Die Toten von Natchez - Greg Iles - E-Book
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Die Toten von Natchez E-Book

Greg Iles

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Beschreibung

Penn Cage, der Bürgermeister von Natchez, Mississippi, und seine Verlobte, die Chefredakteurin Caitlin Masters, sind einem Anschlag entkommen, hinter dem die Doppeladler stecken, eine rassistische Organisation, die seit den sechziger Jahren ihr Unwesen treibt. Aber die Gefahr ist keineswegs beseitigt. Forrest Knox, ausgerechnet der Chef der State Police, ist der wahre Kopf der Doppeladler. Er will verhindern, dass Penn Beweise vorbringt, welche Morde die Doppeladler begangen haben. Doch Penn hat eine Spur, um die Toten zu finden. Sie führt in die Sümpfe des Mississippi River, zu einem geheimnisvollen Ort, an dem ein ganz besonderer Baum steht. Ein Thriller, der alles mit sich bringt: Hochspannung, großartige Charaktere und tiefe Einblickte in die Abgründe unserer Gesellschaft. »Voller unerwarteter Wendungen … Dieser grandiose Roman zeigt, dass Kriminalliteratur jeden Aspekt des menschlichen Lebens beleuchten kann.« Washington Post.

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Über Greg Iles

Greg Iles wurde 1960 in Stuttgart geboren. Sein Vater leitete die medizinische Abteilung der US-Botschaft. Mit vier Jahren zog die Familie nach Natchez, Mississippi. Mit der »Frankly Scarlet Band«, bei der er Sänger und Gitarrist war, tourte er ein paar Jahre durch die USA. Mittlerweile erscheinen seine Bücher in 25 Ländern. Greg Iles lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Natchez, Mississippi. Fünf Jahre hat er kein Buch herausgebracht, da er einen schweren Unfall hatte.

Mehr zum Autor unter www.gregiles.com

Informationen zum Buch

»Voller unerwarteter Wendungen … Dieser grandiose Roman zeigt, dass Kriminalliteratur jeden Aspekt des menschlichen Lebens beleuchten kann.« Washington Post

Penn Cage, der Bürgermeister von Natchez, Mississippi, und seine Verlobte, die Chefredakteurin Caitlin Masters, sind einem Anschlag entkommen, hinter dem die Doppeladler stecken, eine rassistische Organisation, die seit den sechziger Jahren ihr Unwesen treibt. Aber die Gefahr ist keineswegs beseitigt. Forrest Knox, ausgerechnet der Chef der State Police, ist der wahre Kopf der Doppeladler. Er will verhindern, dass Penn Beweise vorbringt, welche Morde die Doppeladler begangen haben. Doch Penn hat eine Spur, um die Toten zu finden. Sie führt in die Sümpfe des Mississippi River, zu einem geheimnisvollen Ort, an dem ein ganz besonderer Baum steht.

Ein Thriller, der alles mit sich bringt: Hochspannung, großartige Charaktere und tiefe Einblickte in die Abgründe unserer Gesellschaft

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Greg Iles

Die Toten von Natchez

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Ulrike Seeberger

Inhaltsübersicht

Über Greg Iles

Informationen zum Buch

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Prolog

Mittwoch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Donnerstag

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Freitag

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Samstag

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Danksagungen

Impressum

Für Caroline Hungerford Iles

Das Ziel des Menschen ist Wissen, aber es gibt etwas,

das er nicht wissen kann. Er kann nicht wissen,

ob das Wissen ihn retten oder ihn vernichten wird.

Robert Penn Warren, Das Spiel der Macht

Prolog

Sonderagent John Kaiser stand am Fenster des FBI-Taktikraums im Hampton Hotel und starrte auf die Lichter von Natchez, die jenseits der dunklen Wasser des Mississippi funkelten. Seit über einer Stunde rang er schweigend mit seinem Gewissen und hatte sich endlich entschlossen, die Autorität zu nutzen, die ihm der Patriot Act verlieh, und einen Schritt zu unternehmen, der unter allen anderen Umständen gegen die Verfassung verstoßen hätte. Es ging um den unerlaubten Zugriff auf die Computer einer Zeitung. Diese Entscheidung war ihm nicht leichtgefallen, und Kaiser wusste, dass seine Frau, eine mehrfach preisgekrönte Fotojournalistin und Kriegsfotografin, ihn dafür verurteilen würde, wenn sie je herausfände, was er getan hatte. Aber seiner Meinung nach war es in dieser sich rapide verschlechternden Situation unvermeidlich, dass er diesen Rubikon überschritt. Also war er leise aus dem Bett aufgestanden, ohne seine Frau aufzuwecken, und war den Flur hinunter zu dem Zimmer gegangen, wo zwei FBI-Techniker vor Computern saßen, die über eine sichere Satellitenverbindung mit einer Hochgeschwindigkeitsdatenleitung in Washington verbunden waren.

Hier ist der tiefe Süden, überlegte Kaiser und schaute auf die Leuchten einer Kette von Lastkähnen, die sich um die Biegung des Flusses nach Norden erstreckte und sich von Vicksburg aus langsam in südliche Richtung nach Baton Rouge vorschob. Der echte Süden. Nach sieben Jahren in New Orleans war ihm klar, dass der Big Easy zwar technisch gesehen eine Stadt im Süden war, aber in Wirklichkeit eine Insel mit einer eigenen Identität darstellte: ehemals in französischem Besitz, erzkatholisch, von vielen verschiedenen Rassen bevölkert, prallvoll mit Freude und Schmerz, korrupt bis ins verrottende Mark. Doch je weiter man von New Orleans aus nach Norden fuhr, desto tiefer drang man in den wirklichen Süden ein, ein protestantisch geprägtes Land mit ehernen Moralbegriffen, baptistisch geprägten Sonntagsregelungen, Erweckungsbewegungen in Zelten, Feuer und Schwefel, Himmel und Hölle, Gut und Böse, Schwarz und Weiß und verdammt wenig Spielraum dazwischen.

Natchez auf seinem Felsen war eine sœurette, eine kleine Schwester von New Orleans – zwar in diesem Jahrhundert nicht mehr ganz so kosmopolitisch wie früher einmal, doch immer noch eine Enklave der Freiheit und Liberalität im unerbittlichen Hinterland von Baumwolle und Sojabohnen. Und doch war Natchez einmal die Hauptstadt dieses Baumwollimperiums gewesen, und hundert Jahre nach dem Sezessionskrieg hatte der Hass, der über den umliegenden Äckern flirrte, die Stadt wieder in Brand gesteckt. Mord war wie eine Geißel durch ihre Straßen gepeitscht. Wenn man um Natchez einen Kreis von fünfzig Kilometern zöge, würde er allein über ein Dutzend ungelöster Mordfälle aus den 1960er Jahren einschließen und doppelt so viele, die offiziell aufgeklärt waren, aber dringend näher untersucht gehörten.

Kaiser drückte eine Handfläche an die kalte Fensterscheibe und schaute durch den Nebel seines Atems auf die Lichter der Lastkähne. Als er vor zwei Tagen hier in der Gemeinde von Concordia eine gewaltige FBI-Operation zur Suche nach Leichen ausgelöst hatte, hatte er noch das Ziel verfolgt, lediglich einige alte ungelöste Mordfälle aufzuklären und das Leben eines heldenmütigen Journalisten zu retten – und nicht etwa die finstersten Spuren zum Attentat auf Kennedy zu verfolgen. Doch vierundzwanzig Stunden nach seiner Ankunft in dieser von Zwistigkeiten gebeutelten Gemeinde war er in genau dieser Lage.

Konnte es möglich sein, dass eine Reihe von lange ungelösten Mordfällen mit rassistischen Motiven in dieser gottverlassenen Gegend im Süden der Schlüssel für den größten unaufgeklärten Mordfall der amerikanischen Geschichte war? Nach allem, was Kaiser in den vergangenen zwölf Stunden erfahren hatte, wäre das durchaus denkbar. Texas grenzte schließlich an Louisiana, und 1963 war Dallas eine fundamentalistische Festung reaktionärer Politik gewesen, die vor fanatischem Kennedy-Hass nur so brodelte. Noch beunruhigender war, dass Dallas zu jener Zeit eine Art Feudalbesitz von Carlos Marcello war, einem Mafiaboss aus New Orleans. Jahrzehntelang war es so gut wie unmöglich gewesen, irgendeine Verbindung zwischen Marcello und Dealey Plaza herzustellen. Doch nun waren neue Beweise ans Licht gekommen, die einen durchaus glaubhaften Plan aufdeckten, den eine Gruppe namens Doppeladler zur Ermordung von Robert Kennedy im April 1968 geschmiedet hatte. Außerdem war einiges über die Aktivitäten des Gründers dieser Gruppe offenbar geworden, das zumindest seine Komplizenschaft beim Mord von 1963 vermuten ließ. Kaiser war schon lange über die Verbindung zwischen bestimmten Doppeladlern und Carlos Marcello informiert. Er konnte es zwar nicht erklären, aber er hatte das sichere Gefühl, dass die fehlenden Glieder der Beweiskette, die Marcello mit der Ermordung des Präsidenten in Verbindung brachten, sich schon bald in seiner Reichweite befinden würden.

