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Die lebenstüchtige selbständige Steuerberaterin und alleinerziehende Mutter Cecilia leidet seit einem halben Jahr unter extremen Angst- und Panikstörungen, die sie so weit beeinträchtigen, dass sie nicht mehr fähig ist, ihren Beruf auszuüben und einen normalen Tagesablauf zu bewältigen. In 25 Therapiestunden rollt sie gemeinsam mit ihrer Therapeutin die letzten sechs Jahre ihres Lebens auf, um die Auslöser zu finden, aber vor allem in gemeinsamer Arbeit die Attacken loszuwerden, um wieder frei und selbstbestimmend leben zu können. Als Grundlagen des Romans dienten weitestgehend die persönliche Geschichte sowie die Therapie der Autorin.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Panikattacken
Teil 1
Angst und Verantwortung
Monique Lhoir
Teil 1
Angst und Verantwortung
Entwicklungsroman
Impressum
Texte: © 11/2025 Copyright by Monique Lhoir
Umschlag: © 11/2025 Copyright by Monique Lhoir
Verantwortlich
für den Inhalt: Monique Lhoir
21395 Tespe OT Bütlingen
www.monique-lhoir.de
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH,
Berlin
Hoffnung und Angst sind unzertrennlich,
denn es gibt keine Angst ohne Hoffnung
und keine Hoffnung ohne Angst.
Frei nach
François VI. de La Rochefoucauld (1613 - 1680)
franz. Offizier, Diplomat und Schriftsteller
Die lebenstüchtige selbständige Steuerberaterin und alleinerziehende Mutter Cecilia leidet seit einem halben Jahr unter extremen Angst- und Panikstörungen, die sie so weit beeinträchtigen, dass sie nicht mehr fähig ist, ihren Beruf auszuüben und einen normalen Tagesablauf zu bewältigen.
In 25 Therapiestunden rollt sie gemeinsam mit ihrer Therapeutin die letzten sechs Jahre ihres Lebens auf, um die Auslöser zu finden, aber vor allem in gemeinsamer Arbeit die Attacken loszuwerden, um wieder frei und selbstbestimmend leben zu können.
Als Grundlagen des Romans dienten weitestgehend die persönliche Geschichte sowie die Therapie der Autorin.
Vorwort
Vor über dreißig Jahren steckte ich in der schlimmsten Krise meines Lebens. Wie aus dem Nichts bekam ich von einer Sekunde zur anderen in der U-Bahn meine erste Panikattacke. Diese Attacken wiederholten sich ab diesem Zeitpunkt mehrmals täglich, sodass ich nicht mehr in der Lage war, meinen Beruf auszuüben, meine alltäglichen Arbeiten zu verrichten und auch an keinem sozialen Leben mehr teilnehmen konnte.
Hinzu kam die Angst, als alleinerziehende Mutter unter diesen Umständen zukünftig nicht mehr in der Lage zu sein, den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ständig kreisten meine Gedanken darum, dass ich trotz mehrmaliger fachärztlicher Untersuchungen an einer nichterkannten Herzkrankheit litt. Was würde dann aus meinem Sohn? Fast stündlich kontrollierte ich meinen Herzschlag aus Angst, ich könnte jeden Moment einfach umfallen und sterben. Ich vertraute weder den Fachärzten noch meinem Körper. Und das Schlimmste war, ich fühlte mich völlig allein, hilflos und unverstanden diesen Gefühlen ausgesetzt. Neben diesen Ängsten entwickelte ich Paniken vor dem Autofahren, vor dem Fliegen, vor öffentlichen Verkehrsmitteln, vor überfüllten Einkaufszentren, vor Warteschlangen, vor engen Räumen oder auch darüber, was die anderen Menschen über mich denken oder sagen würden. Die Angstpalette war unendlich, ständig begleitet von schlimmen Panikattacken. Ich funktionierte also nicht mehr so, wie ich funktionieren sollte. Ich funktionierte gar nicht mehr.
Ständig googelte ich nach meinen Krankheitssymptomen und entwickelte immer wieder neue Ängste, gefolgt von neuen Panikattacken und wiederholten Arztbesuchen.
Bis zu dem Zeitpunkt, als ich meine Therapie bei einer hervorragenden Psychologin begann und entschlossen bis zum Schluss und weit darüber hinaus durchzog.
Heute leide ich nicht mehr unter meinen generalisierten Angststörungen und schon mal gar nicht mehr unter Panikattacken. Ich schaffte es, sie gegen Gelassenheit und Vertrauen zu meinem Körper und Kontrolle über mein eigenes Leben auszutauschen. Schon während der Therapie konnte ich langsam wieder meinem Beruf nachgehen und sämtliche Alltagsarbeiten erledigen.
Nach meinem betriebswirtschaftlichen Studium und Controlling absolvierte ich kurze Zeit nach meiner Therapie ein weiteres Studium der Psychologie, spezialisierte mich auf Stress und Burnout und machte einen zusätzlichen Abschluss zur Entspannungstherapeutin. Anfangs war ich wohl eine meiner besten Probanden. Heute weiß ich, was ich selbst tun kann, um keine Panikattacken zu bekommen. Vorteil war, dass ich dieses Zusatzstudium und die weiterführenden Qualifikationen als leitende Mitarbeiterin in mein Berufsumfeld einbauen konnte, denn ich erfuhr, dass es gar nicht so selten ist, dass Mitarbeiter plötzlich unter Panikattacken, Depressionen und Burnout litten – ausgelöst durch übermäßigen beruflichen und privaten Stress sowie unserer heutigen Schnelllebigkeit. Hier galt es, unnötigen Stress in der Firma abzubauen, denn zufriedene und gesunde Mitarbeiter sind das Kapital jeder Unternehmung.
Natürlich habe ich heute noch Ängste. Dieses wichtige Gefühl gehört zum Leben dazu und schützt uns vor tatsächlichen Gefahren. Deshalb gebe ich diesem Gefühl soviel Raum und Zeit, wie es benötigt. Aber danach entlasse ich diese Gefühle auch wieder mit der Gewissheit, dass sie meine Freunde sind und mir und meinem Körper nur Gutes tun oder mich warnen wollen.
Gewiss besiegt man Angst nicht durch ein Psychologiestudium oder durch das Anwenden von Entspannungs- oder Notfalltechniken zur Beruhigung. Das sind lediglich hilfreiche Begleiter, die man auch ohne Panikattacken anwenden kann. Zum Beispiel einfach nur, um sich etwas Gutes zu tun. Sie dienen dem Stressabbau und somit auch als Vorbeugung von stressbedingten Panikattacken.
Den Entwurf meines Entwicklungsromans hatte ich bereits vor fünfundzwanzig Jahren nach meinem damals während der Therapie geführten Tagebuches geschrieben. Das Führen eines Tagebuches war ein wichtiger Bestandteil meiner Therapie, weil ich darin nicht nur die Auslöser für die Attacken festhielt, sondern auch Fragen, die mir meine Therapeutin stellte, still und heimlich für mich beantworten konnte. Einige Zeit später, als ich meine Aufzeichnungen noch einmal las, hinterfragte ich viele meiner damaligen Gedanken und entwickelte daraus eine gesündere Einstellung.
Angst beginnt im Kopf. Bereits in meiner ersten Therapiestunde stellte mir meine Therapeutin die Frage, was ich empfinde, wenn ich mir konzentriert vorstelle, jetzt in eine Zitrone zu beißen. Na? Sauer. Ich verzog den Mund. So ist es mit der Angst vor der Angst. Seitdem liebe ich Zitronen. Allein dieses kleine Spiel brachte mich dazu, mit dem Umdenken zu beginnen.
