Die Toten vom Mont Ventoux - Ralf Nestmeyer - E-Book

Die Toten vom Mont Ventoux E-Book

Ralf Nestmeyer

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Beschreibung

Ein rasanter und hintergründiger Provence Krimi. Unter Radsportlern hat der Mont Ventoux schon viele Opfer gefordert. Dieses Mal wurde der "Berg der Winde" zum Schauplatz eines brutalen Vierfachmordes. War es eine Abrechnung aus dem Drogenmilieu oder ein Konflikt unter Waffenhändlern – oder war doch ein ehemaliger Radsportheld das eigentliche Ziel des Mörders? Capitaine Malbec ermittelt in der frühsommerlichen Provence zwischen Gier, Eifersucht und Erpressung und stößt dabei auf einen alten Dopingfall, der seine Schatten bis in die Gegenwart wirft.

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Ralf Nestmeyer ist Historiker und lebt in Nürnberg. Er gehört zu den renommiertesten deutschen Reisejournalisten. Neben zahlreichen Reiseführern und Sachbüchern hat er für den Emons Verlag die Bände »111Orte in der Provence«, »111Orte an der Côte d’Azur«, »111Orte in der Normandie« sowie den Provence Krimi »Roter Lavendel« geschrieben. Er ist Mitglied im PEN

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ClickAlps/Lookphotos Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-344-8 Provence Krimi Originalausgabe

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EINS

Johannes hatte das Gefühl, dass ihm die Luft wegblieb. Seine Muskeln brannten, und der Schweiß tropfte ihm in großen Perlen von der Stirn, obwohl ihm ein steter Wind ins Gesicht blies.

»Quäl dich, du Sau!«, rief Frank breit grinsend in Udo-Bölts-Manier, als er so unaufhaltsam wie eine Nähmaschine in die Pedale trat und sich langsam, aber unerbittlich mit seinem Fahrrad an Johannes vorbeischob. »Komm, lass nicht abreißen!« Er drehte sich auffordernd um, bevor er zu Stephan aufschloss, der die Führungsarbeit übernommen hatte.

Franks Ansporn war gut gemeint, aber Johannes hatte zunehmend Mühe, nicht den Anschluss zu verlieren. Seit zwei oder drei Minuten radelte er nahezu am Anschlag, und das Ziel lag noch in weiter Ferne. Doch er wollte nicht aufgeben, presste die Zähne zusammen und versuchte, sich mit letzter Kraftanstrengung an Franks Hinterrad zu heften, um dessen Windschatten auszunutzen. Über den Helmen seiner Vorderleute schimmerte die fahle Kuppe des Mont Ventoux am Horizont– weltentrückt und faszinierend zugleich.

»Wie wäre es, wenn wir nochmals eine kurze Pause machen?«, keuchte Johannes, denn er ahnte, dass er bald nicht mehr mithalten konnte.

»Du willst doch nicht, dass dich der Besenwagen mitnimmt?«, stichelte Frank.

Wie jedes Jahr Ende Mai unternahmen die drei Zahnärzte, die sich seit ihren Tübinger Studientagen kannten, wieder gemeinsam eine Radtour. Sie hatten ihre Praxen für eine Woche zugesperrt, um sich eine kurze Auszeit von der Familie und dem Berufsalltag zu gönnen. Bergpässe statt Wurzelbehandlungen.

Meist waren sie irgendwo in den Alpen unterwegs, doch dieses Jahr stand die Provence mit dem legendären Mont Ventoux auf dem Programm. Schon vor Wochen hatten sie in einem so komfortablen wie strategisch günstigen Hotel in Crillon-le-Brave drei Zimmer reserviert. Wie im Reiseführer beschrieben, war das Hotel mit einem Pool und hervorragendem Restaurant nicht nur gut ausgestattet, sondern besaß zudem einen herrlichen Blick auf den Mont Ventoux, der von der Frühstücksterrasse aus betrachtet zum Greifen nah schien.

Es war ein herrlicher Tag, nicht allzu heiß, aber dennoch fast wolkenlos. Früh am Morgen waren die drei von ihrem Hotel aus aufgebrochen und hatten sich in der hügeligen Ebene locker eingeradelt, bevor sie am späten Vormittag nach Malaucène kamen. Nach einer kurzen Kaffeepause in dem Landstädtchen machten sie sich auf den Weg, den Gipfel über die Nordflanke zu erobern.

Frank hatte die Tour beim Frühstück ironisch als »Trainingsetappe« bezeichnet, aber der Anstieg war genauso steil und anstrengend wie die klassische Route auf der Südwestflanke. Die von dem Dorf Bédoin zum Gipfel des Mont Ventoux hinaufführende Strecke, die mit ihrer berüchtigten unrhythmischen Schlussrampe 1951 erstmals zum Streckenplan der Tour de France gehört hatte, war für den übernächsten Tag geplant.

Johannes griff nach seiner Trinkflasche und fluchte insgeheim über die überflüssigen Pfunde, die sich im Winterhalbjahr auf seinen Hüften angesammelt hatten. Er hätte als Entschuldigung seinen Praxisumzug anführen können, der sich wochenlang verzögert und ihn viele Nerven und Trainingszeit gekostet hatte, aber das half ihm jetzt auch nicht weiter.

Der Anstieg war so steil wie befürchtet. Nur Stephan mit seinem Fliegengewicht schien die Steigung wenig auszumachen. Schon in den ersten Minuten hatte er souverän die Spitzenposition eingenommen. Seither trat er mit gleichbleibender Frequenz unerbittlich in die Pedale, ohne auch nur einmal aus dem Sattel gehen zu müssen. Selbst in den engen Kehren der Haarnadelkurven ließ er sich nicht aus dem Rhythmus bringen.

Nachdem Johannes nochmals einen Gang hatte herunterschalten müssen, registrierte er frustriert, dass der Abstand zu seinen beiden Freunden langsam größer wurde und sie ihn bald endgültig abhängen würden. Doch er wollte nicht »abreißen lassen«, wie man landläufig so sagte, positionierte sich besser auf dem Sattel und versuchte noch einmal, alle Kräfte zu mobilisieren.

Johannes litt, doch er hielt trotzig den Blick stur auf den Asphalt gerichtet, kämpfte sich Meter für Meter bergauf.

Als er an einem mäßig steilen Abschnitt nach vorn sah und sich in einem Anflug von letztem Aufbäumen gerade überlegte, ob er die Lücke vielleicht doch noch einmal schließen könnte, sah er aus den Augenwinkeln ein Rennrad am gegenüberliegenden Straßenrand liegen. Er hob den Kopf und konnte im Vorbeifahren ein buntes Radtrikot mit der Werbung einer bekannten französischen Bank erkennen.

Verunsichert drosselte er das Tempo und entdeckte einen Radfahrer mit weißem Helm, der am Rande einer angrenzenden Parkbucht bewegungslos im Gras lag.

»Stopp! Haltet sofort an, da ist jemand gestürzt!« Johannes’ Stimme überschlug sich fast.

»Aufgeben zählt nicht!«, schrie Stephan zurück und drehte sich kurz um.

»Nein, das ist kein Spaß«, krächzte Johannes in einem geradezu unnatürlich hohen Ton und bremste. Dann rollte er ein Stück zurück, ging aus den Pedalen und ließ sein Rad zur Seite fallen. »Der blutet sogar!«, stieß er kurzatmig hervor, als er sich über den Radfahrer beugte.

Frank und Stephan eilten herbei.

»Oh, das sieht nicht gut aus«, sagte Frank und kniete sich stöhnend nieder.

Der Radfahrer lag in einer eigentümlich verkrümmten Haltung neben seinem Fahrrad. Mund und Nase waren blutverschmiert, das Trikot ebenfalls.

