Späte Rache im Luberon - Ralf Nestmeyer - E-Book

Späte Rache im Luberon E-Book

Ralf Nestmeyer

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Beschreibung

In der Abgeschiedenheit der Provence Eigentlich wollte Capitaine Malbec das Wochenende am Mittelmeer verbringen, doch ein Leichenfund in einem abgeschiedenen provenzalischen Bergdorf macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Tote – ein kunstliebhabender Deutscher, der das Dorf vor Jahrzehnten als Ruine erworben und mühsam wieder aufgebaut hatte – war allseits beliebt. Oder nicht? Lebenskünstler, Schatzsucher und Immobilienmakler geraten unter Verdacht, doch dann bekommt der Fall eine überraschende Wendung.

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Ralf Nestmeyer ist Historiker und Reisejournalist sowie Autor von mehreren Reiseführern, vor allem über französische Regionen, zudem verfasste er ein Buch über französische Mythen. Er ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.

www.nestmeyer.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus istockphoto.com/Adam Smigielski, shutterstock.com/gyn9037

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-887-0

Provence Krimi

Originalausgabe

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EINS

»Trouvac, wo zum Teufel liegt dieses Trouvac?«

Laut fluchend hielt Capitaine Olivier Malbec am Straßenrand an. Sein Navigationssystem kannte den Ort nicht, der sich in den Bergen nordwestlich von Saint-Saturnin-lès-Apt befinden musste – so jedenfalls hatte man es ihm am Telefon beschrieben.

Zweimal war er bereits falsch abgebogen, jetzt versuchte er, den richtigen Kartenausschnitt auf dem Display auszuwählen. Vergeblich scrollte er nach oben und unten, zoomte sich an verschiedenen Stellen in den Bildschirm hinein, doch Trouvac konnte er nicht finden.

Genervt stöhnte er auf, griff ins Handschuhfach und zog die klassische Landkarte zurate, die er immer im Auto hatte. Vorsichtig faltete er sie auseinander und studierte sie gewissenhaft.

Glücklicherweise war auf seine alte gelbe Michelin-Karte auch in Zeiten modernster Navigationstechniken Verlass: Das an den südlichen Ausläufern des Mont Ventoux gelegene Dorf war mit einem Ruinensymbol gekennzeichnet. Malbec prägte sich die Route ein und fuhr weiter.

Wenig später entdeckte er an einer Straßengabelung einen unauffälligen Wegweiser. Mit weißer Farbe stand der Name Trouvac auf einem einfachen Holzschild. Er bog nach rechts ab und folgte der Markierung.

Erleichtert atmete er auf.

Die Abzweigung erwies sich schnell als holprige Piste mit mehreren Serpentinen und unübersichtlichen Engstellen, an denen er jedes Mal hoffte, dass ihm Gegenverkehr erspart blieb.

Dichtes Gestrüpp und bis an die Straße reichende Bäume erschwerten die Sicht. Malbec quälte sich den Berg hinauf, passierte zwei schmale, mit Steinmauern eingefasste Brücken, unter denen sich ein tiefer Abgrund verbarg. Der Motor röhrte, als er einen Gang tiefer schaltete.

Die Asphaltierung wurde schlechter und rissiger. Ein Schlagloch reihte sich an das andere. Da kein Dorf auftauchte, begann Malbec zu zweifeln, ob er sich auf dem richtigen Weg befand. Er war kurz davor umzudrehen, als sich die Straße hinter einer Rechtskurve verbreiterte, bevor sie schließlich hinter einem selbst gezimmerten Ortsschild als Sackgasse endete. Trouvac.

Er bremste leicht und registrierte mehrere Fahrzeuge, die schräg vor einem mit Steineichen bewachsenen Abhang parkten.

Zwar kannte er ein paar provenzalische Minidörfer wie Sivergues oder das sich an einen Felshang schmiegende Lioux, doch von einem Ort namens Trouvac hatte er noch nie gehört. Und das lag nicht daran, so versicherte er sich selbst, dass er aus Paris stammte und erst seit rund zehn Jahren in der Provence lebte.

Schweren Herzens hatte er Paris verlassen und war zu seiner zukünftigen Ehefrau Valérie in den Midi gezogen. Seine Ehe war längst gescheitert, aber Malbec war in der Provence geblieben, da er diesen faszinierenden Landstrich und sein gemäßigtes Klima ebenso wenig missen wollte wie die gute Küche und das heitere mediterrane Leben.

Im Schritttempo rollte er auf den provisorischen Parkplatz. Unter den Fahrzeugen waren ein weißer Kastenwagen mit blauem Querstreifen und der Aufschrift »Police municipale« und fünf Autos mit deutschen und französischen Kennzeichen, darunter ein alter Mercedes mit sternverzierter Kühlerhaube.

Einen Steinwurf entfernt, sah Malbec Dachziegel und Mauern durch das bereits in herbstliche Töne gefärbte Laub schimmern. Kieselsteine knirschten, als er neben dem Polizeiwagen hielt.

***

Malbec war auf dem Weg ins Büro gewesen und an der Stadtmauer von Calmont-les-Fontaines vorbeigefahren, als ihn der Chef de Police von Saint-Saturnin-lès-Apt angerufen und ihm von dem mysteriösen Todesfall berichtet hatte. Nicht ganz ohne Hintergedanken hatte er sich die Koordinaten von Trouvac durchgeben lassen und versprochen, sofort hinzufahren. Ein wenig unwohl war ihm dabei gewesen, da er befürchtet hatte, dass ihm der Fall seine Pläne für das Wochenende durchkreuzen könnte.

Zufrieden hatte er den Motor gestartet. Der Einsatz war ihm gelegen gekommen. So würde er eine von Commandant Louis Chevaline anberaumte Teamsitzung versäumen, auf die er sowieso keine Lust gehabt hatte. Schon im Vorfeld hatte er sich geärgert, dass Chevaline die Sitzung just auf Freitagnachmittag terminiert hatte.

Zu seinem direkten Vorgesetzten hatte Malbec, freundlich formuliert, kein gutes Verhältnis. Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit und hatte sich gesteigert, als Malbec von Chevaline bei den Ermittlungen zu den spektakulären Morden am Mont Ventoux von dem Fall abgezogen worden war. Commandant Chevaline hatte ihm vorgeworfen, er habe bei der Tatortsicherung Fehler begangen und sei mit der internationalen Dimension des Falles überfordert gewesen. Trotz einer eingesetzten externen Sonderkommission waren die Ermittlungen im Sande verlaufen. Chevaline wurmte es nach wie vor, dass Malbec eigenmächtig ermittelt hatte und es schließlich einzig seiner Hartnäckigkeit zu verdanken gewesen war, dass der Vierfachmord aufgeklärt worden war.