In meiner Geschichte in Romanform habe ich die ersten fünfundzwanzig Therapiestunden anhand meines Tagebuches recherchiert. Darin ist der schleichende Aufbau des Stresspegels zu erkennen, der schließlich in einer ersten heftigen Panikattacke mündete. Weitere folgten. Wenn ich heute darüber nachdenke, gab es bereits während dieser Zeit viele Anzeichen, die ich nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte. Heute weiß ich, dass ich zum Beispiel bei körperlichen Reaktionen hinsehen und hinhören soll. Ebenfalls weiß ich, wann ich ein klares Nein setzen muss, um mich selbst zu schützen.
In diesem Buch habe ich meine damaligen Gedanken, Gefühle und die Begebenheiten beschrieben. In den einzelnen Therapiestunden gab mir die Therapeutin Notfalltipps, um kurzfristig gegen die Attacken vorzugehen, aber meistens entließ sie mich mit Fragestellungen, sodass ich gezwungen war, mich mit dem einen oder anderen Thema auseinanderzusetzen. Erst später stellte ich fest, dass genau diese Vorgehensweise nach und nach Blockaden und falsche Glaubenssätze löste, die ursprünglich zu den Attacken beigetragen hatten. Diese Methode zeigte mir neue, geänderte Verhaltensweisen. Dadurch lernte ich mich besser kennen, handelte und argumentierte bewusster im Hier und Jetzt.
In dem Roman beschreibe ich allerdings nur meine persönlichen Ursachen, wie ich zu Panikattacken kam. Tatsächlich gibt es unglaublich viele Gründe, weshalb Angst- und Panikstörungen entstehen können. Deshalb ist es stets wichtig, Ärzte zu konsultieren und auf Anraten eine Psychotherapie zu machen. Die Krankenkassen übernehmen die gesamten Behandlungskosten, sofern es sich um eine psychische Störung mit Krankheitswert handelt. Hilfreich und therapiebegleitend sind Entspannungstechniken, die man in vielen Gruppen erlernen kann. Das hat auch den Vorteil, wieder unter Menschen zu kommen und Berührungsängste zu verlieren. Zusätzlich gibt es enorm viele Ratgeber auf dem Büchermarkt, aber leider auch viele schwarze Schafe, die zum Beispiel online-Seminare für teures Geld anbieten und damit die Verzweiflung der betroffenen Personen für sich ausnutzen. Bitte immer prüfen und mit dem behandelnden Arzt absprechen, bevor man unnötig viel Geld ausgibt. Welche Methode die Richtige ist, findet man am besten selbst heraus. Einfach probieren. Das ist schon ein erster Schritt, um aus dem Angstkreislauf herauszukommen. Wenn man merkt, dass einem die ein oder andere Technik guttut, so können die Übungen auch angewendet werden, um sich etwas Gutes zu leisten, denn Stressabbau ist immer gut.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil auf dem Weg zur Heilung ist, alte Freundschaften wieder aufzufrischen und neue zu schließen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mich eine Zeitlang, als die Panikattacken ihren Höhepunkt erreichten, vollkommen abgeschottet habe, aber auch, dass sich viele vermeintliche Freunde zurückzogen. Meine Therapeutin ermunterte mich immer wieder, meine Hobbys wieder zu aktivieren. In erster Linie war dies mein aktives Tennisspiel, was ich allerdings später aufgrund der Rückenverletzung nur noch hobbymäßig betreiben konnte, aber auch wieder mit dem kreativen Schreiben zu beginnen. Hobbys, sei es kreatives Schreiben, Malen, ein Musikinstrument spielen oder andere kreative Tätigkeiten tragen enorm zum Gesundungsprozess bei. Das gilt zum Beispiel nicht nur bei Panikattacken, sondern auch bei Depressionen oder gar einem Burnout. Das Wiedererlangen der Freude an Kreativität ist ungeheuer bereichernd und kann durch Achtsamkeitstraining positiv unterstützt werden.
Angst- und Panikattacken können unvorhergesehen bei jedem Menschen plötzlich auftreten. Um diese Attacken durchzuhalten und danach wieder aufzustehen, muss man ungeheuer viel Kraft aufwenden. Die meisten Menschen können sich das gar nicht vorstellen. Deshalb sind Panikattacken keine Schwäche, sondern eine enorme Stärke. Das sollte sich jeder bewusst machen, der von Panikattacken betroffen ist.
Doch wenn man diese extreme Phase durchgestanden hat, beginnt oftmals ein ganz anderes, viel bewussteres Leben. Ein Leben in Freiheit und Ungezwungenheit.
Wie lange eine Heilung dauert, kann man im Vorfeld nicht sagen. Anfangs glaubte ich überhaupt nicht an Heilung. Aber bereits während der Therapie munterte mich meine Therapeutin immer wieder zu kleinen Schritten auf. Nach fünfzehn Therapiestunden war ich bereits wieder in der Lage, in ein Einkaufszentrum zu gehen, Auto zu fahren – und was noch wichtiger war – wieder zu arbeiten.
Dieser Prozess verlief ebenso schleichend, wie der Prozess zur ersten heftigen Panikattacke, denn dazu gab es die aufgeschriebene Vorgeschichte, die ich langsam mit Hilfe meiner Therapeutin aufarbeitete. Vor allen Dingen war das Verstehen von Zusammenhängen danach nützlich, das mir half, mehr an mich und weniger an andere zu denken.
Es gab auch Rückschläge, die mich mutlos und mit der Angst zurückließen, dass es wieder von vorne losgeht. Doch meist handelte es sich immer um eine Angst vor der Angst. Aber in der Zwischenzeit hatte ich gelernt, mit aufkommenden Panikattacken umzugehen. Sie beherrschten nicht mehr mich, sondern ich beherrschte sie.
Meine Aufzeichnungen aus dem Tagebuch halfen mir enorm, denn die Auslöser waren immer die Gleichen – und die galt es möglichst zu minimieren oder gänzlich zu beseitigen. In meinem Fall waren das falsche Glaubenssätze aus meiner Kindheit, die zu übersteigertem Verantwortungsbewusstsein, ausgeprägtem Helfersyndrom und somit zur übermäßigen Opferbereitschaft führten. Meine Therapeutin drückte es so aus: „Ziehen Sie sich Ihre eigenen Schuhe an, nicht die der anderen“ oder auch aus dem Film Dirty Dancing: „Das ist mein Tanzbereich und das ist deiner.“ Was allerdings nicht heißt, dass ich nach der Therapie weniger verantwortungsbewusst handelte, nur bewusster.
Ihre
Monique Lhoir
Die Psychologin
Dr. Claudia Wöllner, eine angesehene Psychologin mitten in der Düsseldorfer Innenstadt, lernte die Betriebswirtin und Steuerberaterin sowie alleinerziehende Mutter Cecilia von Campen kennen, nachdem die junge Frau seit über einem halben Jahr unter Angst- und Panikstörungen litt und nicht mehr arbeitsfähig war. Cecilia kam in ihre Praxis mit der Überzeugung, keine Therapeutin zu benötigen, sondern an einer ernsthaften Herzerkrankung zu leiden, die von ihrem Internisten nicht erkannt worden war. Verschüchtert stand sie vor dem Schreibtisch, reichte der Psychologin kurz die Hand, so, als ob sie gleich wieder gehen wollte.
