Die transatlantische Illusion - Josef Braml - E-Book

Die transatlantische Illusion E-Book

Josef Braml

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkt der Westen geschlossen wie lange nicht. Doch die Weltmacht ist angeschlagen. Sie wird sich zunehmend auf ihr nationales Interesse und die Auseinandersetzung mit China konzentrieren. Zu glauben, die USA würden unsere Interessen auch in Zukunft mitvertreten, ist Die transatlantische Illusion. Der USA-Experte Josef Braml analysiert unsere geopolitische Lage und zeigt, warum wir selbstständiger werden müssen: militärisch, politisch, wirtschaftlich. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber wenn wir jetzt nicht damit anfangen, dann werden wir zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehören und die Grundlagen verspielen, auf denen unser Wohlstand beruht. Die neue Weltordnung stellt Deutschland und Europa vor große Herausforderungen. Die Zeiten, in denen wir uns im Schatten der USA durchlavieren konnten, sind vorbei. US-Präsident Donald Trump hat Europa mit Strafzöllen belegt, den Zusammenhalt der NATO infrage gestellt und die liberale internationale Ordnung durch seine America-First-Politik mit dem Rammbock traktiert. Zwar legt Joe Biden wieder mehr Wert auf die Einbindung von Verbündeten, doch wer garantiert, dass in vier Jahren nicht wieder Donald Trump im Weißen Haus sitzt? Das eigene Schicksal von den Ergebnissen der US-Präsidentschaftswahlen abhängig zu machen, ist in etwa so nachhaltig, wie im Kasino beständig auf Rot zu setzen. Josef Braml liefert eine schonungslose Bestandsaufnahme der weltpolitischen Gegebenheiten und zeigt, was auf dem Spiel steht, wenn Europa nicht lernt, für seine Interessen selbst einzustehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Josef Braml

Die Transatlantische Illusion

Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können

C.H.Beck

Zum Buch

Jahrzehntelang konnten sich Deutschland und Europa auf die USA verlassen. Doch die Weltmacht ist angeschlagen. Sie konzentriert sich auf ihr nationales Interesse und die Auseinandersetzung mit China. Zu glauben, die USA würden unsere Interessen mitvertreten, ist die transatlantische Illusion. US-Präsident Donald Trump hat Europa mit Strafzöllen belegt, den Zusammenhalt der NATO infrage gestellt und die liberale internationale Ordnung durch seine America-First-Politik mit dem Rammbock traktiert. Zwar legt Joe Biden wieder mehr Wert auf die Einbindung von Verbündeten, doch wer garantiert, dass in vier Jahren nicht wieder Donald Trump im Weißen Haus sitzt? Das eigene Schicksal von den Ergebnissen der US-Präsidentschaftswahlen abhängig zu machen, ist in etwa so nachhaltig, wie im Kasino beständig auf Rot zu setzen. Der USA-Experte Josef Braml analysiert unsere geopolitische Lage und zeigt, warum wir selbstständiger werden müssen: militärisch, politisch, wirtschaftlich. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber wenn wir jetzt nicht damit anfangen, dann werden wir zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehören und die Grundlagen verspielen, auf denen unser Wohlstand beruht.

Über den Autor

Josef Braml ist ein bekannter USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog zwischen Amerika, Europa und Asien. Er verfügt über 20 Jahre Erfahrung in angewandter Forschung und Beratung weltweit führender Think Tanks, unter anderem bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem Aspen Institut, der Brookings Institution, der Weltbank und als legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus.

Inhalt

Einleitung

Der amerikanische Patient: Die USA und die liberale Weltordnung

Missionarische Macht

Macht ohne Moral

Illusionen der «Realpolitiker»

Illiberaler Hegemon

Recht des Stärkeren schlägt «rule of law»

Allianzen als Machtinstrumente

Die Ironie der Geschichte: Der neue Systemwettbewerb zwischen China und den USA

Resilienz des Illiberalismus

Protektionismus und De-Globalisierung

Geborgte, weil kreditfinanzierte Macht

Umorientierung nach Asien

Angriff als Verteidigung: Russland zwischen China und dem Westen

Geographisch bedingte Angriffsflächen

Russlands «Zone privilegierter Interessen»

Sicherheitsdilemma

Europas Diplomatie der Stärke

Ménage à trois: USA, Europa und Russland

Europas Optionen ohne US-Schutz

Gleiche Interessen? Die USA und Europa

Nuklearstreit mit Iran und Europa

Der Preis der Abhängigkeit

Grenzverschiebungen zulasten von Europas Souveränität

Amerikas Kontrolle von «Räumen»

Rückkehr des geliebten Feindes

Emanzipation der «alten Vasallen»

Nukleare Teilhabe

Mut zu strategischem Denken

Überwindung von Selbst- und Fremdblockaden

Souveränität zur Kooperation auf Augenhöhe

Geo-Ökonomie: Die Politisierung von Handel, Finanzen und Technologie

«Entkopplung» statt Einbindung

Amerikas Marktmanipulation

Chinas Merkantilismus

Amerikas vermeintliche Energiedominanz

Wirtschaften auf Pump

Dollar-Dilemma

Dollar-Dämmerung

Währungsfragen sind Machtfragen

Systemwettbewerb

Digitale Dominanz

Fehlende «digitale Souveränität»