Jetzt, da Kaiser den Zugriff auf die Server des Natchez Examiner autorisiert hatte, stand er vor dem Dilemma, wie viel Information er nach Washington weiterleiten sollte. In den drei Monaten, seit der Hurrikan Katrina zugeschlagen hatte, war er bei seinen Operationen mit beinahe uneingeschränkter Eigenständigkeit vorgegangen, und das gefiel ihm. Das völlige Versagen der grundlegendsten Dienstleistungen in New Orleans – darunter am auffälligsten das völlige Verschwinden der NOPD, der städtischen Polizei – hatte ein auf amerikanischem Boden nie dagewesenes Chaos nach sich gezogen. Kaiser, ein Veteran, der in der Schlussphase des Vietnamkriegs mitgekämpft hatte, war in dieses Machtvakuum vorgedrungen und hatte die Ressourcen des FBI mit der Unabhängigkeit und Selbstsicherheit eines Offiziers eingesetzt, und Washington hatte ihm jeden gewünschten Spielraum gelassen. Dabei war ihm zustattengekommen, dass New Orleans in einem Teil des Landes lag, über das sich die Nabobs in der Hauptstadt nie sonderlich den Kopf zerbrochen hatten. Aber Kaiser wusste nur zu gut, dass genau dieselben Bürokraten, sobald er heikle Informationen an sie weiterleitete, nur noch daran denken würden, ihren eigenen Hintern zu retten, und seine Operation schließlich zum Stillstand verurteilen würden. Und es gab wohl beinahe nichts Heikleres als Beweise, die die Mafia von New Orleans und eine Splittergruppe des Ku-Klux-Klans mit Dealey Plaza in Verbindung brachten.

Am meisten wünschte sich Kaiser Zeit und die Freiheit, ohne Aufsicht und ohne Rücksicht auf die Folgen den Spuren nachzugehen, die er aufgetan hatte – wohin sie ihn auch immer führen mochten. J. Edgar Hoover war zwar längst tot, doch sein paranoider Geist spukte noch immer durch die Korridore des FBI-Hauptquartiers an der Pennsylvania Avenue. Zwei Männer waren bereits gestorben, seit Kaiser und sein Team von New Orleans nach Vidalia im Norden aufgebrochen waren. Und in den Tagen zuvor waren noch einige mehr umgekommen. Diese Todesfälle waren in Washington nicht unbemerkt geblieben, und am frühen Abend hatten ein paar Reporter überregionaler Zeitungen Wind von den gewalttätigen Machenschaften im finstersten Louisiana bekommen. Keiner hatte bisher herausgefunden, dass Kaiser die Doppeladler als terroristische Gruppierung im Sinne des Patriot Act eingestuft hatte, was ihm beispiellose Macht im Kampf gegen die Überlebenden dieser Splittergruppe des Ku-Klux-Klans verlieh, aber irgendjemand würde das bald rauskriegen, und dadurch würde sich der politische Druck erhöhen, diese Ereignisse schnellstmöglich aufzuklären.

Das Problem war, dass Kaiser keinerlei Hoffnung auf eine schnelle Lösung sah. Die Doppeladler wurden mit mindestens einem Dutzend ungeklärter Fälle von Vergewaltigung, Entführung und Mord in der Gemeinde Concordia und in Natchez, Mississippi, in Verbindung gebracht. Kaiser hatte zwar im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden bemerkenswerte Fortschritte erzielt, aber es konnte noch Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis all diese Fälle aufgeklärt waren. Die noch lebenden Doppeladler waren zähe Burschen, und es war nie gelungen, diese Gruppe zu gefährden, geschweige denn zu unterwandern. Es würde schwierig werden, ihren Widerstand zu brechen. Nur ein einziger Doppeladler hatte Anzeichen gezeigt, dass er sein Gewissen entlasten wollte: ein Krebspatient im Endstadium mit Namen Glenn Morehouse, doch vor zwei Tagen hatten ihn seine alten Kameraden skrupellos umgebracht, ehe das FBI auch nur geahnt hatte, dass er angefangen hatte, mit einem Journalisten namens Henry Sexton zu reden, der eine Art Kreuzzug gegen die Doppeladler führte. Sexton selbst war danach beinahe einem Angriff unbekannter Täter erlegen und lag nun in einem schwer bewachten Zimmer im nahen Krankenhaus von Concordia Parish.

Mit seinem Eindringen in die Computer des Natchez Examiner hoffte Kaiser, Zugriff auf Sextons Dateien und Notizen zu erlangen. Am vergangenen Morgen hatte er von Sextons Freundin erfahren, dass der verletzte Reporter Caitlin Masters, der Herausgeberin des Examiner, einen Stapel Moleskine-Notizbücher übergeben hatte, welche die Ergebnisse seiner jahrelangen Nachforschungen über die Doppeladler enthielten. Kaiser hatte mit Bestechung und Drohungen versucht, Masters dazu zu bringen, dass sie ihm Zugang zu diesen Notizbüchern gewährte, aber bisher hatte sie sich geweigert. Kurz bevor sie zu Bett gegangen war, hatte seine Frau ihm berichtet, sie habe sich mit Masters, die ihre Arbeiten sehr bewunderte, darüber unterhalten, dass sie doch alle auf derselben Seite standen. Jordan glaubte, dass die Herausgeberin Kaiser morgen Zugang zu den Notizbüchern geben würde. Er hatte sich ohnehin entschlossen, mit Hilfe des Patriot Act unter Strafandrohung die Herausgabe von Sextons Aufzeichnungen zu verlangen. Aber als er im Dunkeln wach neben seiner Frau lag, war er zu der Überzeugung gekommen, dass es ein Fehler wäre, auch nur acht Stunden länger auf diese Informationen zu warten.

Obwohl es nur wenige wussten, hatte er Henry Sexton heute zweimal im Krankenhaus besucht. Während des zweiten Besuchs hatte Kaiser eine Geschichte zu hören bekommen, die ihn fassungslos gemacht hatte. Laut Sexton war die Entführung zweier junger schwarzer Männer – Jimmy Revels und Luther Davis – kein bloß rassistisch motiviertes Verbrechen des Ku-Klux-Klans gewesen. Glenn Morehouse, einer der Gründer der Doppeladler, hatte Sexton berichtet, man hätte Revels und Davis entführt, weil man vorhatte, auf diese Weise Robert Kennedy nach Mississippi zu locken und dort einen Mordanschlag auf ihn zu verüben. Dieser Plan war entstanden, nachdem RFK seine Absicht verkündet hatte, sich als Kandidat an der Präsidentschaftswahl von 1968 zu beteiligen. Diese Nachricht hatte Carlos Marcello in Rage gebracht, dessen Abschiebung Kennedy – in seiner Funktion als Senator wie als Justizminister – wiederholt gefordert hatte. Laut Morehouse glaubte Marcello, dass er, falls Robert Kennedy zum Präsidenten gewählt werden würde, des Landes verwiesen und so sein kriminelles Imperium verlieren würde, das sich von Dallas, Texas, bis Mobile, Alabama, erstreckte. Aus eigenen Nachforschungen wusste Kaiser, dass das stimmte.

Aber die weiteren Enthüllungen von Morehouse zum Fall Kennedy waren ihm neu gewesen: erstens, dass Marcello seinen Attentäter über den ortsansässigen Millionär und Machtmenschen Brody Royal rekrutiert hatte; und zweitens, dass dieser Attentäter Frank Knox, der Gründer der Doppeladler, war. Morehouse behauptete, Knox hätte Jimmy Revels als Entführungsopfer gewählt, weil der unermüdlich dafür gearbeitet hatte, dass sich schwarze Bürger für den Präsidentschaftswahlkampf Kennedys ins Wählerregister eintrugen. Außerdem war Revels persönlich mit Bobby Kennedy bekannt. Der Junge hatte noch Tage zuvor mit dem Senator telefoniert. Frank Knox glaubte, wenn Revels brutal ermordet würde, könnte Kennedy der Versuchung nicht widerstehen, nach Mississippi zu reisen, um an der Beerdigung des jungen Mannes teilzunehmen. Nur der Unfalltod von Knox während der Planungsphase hatte dieses Vorhaben vereitelt. Trotz Knox’ Tod hatte man Revels und dessen Freund Davis umgebracht, und zwar auf bestialische Weise. Im Laufe des Tages hatte Kaisers Team die Knochen von Davis nach siebenunddreißig Jahren aus einem tiefen See heraufgeholt und bewiesen, dass man mindestens einen der jungen Männer mit Handschellen an das Lenkrad seines Pontiac-Kabrios gefesselt hatte, nachdem man ihn gefoltert und erschossen hatte, ehe man den Wagen ins Wasser fuhr. Revels’ Leichnam hatte man immer noch nicht entdeckt, aber Kaiser hoffte, ihn sehr bald zu finden.

Der vereitelte Plan für das Attentat auf Robert Kennedy war aber nicht der Grund für Kaisers größte Sorge. Nein, der Grund dafür war etwas, das Henry Sexton ihm während seines ersten Besuchs im Krankenhaus erzählt hatte, etwas, das Sexton selbst erst achtzehn Stunden zuvor von Morehouse gehört hatte: An dem Tag, als Frank Knox – im Sommer 1964 – die Doppeladler gegründet hatte, hatte er drei Gruppen von Buchstaben in den Sand am Ufer des Mississippi gekratzt. »Die drei Ks« hatte er sie genannt: JFK, RFK, MLK. Und dann hatte er mit der Kappe seines Stiefels die Buchstaben JFK ausgelöscht und gesagt: »Einer erledigt, zwei stehen noch aus.« Anschließend hatte Knox seinen verdatterten Anhängern ein Foto von Robert Kennedy und Martin Luther King Jr. gezeigt, die mit einer Gruppe von Leuten im Rosengarten des Weißen Hauses standen. Auf dem Bild waren rote Kreise um ihre Köpfe gemalt.