„Ich denke nicht, dass Sie mir helfen können“, waren ihre ersten Worte. Dabei schaute sie zu Boden. „Ebenfalls glaube ich nicht daran, dass eine körperliche Erkrankung durch Gespräche geheilt werden kann.“
„Setzen Sie sich erst einmal“, lud Claudia Wöllner sie mit einer Handbewegung ein, führte sie in die Sitzecke und nahm ihr gegenüber Platz. „Sie werden zu nichts gezwungen. Wir unterhalten uns in aller Ruhe. Danach dürfen Sie selbst entscheiden, ob Sie eine Therapie benötigen und vor allen Dingen wollen.“
„Was möchten Sie von mir wissen?“ Cecilia kniff skeptisch die Augen zusammen und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
„Was immer Sie erzählen möchten. Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich ein paar Fragen stelle?“
Die Therapeutin betrachtete Cecilias Gesicht. Ein hübsches Gesicht, nur die tiefen Falten um die Mundwinkel und die glanzlosen Augen ließen es alt erscheinen, obwohl sie eine junge Frau von Mitte dreißig war. Ihre Klientin schien zu überlegen. Sie saß leicht vorgebeugt in dem Sessel, die Schultern hochgezogen, als ob sie sich in sich selbst zurückziehen wollte. Irgendetwas in Cecilias Haltung berührte die Therapeutin. Sie konnte es im Augenblick nur noch nicht einordnen. Auch ahnte Claudia Wöllner zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie ein Teil des Lebens von Cecilia werden würde, eines Lebens, das durch Angst und übersteigertes Verantwortungsbewusstsein fast im Gefängnis geendet hätte.
„Hatten Sie früher öfters Depressionen?“, begann Claudia Wöllner das Gespräch.
„Depressionen? Nein. Ich hatte nie Depressionen.“
„Angst- und Panikstörungen geht meist eine Depression voraus, wussten Sie das nicht?“
„Nein. Ich hatte nie Depressionen.“
„Erzählen Sie mir etwas über sich.“
„Was soll ich erzählen?“
„Vielleicht über Ihre Kindheit? Etwas über Ihre Eltern?“
„Da gibt es nichts Besonderes. Ich war ein völlig normales Kind mit völlig normalen Eltern.“
„Haben Sie Hobbys?“
„Hobbys?“ Cecilia zog die Stirn in Falten. „Früher spielte ich intensiv Tennis. Heute nicht mehr.“
„Wann war früher? Und warum spielen Sie heute nicht mehr Tennis?“
„Vor vier oder fünf Jahren“, überlegte Cecilia. „Aber irgendwann fand ich zum Tennisspielen keine Zeit mehr.“ Sie zog die Schultern noch ein Stück höher und schaute demonstrativ auf ihre Fußspitzen.
„Was war irgendwann, wie Sie sagen, passiert?“ Die Therapeutin beobachtete sie.
Cecilia schloss die Augen. Die Falten um ihre Mundwinkel glätteten sich und ihr Gesichtsausdruck wurde fast zärtlich. Leise nahm Claudia Wöllner den Schreibblock vom Tisch und legte ihn auf ihre Knie.
1. Sitzung – Erinnerungen
„Was war damals passiert ...“, flüsterte Cecilia und dachte nach.
„... Ich weiß nicht, ob von Geburt an ein Leben vorprogrammiert ist und ab dem Moment, wo man zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt, der Lebensweg und das Ende bereits feststehen. Oder ob ich tatsächlich zu Tagträumen neige und mir einbilde, das Schicksal nicht beeinflussen zu können. Meine Mutter war davon überzeugt, dass ich zu viel träume, obwohl sie Zeit meines Lebens fest daran glaubte, dass ich meinen Weg allein finden werde. Angeregt durch meine Patentante, die auf meiner Kommunion – ich musste sechs Wochen später diese Zeremonie mit zwei gleichaltrigen Jungen durchziehen, weil ich zu Ostern die Masern bekam – meinte: „Um die musst du dich nicht sorgen, die wird ihren Weg schon machen.“ Ausgangspunkt war, dass ich als einziges Mädchen zwischen den Jungs zum Altar treten sollte, diese mich partout nicht dazwischen lassen wollten und ich mir mit beiden Ellenbogen mein Recht erkämpfte.“
„Störte Sie das?“, warf die Therapeutin ein.
„Nein, es stand von Anfang an fest, dass ich mich allein durchboxen musste, obwohl ich nicht selten den schützenden Arm meiner Mutter gebraucht hätte. Sogar heute noch, in diesem Moment. Sie war zu dem Zeitpunkt nicht mal dreißig, meistens allein zu Hause und musste zusätzlich meine beiden jüngeren Schwestern versorgen. Bestimmt besaß sie zu jener Zeit auch ihre Träume.“
„Träumen Sie viel?“ Die Therapeutin schaute mich an. Es überraschte mich, dass Claudia Wöllner mich gegen meinen Willen zum Reden gebracht hatte. „Erzählen Sie von Ihren Träumen“, sagte sie leise.
Ich schwieg einen Augenblick und sah aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Ladenpassage. In den riesigen Schaufenstern spiegelte sich die Sonne, schien mir einen Sandstrand und das blaue Meer zu zeigen. Ich hörte sogar die Wellen rauschen und roch die salzige Luft. „Es gab damals, vor mehr als sechs Jahren, einen Traum, den ich nie vergaß. Er verfolgt mich noch heute und ich bin davon überzeugt, dass er eine Bedeutung hat.“
„Möchten Sie ihn mir erzählen?“
„Sie dürfen mich aber nicht auslachen.“ Ich spürte, dass ich rot wurde.
„Wir sind unter uns,“ beruhigte mich die Therapeutin. Sie war nur wenig älter als ich. Ich bewunderte ihre wohltuende Ausgeglichenheit, die ich schon lange nicht mehr besaß. Die zu Anfang meines Besuches befürchtete Panikattacke war ausgeblieben, ich hatte sie sogar während meines Erzählens vergessen. Ein wenig übertrug sich Claudia Wöllners Ruhe auf mich und ich war überrascht, dass es jemanden gab, der mir einfach nur zuhörte.
„Ich war zu Ostern vor mehr als fünf Jahren auf Mallorca“, begann ich verhalten zu erzählen, „in Font de Sa Cala, einem kleinen Touristenort in der Nähe von Cala Ratjada. Dort verbrachte ich öfters meine Urlaube. Aber in diesem Jahr war alles anders als sonst.“
„Was genau war anders?“
„Grundsätzlich nichts Besonderes, ich fühlte anders. Es war mein erster Urlaubstag. Ich sprang über die Felsen. Dabei achtete ich darauf, mit den Leinenschuhen nicht in die mit Salzwasser gefüllten Spalten zu rutschen, in denen sich hunderte von Seeigeln befanden. Den Strohhut hatte ich in den Nacken geschoben.
Ich liebte diese unwegsame Ecke von Font de Sa Cala. Nur wenige Menschen machten sich die Mühe, über die Klippen zu steigen. Dabei lag dahinter eine kleine Bucht mit feinem Sand. Oberhalb davon, auf einem Plateau, stand eine Bauruine aus Felsgestein. Irgendjemand musste vor Jahren diesen Ort genauso reizvoll gefunden haben wie ich und wollte sich wohl ein Haus darauf bauen. Inzwischen umrankte wilder Efeu die halbfertigen Mauern.
In diesen Platz hatte ich seit dem Augenblick mein Herz verloren, als ich ihn zufällig auf einen meiner Spaziergänge in den Vorjahren entdeckte. Er wurde mir zu einem Ort, an dem ich ungestört lesen oder nachdenken konnte. Doch meistens lehnte ich nur den Rücken an die warmen Steine und sah den Wellen zu, wie sie an die Felsen stießen oder leicht über den Sand rollten. Der Duft von Mandel- und Zitronenbäumen wehte zu mir hinüber und berauschte meine Sinne. Dann schloss ich die Augen und träumte. Oft hatte ich das Gefühl, mit der Mauer eine Einheit zu bilden und Bestandteil dieses Ortes zu sein. Dann schloss ich die Augen und träumte.