Soweit es in der überschaubaren Dienststelle in Carpentras möglich war, versuchte Malbec seither, gemeinsame Berührungspunkte mit Chevaline zu vermeiden. Ein paarmal hatte er einen Versetzungsantrag in Erwägung gezogen. Und schon am Morgen, als er den Anruf erhalten hatte, war ihm klar gewesen, dass sich die Ermittlungen bis in den späten Nachmittag hinziehen würden.

***

Er stieg aus und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Autodach ab. Das war nun also Trouvac. Insofern er es beurteilen konnte, handelte es sich um einen unscheinbaren Weiler, der sich am Rande eines Hanges in ein kleines Tal duckte. Ein kalter Wind wehte von den Bergen herunter.

Malbec fröstelte und griff nach seiner Jacke, die er auf den Rücksitz geworfen hatte, und machte sich auf den Weg.

Eine eigenartige Stille lag über dem Ort. Zwei Müllcontainer standen in einer in das Gebüsch geschlagenen Ausbuchtung. Malbec warf einen Blick auf eine Holztafel, an die drei laminierte Blätter gepinnt waren: Hinweise auf die sommerliche Waldbrandgefahr sowie die Markttage in den umliegenden Dörfern, daneben hing ein vergilbter Flyer, der eine Kunstausstellung bewarb.

Auf einem von halbhohen Bruchsteinmauern gesäumten Feldweg ging Malbec bedächtig zu den ersten Häusern des Dorfes. Instinktiv beschlich ihn der Eindruck, dass dies kein gewöhnliches provenzalisches Dorf war. Schnell fühlte er sich bestätigt: Zu sehen waren weder großzügige Ferienhäuser mit blau leuchtenden Swimmingpools wie an den Hängen des Luberon noch dekorative Lavendelsträucher und Blumenrabatten, aber auch kein beschauliches Café und schon gar kein Souvenirshop, der bunte Seifenblöcke, Olivenöl, Lavendelhonig und Kräuter der Provence an Touristen verkaufte. Zu seiner Überraschung entdeckte er nicht eine einzige Satellitenschüssel auf den Dächern, die sich über alle provenzalischen Dörfer längst wie Eiterbeulen ausgebreitet hatten. Einzig die einfache, mit Holzbalken umrandete Boulebahn, die neben dem Parkplatz angelegt worden war, schien ein Zugeständnis an die südfranzösische Kultur und lud zum Pétanque-Spielen ein.

Er blieb erstaunt stehen: Bis auf ein dezentes Blätterrauschen herrschte vollkommene Ruhe. Er meinte sogar, die Kontaktrufe eines Pfaus gehört zu haben. In welche verwunschene Dorfidylle war er geraten? Wo steckte Charles Monod?

Malbec ließ das Ensemble auf sich wirken. Weder größere Häuser noch ein Kirchturm waren auszumachen. Der ganze Ort war eigenartig verlassen, obwohl er einen halb abgeräumten Tisch auf einer Terrasse gesehen hatte.

Er stieg drei Treppenstufen hinunter. Auf einmal spitzte er die Ohren: Wasser plätscherte. Ein schmaler Bachlauf bahnte sich von den Bergen kommend seinen Weg ins Tal und füllte unterhalb der Ansiedlung ein gemauertes Becken. Forellen tummelten sich in dem Naturpool. Bunte Handtücher flatterten an einer Leine im Wind.

Malbec rieb sich verwundert die Augen. Die Atmosphäre mutete wie eine Zeitreise ins neunzehnte Jahrhundert an. Alles wirkte auf eine liebevolle Art verwildert. Eine provenzalische Ortschaft wie im Dornröschenschlaf. Pflanzen rankten über das Mauerwerk, das aus geschichteten Steinen bestand. Dorf und Natur schienen untrennbar ineinander verschlungen zu sein.

Gleichzeitig irritierte ihn die Szenerie. Schließlich sollte er in einem ungeklärten Todesfall ermitteln.

Als es neben ihm im Gebüsch raschelte, hielt er inne und tastete mit der linken Hand nach seiner Dienstwaffe. Er lauschte regungslos. Keine Menschenseele weit und breit, dafür schlich eine schwarze Katze in sicherem Abstand an ihm vorbei.

Er grummelte vor sich hin und ging auf zwei Steinhäuser zu, die so dicht nebeneinanderstanden, dass sich zwischen ihnen nur eine enge Gasse bildete. Wohin war Charles Monod verschwunden?

Zu früher Stunde hatte der Chef de Police von Saint-Saturnin-lès-Apt Malbec über einen Toten in einem Weiler seines Gemeindebezirks informiert. Monod hatte Malbec gebeten, nach Trouvac zu kommen, da er aufgrund der Umstände ein Kapitalverbrechen vermutete. Obwohl sich Malbec sofort auf den Weg gemacht hatte, war bis zu seiner Ankunft weit über eine Stunde vergangen.

Orientierungslos blieb er stehen. Wo befand sich der Tote? Und wo trieb sich Monod herum? Malbec hatte seinen Dienstwagen auf dem Parkplatz gesehen. Charles Monod schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Malbec stolperte bei seinem Rundgang über das unebene, mit Moos durchsetzte Pflaster des schmalen Weges. Die Steine glänzten speckig. Links und rechts gab es nur ein paar Abzweigungen, die über Steintreppen zu höher oder tiefer gelegenen Häusern führten. Sich zurechtzufinden, war nicht einfach, da kein Dorf- oder Marktplatz existierte.

Er überlegte, ob er laut nach Monod rufen sollte. Unwillkürlich hielt ihn die beschauliche Ruhe, die sich über dem Dorf ausgebreitet hatte, davon ab. Stattdessen griff er zu seinem Portable, um den Chef de Police zu kontaktieren.

Kein Empfang! Das Display zeigte keinen einzigen Balken an. Ein Funkloch hatte ihm gerade noch gefehlt.

»›Orange und SFR‹ sollten für ihre hohen Gebühren endlich mal die Lücken in ihren Mobilfunknetzen schließen«, fluchte er leise vor sich hin. Andererseits passte dieser Umstand perfekt zu der aus der Zeit gefallenen Dorfstimmung.