Nachdem Kaiser das erfahren hatte, hatten ihm all seine Instinkte eingeflüstert, Carlos Marcello hätte, als er sich 1968 mit seinem Attentatsplan für RFK an Frank Knox wandte, nicht zum ersten Mal Kontakt mit dem ehemaligen Marineinfanteristen gehabt, sondern ihn wohl schon früher um diese Art von Hilfeleistung gebeten. 1961 und 1962 hatte Frank Knox in Süd-Louisiana in einem von Marcello finanzierten Lager Exil-Kubaner ausgebildet. Und 1963 hatte Marcello sogar noch mehr als 1968 Grund zu der Annahme, dass es Robert Kennedy darauf abgesehen hatte, ihn zu vernichten. In Anbetracht all dieser Fakten war Kaiser zu dem Schluss gekommen, dass dies, abgesehen vielleicht vom Kampf gegen die al-Qaida, derzeit die wichtigste FBI-Untersuchung war. Historisch gesehen – vor allem angesichts des jämmerlichen Versagens des FBI, dem es nicht gelungen war, all die Morde an Bürgerrechtlern aufzuklären – war es vielleicht der allerwichtigste Fall überhaupt.

Kompliziert wurden Kaisers Bemühungen, den Erfolg – und die Ehre – des FBI wiederherzustellen, dadurch, dass die Staatspolizei von Louisiana gegen ihn arbeitete. Es war eine typisch südstaatliche Wendung, dass der Direktor der Kriminalpolizei in Louisiana der Sohn von Frank Knox war. Forrest Knox hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, sich von der gewalttätig rassistischen Vergangenheit seiner Familie zu distanzieren. Er war dabei so erfolgreich gewesen, dass viele Politiker in Louisiana seine Kandidatur als nächster Polizeichef von Louisiana unterstützten. Für Kaiser war die bloße Aussicht darauf ein Alptraum. Falls sich sein Verdacht bestätigte, hatte Forrest Knox nämlich eine landesweite kriminelle Organisation aufgebaut, die mit Hilfe korrupter Polizisten und ehemaliger Doppeladler Drogenhandel, Glücksspiel und Prostitution begünstigte – genau die Verbrechen, über die früher die Organisation von Marcello regiert hatte. Man munkelte, dass Knox ein SWAT-Team der Staatspolizei dazu eingesetzt hatte, während des Chaos von Katrina seine Konkurrenten im Drogenhandel auszuschalten. Kaiser glaubte inzwischen, dass diese Gerüchte eher auf Fakten als auf Fantasie beruhten. Schlimmer noch, Kaiser hatte inzwischen Verbindungen zwischen Forrest Knox und den skrupellosen Bauunternehmern und Bankiers aufgedeckt, die beabsichtigten, New Orleans nach dem Sturm als eine weißere und besser verkäufliche Version der alten Stadt wiederaufzubauen.

»Ich bin beinahe durch«, sagte einer der Techniker hinter Kaiser. »Die haben bessere Sicherheitsmaßnahmen, als ich erwartet hatte. Die Server stehen im Hauptquartier in South Carolina.«

»John Masters besitzt sechsundzwanzig Zeitungen«, sagte Kaiser. »Da ist damit zu rechnen, dass er zumindest ein bisschen was für Datensicherheit ausgibt.«

»Noch zwei Minuten, maximal«, meinte der Techniker und tippte rasch auf seiner Tastatur weiter.

Kaiser schaute auf seine Armbanduhr und fragte sich, wo sich Caitlin Masters gerade befand. Gewiss in ihrem Büro beim Examiner, wo sie an den Artikeln für den nächsten Tag arbeitete und ihrem zweiten Pulitzer-Preis hinterherjagte. »Kann sie eigentlich sehen, dass wir in ihrem System sind?«, fragte er.

»Nein. Keine Sorge.«

Kaiser mochte Caitlin Masters. Früher am Abend, als ein Captain der Staatspolizei namens Ozan im Krankenhaus von Concordia aufgetaucht war, um den Fall Sexton an sich zu reißen, hatte sich die schmächtige Zeitungsverlegerin vor dem Polizisten aufgebaut und ihm ins Gesicht gesagt, dass sie seine Zuständigkeit in diesem Fall anzweifele und dass hier nationale Behörden gefragt seien. So viel Mut musste man bewundern.

Die väterliche Zuneigung, die Kaiser für Masters empfand, spiegelte auch die Konflikte wider, die wegen des gesamten Falls in ihm tobten. Und nichts war in dem Zusammenhang komplizierter als das Gefühl, das er für die Familie Cage empfand. Penn und Tom Cage stellten ihn vor ein einzigartiges Problem. Penn Cage war nicht nur Caitlin Masters’ Verlobter, sondern auch noch Bürgermeister von Natchez, erfolgreicher Schriftsteller und ehemaliger Staatsanwalt aus Houston. Noch mehr beeindruckte Kaiser, dass Cage die treibende Kraft hinter der Aufdeckung des Skandals gewesen war, der 1998 zum Rücktritt von FBI-Direktor John Portman geführt hatte. Während er Ermittlungen zu einem alten ungelösten Mord an einem Bürgerrechtler durchführte, hatte Cage verbrecherische Machenschaften des jungen Portman aufgedeckt, die einer genaueren Untersuchung mit moderner Technik nicht standhalten konnten. In jeder Hinsicht war Cage in Kaisers Augen ein moderner Held. Und doch war der Bürgermeister in der gegenwärtigen Lage eher eine Nervensäge.

Der Grund dafür war sein Vater.

Tom Cage war eine Art Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Er hatte in Korea als Sanitäter gedient und arbeitete nun schon beinahe fünfzig Jahre als Allgemeinmediziner in Natchez. Dort hatte er über all die Jahrzehnte hinweg unermüdlich die schwarze Bevölkerung behandelt, ohne einen Gedanken an Anerkennung oder Belohnung. Und doch hatten paradoxerweise die völlig irrationalen Handlungen dieses vielgeliebten Arztes direkt oder indirekt alle Tragödien der vergangenen drei Tage ausgelöst.

In den frühen Morgenstunden des Montags war Viola Turner, Dr. Cages fünfundsechzigjährige ehemalige Krankenschwester, im Haus ihrer Schwester in Natchez gestorben. Nach siebenunddreißig Jahren in Chicago hatte man bei der in Natchez geborenen Frau Krebs im Endstadium diagnostiziert, und sie war nach Hause zurückgekehrt, um in der fürsorglichen Pflege ihres früheren Arbeitgebers zu sterben. Nur wenige Leute wussten, dass Dr. Cage Viola Turner behandelte, und selbst wenn sie es gewusst hätten, so hätte niemand die Explosion erwartet, die nach ihrem Tod die Stadt erschütterte. Ausgelöst hatte sie Viola Turners Sohn, ein Rechtsanwalt aus Chicago, der beim Bezirksstaatsanwalt von Natchez auftauchte und verlangte, man solle Dr. Cage nicht etwa wegen Beihilfe zum Selbstmord, sondern wegen Mordes anklagen. Und weil der schwarze Staatsanwalt Shadrach Johnson schon lange einen Groll gegen Penn Cage hegte, hatte er dem Sohn diesen Gefallen getan.

Alles hätte sich vielleicht halbwegs ordentlich entwickelt, hätte nicht Dr. Cage die Flucht ergriffen und seine Kaution verwirkt, nachdem eine Grand Jury in übergroßer Eile seinen Fall für die Verhandlung zugelassen hatte. Soweit Kaiser es herausfinden konnte, hatte ein alter Kriegskamerad, ein ehemaliger Texas Ranger namens Walt Garrity, dem Arzt bei der Flucht geholfen. Das Schlimmste war, dass bereits wenige Stunden nach dem Verschwinden von Tom Cage ein Staatspolizist von Louisiana, der die beiden in der Nähe des Mississippi aufgespürt hatte, getötet worden war – entweder von Cage oder von Garrity. Kaiser hegte die Vermutung, dass dieser Staatspolizist für Forrest Knox und nicht für den Staat Louisiana gearbeitet hatte, als er die beiden Fliehenden jagte, aber leider konnte er das nicht beweisen.

»Ich bin drin!«, rief der Techniker. »Ich schaue mir gerade die Titelseite des Examiner von morgen an.«

»Lassen Sie mich mal sehen«, sagte Kaiser.

»Überlass ihm deinen Monitor, Pete«, befahl der Techniker.

Der zweite Techniker stand auf und ging zur Kaffeemaschine. Während Kaiser sich auf dem noch warmen Stuhl niederließ, sagte der erste Techniker: »Ich habe die Titelseite an Sie weitergeleitet. Ich suche noch nach irgendwelchen Erwähnungen von Henry Sextons Notizbüchern.«

Kaiser musste den Kopf genau in die richtige Schieflage bringen, um lesen zu können, was auf dem Bildschirm stand, und er konnte kaum ausmachen, was der Techniker links von ihm sagte. Er hatte nämlich das Gehör im linken Ohr zwei Jahren zuvor beinahe vollständig verloren, als ein Drogendealer, der ihn in der Royal Street in New Orleans als Geisel genommen hatte, nur Zentimeter von seinem Ohr entfernt eine 9-mm-Pistole abgefeuert hatte.

Nach allem, was Kaiser auf dem Bildschirm lesen konnte, hatte Caitlin Masters ihren Artikel mit den wahren Begebenheiten im Krankenhaus von Concordia angefangen. Kaiser hatte gehofft, er könnte die Doppeladler dazu verleiten, einen Fehler zu machen, indem er die Geschichte durchsickern ließ, es wäre ihnen gelungen, Henry Sexton umzubringen, anstatt ihn nur zu verletzen. Aber das Erscheinen von Captain Ozan im Krankenhaus hatte dies praktisch vereitelt. Er konnte es Masters nicht übel nehmen, dass sie die Wahrheit geschrieben hatte.