Ich sah mich selbst aufs Meer hinausblicken, erkannte am Horizont das weiße Segel eines Bootes, das zu ankern schien. Vertraut und gleichzeitig fremd. Manchmal saß ich auf einer Terrasse, umgeben von Tontöpfen mit exotischen Pflanzen. Ich beobachtete, wie die Ruine zu einem gemütlichen Haus wuchs. Zuweilen erkannte ich einen Mann, schemenhaft und verschwommen, der mir seine Hand reichte. Ich wollte zu ihm, aber ich schaffte es nicht. Eine unsichtbare Wand lag zwischen uns. Wenn er im Nebel verschwand, lächelte er mir aufmunternd zu. Er war mir nicht böse, dass ich es wieder einmal nicht geschafft hatte, zu ihm zu gelangen. In seiner Nähe fühlte ich mich sicher und ohne Schuldgefühle. Ich würde es erneut versuchen. Ich wusste, dass ich irgendwann den Nebel durchdringen würde und seine Hand ergreifen konnte. Hundertprozentig!
Meist stand ich danach traurig auf, streichelte die Mauer des Hauses und verabschiedete mich. Ein leichter Wind, der um die Ruine blies, sagte mir, dass er mich verstanden hatte. Befriedigt und gestärkt betrat ich meine reale Welt.“
„Ein romantischer, zärtlicher Traum.“ Claudia Wöllner sah mich lächelnd an, als ich wieder die Augen öffnete.
„Aber nur ein Traum.“ Mich überraschte, ihr gerade meine innersten Gedanken preisgegeben zu haben. „Ich glaube, es war der letzte Tag in meinem Leben, den ich frei und ungezwungen verbrachte.“ Ich spürte plötzlich, wie eine eiserne Zwinge meinen Brustkorb zusammenpresste, mein Herzschlag sich beschleunigte und meine Hände feucht wurden. Ich schluckte und zog unwillkürlich am Kragen meiner Bluse. Eine dieser Panikattacken, vor denen ich ständig Angst hatte, kündigte sich unaufhaltsam an.
„Weshalb war es der letzte freie Tag in Ihrem Leben?“ Die Therapeutin nagte am Bleistift und sah mich verständnisvoll an. „Keine Angst“, sagte sie in einem mütterlichen Ton, „Sie werden keinen Herzinfarkt bekommen.“
„An dem Tag übersprang ich die letzte Klippe, um über den Schleichweg, der oberhalb der Segelschule entlangführte, zum Urlaubsclub zurückzugelangen. Während ich mir das Buch, das ich beim Klettern in der Hand hielt, unter dem Arm klemmte, setzte ich den Strohhut wieder auf.
‚Kommst du einen Moment zu mir herunter?’ Erschrocken schaute ich mich um und erkannte René. Ich hatte ihn am Vorabend, kurz nachdem ich im Club angekommen war, in der Bar kennengelernt. Letztlich ging ich panikartig auf mein Zimmer, weil er ohne Pause auf mich einredete und offensichtlich keinen Wert darauflegte, eine Antwort zu erhalten, oder nicht bemerken wollte, dass er mich mit seinen Monologen langweilte. Anfangs hielt ich ihn für einen Urlauber, der für die Ferienzeit eine Frau anbaggern wollte, später hatte ich den Eindruck, dass er den gesamten Club bestens zu kennen schien. Zumindest hinterließ er diesen Anschein und ich fragte mich, weshalb er unter allen Umständen mir dieses Bild einhämmern wollte. Jedenfalls war mir sein Gerede nach der langen Anreise lästig und anstrengend.
‚Keine Zeit!‘, rief ich ihm zu. ‚Ich will vor dem Abendessen noch duschen.‘ Ich wollte schnell verschwinden und mich nicht erneut in eine Unterhaltung mit ihm einlassen.
‚Ich dachte, du machst Urlaub. Das artet ja in Stress aus.’ Er lachte laut. ‚Gönne einem armen Segellehrer ein wenig deiner Zeit.’
‚Gut, aber nur zehn Minuten.’ Die Surfschule war im Felsen direkt am Wasser eingebaut. Ich kletterte die paar Meter hinunter.
‚Möchtest du ein Bier?’ Er ging in das Bootshaus und öffnete den Kühlschrank.
‚Nein danke. Ich trinke keinen Alkohol’, sagte ich, setzte mich auf die ausgewaschene Steinbank und schaute den Surfbrettern zu, die auf den Wellen hin- und herwippten. Mit einem Zischlaut riss er den Verschluss der Dose auf und trank. Ich hasse Atem, der nach Bier riecht. Schon damals als Kind, wenn mein inzwischen verstorbener Vater angetrunken am Abendbrottisch saß und uns streng Fragen über Schulnoten stellte. Meine Mutter schielte dabei schweigend über ihre Brillengläser, immer zum Sprung bereit einzugreifen, falls ein solches Gespräch zu eskalieren drohte.“
„Hat Sie diese Art Ihres Vaters belastet?“, wollte Claudia Wöllner wissen.
„Nein, nicht direkt. Ich mochte nur diese Abende nicht, die meistens im Streit endeten. Mein Vater war Berufsreiter, also Jockey. Meistens war er zu internationalen Pferderennen in sämtlichen Städten unterwegs, also selten zu Hause. Meine Mutter trug die gesamte Erziehung ihrer drei Mädchen allein. Häufig musste ich ihr als älteste Tochter helfen. Ich übernahm sehr früh die Verantwortung für meine beiden kleinen Schwestern. Wenn mein Vater zu Hause war, wollte er alles mit Strenge gutmachen. Er war jedoch der verständnisvollste Mensch der Welt. Ein ausgesprochen guter Kumpel und Freund. Ich besaß als Kind sogar ein eigenes Pferd auf der hiesigen Galopprennbahn. Soll ich weitererzählen?“
„Ja bitte, wir haben noch ein bisschen Zeit.“ Die Therapeutin schaute auf die Uhr.
„Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. ‚Was liest du da?’, fragte René, schlenderte mit der Bierdose zur Bank und nahm das Buch auf, das neben mir lag.
‚Nichts Besonderes. Einen Liebesroman’, gab ich zur Antwort.
‚Magst du so was?’
‚Manchmal. Meist nur, wenn ich im Urlaub bin.’ Ich ließ meine nackten Beine baumeln. ‚Was treibst du hier so? Ist Karl-Heinz heute nicht da?’ Ich suchte nach der Salvi, einem kleinen Motorboot, das Karl-Heinz, der Chef der Segelschule, für seine Kurse als Dingi benutzte.
‚Kennst du etwa Karl-Heinz?‘
‚Natürlich. Seit vielen Jahren.’ Ich amüsierte mich über Renés überraschtem Gesichtsausdruck. Hätte er mich gestern zu Wort kommen lassen, brauchte er jetzt nicht nachfragen.
‚Ach so. Du warst schon mehrmals auf Mallorca. Das hättest du mir auch gestern an der Bar sagen können. Ich bin seit einem Monat als Segellehrer hier. Im Moment ist nichts los, die Wassersportinteressierten kommen erst ab Juni. Zum Surfen ist das Meer um diese Zeit zu kalt. Richtig warm wird es erst ab Juli. Kannst du segeln oder surfen?’
‚Nein, ich spiele Tennis.’ Segeln zog ich nie in Betracht. In Düsseldorf gab es kein Meer. Und Surfen? Vor Jahren versuchte ich aus Spaß mein Glück auf diesen Brettern. Erfolglos. Mir war dieser Sport zu ermüdend und zu nass.
‚Treffe ich dich nachher im Club?’, fragte er und setzte sich zu mir auf die Steinbank.