»Ich befürchte, da kommt jede Hilfe zu spät«, murmelte Johannes mit entsetztem Blick. Er tastete das Handgelenk des gestürzten Radfahrers ab. »Definitiv kein Pulsschlag.«

Erschüttert standen die Freunde wortlos um den Mann herum, dessen Gesichtszüge seltsam schmerzverzerrt erstarrt waren.

»Ich bin zwar nur Zahnarzt, aber eines ist sicher: Der ist nicht durch den Sturz gestorben«, befand Johannes und beendete das Schweigen. Er ging in die Hocke und deutete auf die große Blutlache, die sich unter dem Toten gebildet hatte. Soweit man sehen konnte, war nahezu die ganze Vorderseite seines Trikots blutdurchtränkt.

»Ist das nicht der Typ, der uns unten beim ersten steileren Anstieg derart locker überholt hat, als wären wir eine Rentnertruppe?«, fragte Stephan.

»Er könnte es durchaus sein. Auf alle Fälle sollten wir so schnell wie möglich die Polizei verständigen«, sagte Frank, der sichtlich um Fassung rang.

»Hat denn hier niemand etwas bemerkt?« Stephan drehte sich um und blickte mit angespanntem Oberkörper über den Parkplatz, als würde er erwarten, dass sich irgendjemand hinter der nächsten Hecke versteckt hatte.

»Dahinten steht ein Auto.« Frank deutete auf einen schwarzen Porsche Cayenne, der am anderen Ende einer lang gestreckten Parkbucht stand und von Buschwerk und einem Baum halb verdeckt wurde. »Sitzt da nicht noch jemand drin?«

Johannes holte aus der Rückentasche seines Radtrikots sein Handy hervor, doch dann sah er sich fragend um: »Weiß jemand von euch, welche Nummer der Notruf in Frankreich hat?«

Stephan schüttelte den Kopf. Frank gab keine Antwort und stapfte in Richtung Porsche davon.

Als er sich dem Auto behutsam näherte, sah er, dass die Fahrertür geöffnet war, und hörte zu seiner Verwunderung, dass der Motor noch lief.

Hektisch nestelte Johannes an seinem Handy herum, als Frank aufschrie und wild gestikulierend um den Porsche herumlief: »Oh mein Gott– was ist denn hier los? Kommt schnell her!«

***

Capitaine Olivier Malbec stand an der Supermarktkasse und war gerade damit beschäftigt, seinen Wocheneinkauf auf das Kassenband zu legen, als ihn der Anruf der Einsatzzentrale erreichte.

Um den Hypermarché am Rande der Stadt machte Malbec sonst einen großen Bogen, sah man einmal davon ab, dass er hier gelegentlich seine Toilettenpapier- und Mineralwasservorräte aufstockte. Viel lieber wäre er bereits am Donnerstagvormittag über den großen Wochenmarkt von Calmont-les-Fontaines geschlendert und hätte sich am Duft von frisch gebackenem Brot sowie gegrilltem Geflügel berauscht oder sich an den zu Pyramiden aufgetürmten Tomaten- und Auberginenbergen erfreut.

Seit er nach Calmont-les-Fontaines gezogen war, liebte Malbec diesen Bummel über den Wochenmarkt. Ein kurzer Plausch mit dem Metzger oder dem Fischhändler, um sich nach einem besonderen Angebot zu erkundigen. Am Käsestand hatte man die Wahl zwischen zahlreichen Sorten Ziegen- und Schafskäse. Nur hier bekam er einen Brousse du Rove– im Supermarkt suchte er diesen leckeren Ziegenfrischkäse, der nach dem Ort Le Rove in den westlich von Marseille gelegenen L’Éstaque-Bergen benannt war, an der Käsetheke meist vergeblich.

Doch leider hatte Malbec den Wochenmarkt verpasst, da er am Donnerstag kurzfristig schon am frühen Morgen einen Termin in Avignon hatte wahrnehmen müssen. Dienst statt Marktvergnügen. Und so war er zwangsweise zum Hypermarché gefahren, um sich mit einem Einkaufswagen seinen Weg vorbei an den riesigen Regalen durch die autobahnbreiten Gänge zu bahnen, während aus den Lautsprechern ein undefinierbarer Brei an vermeintlicher Wohlfühlmusik auf ihn herabrieselte.

Das Telefon klingelte zum vierten Mal. Mit einem geübten Handgriff fischte Malbec sein Mobiltelefon aus seiner linken Hosentasche, während er sich vorbeugte und mit der anderen Hand das Lammcarré aus dem Einkaufswagen hob.

»Oui«, meldete er sich trocken. »Grüß dich, François. Was liegt an?«, erkundigte er sich, während er weiter seine Einkäufe auf das Band stellte. Er hielt kurz inne und presste sich den Zeigefinger der anderen Hand gegen das freie Ohr, da das Kind im Einkaufswagen hinter ihm just in diesem Augenblick einen Schreianfall bekam.

»Wirklich dringend? Könnte sich da nicht Jacques Taurel drum kümmern?« Malbecs gereizter Unterton war nicht zu überhören, dennoch nahm er den Bericht konzentriert zur Kenntnis. »Ist in Ordnung. Ich komme sofort, aber kannst du mir die Sachlage noch genauer schildern. Warte einen Moment, ich verstehe dich gerade nicht besonders gut…« Er quetschte sich mit einem »Pardon« an seinem Vordermann vorbei.

»Monsieur! Wo wollen Sie hin? Sie können Ihre Einkäufe nicht einfach hier auf dem Band liegen lassen«, befand die Kassiererin sichtlich genervt. »Ich werde den Filialleiter rufen…«

Mit einer Geste der Entschuldigung hob Malbec die Arme, drehte sich nochmals kurz um und murmelte etwas von einer wichtigen dienstlichen Angelegenheit, bevor er mit großen Schritten dem Ausgang entgegenlief und durch die automatischen Schiebetüren nach draußen verschwand.

»Warum hast du eigentlich nicht Capitaine Cabanel angerufen, der müsste doch heute Bereitschaft haben?«, fragte er in das Telefon, das er noch immer an sein Ohr presste.

»Ist im Prinzip richtig, nur leider hat sich Roland gestern Abend den Knöchel gebrochen«, rechtfertigte sich François.

»Wie hat er denn das angestellt?«

»Er ist auf der Geburtstagsfeier seiner Schwester betrunken die Treppe heruntergestürzt.«

Malbec lachte schallend. »Das ist jetzt nicht dein Ernst?«

»Doch, doch, allerdings kann ich nur bestätigen, dass es auf einer Geburtstagsfeier passiert ist. Der Rest ist reine Spekulation.«

»Da bin ich jetzt schon auf seinen Bericht gespannt.«

»Zuvor müsstest du allerdings schnellstmöglich zum besagten Tatort fahren.«

Vor dem Supermarkt ließ sich Malbec die genauen Koordinaten geben, dann setzte er sich ins Auto, startete den Motor, schlängelte sich über den überfüllten Parkplatz und fuhr zügig davon.

Adjudant François Blanc hatte unstrukturiert von mehreren Toten und einem schwer verletzten Radfahrer berichtet, die an einem Parkplatz nördlich des Mont Ventoux gefunden worden waren. Da Blanc den Vorfall in einem leicht gelangweilten Ton geschildert hatte, hatte Malbec anfangs gedacht, er solle in einem tödlichen Autounfall mit Fahrerflucht ermitteln. Erst nach mehrmaligem Nachfragen hatte ihm Blanc mit stoischem Gleichmut endlich mitgeteilt, dass es sich wahrscheinlich um einen Mordfall mit mehreren Toten handelte.

