aussage Volker Speitels in einen Stapel aus 230 Blatt Papier mit einer Dicke von 2,5 cm mit einem Teppichmesser einen Hohlraum in der Größe einer der in Stammheim gefundenen Waffen geschnitten. Um den Hohlraum zu stabilisieren, habe ich, wie von Speitel beschrieben, die Innenkanten des Hohlraums mit Leim bestrichen.

Daraufhin wurde die Akte von mir und einigen Bekannten überprüft.

Erstellung eines Hohlraumes für eine Waffe in einer Handakte, 17 x 13 cm, Rand oben bis zum Hohlraum 3 cm, Rand unten bis zum Hohlraum 5 cm.

Der verklebte Hohlraum in einer Handakte mit Waffe.

Nur die ersten 5 Zentimeter am Rand kann man wie in einem Daumenkino durchblättern, der verklebte Hohlraum lässt sich sofort erkennen. Auch wenn die Akte kopfüber gehalten wird, verhindert der verklebte Hohlraum im Inneren des Papierstapels ein stockungsfreies Durchblättern.

Wenn ich den Papierstapel wie bei einem Daumenkino durchblätterte, so ließ sich dieser Vorgang stockungsfrei nur bei der oberen Lage oder der unteren Lage bewerkstelligen. Der Hohlraum fällt sofort auf, da er ein verklebter Papierblock ist.

Wird der Ordner am Rücken festgehalten, so dass die lange offene Seite nach unten zeigt, stockt der Vorgang des Durchblätterns, sobald die zusammen geklebten Seiten erreicht werden. Man ist gezwungen, den kompletten Stapel genauer zu untersuchen, aufzublättern und der Hohlraum wird gefunden. Auch ein Umheften lässt sich nicht bewerkstelligen, da der zusammen geklebte Teil mit dem Hohlraum nicht aus der Halterung des Ordners entfernt werden kann, da die Lage Papier zu dick ist.

Der verklebte Hohlraum lässt sich nicht aus der Halterung herausnehmen.

Laut Volker Speitels Aussage wurden solche Schmuggelaktionen mehrfach durchgeführt. Auf diese Weise sollen eine Minox Kamera, drei Handfeuerwaffen in Einzelteilen66, eine Vielzahl von Patronen, neun Sprengstoffstangen, eine Unmenge von Kleinkram, Radios und eine Kochplatte eingeschmuggelt worden sein. Allein eine Kochplatte ist aufgrund ihrer Größe von ca. 15 cm Durchmesser, 3 bis 5 cm Höhe und dem damit verbundenen Gewicht unmöglich in einer Handakte unterzubringen und unbemerkt einzuschleusen. Eine Kochplatte wurde bei Zellendurchsuchungen nie sichergestellt. Der Besitz einer solchen war auch nicht illegal, wozu hätte irgendjemand das mit einer Einschleusung verbundene Risiko auf sich nehmen sollen?

In dem Prozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) gegen die Verteidiger Arndt Müller und Armin Newerla im Jahre 1980 werden beide Anwälte zu mehrjährigen Haftstrafen und Berufsverbot verurteilt. Arndt Müller soll während des Verfahrens im Stammheimer MZG die Waffen den Angeklagten in Handakten weitergegeben haben, Armin Newerla in der Vorbereitung dazu mitgewirkt haben. Gestützt wird das Urteil einzig und allein auf die Aussage von Volker Speitel. Während die Bundesanwaltschaft (BAW) darauf verzichtet, diese »gesicherten Erkenntnisse« durch ausführliche Befragung zu verifizieren, lässt die Verteidigung 30 JVA-Beamte befragen. Deren Aussagen allerdings wurden bei der Urteilsfindung in keiner Weise berücksichtigt.