‚Eher nicht.’ Ich verspürte keine Lust, den Abend an der Bar zu vertrödeln. Die Clubshows kannte ich so gut wie auswendig und lockten ebenfalls nicht. Ich fühlte mich müde und verbraucht. In den Jahren zuvor war ich mit Roland, meinem Mann, und unserem Sohn Tobias immer hierhergefahren. Dieses Jahr nicht. Er war drei Monate vor diesem Urlaub aus unserem gemeinsamen Haus zu seiner Freundin gezogen. Nach den nervigen Streitigkeiten um Grundstück, Möbel und um unseren damals gerade sechsjährigen Sohn benötigte ich dringend Ruhe und eine männerfreie Zone.“
„Männerfreie Zone?“ Claudia Wöllner lachte.
„Ja. Das meinte ich tatsächlich so.“ Auch ich musste jetzt lachen. „Ich wollte mich einfach nur um mich kümmern und zur Ruhe kommen“, nahm ich meine Erzählung wieder auf.
‚Ich gehe duschen.’ Abrupt schnappte ich mein Buch, stand auf und schlenderte in Richtung der Steinstufen, die zum Club hinaufführten.
‚Jetzt schon?’
‚Was heißt jetzt schon? Ab sieben Uhr gibt es Abendessen. Bis dahin will ich fertig sein. Außerdem habe ich bereits vier Stunden Tennistraining hinter mir und morgen früh geht es gleich um acht Uhr weiter.’“
„Zu der Zeit spielten Sie also noch Tennis?“ Claudia Wöllner kritzelte etwas in den dicken Block.
„Ja. Sogar sehr aktiv. In unserem Verein war ich die Beste und führte die Tabelle an. Danach eben nicht mehr.“
„Wie kam es dazu?“
„Ich weiß es nicht genau. Ich hatte irgendwann immer weniger Zeit. Jedenfalls lachte René laut: ‚Ihr Deutschen und euer frühes Abendessen.’
‚Wieso? Bis du nicht Deutscher?’, fragte ich, weil ich keinen ausländischen Akzent bei ihm heraushörte. Er sprach einwandfrei deutsch.
‚Ne.’
‚Dann eben nicht.’ Ich zuckte die Schultern und stieg endgültig die Stufen hinauf. Was interessierte es mich, wer und was er war. Eines stand jedenfalls fest: Ich verspürte weder Lust auf Clubabend, noch auf Show und schon mal gar nicht auf einen Mann, der stundenlang Monologe führte und meinte, mich auf Teufel-komm-raus unterhalten zu müssen. Seit der Trennung von Roland hatte ich einfach die Nase voll. Mit Männern wollte ich vorerst nichts mehr zu tun haben.“
Claudia Wöllner blickte auf die Uhr. „Wir machen für heute Schluss.“ Sie legte den Block auf den Tisch. „Sehen wir uns am Donnerstag wieder?“ Sie stand auf.
„Aber ... Wir haben nicht darüber gesprochen, ob ich eine Therapie machen möchte.“ Ich war irritiert.
„Haben wir das nicht?“ Sie ging an den Schreibtisch und blätterte im Terminkalender. „Ich schlage vor, dass wir uns zweimal in der Woche treffen. Montags und donnerstags jeweils um siebzehn Uhr. Passt Ihnen die Zeit?“
„Ja, aber ...“
Sie reichte mir die Hand. „Also bis Donnerstag. Ich bin sehr darauf gespannt, wie Ihre Geschichte weitergeht.“ Sie geleitete mich zur Tür und verabschiedete sich. Ehe ich mich versah, stand ich auf der Straße. Die Autos rasten hupend an mir vorbei. Ich bekam keine Panikattacke, sondern atmete tief durch und ging in die Tiefgarage, um nach Hause zu fahren. Die Rückfahrt bekam ich kaum mit. Meine Gedanken befanden sich in Font de Sa Cala, nur mein Körper war in Düsseldorf.
2. Sitzung – Font de Sa Cala
Pünktlich um siebzehn Uhr saß ich, trotz meiner Bedenken bezüglich einer Therapie, am Donnerstag wieder bei Claudia Wöllner.
„Wie ging es Ihnen in den letzten drei Tagen?“, fragte sie, als sie sich mir gegenübersetzte.
„Relativ gut. Ich bekam keine Panikattacke. Dafür war ich in meinen Gedanken ständig in Font de Sa Cala.“
„Welches Gefühl hatten Sie dabei?“
„Geteilt“, gab ich bereitwillig Auskunft. „Die Zeit, bevor ich René kennenlernte, war schön, frei, zwanglos – aber sobald ich an ihn denke oder er mir am Wochenende zu Hause über den Weg lief, raste mein Herz. Ich bekam – wie in der letzten Zeit so häufig – Schwitzanfälle und diese entsetzliche Enge im Brustraum, wie vor einem Herzinfarkt.“
„René?“, unterbrach mich die Therapeutin. „Ist Ihr Lebensgefährte der damalige Segellehrer, von dem Sie letztens sprachen?“
„Richtig. René ist heute sozusagen mein Lebensgefährte. Ich wohne mit ihm zusammen.“
Claudia Wöllner nahm ihren Block auf und notierte etwas darauf. „Aha“, stellte sie dabei sachlich fest. „Ich nehme an, dass wir von ihm wohl zukünftig öfter sprechen werden?“
Ich nickte, fasste mir unwillkürlich an die Knopfleiste meiner Bluse, weil ich erneut die Enge verspürte und heftig atmete.
Die Therapeutin sah mich an. „Denken Sie mal an eine Zitrone“, meinte sie mit schräg geneigtem Kopf. „Was spüren Sie, wenn Sie hineinbeißen?“
Ich verzog den Mund. „Sauer. Alles zieht sich zusammen.“ Ich musste unwillkürlich lachen.
„Genauso ist es mit Ihren negativen Gedanken. Sie denken an etwas vermeintlich Unangenehmes und meinen, dass sich eine Schraubzwinge um Ihren Brustkorb legt und Sie eine Panikattacke bekommen, sogar bekommen müssen. Können Sie das nachvollziehen?“
„Ja.“
„Verstehen Sie, dass Sie keinen Herzinfarkt bekommen, sondern es nur eine Wahrnehmung, ein Gefühl ist, wenn Sie die Enge im Brustraum spüren?“
„Nein.“
Sie ging nicht näher darauf ein. „Möchten Sie mir Ihre Geschichte weitererzählen?“ Sie schaute mich fragend an.
„Meinen Sie, dass es was nutzt?“
„Wir werden sehen. Vielleicht finden wir auf diesem Wege die Ursachen Ihrer Attacken.“ Sie zog den Block näher zu sich heran und rückte ihre Brille zurecht.
„Es gibt keine Ursache. Die Attacken waren plötzlich einfach da. Wie aus dem Nichts von einem Tag auf den anderen, von einer Stunde auf die andere.“
„Lassen Sie uns trotzdem da weitermachen, wo wir vor drei Tagen aufgehört haben.“ Sie blätterte in ihrem Block. „Sie endeten damit, dass Sie mit Männern nichts mehr zu tun haben wollten.“
„Richtig. Ich war müde. Die ewigen Streitigkeiten mit Roland um Tobias war ich leid.“
„Wer ist Roland?“, fragte Claudia Wöllner.
„Mein damaliger Ehemann“, antwortete ich. „Vor zwei Jahren wurde ich geschieden und erhielt das Sorgerecht für meinen Sohn Tobias. Zu der Zeit lebte ich noch von ihm getrennt.“
„Warum ging die Ehe auseinander?“ Claudia Wöllner blickte mit wachen Augen über ihre Brillengläser.