Plötzlich fuhr er erschrocken zusammen: Wie aus dem Nichts stand ein Mann, der ihn an einen Waldschrat erinnerte, vor ihm. Er war fast einen Kopf kleiner als Malbec, hatte struppige Haare und trug einen dichten grau melierten Vollbart, der einem modernen Hipsterbart ähnelte, nur dass er in seinem verschmutzten Flanellhemd ziemlich ungepflegt wirkte. Ein wässriges Augenpaar funkelte über einer geröteten Nase, ein feines Netz aus geplatzten Äderchen überzog die speckigen Wangen.

Länger als üblich musterte der Mann Malbec von oben bis unten und sagte auf Englisch: »Please, follow me.«

Erstaunlich leichtfüßig lief er mit seinen mit getrockneten Lehmresten besprenkelten Wanderstiefeln voraus. Er schlug zwei oder drei Haken und führte Malbec schließlich an das andere Ende des Dorfes. Nachdem er um die Ecke des letzten Hauses gebogen war, blieb er abrupt stehen und streckte wortlos den Arm aus.

Malbec blickte in die angedeutete Richtung. Als er sich bedanken wollte, war der Mann bereits verschwunden. Zielstrebig ging er bis zum Rand einer halbhohen Steinmauer, die von Ginstersträuchern gesäumt war, und beugte sich zu einer Terrasse herab. Augenblicklich erstarrte er angesichts eines männlichen Unterleibs. Er zweifelte nicht daran, den von Monod übermittelten Toten vor sich zu haben. Der Körper wirkte seltsam verrenkt, ein Bein schien ungewöhnlich abgewinkelt, und in Höhe der Wade war das Hosenbein aufgerissen. Der Leichnam lag auf dem Bauch und hatte einen Schuh verloren, dunkelrote Wollsocken spitzten hervor.

Über eine bemooste Treppe stieg Malbec hinunter und ging in die Hocke, um sich einen genaueren Eindruck zu verschaffen. Der Boden war noch feucht vom morgendlichen Tau, wie er an seinen Schuhen sehen konnte.

Der Tote war ein älterer Mann. Im Bruchteil einer Sekunde zogen vor Malbecs innerem Auge ganze Bildsequenzen vorbei. Erlebnisse, die sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatten.

Da war der zwölfjährige Junge, der auf dem Rückweg vom Fußballtraining entführt und missbraucht worden war – es war der erste Mordfall gewesen, in dem Malbec zu einem Ermittlerteam gehört hatte. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte er sich daran, dass der Junge ein weiß-blaues Trikot von Olympique Marseille mit der Rückennummer 10 und dem Namen Gignac getragen hatte. André-Pierre Gignac – so hieß der bullige Mittelstürmer, der mehr als fünfzig Tore für Olympique Marseille geschossen hatte. Für viele Kids in der Provence war er ein Idol, und sein Trikot war der meistverkaufte Artikel im Fanshop von »l’OM« gewesen.

Der Junge hatte ohne Hose und Schuhe halb nackt im Straßengraben gelegen. Er war hellblond gewesen und hatte ein Engelsgesicht gehabt. Dank einer aufmerksamen Zeugin, die die beiden zuvor an einer Bushaltestelle gesehen hatte, hatte sein Mörder schon bald identifiziert und verhaftet werden können. Doch die ersten Sekunden am Tatort würde Malbec wohl zeitlebens nicht mehr vergessen.

Seither war er mehr als ein Dutzend Mal an einen Tatort gerufen worden, darunter waren auch vermeintlich unspektakuläre Mordfälle gewesen, wie der erschossene Mann, der in der Sorgue getrieben und dessen schnell aufgeklärter Tod mit einem der Vergessenheit anheimgefallenen Ereignis aus der Geschichte der Résistance zusammengehangen hatte.

Doch auch die jüngsten Fälle, darunter die schrecklich zugerichtete junge Frau im Melonenfeld bei Cavaillon und die vier Toten, die er an einem Parkplatz am Mont Ventoux von Schüssen durchsiebt vorgefunden hatte, drängten sich mit all ihren Details in Malbecs Gedächtnis, wenn er mit einer neuen Leiche konfrontiert war. Glücklicherweise verfolgten ihn diese Bilder immerhin nicht bis in den Schlaf.

Er atmete tief durch und versuchte sich zu konzentrieren. Der Kopf und der halbe Oberkörper des Toten steckten in einer von drei gemauerten Nischen, der restliche Körper ragte auf eine Art Wiese heraus, die linke Hand war von seinem Bauch verdeckt. Auf der Stirn waren unter dem Staub und gebröseltem Mörtel Abschürfungen erkennbar, das lockige graue Haar war am Hinterkopf blutverkrustet. Neben dem Schädel und den Schultern nahm Malbec behauene Steine wahr. Ameisen und Käfer krabbelten über die Hände und Arme, zudem schwirrten schon die üblichen Schmeißfliegen herum, die einen Platz für ihre Eier suchten.

Die Leichenstarre war bereits eingetreten. Malbec vermutete, dass der Mann gegen Mitternacht gestorben war. Der Gerichtsmediziner würde das genauer untersuchen, wenn die Leiche auf dem Seziertisch lag.

Trotzdem war es Malbec wichtig, sich selbst einen genauen Eindruck zu verschaffen: Der rechte Handrücken war mit Altersflecken besprenkelt; am Hals sowie rund um Mund und Augen war die Haut faltig. Auffällig war der Wundschorf auf den Fingerknöcheln und am Kinn, der auf eine ältere Verletzung hindeutete. Unterhalb des Kinns fielen Malbec längere Bartstoppeln auf – entweder war dem Mann das Rasieren nicht so wichtig gewesen, oder er hatte nicht mehr gut gesehen.

Malbec schätzte ihn auf Mitte siebzig. Er war überdurchschnittlich groß und hatte breite Schultern und eine kräftige Statur; auch seine Hand war ein Indiz dafür, dass er körperliche Arbeit gewohnt gewesen war. Eine breite raue Hand, die anzupacken gewusst hatte. Ein Landwirt? Nein, das passte nicht zu seiner Kleidung und zu seinen grauen Haaren, die er trotz seines Alters schulterlang getragen hatte. Ein auffällig gemusterter Schal war ihm vom Hals gerutscht. Malbec dachte bei seinem Anblick an einen exzentrischen englischen Landadeligen.