Sous-Lieutenant Taurel, der als Offiziersanwärter erst seit ein paar Wochen auf der Dienststelle war, konnte verständlicherweise nicht allein mit so einem Fall betraut werden. Er sei aber bereits unterrichtet und ebenfalls auf dem Weg zum Tatort, ließ ihn Blanc wissen.

Den Einsatz verfluchend, nahm Malbec am Kreisverkehr die zweite Ausfahrt in Richtung Mont Ventoux und gab Gas. Er hatte sich schon die ganze Woche auf seine freien Tage gefreut. Schließlich hatte er in den letzten Monaten zahlreiche Überstunden angehäuft, während er vergeblich versucht hatte, den Mord an einer Studentin aufzuklären, die vergewaltigt und erwürgt in einem Melonenfeld bei Cavaillon aufgefunden worden war. Die Studentin lag mit dem Gesicht nach unten in einer Ackerfurche, ihre Hände waren mit einem Paketklebeband auf dem Rücken fixiert, und die Pobacken wiesen Spuren von körperlicher Misshandlung auf. Obwohl Spermaspuren sichergestellt worden waren und die lokalen Medien mehrfach ausführlich über den Fall berichtet hatten, gab es bisher keinerlei Hinweise auf den Täter. Man hatte einen Einsatzstab gebildet, den Malbec leitete, doch leider verliefen die Ermittlungen trotz großem öffentlichen Druck– die Studentin war die Tochter eines beliebten Lokalpolitikers und vor über einem Jahr verschwunden– seit Wochen im Sande. Fest stand bisher nur, dass der Fundort nicht mit dem Tatort identisch war. Außerdem musste die etwa zwanzigjährige Frau erst vor wenigen Wochen ein Kind entbunden haben.

Auf der Dienststelle herrschte Personalmangel. Malbec war nicht der Einzige, der seine Überstunden abbauen wollte. Zudem verbrachte Sergent Thibault noch ihre Flitterwochen auf Réunion.

Malbec schluckte seinen Ärger hinunter. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Einsatz selbst zu übernehmen. Zwar hatte er geplant, das Dachgeschoss seines Hauses weiter zu renovieren, und zudem Nathalie für den Abend zum Essen eingeladen– aber Dienst war Dienst. Die Aussicht auf ein paar ruhige Tage war jedenfalls dahin– und ohne Lammcarré musste er seine abendlichen Pläne sowieso ändern.

Malbec kam flott voran. Die Landstraße, die von Carpentras nach Vaison-la-Romaine führte, war gut ausgebaut und breit genug für das eine oder andere Überholmanöver.

Während er nach Norden fuhr und die Kurven schnitt, soweit es ging, rätselte er, wie man auf die Idee kommen konnte, mehrere Menschen neben einer viel befahrenen Touristenroute zu ermorden. Ein Amoklauf schied wohl aus. Eine Familientragödie?

Er telefonierte mit der Spurensicherung, die ebenso wie der Staatsanwalt schon verständigt worden war, dann schaltete er das Radio ein, um sich abzulenken.

Mächtig schob sich der Mont Ventoux in sein Blickfeld. Linker Hand erkannte Malbec Le Barroux mit seinem wuchtigen quadratischen Château, schon konnte er die an Klöppelspitzen erinnernden Bergspitzen der Dentelles de Montmirail am Horizont ausmachen.

Als er hinter Malaucène auf die zum Gipfel des Mont Ventoux hinaufführende Landstraße einbog, ärgerte sich Malbec über eine Wohnmobilkolonne, die auf der kurvigen Strecke bergauf nur schwer zu überholen war. Bepackt mit Kanus auf dem Dach und Mountainbikes am Heck ließen ihn diese Fahrzeuge an eine mobile Freizeitmesse denken.

Die Provence ist eine traumhafte Ferienregion, keine Frage– aber warum müssen sich die Touristen mit ihren ungelenken Bussen immer durch die engsten Schluchten oder über die höchsten Bergkämme kämpfen, fragte sich Malbec. Zu allem Unglück befand sich auch noch eine größere Gruppe Radfahrer auf der Straße und spielte Peloton, so dass der Wohnmobiltross gezwungen war, sein bereits gemächliches Tempo nochmals zu verlangsamen.

Malbec konnte den Gegenverkehr nicht richtig einschätzen, da ihm die Schlafkojen, die sich wie Eitergeschwüre über die Fahrerkabinen stülpten, die Sicht versperrten. Angespannt trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad. Die Sonne spiegelte sich auf der Windschutzscheibe.

Er klappte die Sonnenblende herunter und wartete ungeduldig auf einen längeren übersichtlichen Straßenabschnitt. Obwohl er den großen Auftritt nicht liebte, wäre er jetzt gern mit Blaulicht an den Autos vorbeigefahren, aber er hatte sich den Citroën-Kastenwagen von seinem Nachbarn Claude ausgeliehen, da er vor seinem Supermarkteinkauf im örtlichen Mr.-Bricolage-Baumarkt noch Wandfarbe und andere Baumaterialen besorgt hatte. Kein Blaulicht, kein Durchkommen. Abgesehen davon, war Claudes Auto sicher weit über zehn Jahre alt und ziemlich behäbig. Eine Klimaanlage gab es auch nicht, aber wenigstens erfrischte der Fahrtwind, der durch das geöffnete Seitenfenster hineinströmte.

Obwohl der Citroën nicht gerade üppig motorisiert war, hatte Malbec keine Lust, stundenlang hinter diesem trägen Konvoi herzuzockeln. Als er eine größere Lücke im Gegenverkehr erspähte, setzte er hupend und blinkend zu einem ersten waghalsigen Überholmanöver an und scherte gerade noch rechtzeitig vor einem aufblinkenden Kleinlaster wieder ein.

Hinter ihm rumpelte es mächtig auf der Ladefläche, doch das war Malbec egal. Sein Adrenalinspiegel schnellte schlagartig in die Höhe, seine Halsschlagader pochte. Im Rückspiegel sah er, dass der Fahrer des Wohnmobils den Kopf schüttelte– wahrscheinlich hielt er ihn für einen französischen Verkehrsrowdy.

Als er in einer leichten Linkskurve freie Sicht hatte, konnte Malbec endlich die restliche Kolonne in einem Zug überholen. Zufrieden blickte er in den Rückspiegel und registrierte, dass die Wohnmobile immer kleiner wurden.

Schon von Weitem sah Malbec ein Blaulicht blinken, das zu einem Rettungswagen gehörte. Er beschleunigte noch einmal, der Motor röhrte und jaulte, dann bremste er mit knirschenden Reifen auf dem Bankett neben dem Parkplatz. Malbec stieg aus und versuchte sich ein Bild von der Situation am Tatort zu machen.

Neben den Sanitätern stand noch ein knappes Dutzend Personen herum, einige davon in Radfahrermontur. Jacques Sauteuil, der Chef de Police von Malaucène, hatte ihn bereits erspäht und kam ihm entgegen.

»Malbec– gut, dass Sie endlich da sind«, begrüßte er ihn mit dem breiten Singsang seines provenzalischen Akzents.

»Es tut mir leid, Sauteuil, schneller ging es nicht.«

»War auch nicht als Vorwurf gemeint, aber wie Sie sich denken können, fühle ich mich als Dorfpolizist vollkommen überfordert. Normalerweise muss ich mich ja nur mit Verkehrsunfällen, Streitereien und ein paar kleineren Delikten auseinandersetzen.«

»Sauteuil, jetzt stapeln Sie aber tief«, sagte Malbec ohne Ironie, denn er hatte beruflich schon mehrmals auf Sauteuil zählen können– er war ein umsichtiger Polizist, der jeden Klatsch und jedes Gerücht im Ort kannte.

Sauteuil rieb sich entsetzt die Wangen. »Vier Tote an einem einzigen Tag! Das gab es wohl in der Geschichte von Malaucène noch nie. Und der letzte Mord liegt auch schon mehr als zwanzig Jahre zurück.«

»Vier Tote?«, fragte Malbec ungläubig.