„Tja“, sann ich nach. „Die Ehe bestand schon lange nicht mehr. Bereits kurz nach der Geburt von Tobias hatte Roland ständig irgendwelche Liebschaften und war an manchen Tagen gar nicht zu Hause. Einzig unser Sohn hielt uns zusammen. Die Scheidung war nur noch eine Formsache. Daher können die Attacken nicht rühren. Ich fühlte mich nach der Trennung wohler als je zuvor. Freier und ungezwungener. Es war eine Erleichterung.“
„Dann erzählen Sie mir weiter von – wie hieß es? – Font de Sa Cala. Wie war Ihr Urlaub, den Sie nun allein verbrachten? Haben Sie Tennis gespielt?“
„Anfangs. Von der Surfschule schlenderte ich zur Clubanlage zurück. Um in mein Zimmer zu gelangen, musste ich an der Kreativecke und am Tennisplatz vorbei.
‚Hi Celia. Du hast dich heute gar nicht blicken lassen.’ Es war Nicki, die Animateurin des Kids-Clubs, die mich ansprach. Sie saß vor einem Schuppen am Tisch und bemalte T-Shirts. Eine Horde Kinder umkreiste sie laut schwatzend. Ich kannte Nicki schon von vielen Urlauben zuvor und mochte sie sehr gern. Nach meiner gestrigen Ankunft konnte ich sie nur flüchtig begrüßen, weil sie als Animateurin auch bei den Abendshows mitmachen musste.
‚Ich brauchte heute ein bisschen Ruhe’, erklärte ich ihr. ‚Aber morgen werde ich mich mal an so einem Ding versuchen.’ Ich zeigte auf ihre T-Shirt-Sammlung und ging weiter. Tatsächlich hatte ich die feste Absicht, ein T-Shirt zu bemalen.“
„Nur die Absicht oder taten Sie es auch?“ Claudia Wöllners Mundwinkel zogen sich nach oben und zwei kleine Grübchen tanzten auf ihren Wangen.
„Nein. Dazu bin ich nicht mehr gekommen.“
„Was hat Sie davon abgehalten?“
„Vieles. Auf dem Weg zum Hotelkomplex traf ich auf Andreas, dem Tennistrainer des Clubs. Er kam gerade mit einer Gruppe von Schülern vom Platz.
‚Hallo Celia. Denk dran, dass du morgen um acht Uhr mit mir ein Date hast!’, rief er mir zu. Das war eine Warnung. Andreas hasste es, wenn seine Schüler morgens unausgeschlafen zum Training erschienen, weil sie sich noch spät abends an der Bar des Clubs herumtrieben.
‚Wie sollte ich das vergessen!’ Ich mochte Andreas sehr gern und hatte schon gleich am Morgen bei ihm das erste Intensivtraining absolviert. Seit fünf Jahren nahm ich regelmäßig bei ihm Stunden und spielte während des Urlaubs mit den Gästen Matches aus. Mit seiner Hilfe machte ich erhebliche Fortschritte und gewann die Stadtmeisterschaften in Düsseldorf. Roland brachte dafür kein Verständnis auf und wachte eifersüchtig am Platzrand.“ Ich schnaubte durch die Nase. „Verrückt. Nicht wahr? Einerseits hatte er seine Liebschaften, andererseits war er eifersüchtig.“
„Durchaus verrückt.“ Die Therapeutin nickte bestätigend. „Fühlten Sie sich von Ihrem Mann beobachtet? War es Ihnen unangenehm?“ Claudia Wöllner tippte mit dem Bleistift auf den Notizblock.
„Nein. Es war mir lediglich peinlich. Während ich hart um Punkte kämpfte, beobachtete mich ein eifersüchtiger Ehemann, der ein reges Liebesleben nebenbei betrieb. Das ist völlig absurd.“ Ich musste bei dem Gedanken erneut lachen.
„Gaben Sie deshalb Ihr Hobby auf?“
„Überhaupt nicht. Nach der Trennung spielte ich regelmäßig sehr erfolgreich. Ich hatte erst viel später keine Zeit mehr.“
„Was war der Grund?“
„René.“
„René?“ Claudia Wöllner horchte auf. Es überraschte mich selbst, dass mir sein Name spontan herausgerutscht war und ich ihm jetzt die Schuld gab. Mein schlechtes Gewissen rührte sich. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenkrampfte und mir den Atem nahm. Mir wurde schwindelig. Wie gehetzt sprang ich auf und lief zum Fenster.
„Ist Ihnen nicht gut?“ Claudia Wöllner stand hinter mir. „Eine Attacke?“
Ich nickte. „Ich brauche Luft“, japste ich mühsam.
„Lassen Sie das Gefühl zu“, redete die Therapeutin sanft auf mich ein. „Verkrampfen Sie sich nicht. Das Gefühl tut Ihnen nichts. Atmen Sie tief ein und aus. Es geht gleich vorbei.“ Sie strich mir gleichmäßig mit der flachen Hand über den Rücken. Ich hörte mein Herz überlaut schlagen, spürte den feuchten, kalten Schweiß auf der Stirn und in meinen Händen, das Zittern in den Beinen - und diese entsetzliche Angst, jeden Moment Ohnmächtig zu werden.
„Geht’s wieder?“ Die Therapeutin reichte mir ein Glas Wasser. Ich trank gierig. Der Anfall ebbte ab. Ich hatte überlebt.
„Sollen wir die Sitzung beenden?“ Claudia Wöllner führte mich in die Sitzecke zurück.
Ich ließ mich in den Ledersessel sinken und atmete ein paar Mal tief durch. Das Zittern in meinem Körper ließ langsam nach. „Nein, wir können weitermachen.“ Ich räusperte mich, um den Kloß im Hals wegzubekommen.
„Warum meinen Sie, dass René daran die Schuld trägt, dass Sie nicht mehr Tennis spielten? Es war Ihr Hobby und Sie können machen, was Sie wollen. Er war, wie Sie sagten, lediglich ein Segellehrer in einem Urlaubsclub.“
„Es war mir gerade spontan herausgerutscht. Damals im Club fühlte ich mich sehr gut. Ich ging auf mein Zimmer, duschte und zog ein enges, weißes Kleid an, das meine zierlich gewordene Figur betonte. Während der Streitigkeiten mit Roland in den letzten Monaten hatte ich ein paar Kilos abgenommen und passte in Kleidergröße vierunddreißig. Ich war stolz darauf und betrachtete mich im Spiegel. Das Weiß des Kleides hob sich vorteilhaft von meiner leicht gebräunten Haut ab. Ich kam mir wie ein junges Mädchen vor. Meinen sechsjährigen Sohn sah man mir nicht an. Anschließend föhnte ich meine Haare, sodass sie weich fast bis zur Taille hinunterfielen. Ich liebte meine rotblonden Locken. Sie waren neben meinen grünen Augen das Schönste an mir. Jetzt sind die Haare stumpf und farblos geworden. Normalerweise steckte ich sie immer hoch, aber so umgaben sie mich wie ein wallender Mantel. Die Sonne hatte mein Gesicht goldbraun gefärbt, ein paar winzige Sommersprossen tanzten auf der Nase. Ich war mit meinem Aussehen rundherum zufrieden, fühlte mich in meinem Körper wohl und unendlich frei. Nach langer Zeit konnte ich wieder tun und lassen, was ich wollte.“
„Das können Sie jetzt immer noch. Es hindert Sie niemand daran.“
„Nein, jetzt kann ich gar nichts mehr. Jede Menschenansammlung macht mir Angst. Ich kann in kein Geschäft gehen, ohne dass ich zu Hause vorher stundenlang darüber nachdenke, wie ich es überleben soll und welche Wege ich genau gehen muss. Will ich mit dem Auto über eine Brücke fahren, bekomme ich sofort eine Panikattacke, bleibe davor stehen und kehre wieder um. Ein Kino- oder Theaterbesuch ist für mich unmöglich geworden. Nicht einmal einen Blumenladen kann ich betreten, ohne dass ich schwer nach Atem ringe. Nachts wache ich schweißgebadet auf, mein Herz rast. Ich quäle mich mit letzter Kraft aus dem Bett, um einen Arzt anzurufen. Dreimal war inzwischen der Notarzt da.“
„Was stellte er jeweils fest?“
„Nichts.“ Beschämt senkte ich die Lider.