Dieser Indizienpunkt belegt dagegen eindeutig, dass die Beamten sorgsam bei der Durchsuchung vorgegangen sind und ein Schmuggel von Gegenständen in manipulierten Handakten nicht möglich war. Die Aussage von Volker Speitel kann aufgrund dieses Indizienpunktes nicht den Tatsachen entsprechen.67

Punkt (G) Das Mehrzweckgebäude (MZG)

Nach der Leibesvisitation und der Kontrolle der Handakten hatten die Anwälte Zugang zum MZG, dort freien Zutritt zu einem Anwaltszimmer und zum Verhandlungssaal. Außerdem konnten sie sich jederzeit mit den meist im Zellentrakt des MZG untergebrachten Angeklagten treffen. Sie waren dort untergebracht, wenn sie, meist auf eigenen Wunsch, nicht an der Verhandlung teilnahmen und den Gerichtssaal verließen. Aufsicht hatte hier das anwesende Justizpersonal.68 Da die Anstaltsleitung davon ausging, dass sowohl die Anwälte als auch die Häftlinge kontrolliert worden waren, also beim Betreten des MZG »sauber« waren, gab es keinen Grund, die Häftlinge vor der Rückführung in ihre Zellen nochmals zu durchsuchen.69

Punkt (H) Besucherraum, auch für Anwaltsgespräche

Der Ablauf für die Nutzung des Besucherraumes war immer gleich. Besucher wurden, wie bereits im Punkt E beschrieben, durchsucht und man konnte sicher sein, dass sie keine unerlaubten Dinge bei sich hatten, wenn sie dorthin geführt wurden. Da im 7. Stock zur Reinigung des Besucherraumes »normale« Gefangene eingeteilt waren, die Zugang zu den Besucherräumen, Warteräumen, Toiletten usw. hatten, hätte es dort unter Umständen die Möglichkeit gegeben, Gegenstände zu verwahren, die von den Häftlingen mitgenommen werden konnten. Um dem vorzubeugen gab es nach den Besuchen immer eine körperliche Kontrolle der Häftlinge. Auch die Besucherräume wurden vor und nach einem Besuch immer genau kontrolliert.70 Bei Anwaltsbesuchen gab es offiziell keine Aufsicht, die Gespräche wurden jedoch unter Bruch aller Gesetze, die den Schriftverkehr sowie alle Gespräche zwischen Anwalt und Mandant besonders schützen, abgehört.71 Angefangen hat die Abhöraffäre einen Tag nach der Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm, also am 25. April 1975, zuletzt wurden die Gespräche am 25. Januar 1977 abgehört.72

Alle anderen Besuche wurden immer unter Aufsicht eines Vollzugsbeamten und eines Beamten vom LKA durchgeführt.73

Punkt (I) Personenkontrollen (Häftlinge) zum MZG

Die Häftlinge wurden morgens im 7. Stock kontrolliert und durchsucht, bevor sie in das MZG gebracht wurden. Dies geschah durch Abklopfen ihrer Kleidung und das grobe Sichten ihrer umfangreichen Unterlagen. Außer dieser einen Durchsuchung am Morgen wurden die Häftlinge dann während des gesamten Tagesablaufes nicht mehr überprüft oder durchsucht, auch nicht mehr, wenn sie abends in ihre Zellen zurückgebracht wurden.74

Zum Transport von Prozessunterlagen bekamen die Gefangenen jeweils eine eigene, hierfür vorgesehene Aktentasche, die sie kurz vor dem Verlassen des 7. Stocks erhielten. Nach der Rückkehr vom Prozess in ihre Zellen haben die Gefangenen die Akten wieder aus der Tasche gepackt und diese zurückgegeben.75

Punkt (J) Personenkontrollen vor und nach Betreten des Besucherraums

Vor und nach einem Besuch wurden die Häftlinge einer Leibesvisitation unterzogen, die Schuhe mussten ausgezogen werden und wurden untersucht.76