Europäische Souveränität: Leitlinien einer neuen Außenpolitik

Handelspolitik

Finanz- und Währungspolitik

Umwelt- und Energiepolitik

Sicherheitspolitik

Technologiepolitik

Schluss

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Der amerikanische Patient: Die USA und die liberale Weltordnung

Die Ironie der Geschichte: Der neue Systemwettbewerb zwischen China und den USA

Angriff als Verteidigung: Russland zwischen China und dem Westen

Gleiche Interessen? Die USA und Europa

Geo-Ökonomie: Die Politisierung von Handel, Finanzen und Technologie

Europäische Souveränität: Leitlinien einer neuen Außenpolitik

Schluss

Für Hans und Irene Seemann, die mir den Zweiten Bildungsweg vom niederbayerischen ins globale Dorf gewiesen haben

Einleitung

Die Weltpolitik ist nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine im Umbruch. Können wir es uns leisten, diesen Wandel zu ignorieren? Reicht es aus, die alten Rezepte und Strategien zu wiederholen, mit denen die Bundesrepublik sich die weltpolitischen Zumutungen in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger hat vom Hals halten können? Wenn wir unseren Wohlstand und unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert bewahren wollen, dürfen wir unsere Politik nicht auf Illusionen aufbauen. Wir müssen die weltpolitischen Entwicklungen in der gebotenen Schärfe analysieren und jenseits der alten Graben- und Positionskämpfe darüber nachdenken, wie wir uns in der sich herausbildenden neuen Weltordnung behaupten können.

Doch obwohl sich in der politischen Klasse alle einig sind, dass außenpolitisch große Aufgaben auf uns zukommen, spielte die Außenpolitik im Bundestagswahlkampf 2021 kaum eine Rolle. Selbst nach dem Debakel des Afghanistan-Abzugs gab es keine Diskussionen über grundsätzliche Fragen, sondern nur moralische Scheingefechte auf Nebenkriegsschauplätzen. Das ist bemerkenswert für ein Land, dessen Sicherheit prekär ist und dessen international verflochtene Wirtschaft sich den weltpolitischen Gegebenheiten in besonderer Schärfe ausgeliefert sieht.

Liest man den Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP, dann fällt ein merkwürdiges Ungleichgewicht ins Auge: Während das Wort «Werte» in den außenpolitischen Passagen fast auf jeder Seite vorkommt, sucht man das Wort «Interessen» beinahe vergeblich, so als hätte die Bundesrepublik keine wirtschaftlichen oder geostrategischen Interessen, und als ginge es nur darum, sich idealistisch für das Wohl der Welt zu engagieren. Man muss nicht so weit gehen wie die «realistische Schule» in der Analyse der internationalen Beziehungen, die das Verhalten von Staaten vor allem anhand des Begriffspaars «Macht» und «Interessen» untersucht. Aber natürlich hat auch Deutschland ganz klassische Interessen, an Absatzmärkten, an Rohstoffen und Energieträgern, an Handelswegen und auch an Sicherheit. Die merkwürdige Scheu, diese zu benennen, dürfte in den Hauptstädten dieser Welt eher für Misstrauen sorgen, ist aber historisch gut zu erklären. Denn die Geschichte der alten Bundesrepublik war gewissermaßen eine Zwischenzeit der «Machtvergessenheit»[1]. Die Bonner Republik zog aus ihrer desaströsen Vorgeschichte, insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus, ihre Lehren, indem sie statt Macht- «Verantwortungspolitik» betrieb, das Denken in nationalen Interessen tabuisierte und ihre Sicherheit der Sieger- und Schutzmacht USA anvertraute. Mit dieser Strategie ist die Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten gut gefahren. Aber taugt sie auch für die Zukunft?

Es gibt in letzter Zeit verstärkt Stimmen, die genau dies anzunehmen scheinen und fordern, die transatlantische Partnerschaft zu stärken. Wenn damit gemeint ist, intensive Beziehungen zu Washington zu pflegen und sich um einen verstärkten Austausch zu bemühen, so ist daran auch gar nichts falsch. Die USA waren und sind für Deutschland ein wichtiger Partner. Der Glaube allerdings, dass Washington in Zukunft in derselben Weise wie früher unsere Sicherheit garantieren und unsere Interessen mitvertreten wird, ist eine Illusion. Es ist die transatlantische Illusion.