»Ja, ein toter Radfahrer und drei Leichen in einem Porsche Cayenne«, sagte Sauteuil und deutete auf das Auto, das am Ende des Parkplatzes stand.

»Alle wurden erschossen– jedenfalls soweit ich das beurteilen kann. Für den Notarzt gab es leider nichts mehr zu tun. Auf eine Reanimation hat er verzichtet. Beim Porsche läuft noch der Motor. Ich habe penibel darauf geachtet, dass keine Spuren zerstört werden.«

Malbec unterhielt sich kurz mit dem Notarzt, dann wandte er sich wieder an Sauteuil: »Gibt es irgendwelche Zeugen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Das wäre ja auch zu schön gewesen. Wer hat die Toten gefunden?«

»Die Notrufzentrale wurde von einem der Radfahrer informiert«, antwortete Sauteuil und deutete dezent auf eine kleine Sportgruppe. Zwei der jungen Männer standen verunsichert am Rande der Parkbucht herum, einer saß am Boden, den Kopf zwischen die Knie geklemmt.

»Ich habe ihre Personalien bereits aufgenommen. Es sind drei deutsche Zahnärzte. Das hat die ganz schön mitgenommen. Der dort am Boden sitzt, hat sich sogar übergeben müssen.«

»Oh. Danke für Ihre Unterstützung. Wo liegt der tote Radfahrer?«

»Dort drüben.« Sauteuil drehte seinen Kopf in Richtung Straßenrand, wo das Vorderrad eines auf der Seite liegenden Rennrades auszumachen war.

Die beiden Polizisten querten die Parkbucht und liefen zu dem toten Radfahrer hinüber, der am Rand des Straßengrabens lag. Malbec bückte sich und musterte den verkrümmt, mehr in Seitenlage als auf dem Bauch daliegenden Toten. Er schätzte den Mann auf Anfang oder Mitte vierzig, dunkles, lockiges Haar quoll unter seinem weißen Fahrradhelm hervor. Auf seiner Hose und seinem Trikot war das Signet einer bekannten Bank zu sehen, die seit Jahren ein erfolgreiches Tour-de-France-Team unterhielt. Der Mann war sehr hager und zugleich ziemlich durchtrainiert.

Malbec fiel auf, dass seine gebräunten Beine, wie bei ambitionierten Radfahrern üblich, vollkommen rasiert waren. Und wie Malbec wusste, diente die Rasur weniger der Windschlüpfrigkeit, sondern erleichterte die Wundversorgung nach einem Sturz.

Der Tote trug Rennradschuhe, und an seinem linken Handgelenk glänzte über dem Handschuh eine wuchtige Rolex-Uhr. So gut es auf die Schnelle möglich war, versuchte Malbec, die Szenerie zu erfassen. Er wunderte sich darüber, dass der Tote fast fünf Meter von seinem Fahrrad entfernt im Gras lag. Wurde er durch den Schuss aus dem Sattel gefegt, oder war er schon zuvor abgestiegen? Malbec fühlte sich überfragt, und wenn er ehrlich war, wusste er ja momentan nicht einmal, ob der Radfahrer beim Aufstieg oder bei der Abfahrt vom Mont Ventoux erschossen worden war.

Gerade als er sich umdrehen wollte, bemerkte Malbec, dass eine Radfahrergruppe am Straßenrand angehalten hatte und die Geschehnisse auf dem Parkplatz neugierig beobachtete.

Er schnaufte verächtlich. »Sorgen Sie bitte dafür, dass die dort drüben verschwinden«, sagte er an Sauteuil gewandt. »Wir brauchen hier keine Gaffer, außerdem trampeln die uns vielleicht noch die wenigen brauchbaren Spuren kaputt.« Er wies Sauteuil an, jeden, der nichts am Tatort zu suchen hatte, konsequent und mit Nachdruck fernzuhalten.

»Wird sowieso langsam Zeit, dass die Spurensicherung auftaucht, damit der Tatort gesichert und mit einem Absperrband weiträumig abgeschirmt werden kann«, beschwerte er sich lautstark, als er zum Porsche Cayenne am anderen Ende der Parkbucht hinübersah. Er war kein Freund dieser aufgeplusterten SUVs, deren überdimensionierte Proportionen meist als Schutzpanzer für das zu große Ego ihres Besitzers herhalten mussten.

Malbec lief den Parkplatz hinauf, dessen oberes Ende von Bäumen gesäumt war. Der Wind blies ihm ins Gesicht und spielte mit seinen Haaren. Erst als er sich dem Porsche bis auf wenige Meter genähert hatte, hörte er den Motor leise vor sich hin brummen. Die Fahrertür und beide Türen auf der Beifahrerseite standen weit offen, die hinteren Scheiben waren dunkel getönt, das Beifahrerfenster sowie das Heckfenster waren vollkommen zersplittert, so als hätte der Täter wild um sich geschossen.

Obwohl Olivier Malbec im Laufe seiner Dienstjahre schon an so manchen üblen Tatort gerufen worden war, musste er kurz schlucken, als er das Auto genau inspizierte. Der Anblick war entsetzlich. Ein Szenario wie aus einem Quentin-Tarantino-Film. Der Fahrer war vornüber gesackt, seine von hohen Geheimratsecken geprägte Stirn war gegen das Lenkrad gepresst, der linke Arm hing senkrecht herunter, die rechte Hand lag noch über dem Hebel der Gangschaltung.

Malbec trat vorsichtig näher und sah, dass das Blut des Fahrers über das Armaturenbrett und die Windschutzscheibe verteilt war.

Um die Details besser erkennen zu können, schob er seine Sonnenbrille nach oben. Auf dem Beifahrersitz saß eine dunkelhaarige Frau eigenartig verkrampft. Ihre Kopfwunden hatten so stark geblutet, dass ein Teil ihrer hellblauen Bluse dunkel glänzte. Die Reste einer zersplitterten Brille lagen auf dem Schoß ihres Kleides. Das Alter der Frau schätzte Malbec auf Anfang oder Mitte vierzig. Die Haut an ihren weißen Oberarmen erschien ihm milchig, ja geradezu transparent.

Glassplitter und schwarze Plastiksplitter waren über den gesamten Innenraum verteilt. Zwei oder drei Projektile hatten wohl die Seitenverkleidung der Tür zerfetzt, eine halb leere Wasserflasche lag zusammen mit einer Packung Taschentücher in der Türschale.

Ein paar Glassplitter knirschten leise, als Malbec ein Stück in die Knie ging, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen: Die zur Seite geneigte Tote trug noble Schuhe von Louboutin, wie er an den roten Sohlen erkannte. Zudem bemerkte er, dass sich auf der Fußmatte eine kleine Blutlache gebildet hatte, deren Ränder bereits eingetrocknet waren.

Malbec stand auf, ging um die ebenfalls offene hintere Tür der Beifahrerseite herum und spähte in den Fond des Geländewagens. Hinter dem Beifahrersitz lag eine weitere Frauenleiche. Das Blümchenmuster ihres langen Sommerkleids war mit Blutspritzern übersät. Da sie vollkommen zusammengesackt und von einem Kopfschuss entstellt war, konnte Malbec ihr genaues Alter schlecht einschätzen. Ihr Haar glänzte so tiefschwarz, dass es gefärbt sein musste. Der Inhalt ihrer zur Seite gekippten Handtasche war über den Sitz verstreut.