Hoch konzentriert inspizierte er den Fundort von verschiedenen Seiten. Er beugte sich tief hinunter, um sich die Szenerie bis ins kleinste Detail einzuprägen. Ein stummer Dialog mit dem Toten, um den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren und das Geheimnis seines Todes zu lüften. Manche Eindrücke, die er am Tatort aufgesogen hatte, lösten erst Tage später eine ganze Assoziationskette aus.

Malbec atmete tief ein. Als er aufstand, blinzelte er, da erstmals an diesem Tag ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolken brachen.

Bislang wies nichts auf einen Mord hin. Ein tragischer Unfall? Der Tote konnte ebenso einen Schlag- oder Herzanfall erlitten haben und bewusstlos über die Mauer gefallen sein. Eventuell war er auch gestolpert und unglücklich gestürzt.

Malbec untersuchte die mit Flechten übersäte Bruchsteinmauer, es fehlten Hinweise auf einen Sturz, um die auffällige Kopfverletzung zu erklären. Ebenso unklar war, ob ein Sturz überhaupt als Todesursache in Betracht kam. Schuss- oder Stichverletzungen waren nicht zu erkennen. Dennoch war sich Malbec sicher, dass es kein natürlicher Tod gewesen war. Die Obduktion würde darüber hoffentlich genauer Aufschluss geben.

Er ließ die Szenerie gründlich auf sich wirken. In dem vom Regen der letzten Tage weichen Boden waren Druck- oder Schleifspuren ersichtlich. Zudem gab es mehrere deutliche Fußabdrücke. Und um die beiden durchnässten Zigarettenstummel, die er auf dem Grasboden gesehen hatte, würden sich die Kriminaltechniker der Spurensicherung kümmern.

Malbec streifte sich ein Paar dünne weiße Latexhandschuhe über und ging erneut in die Knie. In den Taschen war kein Geldbeutel, Ausweis oder Ähnliches zu ertasten.

Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, hörte er ein Geräusch, das er als leises Schniefen interpretierte. Neugierig wandte er sich um. Direkt hinter ihm stand ein Mann, der sich ihm still genähert hatte. Mit vor dem Körper gefalteten Händen blickte er fassungslos auf den Leichnam und murmelte unverständlich vor sich hin. »Tragisch« war der einzige Wortfetzen, den Malbec verstand.

»Sie kannten den Toten?«

»Selbstverständlich«, antwortete der Mann mit hörbarem deutschem Akzent und starrte ungläubig ins Leere.

»Kennen Sie seinen Namen?«

»Dédé«, sagte er mit einer Betonung, die zwischen Überheblichkeit und Verwunderung changierte, während er Malbec ansah, als wäre er weltfremd und hätte sich nach dem Namen des französischen Präsidenten erkundigt. »Sein richtiger Vorname war Dieter.« Er strich sich über seinen struppigen Bart. »Aber alle nannten ihn nur Dédé – klingt in französischen Ohren auch besser als Dieter, wenngleich Dédé die Abkürzung von Dieudonné ist.«

»Waren Sie mit ihm befreundet?«

»Selbstverständlich, wir kennen – äh, wir kannten uns seit Jahrzehnten.« Sichtlich erschüttert hielt der Mann seine Hände vor seinem Bauch gefaltet. Seine Halsschlagader zuckte.

Respektvoll schwieg Malbec, dann erkundigte er sich nach dem vollständigen Namen des Toten.

»Dieter Steger.«

Er ließ sich den Namen buchstabieren, notierte ihn und musterte den Mann, der neben ihm stand. Er war knapp siebzig Jahre alt, trug eine Hornbrille, sein weißes langärmeliges T-Shirt und die blaue Latzhose waren ebenso wie die festen Arbeitsschuhe mit bunten Farbklecksen besprenkelt.

»Und wer war Dieter Steger?« Malbec nickte mit dem Kopf, um ihn zum Weitererzählen zu ermuntern.

»Jeder, der jemals in Trouvac gewesen ist, kennt Dédé. Er ist …«, der Mann stockte und schob seine Brille nach oben, »… er war Trouvac. Ohne Dédés unermüdlichen Arbeitseinsatz bestünde das Dorf heute immer noch aus einer Ansammlung von Ruinen, deren brüchige Mauern in den provenzalischen Himmel gähnen würden. Es war Dédé, der zusammen mit seiner Frau Vivienne diesen Ort zum Leben erweckt hat.« Er beäugte Malbec. »Und Sie, Sie sind von der Gendarmerie nationale?«

Malbec stellte sich mit seinem Dienstrang vor. »Wohnen Sie im Dorf?«

»Nein, ich wohne in Deutschland, Monsieur le Capitaine, aber ich komme seit vielen Jahren für ein paar Wochen hierher. Als Rentner verbringe ich meist den Sommer und Spätherbst hier. Ich liebe dieses Dorf und seine einzigartige Atmosphäre. Nur im Winter ist es mir in den Bergen zu kalt und unwirtlich.«

»Und Sie heißen …?«

»Mein Name ist Klaus Schröder, ich bin ein langjähriger Freund der Familie.« Er streckte Malbec seine Hand entgegen. »Ich will einfach nicht glauben, dass Dédé tot ist. Erst gestern haben wir uns noch über die Folgen des Hochwassers unterhalten. Die Fluten des Coulon haben unten im Tal zahlreiche Gebäude und Felder unter Wasser gesetzt.«

Malbec hatte im Radio davon gehört und die Bilder von den Überschwemmungen heute Morgen in der Zeitung gesehen, als er beim Frühstück in seinem Stammcafé durch die »La Provence« geblättert hatte. Und auf dem Weg nach Trouvac war der erdige Schlamm, den der Regen aus den Weinbergen auf die Straßen gespült hatte, nicht zu übersehen gewesen.

»Ich verstehe nicht, wie das passiert ist. Ist Dédé über die Mauer gefallen?«

»Ob es ein Unfall war, wird letztlich die Gerichtsmedizin abklären. Für genauere Erkenntnisse werden wir auf den Autopsiebericht warten müssen.«

»Wollen Sie damit sagen …?« Klaus Schröder schluckte vernehmlich. »Das kann ich mir beim besten Willen …« Seine Stimme stockte.