»Ich habe einen Ordner!«, schrie der Techniker. »Der Name lautet ›Henrys Moleskines‹. Großer Gott, meinen Sie …?«

»Sie hat seine Notizbücher digitalisiert!«, rief Kaiser mit rasendem Puls. »Schicken Sie mir den Ordner auf den Bildschirm.«

»Mach ich gerade.«

»Können wir die Dateien kopieren?«

»Klar.«

»Werden die merken, dass wir das gemacht haben?«

»Wenn sie IT-Spezialisten von außerhalb anheuern, dann ja. Aber nicht so bald. Haben Sie den Ordner?«

Eine Gruppe typischer Windows-Ordner erschien auf Kaisers Bildschirm. »Einfach nur drauf klicken?«, fragte er.

»Klar. Genau wie bei Ihrem Computer.«

Kaiser klickte auf den Ordner, es öffneten sich jedoch keine Dateien. »Ich hab nichts. Ist der Ordner mit einem Passwort geschützt?«

»Ich habe nichts gesehen.«

Kaiser versuchte es noch zweimal, klickte dann auf »Eigenschaften«. »Auf diesem Bildschirm scheint der Ordner leer zu sein. Sind Sie sicher, dass ich von hier aus Zugriff auf die Dateien habe?«

»Sie sollten Zugriff auf alles haben. Einen Moment.«

Kaiser wartete. Wenn er gleich Zugang zu allen Notizen bekam, die Henry Sexton in seinen jahrzehntelangen Ermittlungen gemacht hatte, dann war nicht auszudenken, was für Schlüsse er für seine Ermittlungen daraus ziehen könnte. Außerdem hatte der Reporter, auch wenn er im Krankenhaus aufrichtig gewirkt hatte, vielleicht noch wichtige Informationen zurückgehalten, weil er hoffte, diesen Hinweisen noch selbst nachzugehen, sobald er wieder genesen war. Kaiser vermutete etwa, dass Sexton vielleicht eine Ahnung hatte, wo sich der Knochenbaum befinden könnte. Diese von unzähligen Gerüchten erwähnte Stätte war der Ort, wo die Doppeladler die Leichen ihrer Opfer abluden, und eine Tötungsstätte, die bis in die Zeiten der Natchez-Indianer lange vor Kolumbus zurückdatierte.

»O nein«, stöhnte der Techniker mit gepresster Stimme. »Jemand hat die Dateien in diesem Ordner gelöscht.«

»Gerade eben?«

»Jawohl. Ich kann die Spuren noch sehen. Jemand hat gerade die Datei gelöscht, die digitale Scans von Sextons Notizbüchern enthalten haben muss. Es waren dreißig Gigabyte Daten in dem Ordner. Jetzt ist er leer. Und ich glaube, die löschen immer noch Sachen.«

»Wer zum Teufel würde so was tun?«, wollte Kaiser mit wachsender Panik wissen.

»User 23. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Sie können nicht herausfinden, wer User 23 ist?«

»Nein. Tut mir leid.«

»Scheiße!«

»Was soll ich jetzt machen, Boss?«

»Können Sie das gesamte Server-Laufwerk kopieren? Alles, was die haben?«

Die Augen des Technikers weiteten sich. »Das sind ein Haufen Daten.«

»Das ist keine Antwort, verdammt!«

»Es würde sehr lange dauern. Und es würde ganz bestimmt die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass deren IT-Leute in Charleston was merken.«

»Machen Sie’s trotzdem.«

Kaiser versuchte, außerhalb der ausgetretenen Pfade zu denken. Plötzlich klingelte sein Mobiltelefon. Er erwartete, dass es seine Frau sei, die sich erkundigte, wo er hingegangen war, aber es war einer der Agenten, die im Krankenhaus von Concordia Henry Sexton bewachten.

»Was ist?«, blaffte Kaiser. »Ist Sextons Zustand noch stabil?«

»Ich weiß es nicht, Sir.«

»Was soll das denn heißen?«

»Sexton ist nicht in seinem Krankenhausbett. Ich bin gerade in seinem Zimmer gewesen. Da liegt an seiner Stelle seine achtundsiebzigjährige Mutter. Sie ist an das EKG und alle Monitore angeschlossen.«

»Was?«

»Sie war anscheinend früher Krankenschwester. Als Sie die Erlaubnis gegeben haben, dass Henrys Mutter ihn besuchen darf, hat er sich irgendwie ein Handy beschafft und sie gebeten, ihm ein paar Dinge mitzubringen, die ihm helfen würden, sich hier rauszuschleichen. Das hat sie gemacht, und Henry hat es tatsächlich geschafft. Er ist hier mit dem Mantel und Hut seiner Mutter rausgekommen. Vor den Augen unserer Wachen.«

Kaiser klatschte wütend die Hand auf den Tisch. »Verdammt! Was weiß sie sonst noch?«

»Wir versuchen das gerade rauszufinden. Aber eines haben wir schon erfahren.«

»Was?«

»Sexton hat sie gebeten, ihm ein Gewehr mitzubringen. Und das hat sie gemacht.«

Kaiser überlegte blitzschnell. »Konnte Henry überhaupt Auto fahren? Als ich ihn vorhin gesehen habe, war er mit Medikamenten ruhiggestellt.«

»Wahrscheinlich hat er seine letzten Tabletten weggelassen, nur noch die Schmerzpumpe benutzt.«

»Wusste Mrs. Sexton, wohin er mit dem Gewehr wollte?«

»Sie behauptet, keine Ahnung zu haben.«

»Glauben Sie ihr?«

Der Agent legte eine Pause ein. »Ja.«

»Behalten Sie die Frau da! Hören Sie? Ich komme sofort rüber. Und geben Sie eine Fahndung nach ihrem Auto raus. Nach dem Auto und nach Sexton. Moment – machen Sie das nicht. Falls die Staatspolizei das hört, dann finden die Henry und bringen ihn um, ehe wir auch nur in seine Nähe kommen. Er wird einfach verschwinden. Sagen Sie Ihren Jungs, sie sollen auf den Straßen suchen. Alle außer Ihnen. Ich alarmiere hier die Truppe.«

»Verstanden.«

Kaiser beendete das Gespräch und wollte sich von seinem Stuhl erheben. Im nächsten Augenblick berührte seine Frau seine Schulter. Jordan Glass trug ein Leica-T-Shirt und eine Jogginghose, aber ihre Augen waren auf den Bildschirm vor Kaiser gerichtet.

»Hat Caitlin schon die morgige Ausgabe ins Netz gestellt?«, fragte sie. »Ich hätte eigentlich gedacht, dass sie bis zur letzten Minute daran arbeiten würde.«

Einen Augenblick erwog Kaiser, ihr eine Lüge aufzutischen, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die später auf ihn zurückfallen und ihn in noch größere Schwierigkeiten bringen würde.

»Nein«, antwortete er. »Wir haben uns in ihr Intranet reingehackt.«

Jordans Blick glitt langsam zu ihm. »Nein!«

»Ich musste Henrys Notizbücher einsehen. Die Dinge entwickeln sich zu schnell, als dass ich warten könnte.«

»Ich habe dir doch gesagt, Caitlin wird dir morgen alles zeigen.«

»Da kannst du nicht sicher sein, Jordan.«

Seine Frau bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ich war mir sicher.«

Kaiser hielt ihrem Blick so lange stand, wie er konnte, wie um sich selbst zu bestrafen. Doch dann wandte er sich zu seinem Techniker um und sagte: »Wecken Sie alle auf. Und ich meine wirklich alle. Wir müssen Henry Sexton finden, und zwar pronto.«

»Die Doppeladler haben heute Abend die Frau ermordet, die Henry liebte«, meinte Jordan. »Sie hatten es auf ihn abgesehen, und sie ist an seiner Stelle gestorben. Wer immer nach Henrys Meinung diesen Mord begangen hat, den wird er umbringen.«

Das konnte Kaiser nicht glauben. »Henry ist der sanftmütigste Mensch, den ich in dieser ganzen Sache kennengelernt habe.«

»Irgendwann reißt jedem der Geduldsfaden, John.«

Als Jordan gehen wollte, begann ein halbes Dutzend Telefone gleichzeitig zu klingeln.

Mittwoch

Kapitel 1

Heute Nacht haben mir der Tod und die Zeit ihr wahres Gesicht gezeigt.

Ein Leben lang tappen wir blind durch das Schlachthoftor zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Dabei ist jede Sekunde ein Ende: der Tod des einen Augenblicks, die Geburt des anderen Augenblicks. Es gibt keinen nächsten Augenblick.

Es gibt nur das Jetzt.

Während uns der Rhythmus unseres Lebens gemessen erscheint, werden wir in Wahrheit durch dieses Tor getrieben wie das Vieh: voller Furcht, doch folgsam und empfindungslos. Sogar wenn wir schlafen, wird das Jetzt zum Damals, so unerbittlich wie ein Fluss, der über Jahrhunderte einen Felsen abträgt. Zellen verbrennen Sauerstoff, reparieren ihre Proteine, sterben ab und erneuern sich in scheinbar endlosem Reigen. Tatsächlich beginnen all diese inneren Uhren bereits im Mutterschoß abzulaufen, bis sie das letzte Chaos erreichen.