Wie immer bei solchen Gewaltverbrechen lief Malbec eine leichte Gänsehaut über den Rücken. Trotz seiner fast zwanzig Dienstjahre konnte er sich nicht an die Grausamkeit gewöhnen. Auf Außenstehende mochte er ungerührt wirken, sahen sie in ihm doch nur einen Kommissar, der routinemäßig sein Ermittlungsprogramm abspulte, innerlich gingen ihm die meisten Fälle aber ziemlich nahe. Vor allem, wenn er allein an einem Tatort war, hüllte ihn das Szenario stets wie eine Blase ein. Jetzt war es nicht anders: Dieser Vierfachmord erschütterte ihn wegen seiner scheinbar sinnlosen Brutalität.

Malbec erschauderte und versuchte, die aufsteigenden Gedanken zu vertreiben, die ihn daran erinnerten, wie fließend die Grenze zwischen Leben und Tod war.

»Merde«, zischte er nahezu lautlos und überlegte, ob er noch auf die Spurensicherung warten sollte. Während er zur Fahrerseite hinüberging, streifte er sich einen der dünnen weißen Latexhandschuhe über, die er sich vorsorglich von Jacques Sauteuil hatte geben lassen. Der Plastikgeruch war ihm genauso verhasst wie das quietschende Geräusch beim Überziehen.

Er beugte sich vor und drehte den Zündschlüssel um, so dass der Motor erstarb. Er atmete kurz auf, doch schon nach wenigen Sekunden begann ihn die fast gespenstische Stille zu beunruhigen. Der Wind rauschte; einzig ein entferntes Vogelzwitschern war zu hören. Der Autoverkehr an der Passstraße war vollkommen zum Erliegen gekommen, da die Nordroute des Mont Ventoux inzwischen beidseitig gesperrt worden war. Nur noch ein paar vereinzelte Radfahrer, die bereits auf der Gipfelstraße gewesen waren, kämpften sich im Wiegetritt tapfer den Berg hinauf. Spätestens an der Straßensperre würden sie zum Umkehren aufgefordert werden.

Malbec ging langsam um den Porsche Cayenne herum und wunderte sich, warum dieser schräg zum Parkplatz stand, wobei die hinteren Reifen tief in den morastigen Untergrund eingesackt waren, den der Regen der letzten Tage aufgeweicht hatte. Er betrachtete die Reifenspuren: Sie deuteten auf ein Wendemanöver hin. Hatte der Fahrer vor dem Schützen zu fliehen versucht?

Das Auto trug ein französisches Nummernschild. Es war eines der modernen Kennzeichen, so dass eine geografische Zuordnung nicht mehr so automatisch möglich war wie durch die einst zwingend auf dem Kennzeichen vermerkte Kennzahl des Départements. Früher ließ sich an der»75« sofort erkennen, dass man es mit einem Pariser Schnösel zu tun hatte, und bei der»84« wusste man, dass es sich um einen Einheimischen aus dem Département Vaucluse handelte. Ursprünglich hatte man die Kennzahlen auf den Nummernschildern gänzlich abschaffen wollen. Nachdem jedoch zahlreiche Lokalpatrioten energisch dagegen protestiert hatten, wurde die Département-Kennzahl zum frei wählbaren Bestandteil des Kennzeichens erklärt. Wer wollte, konnte auch nur seine Sympathie für eine bestimmte Region signalisieren, ohne dort mit seinem Wohnsitz gemeldet sein zu müssen.

Der Porsche auf dem Parkplatz trug die»78« für das zur Île-de-France gehörende Département Yvelines. Ein Immobilienmakler, der im vornehmen Versailles wohnte? Oder handelte es sich vielleicht nur um einen Leihwagen? Spätestens nach der Halterabfrage würde man mehr wissen.

Über den Leichen und den blutverschmierten Ledersitzen kreisten schon ein paar Schmeißfliegen in freudiger Erwartung eines Festmahls. Vergeblich versuchte Malbec, die goldgrün glänzenden Insekten mit hektischen Handbewegungen von den Wundrändern zu verscheuchen. Die Weibchen erkannten in den offenen Wunden den perfekten Ort, um ihre Eier abzulegen.

Das Entwicklungsstadium der Schmeißfliegenmaden stellte für einen versierten Gerichtsmediziner einen perfekten Indikator dar, um den Todeszeitpunkt bestimmen oder zumindest eingrenzen zu können. In diesem Fall war das aber wohl nicht nötig– Malbec konnte sich nicht vorstellen, dass die Toten mehrere Stunden unbemerkt geblieben waren. Dafür war die Nordroute des Mont Ventoux in dieser Jahreszeit zu stark befahren.

Er ließ seine Gedanken kreisen: Waren die Toten im Porsche miteinander verwandt? Standen sie in irgendeiner Beziehung zu dem toten Radfahrer?

Malbec hielt die Luft an und gab sich krampfhaft Mühe, den Blutgeruch auszublenden, doch die besondere metallisch-süßliche Verbindung, in die sich aufgrund der Hitze bereits ein paar modrige Untertöne gemischt hatten, ließ sich nicht ignorieren.

Langsam stand er wieder auf und trat nachdenklich zwei Schritte zurück, um die Szenerie zu betrachten. Er war sich sicher, dass dies kein einfacher Raubmord war, gleichzeitig stieg in ihm die Erkenntnis auf, dass dieser Mordfall die üblichen Ermittlungsdimensionen sprengen würde.

Er hielt noch einen Moment inne, dann wandte er sich ab, entfernte sich vom Tatort und zückte sein Mobiltelefon, um Unterstützung anzufordern. Mit einem unzufriedenen Brummen kommentierte er die Nachricht, Staatsanwalt Robin Brice sei schon auf dem Weg zum Tatort.

Malbec stöhnte innerlich auf: Brice hatte ihm gerade noch gefehlt. Er war so stocksteif wie seine perfekt gebügelten Hemden und versuchte dies stets mit einer aufgesetzten Freundlichkeit zu überspielen, die Malbec an Mormonen-Missionare erinnerte, die oft in Paris und anderen Großstädten herumstanden, um Gottes Botschaft lächelnd zu verbreiten. Andererseits war Brice gewissenhaft und beharrlich. Wenn er einen Verdacht hegte, dann verfolgte er diesen mit einer bewundernswerten Sturheit, die keine Rücksicht auf mögliche Konsequenzen nahm.

Malbec steckte sein Mobiltelefon ein und überlegte, welcher Zusammenhang zwischen dem toten Radfahrer und den drei Toten im Auto bestehen könnte. Ein Zufall? War da jemand einfach nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen? Bei genauerer Betrachtung erinnerte ihn die ganze Konstellation jedoch eher an eine Exekution oder an einen Racheakt. Der oder die Täter waren so hemmungslos wie brutal vorgegangen.

Dass unter den Opfern zwei Frauen waren, verwunderte Malbec am meisten. Wenn Frauen ermordet wurden, handelte es sich fast immer um ein Beziehungsdrama oder eine sexuell motivierte Tat. Letzteres schien ihm in diesem Fall aber genauso unwahrscheinlich wie ein Raubmord. Handelte es sich um einen Auftragsmord? Eine Familienfehde? Oder stand die Tat in Zusammenhang mit einem Bandenkrieg zwischen internationalen Waffen- oder Drogenschmugglern?

Malbec ging noch einmal zum Auto zurück, um sich die Szenerie mit all ihren schrecklichen Details einzuprägen. Soweit er sehen konnte, hatten sich die Opfer nicht gewehrt. Entweder waren sie von mehreren Tätern in Schach gehalten worden, oder sie hatten den oder die Schützen gekannt, so dass das Überraschungsmoment ausgenutzt werden konnte.

Malbec warf einen erneuten Blick auf den toten Fahrer, dessen Haar in dichten dunklen Locken bis zum Hemdkragen reichte. Seine Gesichtsfarbe war hellbraun, wahrscheinlich ein nicht europäischer Hauttyp.