»Wie gesagt, das wird erst nach der Obduktion durch den Gerichtsmediziner endgültig feststehen, daher will ich eine unnatürliche Todesursache nicht ausschließen.«

Klaus Schröder strich sich mehrmals über seine Halbglatze. »Wer hätte denn Dédé ermorden sollen? Warum? Er hatte ein so sanftes Gemüt. Er war die Seele von Trouvac.«

»Haben Sie ihn gefunden?«

»Nicht ich, das war Karin. Sie dachte erst, er sei unglücklich gestürzt und könne sich nicht mehr bewegen. Sie hat versucht, ihn zu reanimieren. Doch als sie realisiert hat, dass sein Körper kalt und spannungslos im Gras lag, ist sie tränenüberströmt zu mir gerannt und dann zusammengebrochen. Ich habe nur die Polizei verständigt.«

»Was ist mit seinen Angehörigen, seiner Frau? Wurde sie bereits unterrichtet?«

»Das ist nicht nötig, Vivienne ist vor zwei Jahren gestorben.«

Malbec schaute auf das Display seines Mobiltelefons. Kein Empfangsbalken. »Kann man hier nicht telefonieren?«

Klaus Schröder schmunzelte wohlwissend. »Da müssen Sie entweder ungefähr hundert Meter den Berg hinaufsteigen oder hinunter in Richtung Rustrel fahren. Auf halbem Weg, hinter einem ausgebrannten Lieferwagen, haben Sie normalerweise Empfang.«

»Danke für den Hinweis. Und wer ist diese Carinne?« Malbec nahm zufrieden zur Kenntnis, dass im Dorf nicht nur alte Männer lebten.

»Karin Staudacher ist von Beruf Kunstlehrerin und unterrichtet an einem Gymnasium in Frankfurt. Sie gehört zu dem Kreis derjenigen, die seit Jahren nach Trouvac kommen, um hier ihre Ferien zu verbringen und zu malen. Daher kennen wir uns gut.«

»Und wo finde ich Carinne?« Malbec hatte Mühe, den deutschen Namen auszusprechen.

»Sie treffen sie in ihrem Haus an beziehungsweise in dem Haus, in dem sie immer wohnt.«

»Und wissen Sie zufällig auch, wo sich mein Kollege von der Police municipale befindet?«

»Er ist bei Karin und kümmert sich um sie. Sie ist vollkommen geschockt.«

»Würden Sie so freundlich sein, mir den Weg zu zeigen oder mich dorthin zu begleiten?«

»Selbstverständlich. Kommen Sie mit.«

Klaus Schröder brachte Malbec zielstrebig zu einem am oberen Dorfrand gelegenen Haus. Dort saß Karin Staudacher, in eine weinrote Strickweste eingepackt, zusammen mit Charles Monod auf der Terrasse und trank eine Tasse Tee, die sie mit beiden Händen festhielt. Sie unterhielt sich angeregt mit dem Chef de Police; es schien ihr besser zu gehen.

Malbec reichte erst ihr und dann Monod die Hand. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wieder treffen«, sagte er und spielte darauf an, dass Monod vor wenigen Wochen den unter Mordverdacht stehenden französischen Sportminister Jean-Michel Trouchet auf der Flucht verhaftet hatte, auch wenn der Ermittlungserfolg letztlich vor allem dem Zufall geschuldet gewesen war. Der Minister saß seither hinter Gittern und musste sich bald in Avignon vor Gericht für den spektakulären Vierfachmord am Mont Ventoux verantworten. Auch in der internationalen Presse hatte die Tat hohe Wellen geschlagen, da neben einem ehemaligen französischen Profiradfahrer auch drei englische Staatsbürger ums Leben gekommen waren.

»Das hätte ich auch nicht gedacht.« Monod grinste gequält. »Langsam befürchte ich, dass sich mein Gemeindegebiet zu einem Hort des Verbrechens entwickelt.«

»Das wollen wir nicht hoffen.« Malbec lachte auf und bedankte sich bei Monod schulterklopfend dafür, dass er ihn umgehend verständigt hatte. »Dürfte ich Sie bitten, den Tatort abzusichern? Ich möchte nicht, dass sich dort Unbefugte herumtreiben und wichtige Spuren zerstören.«

»Bien sûr, ich habe sogar Absperrbänder im Kofferraum, allerdings kam ich noch nicht dazu.«

»Wunderbar«, sagte Malbec. »Das können Sie nachholen. Madame Staudacher und Monsieur Schröder kommen auch ohne Ihre Unterstützung zurecht. Und sobald die Spurensicherung eintrifft, geben Sie mir bitte unverzüglich Bescheid.«

Malbec wandte sich den Deutschen zu, die nebeneinander auf einer schlichten Holzbank saßen. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, damit ich mir ein besseres Bild von der Situation vor Ort machen kann?«

»Natürlich«, Klaus Schröder schaute zur Seite, »Karin spricht nur sehr schlecht Französisch.«

Verunsichert verfolgte Karin Staudacher den Dialog und drückte sich den Bügel ihres roten Brillengestells auf die Nase.

»Kein Problem. Übersetzen Sie ihr bitte meine Fragen.« Malbec lächelte Karin an, nahm auf einem freien Stuhl Platz, zückte einen Kugelschreiber und begann mit der Zeugenbefragung.

Das Gespräch verlief aufgrund der Sprachprobleme zäh und holprig. Karin Staudacher berichtete, sie habe am Morgen einen Spaziergang durch die Umgebung unternommen und dabei auf dem Rückweg den regungslos daliegenden Dieter Steger vorgefunden. Sie habe noch Steine weggeräumt, die auf seinem Kopf gelegen hatten, doch nachdem ihr klar geworden sei, dass ein Reanimationsversuch sinnlos war, sei sie panisch aufgesprungen und Klaus Schröder in die Arme gelaufen. Abschließend erklärten beide, sie seien zu dem Toten zurückgekehrt, hätten sich beraten und beschlossen, auf einen Notarzt zu verzichten und umgehend die Polizei zu benachrichtigen. Der zufällig hinzugekommene Maurice Favrod habe sie in dieser Entscheidung bestätigt.

»Wer ist Maurice Favrod?« Malbec wandte sich direkt an Klaus Schröder, während er sich den Namen notierte.