Punkt (K) Die Vollzugsbeamten

Das Stammpersonal für den 7. Stock war auf seine Zuverlässigkeit hin ausgewählt worden. Die Beamten waren auch von den für die Sicherheitsüberprüfung zuständigen Behörden vorher unter die Lupe genommen worden. Sind Unregelmäßigkeiten bekannt geworden, wurden diese Beamten dort nicht mehr eingesetzt.77 Beispielsweise versetzte man vorsorglich Helmut Koutny, nachdem interne Informationen an die Presse gelangt waren. Seine Frau arbeitete in dem Hotel, in dem häufig Mitarbeiter der Presse übernachteten.78

Der Vollzugsbeamte Rudolf Hauk hat an der Auswahl der im 7. Stock der III. Abteilung eingesetzten Beamten mitgewirkt. Maßgebend für den Einsatz waren eine bis dahin gewissenhafte Tätigkeit, eine hohe Belastbarkeit sowie ein ruhiges und sachliches Auftreten. Bei der Diensteinteilung hat er versucht, immer die selben Beamten über einen längeren Zeitraum hinweg in der III. Abteilung einzusetzen.79

Punkt (L) Externe Zulieferer

Alle Verantwortlichen wussten, dass sich »normale« Häftlinge Dinge von außerhalb durch externe Zulieferer besorgen lassen konnten. Durch den persönlichen Kontakt dieser Häftlinge mit den Zulieferern hätte ein Schmuggel verabredet werden können. Die Lieferungen wurden zwar beim Eintreffen kontrolliert, bei einer ungenauen Untersuchung der angelieferten Ware durch die Beamten ist allerdings eine Einschleusung unerlaubter Gegenstände auf diesem Weg denkbar. Die Häftlinge der III. Abteilung hatten aber weder Kontakt zu den anstaltseigenen Arbeitsbetrieben, noch zur Küche oder zu externen Zulieferern.80

Punkt (M) Baden der Häftlinge

Die Häftlinge wurden einzeln von einem Vollzugsbeamten zum Bad geführt. Da während der Benutzung des Bades kein Vollzugsbeamter anwesend war, wurde das Bad vor und nach der Benutzung gründlich durchsucht.81

Punkt (N) Vorführzellen MZG

Um die Vorführzellen für die RAF-Gefangenen im MZG frei von unerlaubten Gegenständen zu halten, wurden diese Zellen von freiwilligen Vollzugsbeamten der JVA gereinigt. Nur so war auszuschließen, dass zur Reinigung eingesetzte Mithäftlinge unerlaubte Gegenstände dort hätten hinterlegen können. Die Reinigung der Vorführzellen im restlichen Bereich der JVA Stammheim wurde generell von Häftlingen durchgeführt.82

Punkt (O) Warteräume/Toiletten im III. Stock

Dieser Bereich wurde auch von anderen Gefangenen benutzt. Es konnte also nicht ausgeschlossen werden, dass hier Gegenstände, vor allem in den Toiletten, deponiert werden. Die Häftlinge wurden daher bei der Rückkehr in ihre Zellen einer Leibesvisitation unterzogen.83

Die Minox-Kamera

Am 13.9.1977 übergab der Vollzugsbeamte Peter Grossmann dem Anstaltsleiter Schreitmüller eine Minox-Kamera. Andreas Baader musste zu diesem Zeitpunkt von der Zelle 719, die neben der Zelle von Jan-Carl Raspe lag, in die Zelle 715 umziehen. Nach dem Umzug bat Andreas Baader den Beamten Peter Grossmann, ihm doch noch die Kaffeefilter aus seiner alten Zelle zu holen, dabei findet Grossmann dann in einer Dose mit Kaffeefiltern die Kleinbildkamera.84

Diesen zufälligen Fund der Minox-Kamera stellt der Beamte Willi Stapf fälschlicherweise als eine von Vollzugsbeamten durchgeführte Durchsuchung der Zelle 719 dar, bei der am 14. oder 15.9.1977 die Zelle 719 komplett durchsucht und die Minox-Kamera in einer Dose mit Kaffeefiltern gefunden worden sei.85 Die Zelle 719 wie auch die anderen Zellen waren bereits in der Nacht des 5.9.1977 vom LKA intensiv durchsucht worden86, ohne allerdings eine Kamera zu finden. Die Kaffeefilter auf dem Bücherregal dürften den untersuchenden LKA-Beamten sicherlich nicht entgangen sein.