Erst im Schatten des Todes spüren wir die wahre Geschwindigkeit der Zeit – während das Adrenalin durch unsere Adern pulst, wird die Ewigkeit greifbar, und alles andere verschwimmt im Hintergrund. Erst dann scheinen sich paradoxerweise die Sekunden zu dehnen, wird die Erfahrung überwirklich, vereinen sich Körper und Geist in der Schlacht, in der es einfach nur darum geht, weiter zu atmen, bei Bewusstsein und wach zu bleiben – weiter im rasch fließenden Strom der Zeit zu treiben. Wenn wir die Bedrohung überleben, verblasst diese existentielle Erleuchtung schon bald wieder, denn lange können wir sie nicht ertragen. Und doch bleibt irgendwo in uns eine Trennlinie bestehen.

Zwischen Vorher und Nachher.

Heute Abend hat sich die Zeit so verlangsamt, dass ich sie wie Kupfer auf der Zunge schmecken konnte. Ich habe sie auf der Haut gespürt – dicht und schwer –, wie sie sich jeder meiner Bewegungen entgegensetzte. Die Sterblichkeit, ein hellwaches, angespanntes Raubtier, lauerte hinter meiner Schulter. An eine Wand aus Betonziegeln gekettet, habe ich zugesehen, wie ein Mann, der älter als mein Vater ist, die Frau, die ich liebe, mit Feuer gefoltert hat. Da begriff ich, dass es die Hölle gibt. Die schreckliche Ironie war, dass ich sie selbst herbeigeführt hatte. In meiner Arroganz hatte ich alle Ratschläge anderer missachtet, alles, was ich hatte, und mehr – das Leben anderer Menschen – aufs Spiel gesetzt und versucht, meinen Vater zu retten. In meiner Verzweiflung hatte ich alle Prinzipien, die er mir je beigebracht hat, verworfen und in der Hoffnung auf einen Tauschhandel den Mächten der Finsternis meine Hand entgegengestreckt.

Und was habe ich im Austausch für meine Seele bekommen?

Eine Feuersäule, die brüllend in die Nacht aufsteigt. Einen Scheiterhaufen für drei, vielleicht noch mehr Männer, dessen Flammen meilenweit im ganzen Delta von Louisiana zu sehen sind. Vielleicht sogar bis Mississippi. Ganz in der Nähe im Osten schläft meine Stadt auf dem hohen Gelände über dem Fluss. Doch hier ist aller Sinn, alle Logik aufgehoben, während das Feuer die Toten verschlingt. Zwei dieser Männer haben ihr Leben für Caitlin und mich geopfert: Henry Sexton, der Reporter, und Sleepy Johnston, der Musiker und verlorene Sohn von Louisiana. Einer ein Weißer, der andere ein Schwarzer. Verbündete aus Zufall oder vielleicht aus Schicksal. Jedenfalls sind sie nun beide für immer fort.

Durch die Tore des Schlachthofs gegangen.

Eine solche Brutalität wie die, die dem Tod der beiden vorausging, hatte ich noch nie erlebt, auch nicht solchen Heldenmut, wie die zwei ihn bei ihrem Opfergang an den Tag legten. Und doch schmecke ich jetzt nur noch Asche auf der Zunge. Vor drei Monaten habe ich mich ähnlich gefühlt, als eine Flut biblischen Ausmaßes über New Orleans hereinbrach, die einzige wirkliche Großstadt zwischen dem Golf und Memphis. Drei Stunden südlich von hier sind heute immer noch Teams in Chemikalienschutzanzügen damit beschäftigt, Leichen aus schimmeligen Häusern zu zerren. Genau wie die heutige Katastrophe war auch diese von Menschen verursacht worden. Habgier, Apathie, Hochmut – ja, sogar Loyalität – verlangen schließlich irgendwann ihren Preis. Stürme wird es immer geben, und die Menschen werden immer unter dem Deckmantel irgendeines anderen Wortes Böses tun.

Wie wir darauf reagieren, das definiert uns.

Vor einigen Minuten habe ich in dem wahnsinnigen Irrglauben, unbesiegbar zu sein, Sleepy Johnston aus dem Inferno im Keller des Hauses geschleppt, in dem dieses Feuer seinen Ursprung hatte. Während ich durch den Rauch und die Flammen taumelte, habe ich nicht ein einziges Mal bezweifelt, dass ich es ans Tageslicht schaffen würde. Ich trug einen Mann, der beinahe so schwer war wie ich, mit einer solchen Leichtigkeit, als hätte ich meine elfjährige Tochter auf der Schulter. Aber es war vergeblich. Zwei Minuten, nachdem ich ihn auf den Boden gelegt hatte, starb Johnston an seinen Verletzungen. Jetzt liegt er ein paar Meter hinter uns und starrt aus blinden Augen zu den vom Rauch verhüllten Sternen hinauf.

Ich habe nicht gebetet, als sich Caitlin neben ihn kniete, um ihm seinen Abschied zu erleichtern. Alles, was ich hätte sagen können, wäre mir überflüssig erschienen. Denn wenn es einen Gott gibt, so muss er solche Märtyrer in seine Arme schließen. Ich schaute schweigend zu, wie Caitlin das älteste Ritual der Welt vollzog, den Kopf des älteren Mannes an ihrer Brust barg und ihm mütterliche Worte des Trostes ins Ohr flüsterte. Ich berührte mein frisch vernarbtes Gesicht mit der rechten Hand und krallte die Fingernägel meiner Linken in die Handfläche. Schmerz ist der Beweis, dass man noch lebt.

Nachdem Johnston seinen letzten Atemzug getan hatte, tröstete ich Caitlin, als hätte ich irgendwie Halt in der Wirklichkeit gefunden. Aber das war nur ein weiterer Irrglaube, obwohl ich das damals nicht wusste.

Damals …?

Mit Schrecken wird mir klar, dass diese Ereignisse erst vor einer Minute geschehen sind, wenn es überhaupt so lange her ist. Weiß ein Mann, der unter Schock steht, das eigentlich?

Wahrscheinlich nicht.

Wenn ich das Rad fünfzehn Minuten zurückdrehe, war dieses Chaos aus Feuer und Rauch noch ein atemberaubendes Haus am See. Jetzt wird sein Besitzer in den Ruinen seines Heims eingeäschert, und wir zwei Überlebende taumeln unseres Wegs. Da kehrt die Wirklichkeit mit zerstörerischer Klarheit allmählich zu uns zurück. Wie die imaginäre Stimme eines Radiosprechers klingt es in meinem Kopf: Brody Royal, der Multimillionär und Soziopath, ist gestern Abend bei einem Feuer umgekommen, das er mit einem uralten Flammenwerfer selbst entfacht hat. Royal war nicht in der Lage, die Morde, die er vor seinem Ableben noch begehen wollte, tatsächlich vollständig durchzuführen, was auf das selbstmörderische Eingreifen eines Mannes zurückzuführen ist, den er in den vergangenen zwanzig Jahren als harmlosen Irren lächerlich gemacht hatte …

Plötzlich geht ein Zucken durch Brodys Haus, als wäre es ein riesiges Lebewesen, und dann fällt einer der Flügel krachend in sich zusammen. Die Hitze lässt einige Sekunden lang ein wenig nach, wird dann plötzlich noch intensiver, als nährte sie sich von all dem Bösen im Haus. Schon bald wird sie uns weiter wegtreiben, weiter fort von Johnstons Leichnam.

Caitlin starrt auf die brennende Ruine, als könne sie noch immer nicht ganz fassen, was geschieht. Vor fünf Minuten glaubten wir noch, dass wir beide dem Tod geweiht seien, doch hier stehen wir nun. Sie ist mit Asche bedeckt und schweißüberströmt, die Brandwunde in ihrem Gesicht gleicht meiner. Ich möchte mit ihr reden, aber ich traue es mir noch nicht zu.

Hinter ihr spiegelt die Oberfläche des Sees ein Bild der Flammensäule wider, und plötzlich überkommt mich die Furcht, als ich unsere Zukunft darin erkenne. Wie die Feuersäule, der die Israeliten durch die Wüste gefolgt sind, wird auch dieser Flammenturm Menschen zu uns führen.

»Ist das eine Sirene?«, fragt Caitlin und schaut von den tobenden Flammen zu dem schmalen Weg, der von der gleißenden Helligkeit wegführt.

»Ich glaube ja.« Meine Ohren vernehmen das ferne Jaulen ein wenig später als ihre.

»Kommt da her«, sagt sie und deutet nach Westen, vom See weg.

Ich starre in die Dunkelheit, kann aber durch das leuchtende Orange und die überhitzt flirrende Luft keine Polizeilichter ausmachen.

»Was ist mit Henrys Unterlagen?«, fragt Caitlin. »Die sollte ich verstecken.«

Die verkohlte Kiste, die Caitlin aus dem brennenden Keller gerettet hat, steht ein paar Meter von Sleepy Johnstons Leichnam entfernt. Wenn man die Asche darin anschaut, kann von Henrys Notizbüchern nicht viel übrig sein.

»Hier kannst du sie nirgends verstecken«, sage ich zu ihr.

»Was ist mit dem Bootshaus«, fragt sie mit einer Spur Hysterie in der Stimme.

»Das durchsuchen sie bestimmt. Es ist ohnehin zu spät. Ein Nachbar kommt.«

Das nächste Haus ist beinahe hundert Meter entfernt, aber wir sehen zwei Scheinwerfer, die von der Garage kommen und sich langsam auf die schmale Straße zu bewegen, die hier am See entlangführt. Vielleicht hat die Sirene den Fahrer des Wagens endlich ermutigt, sich das Feuer näher anzusehen. Er muss vorhin die Schüsse gehört haben, überlege ich, sonst wäre er doch sicher schon viel früher gekommen.