»Maurice gehört auch zu den Leuten, die in Trouvac ihre zweite Heimat gefunden haben. Von uns allen stand er Dédé am nächsten.«

»Wo finde ich Monsieur Favrod? Ich würde mich gern mit ihm unterhalten.«

»Das dürfte momentan leider nicht möglich sein. Maurice hat die Aufgabe übernommen, zu Sarah nach Aix-en-Provence zu fahren, um ihr mitzuteilen, dass ihr Vater gestorben ist. Ihm war wichtig, ihr die traurige Nachricht persönlich zu überbringen. Ich rechne jede Minute mit seiner Rückkehr.«

»Monsieur Steger hat also eine Tochter?«

»Natürlich, sie heißt Sarah, und zwei Söhne gibt es auch: Jean-Claude und Nathan. Jean-Claude ist schon vor vielen Jahren nach Kanada ausgewandert, Nathan lebt nicht weit von hier. Wenn ich richtig informiert bin, wohnt er in Apt.«

»Weder Sarah noch Nathan waren gestern in Trouvac?«

»Nathan ist schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen.«

»Und was ist mit dem schweigsamen bärtigen Mann mit dem wettergegerbten Gesicht, den ich bei meiner Ankunft getroffen habe?«

»Ach, Sie meinen bestimmt George. Er ist Engländer und lebt seit mindestens dreißig Jahren als eine Art Faktotum im Dorf. Er ist überall und nirgendwo. In den Anfangsjahren hat er Dédé bei der Restaurierung der Häuser und der Schafzucht geholfen, mittlerweile macht er sich nur noch gelegentlich nützlich und kümmert sich um die Olivenbäume. George ist ein ziemlicher Eigenbrötler. Er redet nicht viel. Manchmal ist er tagelang in den Bergen verschwunden.«

Die Frage, ob den beiden etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei, das in Zusammenhang mit dem Tod von Dieter Steger stehen könnte, verneinten sie einträchtig.

Malbec bedankte sich für die Auskünfte, bat Klaus Schröder, eine Liste derjenigen Personen anzufertigen, die in der fraglichen Nacht in Trouvac gewesen waren, und reichte ihm seine Visitenkarte.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass in dem beschaulichen Dorf noch so manche Abgründe auf ihn warteten.

ZWEI

Malbec sah auf die Uhr. Chantal Kleber müsste jeden Moment eintreffen. Er hatte die Kriminaltechnikerin der Spurensicherung angefordert, nachdem ihm Monod schon bei seinem ersten Anruf von seinen Zweifeln an den Todesumständen berichtet hatte.

Auf dem Weg zum Parkplatz studierte er aufmerksam das aus rund zwei Dutzend Häusern und ein paar Nebengebäuden bestehende Dorf. Trouvac war entlang eines zu einer Talmulde hin abfallenden Hanges errichtet worden. Es gab kleine, teilweise überwölbte Verbindungswege und viele in das Hügelrelief geschlagene Treppen. Einige Häuser waren halb unterkellert und hatten einen breiten Zugang. Malbec vermutete, dass sie früher als Ställe gedient hatten. Zwei alte Steinbacköfen im Dorfzentrum hatten wohl einst für die Brotversorgung des Dorfes gesorgt.

Mehr als die Hälfte der Gebäude wirkte unbewohnt, da die hölzernen Fensterläden geschlossen waren. Doch es existierten auch Hinweise auf bewohnte Häuser: Wäscheleinen auf einer Terrasse oder eine zwischen zwei Olivenbäumen gespannte Hängematte. Vor drei Häusern registrierte Malbec Staffeleien, und an mehreren markanten Stellen waren verwitterte Metallskulpturen aufgestellt, die mit viel Phantasie mystischen Tierfiguren ähnelten. Eine ehemalige Scheune wurde als Atelier genutzt. Durch das große Fenster sah Malbec Zeichentische, Leinwände, zwei Töpferscheiben und andere Künstlerutensilien.

An einem Baum lehnte ein einsamer Campingstuhl. Malbec zuckte zusammen, als ein Pfau radschlagend vor ihm stand – er hatte sich also doch nicht verhört. Er machte einen respektvollen Bogen um den stolzen Vogel, der mit zitternden Federn seinen Platz beanspruchte, und setzte seinen Erkundungsspaziergang fort, der ihn bis zu einem unterhalb des Dorfes errichteten Hühnerstall führte, dessen Türen offen waren; die Hühner liefen frei durch das Dorf. Trouvac gefiel ihm, der Ort hatte den Charme des Unvollkommenen – ein faszinierendes Refugium jenseits des klischeehaften Provence-Tourismus.

Just in dem Moment, als er an einem erhöht am Hang gelegenen Haus vorbeilief, an dessen Seite unter einer Plane Kaminholzscheite aufgeschichtet waren, öffnete sich die Tür. Eine Frau im langärmeligen hellblauen Baumwollshirt war zu sehen. Routinemäßig grüßte Malbec, woraufhin die Frau ihn empört und erstaunt zugleich ansah, bevor sie ein knappes »Bonjour« herausbrachte.

Malbec fühlte sich unwohl, als hätte er verbotenerweise herumgeschnüffelt. Die attraktive Frau – sie trug ihre dunkelbraunen Haare hochgesteckt und hatte eine sportliche Figur, die durch ihre enge Jeanshose betont wurde – wirkte schlaftrunken und stellte sich als Cloé Livet vor.

Malbec räusperte sich, zückte seine Polizeimarke, nannte seinen Namen und erklärte, dass er in einem ungeklärten Todesfall ermittle.

»Ein Todesfall?«, fragte Cloé Livet ungläubig. »Doch nicht in Trouvac?«

»Doch, leider. Sie haben davon noch nichts gehört?«

»Ein Jagdunfall in den Bergen?«

»Dieter Steger wurde mitten im Dorf tot aufgefunden«, stellte Malbec richtig.

»Mon Dieu!« Cloé Livets Gesichtszüge entglitten ihr. »Dédé ist tot?«

»Es handelt sich unzweifelhaft um Monsieur Steger.«

»Ich habe mich noch gestern Abend vor seinem Haus mit ihm unterhalten.« Cloé Livet war aufgewühlt. Ihre Nasenflügel vibrierten. »Wie ist das passiert?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hatte er einen Herzinfarkt?«

»Ich bitte um Ihr Verständnis, dass ich Ihnen momentan keine Details zu dem Fall mitteilen darf.«

»Das klingt nicht nach einer Routinesache. Verraten Sie mir wenigstens, wann und wo man Dédé gefunden hat?«

Malbec hob den Arm und wies in die Richtung des Fundorts. »Heute Morgen am westlichen Rand des Dorfes – aber das Areal ist jetzt abgesperrt.« Er zögerte, bevor er nachhakte. »Und Sie sind sich sicher, dass Sie gar nichts mitbekommen haben?«

»Nein, beziehungsweise ja.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe nichts gehört, obwohl ich eine Nachteule bin und immer ziemlich spät ins Bett gehe. Gestern habe ich noch bis zwei Uhr gelesen.«

»Leben Sie allein?«, fragte Malbec und neigte seinen Kopf so, als wollte er durch die geöffnete Tür in das Haus hineinschauen.