Laut Volker Speitels Aussage soll die Kamera als erstes Versuchsobjekt im Herbst 1976, also ein knappes Jahr vor dem Fund und einer Vielzahl von Zellendurchsuchungen, während der Verhandlung in Stammheim in einer von ihm präparierten Handakte in das MZG eingeschleust worden sein.87

Zum Thema Minox-Kamera erklärt Ingrid Schubert, dass sie während ihrer Haftzeit in Berlin eine Minox-Kamera mit vier Filmkassetten von Mithäftlingen organisieren konnte. Sie war in Berlin im »normalen« Vollzug. Die Kamera und die Filme nahm sie bei ihrer Verlegung am 3.6.1976 von Frankfurt am Main nach Stammheim mit.88 Ingrid Schubert, die im langen Flügel89 des 7. Stocks untergebracht war, ist sowohl beim Hofgang als auch beim Umschluss mit der Vierergruppe zusammen gewesen und kann die Kamera somit problemlos übergeben haben.90

Mit dieser Kamera wurden u.a. die Aufnahmen aus dem Inneren von Stammheim gemacht, die Astrid Proll in ihrem Buch »Hans und Grete« publiziert hat. Die Filme konnten über Privat- und Anwaltsbesuche die JVA verlassen, so Ingrid Schubert.

Damit dürfte auch durch ein weiteres Indiz erhärtet sein, dass die Aussagen des Kronzeugen Speitel nicht stimmen, denn im 7. Stock von Stammheim wurde nur eine Minox-Kamera gefunden und nicht zwei.

Zusammenfassung

Wir haben oben aufgezeigt, dass das Schmuggeln von Waffen und anderen Gegenstände aus Metall über das MZG in die III. Abteilung in präparierten Handakten nicht möglich war. Die verantwortlichen Beamten hätten ansonsten grob fahrlässig gehandelt und somit wissentlich andere Personen und vor allem sich selbst unmittelbar in Gefahr gebracht, was ein solches Vorgehen auf jeden Fall ausschließt.

Selbst wenn man annimmt, es wäre erfolgreich Sprengstoff zu den Häftlingen geschmuggelt worden – Metallsuchgeräte reagieren darauf nicht – so können wir diesen Punkt hier vernachlässigen. In der Nacht vom 17. auf den 18.10.1977 wurde der 7. Stock schließlich nicht in die Luft gesprengt. Auf die Tatsache, dass nach dem 18.10. bei Durchsuchungen der Zellen in der III. Abteilung Sprengstoff gefunden wurde, werde ich später noch eingehen.91

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Landtages Baden-Württemberg stellte unter Punkt 3 Nr. 1a) »Wie konnten die Gefangenen Baader und Raspe in den Besitz von Schusswaffen gelangen« außerdem fest, dass die Handakten alle gründlich kontrolliert wurden, ohne Ausnahme den Anwälten aus der Hand genommen und dann durchgeblättert wurden. Mitunter hätten die zuständigen Beamten darüber hinaus die Handakten mit dem »Elbinger«-Metallsuchgerät überprüft. »Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme muss die Frage, wie die Gefangenen in den Besitz von Waffen und Sprengstoff gelangt sind, letztlich offen bleiben.«92

Und auch die Bundesanwaltschaft kann den Schmuggelweg in den Handakten nicht beweisen. Im Prozess gegen die RAe Arndt Müller und Armin Newerla musste die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer am 21.12.1979 im kriminalistischen Teil einräumen, dass der genaue Hergang der Transporte der Waffen nicht zu ermitteln gewesen ist.93

Diese Feststellungen des Untersuchungsausschusses von Baden-Württemberg sowie der Bundesanwaltschaft stehen somit in einem direkten Gegensatz zu den Einlassungen des damaligen Generalbundesanwalts Rebmann vor dem Untersuchungsausschuss vom 12.1.1978, der Weg der Waffen über die Anwälte sei eine gesicherte Erkenntnis. Mit dieser Aussage Rebmanns wird der Schmuggel von Waffen in den Handakten bis heute zum einzig möglichen Weg erklärt. Alle Fernsehdokumentationen zum Thema RAF und auch Stefan Aust in seinem Buch »Der Baader-Meinhof Komplex« stellen diesen wichtigen Punkt falsch dar.