Die Sirene wird nun schriller. »Das ist wahrscheinlich die Feuerwehr von Ferriday«, überlege ich laut. »Aber die Polizei wird auch nicht lange auf sich warten lassen. Ich hoffe, dass es Sheriff Dennis ist, aber es könnte auch das FBI oder die Staatspolizei sein. Die befragen uns vielleicht getrennt. Wir müssen unsere Geschichten abstimmen.«

Verwirrung zeichnet sich in Caitlins Augen ab. »Wir haben doch beide das Gleiche durchgemacht, oder nicht?«

Ich nehme sie bei der Hand und bin verstört, weil sie sich so kalt anfühlt. »Ich glaube nicht, dass es ganz so einfach ist.«

»Alles, was du im Keller von Brody Royal gemacht hast, war Notwehr. Die haben uns gefoltert, Herrgott!«

»Das meine ich nicht. Die schwierigen Fragen werden nicht damit zu tun haben, was im Keller geschehen ist. Sie werden wissen wollen, warum es passiert ist. Warum hat Royal uns entführt? Warum wollte er uns umbringen? Wir haben in den letzten paar Tagen viele Informationen zurückgehalten.« Und nicht nur vor der Polizei, füge ich in Gedanken hinzu.

»Was ist, wenn wir einfach sagen, dass wir es nicht wissen?«

»Damit kann ich leben, solange du nicht vorhast, irgendwelche Artikel im Examiner darüber zu veröffentlichen.«

Endlich dämmert es ihr. »Oh.«

Eine halbe Meile vom See entfernt tauchen die roten Lichter eines Feuerwehrwagens zwischen den Bäumen auf, die den Damm säumen, sie biegen dann in die schmale Straße ein, die am Ufer vom Lake Concordia vorbeiführt. Eine halbe Meile dahinter folgen rasch drei Wagen, die im Konvoi fahren. Die Bögen ihrer rotierenden roten Lichter gleiten weit niedriger über die Straße, es sind also Streifenwagen. Schon bald werden wir keine Gelegenheit mehr haben, unsere Geschichte abzusprechen.

»Ich habe Brody Royals Namen in Henry Sextons Tagebüchern gefunden«, sagt Caitlin und denkt sich blitzschnell eine Geschichte aus. »Das hat mich dazu gebracht, seine Tochter zu interviewen. Aus Furcht vor ihrem Vater ist Katy in Panik geraten und hat eine Überdosis Tabletten geschluckt, ehe ich zu ihr gekommen bin. Aber sie hat trotzdem noch berichtet, dass Brody an einer Unzahl von Morden beteiligt war. Katys Ehemann hat uns überrascht, nachdem sie in Ohnmacht gefallen war – das haben sicher die Sanitäter so zu Protokoll gegeben, vielleicht sogar die Polizei. Bis dahin ist alles mehr oder weniger wahr. Royal hat von Randall Regan erfahren, dass ich Katy befragt hatte, und sie haben zurückgeschlagen, um mich daran zu hindern, das zu veröffentlichen, was sie mir erzählt hat.«

Dieses Märchen würde vielleicht den Sheriff der Gemeinde Concordia überzeugen, das FBI aber wahrscheinlich nicht. »Zu viele Leute haben mich gesehen, wie ich ins St. Catherine’s Hospital gegangen bin«, sage ich. »Sie wissen, dass ich zwanzig Minuten mit Brody allein gesprochen habe. Jetzt da er tot ist, wird seine Familie wahrscheinlich alle möglichen Anschuldigungen vorbringen, dass ich ihn verfolgt hätte. Kaiser wird das früher oder später herauskriegen.«

»Du kannst das Gespräch doch sicher irgendwie erklären?«

»Ich kann auf keinen Fall zugeben, dass ich versucht habe, mit ihm einen Deal zu machen.« Unter dem Druck der ständig näher kommenden Gesetzeshüter rasen meine Gedanken schnell zur dringendsten Aufgabe zurück. »Was ist, wenn ich da weitermache, wo du aufgehört hast? Ich bin ins St. Catherine’s Hospital gegangen, um sicherzugehen, dass sich Royal nicht irgendwie an dir rächt, weil seine Tochter einen Selbstmordversuch gemacht hat. Ich hatte vermutet, dass er in den 1960er Jahren einige Morde angeordnet hatte, und Katy hat dir das bestätigt. Ich hatte auch geglaubt, dass Royal den Überfall auf Henry bei seiner Zeitungsredaktion und im Krankenhaus angeordnet hatte, und ich fürchtete, er würde dir auch so was antun. Das klingt doch plausibel, oder?«

Caitlin nickt rasch, die Augen auf die rotierenden roten Lichter gerichtet.

Ich trete näher zu ihr hin. »Wirst du den Polizisten erzählen, dass du Katys Aussage aufgenommen hast?«

»Das kann ich ruhig, denn Brody hat beide Kopien verbrannt. Sie werden ohnehin in der morgigen Zeitung davon lesen.«

Ich schließe die Augen und sehe vor mir, wie Caitlins Treo-Smartphone und mein geborgtes Diktafon von einer schrecklichen Feuerwolke aus dem Flammenwerfer verzehrt werden. »Du hast wirklich nicht noch eine Kopie bei der Zeitung?«

Ihr verzweifelter Blick ist meine einzige Antwort.

Inzwischen hat der Löschzug die Einfahrt zu Royals Anwesen erreicht. Wir haben jetzt nur noch Sekunden.

»Was ist mit Brodys Geständnis?«, fragt Caitlin. »Dass er hinter dem Tod von Pooky Wilson steckte? Dass Frank und Snake Knox Pooky beim Knochenbaum umgebracht haben?«

»Davon erzählen wir den Polizisten alles. Jede Information rechtfertigt, was wir heute Abend getan haben.«

Caitlin wirkt seltsam zögerlich, was ich nicht verstehen kann. Selbst wenn wir der Polizei von diesem Geständnis erzählen, kann sie die Geschichte immer noch veröffentlichen, ehe irgendein anderes Medienportal die Informationen bekommt.

»Herrgott!«, sage ich. »Bis heute Abend war sich niemand absolut sicher, dass es den Knochenbaum überhaupt gibt. Und Royal hat zugegeben, dass er an der Vergewaltigung von Viola Turner beteiligt war. Das müssen wir ihnen erzählen.«

Caitlin wirft mir einen durchdringenden Blick zu. »Brody hat uns auch gesagt, dass dein Vater Viola umgebracht hat. Möchtest du das der Polizei ebenfalls erzählen?«

»Natürlich nicht.«

»Also gut. Deswegen frage ich ja, was wir für uns behalten. Sonst noch was?«

Ich kann ihren Blick nicht deuten. Wir haben einander in den letzten zwei Tagen so viel vorenthalten, dass es schwerfällt, zu wissen, wo unsere Geschichten voneinander abweichen werden, wenn man sie vergleicht.

»Die Gewehre«, sage ich leise. »Diese beiden Gewehre in der Vitrine, die er uns gezeigt hat, ehe du ihm das Rasiermesser an den Hals gehalten hast. Hast du die gesehen?«

»Ja, aber ich habe nicht wirklich drauf geachtet. Ich habe auf die Gelegenheit gelauert, ihn anzugreifen.«

»Unter allen anderen Gewehren in der Sammlung waren Schildchen mit den Namen angebracht. Auf den Schildchen unter diesen beiden Gewehren standen nur Datumsangaben. Jeweils ein Datum und eine kleine amerikanische Flagge.«

Caitlin zuckte mit den Schultern. »Ja und?«

»Die Daten waren der 22. November 1963 und der 4. April 1968.«

Sie blinzelt ein paar Sekunden lang verwirrt, aber dann werden ihre Augen kugelrund. »Niemals! Ich meine … glaubst du wirklich …?«

»Eigentlich nicht. Aber wenn wir Kaiser nicht davon erzählen, verschwinden die Überreste dieser Gewehre garantiert noch heute Nacht. Und dann finden wir es nie heraus.«

Caitlin berührt vorsichtig die Brandwunde an ihrer Wange. »Dann hoffen wir mal, dass in einem dieser Streifenwagen Sheriff Dennis sitzt und nicht die gottverdammte Staatspolizei. Nicht dieser Captain Ozan.«

Ich strecke die Hand aus und drücke ihr die Schulter. »Wer es auch ist, stelle dich verwirrter, als du bist. Du stehst wirklich unter Schock, aber übertreibe es noch ein bisschen. Wenn sie dich befragen, versuche bei der vergangenen Stunde zu bleiben. Sag, dass du völlig ausgelaugt bist, und übertreibe deine Verletzungen.«

Caitlin scheint diesen Plan nicht zu billigen. »Ich will die Nacht nicht in einem verdammten Krankenhaus verbringen. Das ist die größte Story, an der ich je dran war. Ich habe null Komma null Zeit zu verschwenden.«

»Ich weiß.« Ich trete auf sie zu und ziehe sie fest an mich. Vor einer Stunde habe ich den größten Fehler meines Lebens gemacht, als ich sie anflehte, Teile eines Artikels zurückzuhalten, weil ich versuchen wollte, mit einem Killer einen Handel über das Leben meines Vaters abzuschließen. Ich habe kein Recht, mich in irgendetwas einzumischen, was sie jetzt macht. »Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe. Du hast mir zu erklären versucht, dass so etwas wie das heute Abend passieren würde. Meine Sorge um Dad hat mich blind gemacht.«

Sie schüttelt an meiner Brust den Kopf. »Das warst nicht nur du. Nachdem ich die Aussage von Katy aufgezeichnet hatte, wäre Brody sowieso hinter uns her gewesen.«

»Aber er hätte nichts von der Aufnahme erfahren, wenn ich ihm nicht davon erzählt hätte.«

Das ist fraglich, aber Caitlin weicht einen Schritt zurück und schaut mir fest in die Augen. »Egal, was jetzt passiert, ich muss zur Zeitung zurück. Bitte tu, was du kannst, um mir das zu ermöglichen.«

Der Feuerwehrwagen kommt zehn Meter von uns entfernt quietschend zum Stehen. Männer in Uniform springen heraus. Die Löschschläuche werden schneller entrollt, als ich das für möglich gehalten hätte, aber diese Jungs haben keine Chance, das Feuer zu löschen. Einer der Feuerwehrmänner rennt auf den Körper zu, der am Boden liegt, und geht in die Knie, aber ich rufe ihm zu, dass der Mann tot ist.