»Ja.«

»Wohnen Sie das ganze Jahr über in Trouvac?«

»Ich bin immer nur für ein paar Tage oder Wochen hier. Trouvac ist ein Dorf am Ende der Welt. Ein abgeschiedenes Paradies ohne Sehenswürdigkeiten und es steht in keinem Reiseführer. Nur manchmal kommen Wanderer vorbei. Immer dann, wenn ich eine Auszeit benötige, ziehe ich mich in die einsamen Hügel der Provence zurück und miete eines der Häuser. In den provenzalischen Bergen bin ich ungestört, kann meinen Gedanken nachhängen und nach Lust und Laune lesen oder malen. Entspannung pur, kein Telefon, kein Internet – einfach phantastisch. Wenn das Wetter schön ist, wandere ich auch gern über die Hügel.« Unwillkürlich lehnte Cloé Livet ihren Oberkörper an die Hauswand und wartete auf Malbecs Reaktion.

»Und wo sind Sie offiziell gemeldet?«

»In Lyon.«

Malbec notierte sich Anschrift und Telefonnummer. »Eine schöne Stadt. Vor Jahren habe ich auf dem Weg nach Paris dort mal ein Wochenende verbracht. Die verwinkelte Altstadt mit ihren stattlichen Häusern und ihren durch die Hinterhöfe führenden Gassen und Gängen ist mir noch gut in Erinnerung.«

»Meine Heimatstadt wurde zum Weltkulturerbe der UNESCO ernannt«, verkündete Cloé Livet nicht ohne Stolz. »Die versteckten Traboules gehören zu Lyons Vergangenheit als Stadt der Weber.« Sie verschränkte die Arme. »Kann ich Ihnen sonst weiterhelfen?«

»Danke. Einstweilen habe ich keine Fragen, Madame Livet.«

»Darf ich Trouvac nun aufgrund der Ermittlungen nicht mehr verlassen?«

»Selbstverständlich dürfen Sie sich auch in der Umgebung frei bewegen, allerdings würde ich Sie bitten, vorerst nicht nach Lyon zurückzufahren. Gegebenenfalls werde ich auf Sie zukommen.«

»Alles klar«, sagte Cloé Livet und verschwand im Haus. Quietschend fiel die Tür ins Schloss.

***

Malbec hatte seine Erkundung von Trouvac weitgehend abgeschlossen und das untere Ende des Dorfes erreicht. Er hörte, dass ein Auto geräuschvoll knirschend in die Parkbucht einbog: Das konnte nur Chantal Kleber sein, die für ihren flotten Fahrstil bekannt war.

Schnell bestätigte sich seine Vermutung. Eine kleine Staubwolke hing noch in der Luft, als Chantal und ein ihm unbekannter Mann aus dem Wagen ausstiegen. Eine herzliche Begrüßung folgte.

Malbec gefiel der modische Undercut, den Chantal seit ein paar Monaten trug und der gut zu ihrer burschikosen Erscheinung passte. Gleichwohl wusste er, wie schwer es ihr gefallen war, sich von ihren langen blonden Haaren zu trennen.

»Das ist Marcel, der neue Assistent der Spurensicherung – frisch von der Uni«, sagte Chantal.

Schüchtern begrüßte Marcel Malbec und hievte zwei Metallkoffer aus dem Heck.

Während sich die beiden vorschriftsmäßig ihre weißen Schutzanzüge anzogen, berichtete Malbec ein paar Eckdaten zu dem Fall und führte sie zum Fundort der Leiche, den Charles Monod inzwischen mit rot-weißen Bändern mit der Aufschrift »Police Zone Interdite« weiträumig abgesperrt hatte. Der vierschrötige Chef de Police verschränkte die Arme vor der Brust und besah sichtlich zufrieden sein Werk.

Malbec stand vor dem Toten und erklärte Chantal, dass man vergeblich versucht habe, ihn zu reanimieren, daher entspreche die jetzige Position wohl nicht mehr der ursprünglichen Auffindesituation.

Chantal stelle ihren silbernen Spurensicherungskoffer ab, streifte sich die Einweghandschuhe und Plastikfüßlinge über, setzte einen Mundschutz auf und ging vorsichtig zur Leiche hinüber. Sie lief in einem Halbkreis um den Toten herum.

Malbec schätzte ihre Arbeit und war auch privat mit Chantal befreundet. Erst vor wenigen Wochen hatte er ihr beim Umzug geholfen, als sie mit ihrer Freundin Anne in eine gemeinsame Wohnung gezogen war.

Chantal wies ihren Assistenten an, auf dem Areal um den Fundort die üblichen Nummerntafeln zu platzieren. Dann holte sie eine Spiegelreflexkamera hervor, um den Tatort und die Leiche aus verschiedenen Perspektiven zu fotografieren.

Während sich Malbec bei Monod erkundigte, ob es in den letzten Jahren ungewöhnliche Vorkommnisse in Trouvac gegeben habe, beobachtete er, wie Chantal neben dem Toten tief in die Hocke ging und sich auf ihre Fersen setzte. Sie hielt eine Sekunde inne, bevor sie den Kopf mit beiden Händen behutsam hochhob und zur Seite drehte. Die zärtliche Geste, die für die hartgesottenen Kollegen der Spurensicherung sehr selten war, berührte ihn.

Nachdem sich Chantal einen ersten Eindruck verschafft hatte, winkte sie Malbec heran. »Wir sollten den Leichenwagen anfordern. Wir müssen das Opfer in der Pathologie obduzieren lassen.«

»Alles klar – ich veranlasse den Transport, bitte aber um Geduld, da es kein Mobilfunknetz gibt.« Malbec vollführte mit seinem rechten Zeigefinger eine kreisende Bewegung gen Himmel.

Er lief zum Parkplatz, wo ein weißes Fahrzeug anhielt. Abwartend blieb er stehen, stützte sich auf eine Steinmauer und verfolgte, wie ein großer schlaksiger Mann mit ergrauten Haaren aus seinem Renault mit französischem Kennzeichen ausstieg und sich eine Zigarette anzündete. Sichtlich in Gedanken versunken, lehnte er sich mit dem Rücken an sein Auto, nahm einen tiefen Zug und blickte ins Nirgendwo.