Er zögerte kurz, dann ging er langsam in die Hocke, drückte den Rücken des Fahrers ein Stück nach vorn und zog ihm seine Geldbörse vorsichtig aus der Gesäßtasche.

Es war eine noble Lederbörse, gefüllt mit mehreren Fünfhundert-Euro-Scheinen, ein paar kleineren Banknoten sowie diversen Kredit- und Plastikstatuskarten. Malbec entdeckte auch einen Führerschein sowie einen Reisepass.

Es handelte sich um einen britischen Pass, ausgestellt auf einen Chalid Alkhateeb, wohnhaft in Richmond upon Thames.

Malbec seufzte auf. Er hatte zwar schon vermutet, dass der Tote arabischer Abstammung sein könnte, aber ein toter Engländer mit arabischen Wurzeln würde die Ermittlungen verkomplizieren– bei länderübergreifenden Todesfällen waren diplomatische Abstimmungen unvermeidlich. Und wenn die beiden anderen Toten im Auto auch noch einen ausländischen Hintergrund hatten, würde es nicht lange dauern, bis sich die Pariser Ermittler in den Fall einmischten und ihn eventuell an sich zögen.

Einerseits konnte Malbec das zwar recht sein, schließlich hatte er derzeit schon genug um die Ohren, andererseits konnte er es aber nicht ausstehen, wenn sich übergeordnete Behörden in seine Ermittlungsarbeit einmischten und versuchten, ihm Vorschriften zu machen. Das kränkte seine Eitelkeit.

Malbec durchsuchte die Geldbörse weiter. Die Kredit- und Kundenkarten waren alle auf den Namen Alkhateeb ausgestellt. Mehrere Visitenkarten wiesen ihn als Vice President aus, der für einen international agierenden Investmenttrust tätig war. Zudem fand er noch einen gefalteten Zettel mit ein paar kryptischen Notizen sowie zwei Fotos mit Kinderporträts.

Malbec stand auf, umrundete den Porsche erneut und blieb vor dessen Heck stehen. Sekundenlang hielt er inne, bevor er den Kofferraum vorsichtig einen Spalt öffnete, so als befürchtete er, eine weitere Leiche zu entdecken. Er trat einen Schritt zurück und zog seine Hand vom Kofferraumdeckel weg, der mit gebremstem Schwung nach oben schnappte.

Erleichtert atmete er aus, als er nur eine Reisetasche, zwei Klappstühle sowie Kinderspielzeug samt einer Stoffpuppe erkennen konnte.

Malbec wandte sich von dem Porsche ab, als er das Auto der Spurensicherung erkannte, das auf dem inzwischen dicht belagerten Parkplatz hielt. Er wusste, dass jetzt das volle Programm durchlaufen würde: Film- und Fotoaufnahmen vom Tatort würden angefertigt, Fingerabdrücke am Porsche genommen, Zigarettenkippen eingesammelt und die Reifenspuren auf dem Parkplatz mit Gipsabdrücken gesichert. Zuletzt musste sich noch jemand um den Abtransport der Leichen in die Gerichtsmedizin kümmern.

Er streifte sich die Handschuhe ab und lief ein paar Schritte Richtung Einfahrt hinunter, um Bernard Réval, den Leiter der Spurensicherung, zu begrüßen, als ihm ein wohlbeleibter grauhaariger Mann mit dunkelgrauem Sakko schwer atmend den Weg verstellte.

»Sind Sie eventuell der verantwortliche Kommissar?«, schnarrte er mit einem überheblichen Ton und musterte Malbec kritisch, der ihn um einen Kopf überragte.

»Ja, der bin ich«, antwortete Malbec gereizt und trat einen Schritt zurück, um seine Individualdistanz zu wahren. Er ahnte, dass die Frage seinem wahrscheinlich seltsam anmutenden Outfit geschuldet war.

Da er keinerlei Lust hatte, sich dafür zu rechtfertigen, dass er in einer mit Farbklecksen besprenkelten Cargohose in einem Mordfall ermittelte, ging er zum Gegenangriff über: »Wären Sie so freundlich, mir zu verraten, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?«

»Ich bin Gaston Richard, der Bürgermeister von Malaucène«, ließ ihn Monsieur Richard mit einem selbstzufriedenen Lächeln wissen und streckte Malbec seine Hand entgegen. »Sauteuil, mein Chef de Police, hat mich angerufen und mir von den Vorkommnissen berichtet. Ich bin sofort hier hinaufgefahren, um mir selbst ein Bild vor Ort zu machen. Schließlich liegt der Parkplatz auf unserem Gemeindegebiet.«

»Capitaine Malbec.« Zögerlich erwiderte Malbec den Handschlag, blieb aber sichtlich reserviert– ein übereifriger Lokalpolitiker war das Letzte, was er jetzt brauchte.

»Monsieur le Capitaine. Mir fehlen die Worte– diese Morde sind schrecklich, vor allem gerade jetzt zu Beginn der Sommersaison. Das ist gar nicht gut für den Tourismus in der Region«, sagte der Bürgermeister aufgebracht und zündete sich eine Zigarette an. »Morgen wird die Geschichte in allen Zeitungen stehen.«

»Nicht nur in der Zeitung– so viel kann ich Ihnen versichern: Es wird nicht lange dauern, dann werden hier die ersten Fernsehteams auftauchen«, entgegnete Malbec abgeklärt. Lokalpolitiker vom Typ Richards waren ihm verhasst. Sobald sie– aus welchem Grund auch immer– die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich hatten vereinen können, waren sie von einem eigenartigen Sendungsbewusstsein erfüllt und fortan nur noch am vermeintlichen Wohle ihrer Stadt interessiert. Eine eigenartige selbstverliebt-symbiotische Beziehung.

»Die Folgen könnten fatal sein«, fuhr Gaston Richard fort. »Wir haben erst Ende Mai. Das hier kann uns schlimmstenfalls die gesamte Saison verhageln. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, aber da hängen viele Arbeitsplätze dran.«

Malbec war genervt, dennoch zwang er sich zur Ruhe. »Lieber Herr Bürgermeister, Ihre Sorgen um Ihre Gemeinde in allen Ehren– aber wir ermitteln hier in einem Mordfall, und ich wäre Ihnen daher wirklich dankbar, wenn Sie den Tatort umgehend verlassen würden. Ihr Chef de Police wird Sie sicherlich über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden halten.«

»Ich will Ihre Ermittlungen ja nicht behindern, aber das hier«, er machte eine die Umgebung fassende Bewegung, »kann unsere Gemeinde noch richtig viel Geld kost…«

»Die Tourismusbilanz von Malaucène interessiert mich überhaupt nicht«, blaffte Malbec zurück. »Ich weiß nur, dass es darum geht, einen mehrfachen Mord aufzuklären, und dass Sie in spätestens zwei Minuten von hier verschwunden sind.« Er streckte demonstrativ den Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand empor und verharrte kurz in dieser Pose, um zu unterstreichen, dass er es ernst meinte.

Gaston Richards Gesichtsfarbe verdunkelte sich merklich, und seine Backen blähten sich auf.

»Dann wollen wir mal hoffen, dass Sie den Täter möglichst schnell finden…«, entgegnete er, schnippte seine Zigarette durch die Luft und drehte sich grußlos um.

Malbec blickte ihm missmutig nach. Zwar konnte er Richards Beweggründe in gewisser Weise nachvollziehen– aber für diesen überheblichen Auftritt hatte er keinerlei Verständnis. Kopfschüttelnd wandte er sich Bernard Réval zu und gab ihm einen kurzen Überblick über die Situation am Tatort. Anschließend telefonierte er mit der Zentrale und forderte weitere Verstärkung an, um das Gelände rund um den Parkplatz durchsuchen zu lassen. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, dass Avignon und Aix-en-Provence bereits ihre Unterstützung zugesagt hatten.