„Das bestätigt die Aussage Ihres Hausarztes, dass Ihr Herz völlig gesund ist.“ Claudia Wöllner lächelte wieder.
„Ich bin nicht gesund. Es ist nicht normal, dass man nicht mehr vor die Tür gehen kann, ohne eine Panikattacke zu bekommen. Damals habe ich mir nicht einmal Gedanken darüber gemacht, wenn ich irgendwohin musste. Zum Beispiel der Speisesaal in Font de Sa Cala konnte mehr als fünfhundert Gäste gleichzeitig beherbergen. Nie habe ich auch nur das geringste Gefühl von Beklemmungen verspürt.“ Ich machte eine Pause und sprach dann leise weiter.
„An diesem Abend steuerte ich im bereits gut gefüllten Speisesaal auf einen leeren Tisch zu. Ich hatte mich mit Nicki verabredet. Alle Animateure des Clubs wurden von der Hotelleitung angehalten, abends mit den Gästen zu essen, Kontakte zu knüpfen und sie zum täglichen Animationsprogramm einzuladen. Da ich ein Gast war, passte es Nicki gut, dass sie sich zu mir setzen konnte. Sie hasste es, sich auch noch am Abend zu den Essenszeiten mit den Urlaubern und deren Gören zu beschäftigen. Ich wusste, dass das Personal während der Saison kaum über persönliche Freizeit verfügte und jede Möglichkeit zum Ausspannen genutzt wurde. Nicki tat mir oft leid, die nicht selten einen Sechzehn-Stunden-Tag hatte.
‚Na, Feierabend?’, neckte ich sie, als sie sich seufzend auf den Stuhl mir gegenüber plumpsen ließ.
‚Ne, noch lange nicht. Um acht muss ich in die Maske, um neun fängt die Show an, danach Themenabend in der kleinen Disco. Oldie-Night. Das wird eine lange Nacht.’ Sie rollte mit den Augen, schaute zur Decke und gähnte laut. Ein Gast blickte sich empört um. Nicki kicherte. ‚Und morgen früh ab zehn darf ich wieder T-Shirts bemalen’, betonte sie so laut, dass es zwei Tische weiter zu hören war.
‚Du wolltest dieses Jahr keine Saison mehr machen.’ Ich trank einen Schluck Mineralwasser.
‚Diesen Sommer noch, dann hör ich auf. Mein Vater hat mich schon komisch angeguckt, als ich wieder abdampfte. Er braucht mich in der Firma.’
‚Recht hat er. Du solltest in München bleiben. Club ist nichts für dich. Lange Nächte und viel Alkohol, wie ich hörte, inzwischen auch Drogen.’
‚Es war eine Erfahrung wert.’ Sie trank hastig eine Cola.
‚Gibt’s nachher was Besonderes?’ Ich wechselte das Thema.
‚Rocky-Horror-Picture-Show.’
‚Also immer wieder das Gleiche.’
‚Natürlich. Was hast du heute getrieben?’
‚Am Morgen spielte ich Tennis und am Nachmittag meditierte ich träumerisch.’ Ich grinste sie an.
‚Ergo warst du an der Ruine.’ Nicki nahm mich nicht ernst, wenn ich ihr von dem geheimen Platz und meinem Traum erzählte. Sie kämpfte mit den Spaghetti und versuchte, sie um die Gabel zu wickeln. ‚Aus Neugierde wanderte ich Anfang April mal dorthin’, sprach sie mit vollem Mund. ‚Mich würde interessieren, was du an diesem alten Gemäuer so faszinierend findest. Ich konnte da nichts Besonderes feststellen. Es ist eine hässliche Bauruine. Zugegeben, mit einem fantastischen Ausblick über das Meer.’’
Mir war klar, dass sie dem alten Gemäuer nichts abgewinnen konnte, aber das war mir egal. Es war meine Ruine. ‚Ich weiß es selbst nicht genau’, gab ich ernst zur Antwort. ‚Der Platz besitzt eine einzigartige magische Anziehungskraft auf mich, die ich nicht erklären kann.’ Jedes Mal, wenn ich an meine Ruine dachte, spürte ich, wie mein Körper zu kribbeln begann und ein unbestimmtes Sehnen sich in der Magengegend breitmachte.“
„Ist es der Platz, also der Traum, von dem Sie mir am Anfang erzählten?“ Claudia Wöllner sah kurz auf.
„Ja. Er kommt immer wieder. Ich denke, das ist der einzige Ort, an dem ich keine Attacke bekommen würde.“
„Warum meinen Sie das?“
„Der Platz besitzt etwas Beruhigendes, sogar in meiner Fantasie. Ich fühle mich an diesem Ort wie zu Hause, als würde da jemand sehnsüchtig auf mich warten und liebevoll seinen Arm um mich legen, wenn ich ankomme.“
„Waren Sie in der letzten Zeit einmal an dieser Stelle und haben sich Ihre Gefühle von damals bestätigt?“
„Ich war seit Jahren nicht mehr in Font de Sa Cala.“
„Vielleicht sollten Sie es mal tun.“ Claudia Wöllner kaute nachdenklich auf ihrem Bleistift.
„Vielleicht. Manchmal überfällt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Ruine nicht mehr besuche und sie vernachlässigt habe. Es gab dort eine Begebenheit, die ich nicht vergesse und an die ich immer wieder denke.“
„Noch eine? Möchten Sie mir davon erzählen?“
„Später - es war etwas später.“
„Dann erzählen Sie mir Ihre Geschichte der Reihe nach.“ Claudia Wöllner nickte mir aufmunternd zu. Inzwischen hatte ich nicht mehr den Eindruck, dass sie meine Therapeutin war. Sie kam mir wie eine Zuhörerin vor, eine gute Bekannte, der ich meine Erlebnisse erzählte. Meine Panikattacke hatte ich überwunden, mein Zittern ließ nach.
„Nicki schaufelte eilig die Spaghetti in sich hinein. ‚Ich muss in die Maske’, sagte sie und schob den Teller beiseite. ‚Wir sehen uns nachher oder spätestens morgen beim Bemalen von T-Shirts.’ Sie ließ mich allein.
Ich überlegte, ob ich schlafen gehen sollte. Aber dann entschloss ich mich, in Ruhe einen Kaffee auf der Terrasse des Hotels zu trinken. Die Luft war angenehm lau, viel wärmer als in Deutschland im April. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Parkanlage in ein angenehm rötliches Licht. Aus der Bar drang laute Musik. Ich hörte die Barkeeper auf Spanisch scherzen, während sie die Drinks für die Urlauber mixten. Ich fühlte mich entspannt.
‚Hier treibst du dich also rum.’ René kam mit einem Bierglas in der Hand auf mich zu.
‚Es ist angenehm auf der Terrasse.’ Ich trank einen Schluck meines inzwischen kalt gewordenen Kaffees. ‚Ich liebe es, abends abseits des Lärms zu sitzen und Menschen zu beobachten.’
‚Du bist also nicht das erste Mal hier’, führte er das Gespräch von der Segelschule weiter und setzte sich unaufgefordert auf einen Stuhl an meinem Tisch. Es war mir nicht recht, da ich den Abend für mich allein genießen wollte.