»Was ist passiert?«, ruft ein anderer hinter mir. »Ist noch jemand im Haus?«

Als ich mich umdrehe, sehe ich einen Feuerwehrmann mit einem schwarzen Schutzhelm und feuerfestem Mantel. »Drei tote Männer. Mehr weiß ich nicht. Die sind aber nicht im Feuer umgekommen. Es hat eine Schießerei gegeben.«

»Schießerei? Im Haus von Mr. Royal?«

»Brody Royal ist einer der Toten.«

»O nein!«

»Sein Schwiegersohn ist ein anderer. Der Dritte ist der Reporter Henry Sexton.«

Der Feuerwehrmann schüttelt den Kopf, er kann immer noch nicht fassen, was ich ihm erzähle. »Und das ist alles? Sonst niemand?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Niemand, für dessen Rettung ich Menschenleben riskieren würde.«

Der Feuerwehrmann schaut mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.

»Sie haben uns gefoltert«, sage ich. »Ehe das Feuer ausgebrochen ist.«

»Gefoltert?« Der Mann mustert mich. »He, Sie kenne ich doch. Sie sind der Bürgermeister von Natchez. Penn Cage.«

»Stimmt.«

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Na ja. Das ist Caitlin Masters, die Herausgeberin des Natchez Examiner.«

»Wie zum Teufel ist es zu dem Brand gekommen?«

Die Antwort auf diese Frage ist etwas, das der Feuerwehrmann mir nur schwer abnehmen wird. Ich will’s mal versuchen … Brody Royal machte sich gerade daran, Caitlins Arm mit einem Flammenwerfer zu versengen. Ich war an die Wand gefesselt und zerfleischte mir in einem verzweifelten Befreiungsversuch die Hände. Da hat sich Henry Sexton trotz seiner Verletzungen irgendwie auf die Beine gerappelt und Caitlin mit seinem Körper abgeschirmt. Royal hatte vorgehabt, ihn auch zu verbrennen. Doch dann hat sich der Reporter wie ein mittelalterlicher Märtyrer auf Royal gestürzt und seine Arme um ihn geworfen, ehe der alte Mann den Flammenwerfer auslösen konnte. Während wir anderen fassungslos zuschauten, betätigte Henry den Auslöser des Flammenwerfers und verbrannte sich und Royal, entfesselte diesen Feuersturm, den keine noch so große Wassermenge löschen würde …

»Herr Bürgermeister?«, sagt der Feuerwehrmann und packt mich bei den Schultern. »Vielleicht sollten Sie sich hinsetzen, was?«

»Es war ein Flammenwerfer aus dem Zweiten Weltkrieg«, murmele ich. »Betankt mit Benzin und Teer.«

Der Mann schüttelt ungläubig den Kopf, winkt Hilfe her und brüllt Befehle.

Das Geräusch jaulender Motoren lässt mich zur Einfahrt herumwirbeln. Drei Streifenwagen der Polizei der Gemeinde Concordia rasen hinter den Löschzug. Zwei parken dort, aber ein Chevy Tahoe fährt um das Feuerwehrauto herum und bleibt erst drei Meter vor mir stehen.

»Gott sei Dank«, flüstert mir Caitlin ins Ohr.

Sheriff Walker Dennis steigt aus dem Wagen und stapft auf uns zu. Er ist Ende vierzig und hat den Körper eines leicht aus der Form geratenen Baseballstars aus der Minor League. Er wiegt über hundert Kilo, und seine Unterarme würden jeden davon abhalten, bei einem Wettbewerb im Armdrücken gegen ihn zu wetten. Er trägt die braune Uniform und den Stetson, als wäre er schon sein ganzes Erwachsenenleben Sheriff, aber in Wirklichkeit hat er den Job erst vor etwa sechs Wochen übernommen, nachdem man seinen Vorgänger wegen eines Korruptionsfalls, der die gesamte Polizeitruppe dezimierte, angeklagt hatte.

»Alles in Ordnung?«, brüllt Dennis. Er kommt mit Riesenschritten her und packt mich beim Unterarm, als müsste er sich davon überzeugen, dass ich noch lebe.

»Ja, ja. Bei Caitlin auch.«

Der Sheriff schaut zum Feuer hinüber. Zwei Löschteams haben ihre Schläuche auf die Flammen gerichtet, aber der größte Teil des Hauses ist bereits verschwunden.

»Noch jemand drin?«, fragt Dennis.

»Royal und Regan, beide tot.«

»Scheiße. Die haben es nicht mehr rausgeschafft?«

»Nein.«

Der Sheriff wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. »Sie haben sie nicht rausbringen können?«

»Ich habe es nicht versucht, Walker. Sie haben uns beim Büro des Examiner gekidnappt – vielmehr zwei Typen geschickt, die das für sie gemacht haben. Sie haben Caitlin gerade gefoltert, um an Informationen zu kommen, als der Mann hier« – ich deute auf den Leichnam von Sleepy Johnston – »mit Henry reingestürzt kam und uns gerettet hat. Royal hatte da unten einen Flammenwerfer. Es ist ein Wunder, dass wir lebendig rausgekommen sind.«

»Henry ist auch tot«, sagt Caitlin.

Walker Dennis reibt sich die Stirn, als würde er gleich einen Migräneanfall bekommen. »Ich hätte Sie offensichtlich noch intensiver über Brody Royal ausquetschen sollen.«

»Das hätte nichts geändert.«

Er nimmt eine Dose Kautabak aus der Brusttasche, öffnet sie mit einer gewissen Dringlichkeit und stopft sich einen Pfriem unter die Unterlippe. »Wer zum Teufel ist das?«, fragt er und deutet auf den Toten auf der Erde.

»Sleepy Johnston. Sie kennen ihn besser als ›Gates Brown‹.«

Die Augen des Sheriffs weiten sich. Dennis kennt »Gates Brown« als den Decknamen eines Mannes, der in den letzten paar Tagen immer wieder mal am Rande unserer Ermittlungen herumgespukt ist. Er geht näher zu ihm hin und schaut in das Gesicht eines Siebenundsechzigjährigen, der als Junge in dieser Gegend lebte, dann nach Detroit floh. »Das ist der Typ, der mir am Telefon gesagt hat, er hätte gesehen, wie Royal und Regan den Concordia Beacon abgefackelt haben?«

Ich nicke.

»Wir müssen machen, dass wir hier so schnell wie möglich wegkommen. Die Staatspolizei könnte jeden Augenblick auftauchen, und wir müssen noch ein paar Dinge klären, ehe Sie mit denen reden.«

Ich schaue zu Caitlin, die uns genau beobachtet. Ich nicke, denke wahrscheinlich das Gleiche wie sie und Dennis: Captain Alphonse Ozan.

»In Ordnung«, sagt Dennis. »Dann fahren wir mal auf die Wache zurück und nehmen Ihre Aussagen auf. Zumindest habe ich dann ein Heimspiel, wenn die versuchen, mir diesen Fall wegzunehmen.«

»Was ist mit dem FBI?«

»Agent Kaiser hat mich angerufen, kurz bevor ich hier eingetroffen bin. Er hatte gerade erst von dem Brand gehört, aber er schien noch nicht zu wissen, dass es sich um Brody Royals Haus handelt.«

»Ich wette, das weiß er inzwischen.«

Sheriff Dennis spuckt auf den Boden und beugt sich nah zu mir her. »Wir haben hier ein Scheißspiel an der Backe, rein juristisch gesehen, und wir riskieren hier beide unseren Arsch.«

»Ich weiß.«

»Sie fahren mit mir«, sagte er und zieht mich auf seinen Tahoe zu. »Ms. Masters kann in dem Wagen hinter uns mitfahren.«

»Moment.« Ich reiße meinen Arm los. »Caitlin fährt mit uns.«

Walker schüttelt den Kopf. »Tut mir leid. Ich muss Sie beide trennen. Viele Augen sind auf uns gerichtet. Da muss ich mich an die Regeln halten.«

»Sie kann doch sicher mit uns fahren. Sie können dann schwören, dass wir uns unterwegs nicht unterhalten haben.«

Caitlin, die die Gefahr wittert, ist neben mich getreten und hat meinen Arm ergriffen.