Mit Sorge betrachtete Malbec die zunehmende Betriebsamkeit auf dem abgesperrten Areal. Inzwischen befanden sich weit mehr als ein Dutzend Personen auf dem Parkplatz. Es fiel ihm schwer, den Überblick zu bewahren und auszumachen, wer am Tatort nichts verloren hatte.

Die Spurensicherung arbeitete bereits auf Hochtouren. Bernard Réval und seine in weiße Overalls gehüllten Mitarbeiter waren dabei, den Tatort bis auf den letzten Winkel zu durchkämmen und Beweise zu sichern. Patronenhülsen, Zigarettenstummel und allerlei Zivilisationsmüll wurden in durchsichtige Tütchen gepackt, um sie später im Labor zu untersuchen. Ein Mitarbeiter kniete am Boden und war damit beschäftigt, Reifenabdrücke sicherzustellen. Ein anderer hielt die Situation am Tatort akribisch mit der Kamera fest.

Soweit Malbec sehen konnte, gehörte auch Chantal Kleber zum Team, die er an ihrem langen Pferdeschwanz erkannte.

Ungeduldig drehte er sich um, nachdem sich jemand zum zweiten Mal hinter seinem Rücken auffällig geräuspert hatte: »Monsieur Taurel– welch eine Überraschung! Sie sind auch schon da?«

»Ja, Chef, Entschuldigung, aber es hat etwas länger gedauert«, druckste Jacques Taurel herum, bevor er offenbarte, einen relativ umständlichen Weg gewählt zu haben.

»Sie haben was?«, fragte Malbec entgeistert nach.

»Nun, ich bin über Bédoin gefahren.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie sind über die Südroute gefahren und haben erst den Gipfel des Mont Ventoux erklommen?«

»Äh, ja, ging nicht so schnell, da waren viele Radfahrer unterwegs…«

Malbec rieb sich fassungslos über die Stirn.

»Auf der Karte sah es so aus, als sei dies der direkteste Weg«, versuchte Taurel sich zu verteidigen.

»Immerhin haben Sie den Weg zum Tatort gefunden«, resümierte Malbec trocken.

Jacques Taurel gehörte erst seit zwei Monaten zu Malbecs Commissariat. Er galt als Internetfreak und hatte die Offiziersakademie in Melun mit Bestnoten abgeschlossen, doch schienen seine praktischen Einsatzmöglichkeiten begrenzt zu sein, da er sich mit jugendlicher Unbekümmertheit oft in Details verzettelte, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar waren. Dafür hob er sich positiv von den üblichen muskelbepackten Offiziersanwärtern ab, die fast ihre gesamte Freizeit im Fitnessstudio verbrachten und sich nur für Ernährungspläne interessierten.

»Haben Sie eigentlich kein Navigationssystem im Auto?«, hakte Malbec nach.

»Doch, sicher.«

»Und warum haben Sie sich nicht auf Ihr Navi verlassen?«

»Wegen Houellebecq.«

»Wegen Houellebecq? Was hat denn Michel Houellebecq mit Ihrem Navigationssystem zu schaffen?«

»Nun, ich habe vor ein paar Monaten Houellebecqs Roman ›Karte und Gebiet‹ gelesen und seither eine Schwäche für die kunstvolle Grafik der Michelin-Karten entwickelt.«

Nachdem ihn Malbec verständnislos angesehen hatte, erklärte Taurel, er habe erst durch die Lektüre von Michel Houellebecqs Roman erkannt, dass sich eine einfache Michelin-Landkarte als eine warholeske Ikonografie der Gegenwart lesen lasse. Seither verwende er bei seinen Ausflügen durch die Provence nur noch die gelben Michelin-Karten.

»Vielleicht lernen Sie im Rahmen Ihres literarischen Kartenstudiums irgendwann die normative Kraft eines Höhenprofils zu schätzen.« Malbec drehte sich verständnislos um und stapfte, den schlaksigen Taurel im Schlepptau, mit großen Schritten dem toten Radfahrer entgegen. Dort hatte bereits Chantal Kleber ihre Arbeit aufgenommen.

»Hallo, Olivier«, begrüßte sie Malbec mit einem Lächeln.

»Hallo, Chantal– ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wieder an einem Tatort sehen«, entgegnete Malbec.

Chantal arbeitete schon seit Jahren beim Institut de recherche criminelle de la Gendarmerie nationale, und Malbec hatte ihre umsichtige Art zu schätzen gelernt, als er die Ermittlungen im Fall der toten Studentin im Melonenfeld übernommen hatte. Die Hintergründe des Mordfalls waren bislang ungeklärt. Obwohl Chantal zahllose Stunden im Labor verbracht hatte, hatten sich keine brauchbaren Erkenntnisse ergeben. Gemeinsam hatten sie mehrfach darüber spekuliert, welche Bedeutung der abgeklebten Skibrille zukam, warum an den Fußsohlen der Toten Reste von Chlor und Ockerpigmenten nachgewiesen werden konnten und was es mit dem in der Nähe gefundenen Campinggaskocher auf sich hatte. Während Chantal vermutete, der Kocher habe dort nur zufällig im Acker gelegen, war Malbec sich nicht so sicher, ob es da nicht doch einen Zusammenhang mit dem Mord gab. Und warum hatte die Tote am linken Handgelenk ein Preisschild getragen?

Doch dieser Mordfall war jetzt in den Hintergrund gerückt. Malbec stand am Mont Ventoux auf einem mit gelben Plastikspurentafeln verzierten Grünstreifen neben einem toten Radfahrer.

»Gibt es schon irgendwelche besonderen Erkenntnisse?«

Chantal Kleber schüttelte kurz den Kopf. »Nein, wenn man davon absieht, dass ich meine weiteren Pläne für das Wochenende komplett vergessen kann.« Sie bückte sich zu ihrem großen geöffneten Aluminiumkoffer hinunter. »Eigentlich wäre ich jetzt längst bei meiner Freundin in Marseille.«

»Ich kann dich beruhigen. Nicht nur deine Pläne sind geplatzt«, brummte Malbec. »Hatte der tote Radfahrer irgendwelche Papiere bei sich?«

»Nein«, antwortete Chantal Kleber und ging geschmeidig in die Knie. »Leider nicht. Immerhin aber ein Mobiltelefon, dessen Daten noch ausgelesen werden müssen. Sonst habe ich nur zwei Energieriegel gefunden, aber die werden uns wohl nicht viel weiterhelfen…« Sie stöhnte und fügte hinzu: »Die Ergebnisse kannst du schon bald in unserem Bericht lesen. Allerdings wird sich die Auswertung der Spuren am Porsche wohl länger hinziehen. Wir werden das Auto noch heute mit einem Abschleppwagen ins Präsidium transportieren lassen, dort Stück für Stück auseinandernehmen und bis in den letzten Winkel untersuchen. Fingerabdrücke, Faserspuren– wir werden nichts übersehen.«

»Danke, ich weiß eure Arbeit zu schätzen«, sagte Malbec. »Wenn es irgendwelche überraschenden Zwischenergebnisse gibt, ruf mich doch bitte einfach an.«

»Übrigens– dein Heimwerkeroutfit sieht richtig umwerfend aus«, sagte Chantal augenzwinkernd.

Während Malbec noch nach der passenden Antwort suchte, ließ ihn ein schwer einzuordnendes dumpfes Geräusch aufblicken: Ein Helikopter näherte sich dem Parkplatz mit immer lauter wummernden Rotorblättern in einer langen Kurve aus südwestlicher Richtung.