‚Das sagte ich heute Nachmittag bereits’, gab ich zur Antwort. ‚Ich fliege seit sechs Jahren nach Mallorca, manchmal sogar zwei oder drei Mal im Jahr. Frühjahr und Herbst. Ich kenne hier viele Leute. Unter anderem Karl-Heinz aus der Segelschule, viele Animateure, die jedes Jahr ihre Saison hier verbringen. Außerdem absolviere ich bei Andreas mein Tennistraining. Er ist ein großartiger Lehrer.’ Ich holte Atem. ‚War der Bericht ausführlich genug?’ Mein Ton war nicht freundlich, das war mir klar, und es tat mir in diesem Moment leid. Deshalb fügte ich hinzu: ‚Und was hat dich nach Font de Sa Cala verschlagen?’
‚Ich bin Segellehrer und arbeite diese Saison bei Karl-Heinz. Ich kenne Mallorca nicht. Karibik, Thailand, Türkei, Marokko, Griechenland, Nizza und Saint-Tropez – das sind meine Gebiete.’ Er holte mit einer großspurigen Geste eine Zigarette aus seiner Packung, nahm wie selbstverständlich mein Feuerzeug, zündete sich seine Zigarette an und steckte es anschließend in seine Hemdstasche.
Ich sah irritiert zu und fingerte mir aus meiner Schachtel demonstrativ ebenfalls eine Zigarette. ‚Darf ich um mein Feuerzeug bitten?’ Ich streckte die Hand aus.
‚Habe ich das etwa eingesteckt?’
‚Ich glaube schon.’
‚Das war keine Absicht.’
Er fingerte nach dem Feuerzeug und hielt es mir hin. ‚Spielst du bei der Show nicht mit?’, fragte ich spitz. ‚Die fängt gleich an.’
‚Willst du mich loswerden?’ Er lachte laut. ‚Nein, ich spiele nicht mit. Ich bin Segellehrer und nicht verpflichtet, bei den Shows mitzuwirken. Ich unterstehe nicht dem Animationsteam des Clubs, sondern bin bei einem französischen Touristikunternehmen angestellt und nur für französische Gäste zuständig.’ Er blies mir den Rauch direkt ins Gesicht, sodass ich husten musste.
‚Und warum kümmerst du dich dann nicht um die Franzosen, sondern vergammelst deine Zeit mit mir?’, konnte ich mir nicht verkneifen. Ich fand die Sache mit dem Feuerzeug dreist, ebenfalls seine großspurige Art und Weise. Ich hätte lieber allein auf der Terrasse gesessen.
‚Naja, du bist doch auch ganz nett.’ Er stand auf und holte sich an der Bar ein weiteres Bier. Ich musterte ihn. Er war groß, mindestens dreißig Zentimeter größer als ich. Seine Figur war zwar nicht athletisch durchtrainiert, aber fest. Viel Sonne hatte er offensichtlich in dieser Saison noch nicht abbekommen. Sein Gesicht sah verlebt aus. Das konnte durch das raue Wetter beim Segeln auf dem Meer gekommen sein, gestand ich ihm zu. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig, Anfang vierzig. Viel zu alt für einen Segellehrer in einem Urlaubsclub, fand ich.
‚Ich geh schlafen’, sagte ich, als er wieder zurückkam und sich erneut an meinen Tisch setzte. Ich verspürte keine Lust, wie am Abend zuvor seinen Monologen zu folgen, von denen ich erstens nichts behielt und die mich zweitens ermüdeten.
‚Jetzt schon? Es ist gerade mal halb zehn.’
‚Da ich erst gestern, wie du weißt, angekommen bin, möchte ich mich heute ausruhen.’ Ich stand auf.
‚Ausruhen ist öde. Im Urlaub amüsiert man sich, dafür ist ein Club da. Sonst kannst du gleich ins Sanatorium gehen oder dich eingraben.’ Er grinste unverschämt und meinte wohl damit, dass ich vom Lande käme.
‚Jeder wie er will.’ Ich packte meine Handtasche. ‚Schönen Abend noch’, und verschwand.“
„Empfanden Sie seine Nähe damals als unangenehm?“ Claudia Wöllner sah mich fragend an und notierte etwas auf ihrem Block.
„Nicht direkt als unangenehm. Aber ich mochte diese Überheblichkeit nicht, die aus seinen Worten klang. Immerhin war ich eine Frau, die fest im Beruf stand, und kein dummer Teenager.“
„Nahmen Sie die Kampfhaltung ein, die Sie seinerzeit als kleines Mädchen bei Ihrer Kommunion verspürten?“
„Ich glaube nicht. Ich bin so erzogen worden, auf dem Boden der Tatsachen zu stehen, mir meine Stellung hart zu erarbeiten, also nicht mit großen Worten und oberflächlichen Floskeln zu brillieren. Im Grunde genommen mag ich überhaupt keine Menschen, die nur so tun als ob. Mir sind die Menschen lieber, die ehrlich sind und ihre Ärmel hochkrempeln können.“
„Hat er in Ihren Augen so getan als ob?“
„Ja. Ich hatte das Gefühl, als wolle er sich irgendwie hervortun oder sich als etwas Besonderes darstellen.“
„Sie hätten sich nicht darauf einlassen müssen.“
„Das habe ich an diesem Abend nicht gemacht.“
„Aber später taten Sie es, nicht wahr?“
Ich schluckte. ‚Natürlich tat ich es später, sonst wäre ich heute nicht mit René zusammen‘, fuhr es mir durch den Kopf. Wäre es anders gekommen, würde ich sicherlich nicht unter Panikattacken leiden.
„Wir machen für heute Schluss.“ Claudia Wöllner legte den Block auf den kleinen Glastisch und verabschiedete mich. Ich fuhr nach Hause. Erneut bewegten sich meine Gedanken um die Zeit aus April in Font de Sa Cala. Richtig. Ich hätte einfach aufstehen können, gehen, und nie wieder zurückkommen müssen. Aber ging das überhaupt? War nicht alles im Leben vorbestimmt und Schicksal? Wieviel Einfluss hätte ich auf einen anderen, besseren Weg gehabt?
3. Sitzung – Der Ring
Das Wochenende verging wie im Fluge. Durch die Fragen meiner Therapeutin angeregt, verweilten meine Gedanken meistens in der Vergangenheit und ich dachte darüber nach, was ich hätte anders machen können oder sollen. Mir fiel nichts ein. Nach der letzten Sitzung bei Claudia Wöllner fühlte ich mich in die Kennenlernzeit mit René zurückversetzt. Ich bekam zu meiner Überraschung zwischendurch keine Panikattacke. Dafür beschäftigte ich mich intensiv mit meinem inzwischen elfjährigen Sohn Tobias, den ich in den letzten Jahren sehr vernachlässigt hatte.
„Wie war Ihr Wochenende?“ Als ich am nächsten Montag zur Therapiestunde erschien, tat Claudia Wöllner so, als wenn wir uns zu einem Kaffeeklatsch getroffen hätten. Ich glaube, das erste Mal verzog sich mein Mund zu einem Lächeln. Ich begann die Frau zu bewundern, die meine Therapie so locker nahm, als wenn es ein Plausch unter Freunden, ein kleiner Spaziergang ins Grüne wäre.
„Haben Sie Lust, mir weiterzuerzählen?“ Sie nahm wieder ihren Block, der von dem Inhalt meiner Geschichte bereits einen beachtlichen Umfang angenommen hatte.
„Haben Sie Lust, mir noch zuzuhören?“, fragte ich kess zurück.
„Es scheint Ihnen besser zu gehen. Haben Sie öfter an die Zitrone gedacht?“ Ich sah die Grübchen in ihren Wangen tanzen. Dennoch glaubte ich ihr die positive Aussage über meinen Gesundheitszustand. „Möchten Sie mir heute etwas über Ihren Traum erzählen?“