Festzuhalten bleibt allerdings noch: Einige Personengruppen wurden vor dem Betreten des Hochsicherheitsbereichs nicht durchsucht. Dies waren Anstaltsbedienstete, Bedienstete der Aufsichtsbehörde, Haftrichter, Haftstaatsanwälte, Angehörige der Polizei, der Kriminalpolizei, Ärzte, die aushilfsweise Dienst taten.94 Hier ist nie nach einer möglichen Lücke gesucht worden, diesem Punkt ist in offiziellen Berichten keine wesentliche Beachtung geschenkt worden.

(2) Das Kommunikationssystem

Bereits im Oktober 1977 wird öffentlich bekannt, dass in den Zellen 716 bis 725 ein funktionsfähiges Kommunikationssystem vorhanden gewesen sein soll.95 So wird bis heute in allen offiziellen Darstellungen behauptet, dass sich die Häftlinge nach dem Ende der Landshut-Entführung über dieses Kommunikationssystem verständigt und einen kollektiven Selbstmord verabredet hätten. Auch Alfred Klaus, der »Familienbulle«, schreibt von einer perfekt funktionierenden Kommunikationsanlage.96 Um diese Möglichkeit zu untersuchen habe ich alle Skizzen, Gutachten und Aussagen über das Kommunikationssystem geprüft.97 Diese Akten waren für das TEV und den Untersuchungsausschuss BW die Grundlage für die Erklärung einer Absprache zum Selbstmord über ein Kommunikationssystem.

Hier die Skizze, welche Leitungen in den Zellen vorhanden waren:

Generell gab es in allen Zellentrakten der JVA Stammheim verschiedene Leitungen, die die Zellen mit Wechselstrom (blau) versorgten oder zum Radionetz (rot) gehörten, so auch in der III. Abteilung.

In jede Zelle wurden Musik und Nachrichten über das Radionetz der JVA Stammheim zentral verteilt, an das sich die Häftlinge mit einem Kopfhörer über entsprechende Dosen anschließen konnten. Die Schaltpläne aus dem Gutachten zeigen, dass von einer Dose aus jeweils zwei Kabel weiter in die nächste Zelle geführt wurden.98

Nach dem Beginn der Kontaktsperre am 6.9.1977 wurde die III. Abteilung im 7. Stock vom Radionetz abgetrennt. Die Trennung erfolgte in der Zelle 709, einer ehemaligen Besucherzelle für die Rechtsanwälte, und in der zu dieser Zeit nicht belegten Zelle 725. Es gab nun zwei Radionetze, einmal von der Zelle 718 bis zur Zelle 725 und zwischen den Zellen 715 und 716.

Die Zellen 715 und 716 waren danach mit den restlichen Zellen in der III. Abteilung nicht mehr über das Radionetz verbunden. Wie soll dann aber eine Kommunikation zwischen allen belegten Zellen möglich gewesen sein? In der offiziellen Darstellung und im Gutachten über die Kommunikationsmöglichkeiten kam das Stromnetz (blau) von Zelle 715 zur Zelle 719 ins Spiel. Das Stromnetz wurde ab dem Beginn der Kontaktsperre abends um 23:00 Uhr abgeschaltet und hätte dann für eine Verbindung zum Radionetz benutzt werden können.99 Um alle Häftlinge in das Kommunikationsnetz integrieren zu können, soll, wie in der Skizze eingezeichnet, in Zelle 719 eine Verbindung (grün) zwischen dem Radionetz und dem Stromnetz hergestellt worden sein.