Malbec ahnte das drohende Unheil. Er schützte sich mit der Hand vor der blendenden Sonne und konnte sogar das Logo von»M6« erkennen. Zwar hatte er damit gerechnet, dass die Presse schnell Wind von dem Vorfall bekommen würde, aber dass das Reporterteam eines privaten Fernsehsenders über seinem Kopf kreiste, bevor der Staatsanwalt am Tatort war, verstörte und empörte ihn gleichermaßen. Viel Phantasie war nicht notwendig, um sich auszumalen, worüber in den Abendnachrichten ausführlich berichtet werden würde. Glücklicherweise hatte Chantal Kleber schon reagiert und vorausschauend eine dunkelgraue Plane über dem toten Radfahrer ausgebreitet, bevor sie sich auf den Weg zum Porsche machte.

Die modernen Kommunikationstechniken hatten den Arm des Gesetzes wieder einmal eingeholt. Irgendjemand musste die Presse verständigt haben– kein Wunder, versuchten doch die Medien seit Jahren, solche Meldungen mit Honoraren einzukaufen. Jeder Leser, jeder Zuschauer galt inzwischen als potenzieller Reporter, der seine Beobachtungen dank Smartphone und Internet der Redaktion direkt zusenden konnte.

Malbec sah genervt nach oben: Die Rotorblätter knatterten über dem Parkplatz, der Pilot hielt den Hubschrauber direkt über dem Tatort mit leichten Kreisbewegungen in Position, so dass der Kameramann aus der geöffneten Tür filmen konnte. Es würde nicht lange dauern, bis auch andere TV-Sender versuchten, eigene Berichterstatter mit Übertragungswagen zum Mont Ventoux zu schicken. Medialer Voyeurismus. Immerhin war der Abstand so groß, dass weder Staub noch Sand aufgewirbelt wurden.

Malbec zog angewidert die Mundwinkel nach unten, aber er wusste, dass es letztlich ein vergebliches Unterfangen war, die Medien in Schach zu halten und die Richtung der Berichterstattung in den Griff zu bekommen. Wie ein ausgehungertes Wolfsrudel umkreisten sie ihr vermeintliches Opfer, lechzten nach höheren Einschaltquoten und Auflagen. Er konnte sich den Medienwirbel und die morgigen Schlagzeilen lebhaft vorstellen.

Doch er wollte sich nichts vorwerfen lassen.

»Können Sie bitte ein Auge darauf haben, dass hier niemand fotografiert?«, sagte er an Taurel gewandt, der blass um die Nasenspitze geworden war. »Ich will keine Nahaufnahmen und schon gar kein Bild von den Toten in irgendeiner Zeitung oder im Internet sehen. Und wenn jemand verdächtig mit seinem Mobiltelefon herumhantiert, konfiszieren Sie es vorsichtshalber sofort.«

Er blickte auf die Uhr seines Mobiltelefons. Eigentlich hätte er schon längst in der Küche stehen müssen, um das nicht eingekaufte Lammcarré vorzubereiten. Erneut versuchte er, Nathalie zu erreichen, aber es meldete sich nur die Mailbox.

Malbec unterbrach die Verbindung, da er vor einer unpersönlichen Absage zurückscheute. Den Gedanken, eine SMS zu schreiben, verwarf er ebenfalls. Nathalie würde nicht erfreut sein, hatte doch schon vor zwei Wochen ein unvorhersehbarer Einsatz ihre gemeinsamen Wochenendpläne kurzerhand über den Haufen geworfen. Er ahnte, dass er ihr Verständnis für seine schwer planbaren Arbeitszeiten in letzter Zeit zu sehr strapaziert hatte.

Als ihm bewusst wurde, dass er nicht nur die nächsten Tage, sondern die kommenden Wochen hauptsächlich im Commissariat verbringen würde, wollte er sich ihre Reaktion gar nicht vorstellen. Da würde es auch nicht helfen, die Wahrheit häppchenweise zu servieren. Seine Laune verschlechterte sich zunehmend. Die geplante Renovierung seines Hauses kam schleppend voran, die Arbeiten würden sich wohl noch länger hinziehen.

Auf dem Parkplatz ging es zu wie in einem Taubenschlag. Inzwischen kreisten bereits zwei Hubschrauber der Gendarmerie nationale über dem Areal. Ein Feldhase floh in wildem Zickzack, als der erste Hubschrauber unter ohrenbetäubendem Lärm auf einer benachbarten Freifläche zur Landung ansetzte.

Malbec hielt sich die Ohren zu und stellte zufrieden fest, dass es sich um die angeforderte Verstärkung aus Avignon handelte. Er informierte die Kollegen und gab Anweisungen für das weitere Vorgehen. Mit den verfügbaren Einsatzkräften konnte das Gelände hinter dem Parkplatz auf Spuren durchsucht werden.

Malbecs Mobiltelefon klingelte. Commandant Chevaline erkundigte sich nach der Situation am Tatort und entschuldigte sich, dass er sich erst jetzt meldete, da er auf dem Tennisplatz gewesen sei.

In knappen Worten erläuterte Malbec seinem Vorgesetzten, was sich nach seinem bisherigen Kenntnisstand auf dem Parkplatz ereignet hatte.

»Haben Sie die Spurensicherung benachrichtigt und Verstärkung angefordert?«, fragte Louis Chevaline in einem herausfordernden Ton, so, als wolle er einen Polizeischüler prüfen.

»Ja, Bernard Réval ist mit seinem Team bereits vor Ort«, antwortete Malbec so ruhig wie möglich und ballte seine Hand zur Faust. Er konnte Chevaline nicht leiden. Eine Antipathie, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Seitdem Chevaline seinen Posten vor einem halben Jahr angetreten hatte, knirschte es zwischen den beiden.

»Gut. Haben Sie weitere Maßnahmen eingeleitet?«

»Alle umliegenden Polizeistationen sind informiert. Die Zufahrt zur D974 ist einen Kilometer oberhalb von Malaucène mit gelben ›Route-Barrée‹-Schildern gesperrt. Außerdem wurde eine Ringfahndung ausgegeben. Auf allen größeren Straßen im Département werden momentan stichprobenartig Kontrollen durchgeführt.«

»Ist sicher einen Versuch wert. Vielleicht hilft uns ja Kommissar Zufall.«

»Ja, aber eigentlich weiß keiner so recht, nach wem wir suchen. Der oder die Täter hatten mehr als zwei Stunden Zeit, um zu verschwinden. Theoretisch könnten sie schon mit einem Glas Pastis am Hafen von Cassis sitzen.«

»Das wollen wir mal nicht hoffen.«

»Ich lasse von mir hören, sobald ich neue Erkenntnisse habe.«

»Ahh, bedenken Sie bitte, dass sich das Pariser Innenministerium auch schon gemeldet hat«, versuchte Chevaline eine Drohkulisse aufzubauen, so als müsse allein dieser Hinweis Malbec zu besonderen Glanztaten beflügeln.

Malbec beendete das Gespräch unter einem Vorwand. Chevalines autoritäres Gehabe, mit dem er seine Unsicherheit überspielte, ging ihm auf die Nerven.

Erfreut sah er auf dem Display, dass Nathalie ihm eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte.

***

Ein kalter Nordwind war in der letzten Viertelstunde aufgekommen, immer wieder strichen heftige Böen über den Parkplatz, der mit Absperrbändern der Kriminaltechniker eingezäunt war. Geräuschvoll flatterten die rot-weißen Bänder mit der Aufschrift »Police Zone Interdite« im Wind.

Malbec begann zu frösteln. Kein Wunder: Mit seinem T-Shirt war er hier auf weit über tausend Metern Höhe nicht gerade passend angezogen. Er schätzte, dass es rund zehn Grad kälter war als am Fuß des Berges in Malaucène. Da er weder einen Pullover noch eine Jacke dabeihatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Temperaturunterschieden mit stoischer Ignoranz zu begegnen.