»Tut mir leid«, sagt Dennis mit fester Stimme. »Es muss sein.«

Ehe ich weiter diskutieren kann, beugt er sich wieder zu mir. »Mein Schwager fährt das zweite Auto. Wenn Sie sie anrufen müssen, können Sie das tun. Das Blödeste, was wir jetzt machen können, wäre, hier zu bleiben und uns zu streiten. Wollen Sie, dass Ozan Sie verhaftet, weil Sie einen der reichsten Männer von Louisiana getötet haben? Der in den letzten fünfzig Jahren mit jedem einzelnen Gouverneur befreundet war?«

»Ich fahre gern mit dem zweiten Wagen«, sagt Caitlin und schiebt mich auf Dennis’ Auto zu. »Wir sollten keine Sekunde mehr verlieren. Ich will nur schnell Henrys Unterlagen holen.«

Walker wirft ihr einen dankbaren Blick zu, macht dann einem Deputy, der bei einem der Streifenwagen hinter dem Löschzug steht, ein Zeichen. Der Mann erreicht uns, als Caitlin mit ihrer Kiste kommt. Dennis stellt ihn als Grady Wells, seinen Schwager, vor. Ich bitte Wells, sich um Caitlin zu kümmern, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut, und er verspricht es mir.

»Wenn die Staatspolizei versucht, uns anzuhalten«, erklärt Walker, »dann ignoriere sie einfach. Bleib nicht stehen, bis wir wieder im Hauptquartier sind. Du nimmst nur von mir Befehle entgegen. Ignoriere auch den Funk, und wenn sie anfangen, dich mit ihrem Megafon anzubrüllen, kümmere dich nicht darum. Wir klären den ganzen juristischen Scheiß, wenn wir wieder auf dem Revier sind.«

Wenige Augenblicke später werden sechs Autotüren zugeschlagen, und unser kleiner Konvoi rast auf den Highway 84 und den Mississippi zu. Als ich mich umdrehe und durch das Rückfenster schaue, sehe ich immer noch die Feuersäule über der riesigen Schwemmebene aufragen und der ganzen Welt das Unheil verkünden. Wenn meine Mutter und meine Tochter hoch oben auf dem Felsen von Natchez aus ihrem Fenster im zweiten Stock blicken würden, dann würden sie die Flammen in der Ferne sehen. Als ich an meine Mutter denke, fährt mit das scharfe Schwert des schlechten Gewissens und der Wut zwischen die Rippen, und ich frage mich, ob sich auch mein Vater in Sichtweite dieser Flammen aufhält.

Kapitel 2

Tom Cage fuhr in einem gestohlenen Pick-up-Kombi durch die kalte Louisiana-Nacht, und seine .357er Magnum drückte hart gegen seinen rechten Oberschenkel. Auf dem Sitz hinter ihm lag ein bewusstloser Auftragskiller mit gefesselten Händen, die er zudem noch an einen hinten im Fahrerhaus angebrachten Gewehrständer gebunden hatte. Zwischen ihnen befand sich auf dem Boden eine Leiche mit einer Kugel aus Toms .357er Revolver im Bauch.

Tom hatte ein Valium und etwas Nitroglyzerin genommen, aber er litt immer noch unter Herzrhythmusstörungen, und kein Gedanke, den er heraufbeschwor, schien sein überbelastetes Herz beruhigen zu können. Walt Garrity war beinahe sicher heute Nacht ermordet worden, als er versuchte, Tom und sich aus den Schwierigkeiten zu befreien, in die Tom sie gebracht hatte. Nun war jeder Polizist in zwei Staaten auf den Highways unterwegs, um die beiden zu suchen, weil man glaubte, dass sie einen Staatspolizisten von Louisiana ermordet hatten. Außerdem stand Tom im Verdacht, seine ehemalige Krankenschwester Viola Turner umgebracht zu haben.

Walt hatte den Staatspolizisten tatsächlich erschossen, aber nur, damit der nicht seinerseits Tom kaltblütig umbrachte. Aber der Staatspolizist mit den kalten Augen hatte, ehe er starb, doch noch Tom eine Kugel in die Schulter gejagt. Obwohl die Wunde vor ein paar Stunden gut versorgt worden war, war der Schmerz inzwischen ins beinahe Unerträgliche angeschwollen. Tom wagte es nicht, genug Betäubungsmittel einzunehmen, um die Qualen zu verringern. Fünfzig Jahre ärztliche Erfahrung sagten ihm, dass die Schusswunde ihn in einen Zustand katapultiert hatte, in dem er einfach hinter dem Lenkrad zusammensacken und sterben könnte, ehe der Pick-up überhaupt zum Stehen gekommen war. Vor nur zwei Monaten hatte er einen schweren Herzinfarkt erlitten und mit knapper Not überlebt. In den vergangenen zweiundsiebzig Stunden hatte er mehr Stress gehabt, als selbst ein gesunder Dreiundsiebzigjähriger verkraften konnte, ohne zusammenzubrechen.

Tom konnte kaum glauben, dass ihm vor sechs Wochen das Leben relativ ruhig erschienen war. Nachdem er sich von seinem Herzanfall erholt hatte, hatte er sich auf die Hochzeit seines Sohnes gefreut, die für Heiligabend geplant war. Aber dann war Viola Turner nach Natchez zurückgekehrt und hatte die Vergangenheit wie einen Dämon hinter sich hergezogen. Der Krebs, der Viola nach vier Jahrzehnten aus Chicago nach Natchez zurückbrachte, hatte die wunderschöne Krankenschwester, die er einmal geliebt hatte, zu einem Schatten ihrer selbst gemacht. Trotz seiner fünfzigjährigen ärztlichen Tätigkeit war Tom bei ihrem Anblick zutiefst erschüttert gewesen. Die grausame Wahrheit war, dass Viola nicht nach Natchez zurückgekehrt war, um sich zur Ruhe zu setzen, sondern um zu sterben. Gleich bei seinem ersten abendlichen Besuch nach ihrer Rückkehr war ihm klargeworden, dass man ihn unter Umständen des Mordes bezichtigen würde. Ein Gnadentod, den normalerweise niemand zur Anzeige brachte, konnte sehr wohl die Aufmerksamkeit eines rachsüchtigen Sheriffs und Staatsanwaltes erregen. Aber nicht einmal in seinen finstersten Träumen hätte sich Tom vorstellen können, dass er und Walt um ihr Leben rennen würden.

Der gefesselte Mann auf dem Rücksitz stöhnte. Tom überlegte, ob er den Wagen anhalten und den Möchtegern-Mörder noch einmal mit Medikamenten ruhigstellen sollte. Der Auftragskiller hieß Grimsby und war dreißig Jahre jünger als Tom. Sobald der Mann wieder voll bei Bewusstsein war, würde Tom Schwierigkeiten mit ihm bekommen, auch wenn ihm Hände und Füße gebunden waren. Tom hatte es überhaupt nur geschafft, den Schweinehund zu fesseln, nachdem er ihn mit Chemikalien außer Gefecht gesetzt hatte. Zusammen mit seinem nun toten Partner hatte Grimsby Tom am Ufer des nahegelegenen Sees überfallen. Obwohl Tom bewaffnet gewesen war, hatte er sich mit dem Gedanken an den Tod abgefunden, ehe die beiden Killer überhaupt auftauchten. Doch dann – nur, weil er seine SMS-Nachrichten auf dem Handy angeschaut hatte – hatte Tom erfahren, dass Caitlin schwanger war. Dieses Wissen hatte den alten Mann blitzartig in einen Patriarchen verwandelt, der unbedingt die Geburt seines vierten Enkelkindes – und vielleicht des ersten Enkelsohns – erleben wollte. Mit eiskalter Entschlossenheit hatte Tom einen der beiden Killer erschossen, als die ihm entgegentraten. Dann hatte er Grimsby die Waffe abgenommen und ihn gezwungen, seinen toten Partner zu Drew Elliots Haus am See hinaufzutragen, wo Tom sich versteckt gehalten hatte.

Tom hatte seine Reisetasche geholt, eine Spritze mit kostbarem Insulin aufgezogen und sie Grimsby ins Hinterteil gejagt, als der seinen toten Partner in den Pick-up lud. Das versetzte den Mann ins Insulinkoma. Während er, kaum noch atmend, auf dem Rücksitz des Wagens ausgestreckt lag, hatte Tom ihm die Hände mit einem alten Wasserskiseil gefesselt, das er in Drews Garage gefunden hatte, und ihn dann an den Gewehrständer gebunden, so dass Grimsby ihn nicht angreifen konnte, falls er während der Fahrt das Bewusstsein wiedererlangte. Tom hatte nicht vorgehabt, den anderen Killer umzubringen, hatte jedoch kaum eine andere Wahl gehabt. Die beiden hatten gewiss beabsichtigt, ihn am See hinzurichten – einen völlig emotionslosen Auftragsmord zu begehen. Falls Grimsby wegen der Überdosis Insulin, die ihm Tom verabreicht hatte, starb oder den Rest seiner Tage im Koma verbrachte, dann sollte es eben so sein.

Toms eigentliches Dilemma war die Frage, was er jetzt tun sollte. Falls er den Pick-up wieder in die Zivilisation zurücklenkte, würde er eher früher als später zu einer Straßensperre gelangen, und da würde man ihn erschießen, weil er »Widerstand bei der Verhaftung leistete«. Um das zu vermeiden, war er mit dem Wagen in das niedrig gelegene Hinterland zwischen Ferriday, Rayville und Tallulah gefahren, eine Gegend der endlosen Baumwollfelder, die so dünn besiedelt war, dass sie völlig ausgestorben wirkte. Doch Tom wusste es besser. Er war im südwestlichen Teil von Louisiana geboren und hatte seine ersten Studien in der NLU in Natchitoches absolviert und dort auch seine Frau kennengelernt. Peggy Cage, geborene McCrae, stammte von einer Farm in Ost-Louisiana, die nur zehn Meilen von der Stelle entfernt lag, wo er sich zurzeit aufhielt. Die nächste Ansiedlung bei der Farm ihres Vaters war ein winziges, an einer Straßenkreuzung