Geräte und Kabel aus den Zellen

Im Gutachten von Otto Bohner sind alle vorgefundenen technischen Geräte und Kabel aufgeführt.100 Ich konnte damit herausfinden, ob und in wieweit sie für die behauptete Kommunikationsanlage brauchbar waren. In Klammern und kursiv sind die Teile aufgeführt, die nicht verwendet werden konnten, was später noch nachgewiesen wird:

Zelle 716: (Jan-Carl Raspe) 1 Philips Plattenspieler mit Verstärker, 1 Lautsprecher, in einem Pappkarton mehrere Kabel mit Stecker. (1 Kopfhörer Sennheiser HD 400 original und daher mit einem 6,3 mm Klinkenstecker versehen und an diesem Verstärker nicht anschließbar, eine gefundene Mikrofonkapsel war nicht funktionsfähig.)

Zelle 719: (Andreas Baader) 1 Verstärker Dual CV 60, 1 Plattenspieler Braun, 1 große Lautsprecherbox, 1 Kopfhörer Sennheiser HD 400 beide Muscheln auf einem Stecker (6,3 mm) verdrahtet, einige Meter vieradriges Diodenkabel. (1 große Lautsprecherbox mit 3mm Ohrhörerstecker konnte nirgends angeschlossen werden, 2 Ohrhörer mit 3 mm Stecker konnten nirgends angeschlossen werden, eine einzelne Hörmuschel HD 400 ohne Kabelverbindung.)

Zelle 720: (Gudrun Ensslin) 1 Philips Plattenspieler mit Verstärker, 2 Lautsprecherboxen, 3m Diodenkabel ein Ende Diodenstecker 5-polig und ein Ende blank. (1 Kopfhörer Sennheiser HD 400 original und daher mit 6,3 mm Klinkenstecker versehen und am Verstärker nicht anschließbar.)

Zelle 725: (Irmgard Möller) 1 Philips Plattenspieler mit Verstärker, 2 Lautsprecherboxen, 1 Kopfhörer Sennheiser HD 424 Enden blank, 3 m Kabel ein Ende Diodenstecker 3-polig ein Ende blank, 1m Kabel ein Ende blank und ein Ende mit Boxenstecker.

Welche technische Voraussetzung für den Aufbau einer Kommunikationsanlage hatten die vorhandenen Geräte? In den Zellen 716, 720 und 725 wurde jeweils ein Plattenspieler mit integriertem Verstärker der Marke Philips Modell 22 GF 351/04 gefunden.101 Die Anschlussmöglichkeit für weitere Geräte war auf der Rückseite ein 5-poliger Diodenstecker mit der üblichen Belegung:

Die Pins 1 und 2 oder 4 und 2 können jeweils als Monoeingang (Record) genutzt werden, Stereoqualität war nicht gefordert. Die Pins 3 und 5 plus Masse werden für den Ausgang (Play) von Tonsignalen an ein externes Gerät benutzt. Dass die Ausgänge nicht benutzt wurden, sehen wir später.

Jeder Philips-Plattenspieler hatte zwei herkömmliche Boxenausgänge für den Kanal links und rechts:

Der in Zelle 719 (Andreas Baader) gefundene Verstärker Dual CV 60 hatte ein paar Anschlussmöglichkeiten mehr, darunter einen speziellen Eingang für ein Mikrofon, ganz rechts im nachfolgenden Bild:

An der Frontseite war eine Anschlussmöglichkeit für einen Kopfhörer mit 6,3 mm Klinkenstecker, auf dem nachfolgenden Bild rechts:

Zuerst die Theorie: Aufbau einer Kommunikationsanlage

Wie muss mit den vorhandenen Geräten eine einseitige Kommunikationsanlage aufgebaut sein? Hierfür müssen die zwei blanken Kabelenden von einem Mikrofon in den Eingang des ersten Verstärkers gesteckt werden (Diodenstecker Pin 1 + 2 oder 4 + 2). Zur Übertragung der Tonsignale des Mikrofons an das zweite Gerät muss eine Leitung mit ebenfalls zwei Adern in den Boxenausgang gesteckt und beim Empfänger am Eingang angeschlossen werden (Diodenstecker Pin 1 + 2 oder 4 + 2). Zur Wiedergabe wird ein normaler Lautsprecher an den Boxenausgang gesteckt:

Das wäre eine einseitige Kommunikation zwischen zwei Geräten, links sprechen und rechts hören. Das Radionetz von Zelle zu Zelle war eine zweiadrige Leitung, daher muss die Konstruktion einer Wechselsprechanlage wie folgt aussehen:

Die blanken Enden der Leitung werden an beiden Verstärkern mit dem Eingang (Diodenstecker Pin 1 + 2 oder 4 + 2) verbunden und jeweils ein Mikrofon mit der Leitung verdrillt. Bei diesem Aufbau darf nur einer sprechen. Sprechen beide Seiten gleichzeitig, gibt es eine Rückkopplung, die sich mit einem Pfeifton meldet.

Ein Ausbau einer Wechselsprechanlage über mehrere Zellen kann folgendermaßen erweitert werden:

Ebenso wie bei der Verbindung von zwei Verstärkern darf auch hier nur einer sprechen. Auf den Schaltplänen im Gutachten kann man sehen, dass das Radionetz in der JVA Stammheim zwischen den Zellen zweiadrig war, daher konnte bei einer Wechselsprechanlage kein anderer Aufbau erfolgen.102

Um eine möglichst einwandfreie Verständigung zu erreichen, müssen am besten Mikrofone verwendet werden. Lautsprecher, wie im Gutachten beschrieben, sind hierfür aufgrund ihrer geringen Ohmzahl und der mechanischen Unempfindlichkeit der Membrane für den Schalldruck ungeeignet. Zum besseren Verständnis muss man sich mit der Messgröße Ohm, auch als Widerstand oder Impedanz bekannt, ein wenig beschäftigen. Übliche Lautsprecher hatten und haben in der Regel 4-8 Ohm, Mikrofone 600 Ohm oder mehr. Herkömmliche Lautsprecher sind durchaus als Behelfsmikrofone für Testzwecke nutzbar, allerdings sind sie wegen ihrer geringen Ohmzahl und dem damit »gebremsten« Durchfluss sowie der Unempfindlichkeit der Membrane zur Übermittlung von Tönen mehr als unzureichend. Man muss sehr laut sprechen, fast schon rufen. Zur Gegenseite wird auch dann nur ein matter, kaum hörbarer Ton übertragen, der sich bei einer langen Kabelverbindung noch verschlechtert.

Die Praxis: Testaufbau Kommunikationsanlage

Zusammen mit einem befreundeten Elektroniker besorgte ich die Geräte und Kabel aus dem Gutachten von Otto Bohner. Die damaligen Modelle der Plattenspieler aus den Zellen103 sind heute schwer zu bekommen. Zuerst habe ich im Internet nach Dattenblätern der Plattenspieler gesucht und wurde glücklicherweise fündig. Ich habe dann Philips-Plattenspieler verwendet, die weitgehend baugleich sind, also für den Test ohne Abstriche genutzt werden konnten.

Folgende Geräte sind für den Test verwendet worden:

Philips 22 GF 347 mit 2 Boxen,

Philips 22 GF 651 ohne Boxen

Beide Geräte haben die gleiche Funktionsweise wie der 22 GF 351. Sie sind sowohl mit 220 V als auch mit Batterie zu betreiben, haben einen eingebauten Verstärker und die gleichen Anschlussmöglichkeiten.

Zur allerersten Übersicht haben wir die Plattenspieler aufgeschraubt und die Bauteile mit den Schaltplänen verglichen. Die Philips-Plattenspieler haben zwei Ausgänge für die Boxen sowie einen 5-poligen Diodenanschluss für ein externes Gerät.