Malbec stieß sich von der Mauer ab und näherte sich ihm zielstrebig. Erst als er demonstrativ hüstelte, schenkte ihm der Mann seine Aufmerksamkeit.

Malbec musterte den Grauhaarigen, der ein schwarzes T-Shirt trug, aus dessen Ausschnitt Brusthaare quollen. Seine Unterarme waren ebenfalls dicht behaart.

»Guten Tag, dürfte ich fragen, wer Sie sind und was Sie in Trouvac machen?«

»Mein Name ist Maurice Favrod. Warum wollen Sie das wissen?«

»Ah, Monsieur Favrod. Schön, dass ich Ihnen begegne. Ich bin Capitaine Malbec.« Er zeigte seinen Dienstausweis. »Man hat mir bereits von Ihnen erzählt. Ich hoffe, Sie haben Monsieur Stegers Tochter angetroffen und«, er zögerte einen Augenblick, »über den Tod ihres Vaters informiert?«

»Sarah wollte mir zuerst gar nicht glauben, dass Dédé tot ist. ›Das ist nicht wahr, du musst dich täuschen‹, hat sie gestammelt.« Maurice Favrod kniff die Lippen zusammen. Ihm war deutlich anzumerken, wie unangenehm ihm die Überbringung der Todesnachricht gewesen war.

Malbec wartete, bis er seinen Bericht fortsetzte.

»Ich habe schon befürchtet, sie würde kollabieren. Glücklicherweise hat sie sich schnell erholt. Ich habe ihr angeboten, sie in meinem Auto mitzunehmen, doch sie wollte noch ein paar Sachen zusammenpacken und dann selbst fahren, um flexibel zu sein. Ich erwarte sie jede Minute.«

Verständlich, dachte Malbec. Ohne eigenes Fahrzeug kommt man aus diesem Ort kaum weg.

»Leiten Sie die Ermittlungen?«

»Ja, die Todesursache ist nicht einwandfrei geklärt, und der berechtigte Verdacht auf ein Gewaltverbrechen besteht. Daher ergeben sich weitere Fragen.«

»Verstehe.« Maurice Favrod lehnte sich gegen die Fahrertür seines Autos.

Nachdem Malbec die üblichen Routinefragen zur letzten Nacht gestellt hatte, wechselte er das Thema, da er sich dafür interessierte, was für ein Typ Mensch Dieter Steger gewesen war.

Favrod hielt seine zum Stummel heruntergebrannte Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und blies den Rauch langsam aus. »Dédé war Trouvac.«

Dieter Steger musste eine besondere Persönlichkeit gewesen sein, wenn er für alle stellvertretend für Trouvac stand, sinnierte Malbec.

Favrod ließ die Zigarettenkippe zu Boden fallen und trat sie gründlich aus. »Seit nunmehr vierzig Jahren hat er in diesem abgeschiedenen Dorf gelebt. Als er hier ankam, gab es nur Ruinen. Stürme, Regen und Mistral hatten ihre Spuren hinterlassen. Kaputte Dächer, geborstene Treppen, verwitterte Holzbalken und eingestürzte Kellergewölbe. Der Ort war nahezu unbewohnbar gewesen und von seinen ursprünglichen Bewohnern schon vor Jahrzehnten verlassen worden. Zusammen mit seiner Familie und der Hilfe zahlreicher Freunde hat Dédé das Dorf behutsam aufgebaut. Stein um Stein, Haus für Haus.«

»Verstehe ich es richtig – Monsieur Steger ist der Eigentümer von Trouvac?«

»Das Dorf gehört – oder besser – gehörte ihm.« Mit einer umfassenden Geste streckte Maurice Favrod beide Arme aus und öffnete die Handflächen.

»Wie kommt man denn dazu, gleich ein ganzes Ruinendorf zu kaufen?«, fragte Malbec stirnrunzelnd und dachte daran, dass er mit der Renovierung seines Hauses in Calmont-les-Fontaines schon nahezu überfordert war. Er hatte erst unlängst eine Woche Urlaub genommen, um den Ausbau des Obergeschosses voranzutreiben.

»Das ist eine längere Geschichte. Dédé war einer von den zahlreichen Aussteigern und Globetrottern, die von einem ungebundenen Leben geträumt haben und durch die Welt getingelt sind. In den siebziger Jahren ist er durch Nordafrika und Indien gereist und hat später monatelang in Südamerika gearbeitet. Wieder dauerhaft nach Deutschland zu gehen, kam für ihn nicht in Frage. Der Dunst des Faschismus war ihm zu allgegenwärtig. In den deutschen Rathäusern und Behörden wehte leider der alte Geist, und dieses tradierte Gedankengut war ihm zuwider, müssen Sie wissen. Die Beziehung zu seinem Heimatland schlief allmählich ein. Soweit ich weiß, hat er früher noch Freunde oder die Familie besucht. Es waren nur Stippvisiten.«

Malbec nickte verständnisvoll.

»Als Dédé einmal im Herbst bei der Weinernte im Languedoc geholfen hat, ist er erstmals mit der lockeren südfranzösischen Lebensweise in Kontakt gekommen und hat gelernt, sie zu schätzen. Mehrere längere Aufenthalte im Midi folgten. Auf der Durchreise ist er einmal in der Provence hängen geblieben, wo er bei einem Obstbauern gearbeitet hat. Er half mehrere Wochen bei der Obsternte, weniger, weil ihm die Arbeit so gut gefiel, sondern weil er ein Auge auf Vivienne, die Nichte des Obstbauern, geworfen hatte. Vivienne hatte ihr Ethnologiestudium abgebrochen und betrieb mit einer Freundin in Pertuis eine kleine Töpferei. Ungefähr zeitgleich ist Dédés Vater verstorben, der im Ruhrgebiet ein Stahlwerk geleitet hatte. Dadurch hat er unverhofft einen höheren Betrag geerbt und war finanziell weitgehend unabhängig. Vivienne und die Erbschaft schienen für Dédé der richtige Augenblick gewesen zu sein, um sesshaft zu werden, endlich Wurzeln zu schlagen. Schließlich hat er beschlossen, sich nach einem großen Haus umzusehen, am besten einem Bauernhof, der zum Verkauf angeboten wurde. Anfangs hat er mehr in Küstennähe, später dann an den Ausläufern des Luberon nach einem passenden Gehöft gesucht.«

»In den siebziger Jahren konnte man sich das noch leisten«, spekulierte Malbec.