Anlässlich des Afghanistan-Debakels dominierte in unseren Debatten der Vorwurf an Washington, seine Verbündeten bei einer eigentlich vorhersehbaren politischen Entscheidung nicht konsultiert und informiert zu haben. Nicht erst seit Amerikas Rückzug aus Afghanistan sollte jedoch Europas Regierungsverantwortlichen klar geworden sein, dass sich der Alte Kontinent nicht mehr auf die früheren Sicherheitsversprechen verlassen kann. Anstatt über Washingtons hemdsärmeligen Umgang mit seinen Alliierten zu lamentieren, hätte eigentlich ein anderer Sachverhalt im Zentrum der Debatte stehen müssen, nämlich die Tatsache, dass Europa nach wie vor nicht in der Lage ist, seine Sicherheitsinteressen selbst wahrzunehmen. Und zwar nicht nur am Hindukusch, wo man lange darüber diskutieren kann, wie sinnvoll der Einsatz überhaupt war. Sondern ebenso in der eigenen Nachbarschaft. Das wohlfeile Schimpfen über die amerikanische Arroganz lenkt im Grunde nur von einem eigenen Versagen ab, dem Versagen nämlich, dass Europa nicht fähig ist, sich selbst zu verteidigen. Das macht uns erpressbar und führt dazu, dass man den deutschen und europäischen Interessen in Washington, Peking und Moskau genau das Gewicht beimisst, das sie auf die Waage bringen.

Die Bestimmung von Interessen musste und muss im Deutschland der Nachkriegszeit auf der Grundlage des Grundgesetzes erfolgen und ist daher notwendigerweise normativ gebunden. Daher wäre es auch ein Missverständnis, in der politischen Debatte einen Gegensatz zwischen «Interessen» und (moralisch höheren) «Werten» konstruieren zu wollen. «‹Interessen› betreffen … stets Werte und materielle Güter, ‹nationale Interessen› beinhalten dementsprechend Macht- und Wohlstandsziele ebenso wie Ideale, sie beziehen sich nicht nur auf das ‹Sein›, sondern auch auf das ‹Sollen›», erläuterte der deutsche Politikwissenschaftler Hanns Maull, der als Vordenker einer deutschen «Zivilmacht» nicht gerade im Verruf steht, noch dem alten Großmachtdenken des 19. Jahrhunderts verhaftet zu sein.[2]

Die normativen Vorgaben des Grundgesetzes umfassen das Friedensgebot und das Ziel der europäischen Integration (Präambel), den Vorrang des Völkerrechts vor dem nationalen Recht (Art. 25 GG), das Verbot von Vereinigungen, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten (Art. 9, Abs. 2 GG), sowie die Achtung und Wahrung der Menschenrechte weltweit als Grundlage des Friedens (Art. 1, Abs. 2 GG).[3] Auf der Basis dieser Werte stellte die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Juli 2016 das weiterhin gültige «Weißbuch» vor.[4] Darin werden die folgenden «sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands» aufgezählt:

«Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Souveränität und territorialen Integrität unseres Landes;

Schutz der territorialen Integrität, der Souveränität sowie der Bürgerinnen und Bürger unserer Verbündeten;

Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts;

Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien sowie ungehinderten Welthandel;

Förderung des verantwortungsvollen Umgangs mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern in der Welt;

Vertiefung der europäischen Integration und

Festigung der transatlantischen Partnerschaft.»[5]

Gemäß dieser Interessendefinition ist deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zum einen darauf ausgerichtet, die internationalen Beziehungen durch Institutionen zu verrechtlichen und damit berechenbarer zu machen, sowie zum anderen, durch eine international handlungsfähige Europäische Union und die Zusammenarbeit mit Verbündeten ihre Gestaltungsfähigkeiten zu verbessern. Angesichts der elementaren sicherheitspolitischen Abhängigkeit Deutschlands, insbesondere von der sogenannten Schutzmacht USA, ist dies auf den ersten Blick nur folgerichtig: «Nur im Verbund mit anderen kann Deutschland sein Territorium und seine offene Gesellschaft schützen, seine begrenzten Ressourcen effektiv einsetzen sowie seine Innovations- und Produktivkräfte entfalten. Wahrnehmung deutscher Interessen bedeutet deshalb immer auch Berücksichtigung der Interessen unserer Verbündeten und befreundeten Nationen.»[6] Gleichwohl wird im Nachsatz auch deutlich gemacht, dass zugleich «unsere Handlungsfähigkeit im internationalen – besonders europäischen und transatlantischen – Verbund auf einer klaren nationalen Positionsbestimmung» beruht.[7]

Demnach hat Deutschland zwar eigene, aber keine autonomen, sondern «verflochtene» Interessen.[8] In vielen Politikfeldern ist es offensichtlich, dass nationale Interessen nur durch internationale Kooperation gewahrt werden können. Angesichts globaler Umweltrisiken wie des Klimawandels sowie transnationaler Sicherheitsbedrohungen wie der aktuellen COVID-19-Pandemie sollte schon der gesunde Menschenverstand nahelegen, dass die Repräsentanten von Staaten – egal, welcher Regierungsform – im Sinne gemeinsamer Interessen kooperieren.

Doch die Interessen Deutschlands sind nicht immer identisch oder kompatibel mit denen anderer Staaten, auch nicht mit jenen der vermeintlichen Schutzmacht USA. Die Einsicht in eine veränderte Interessenslage ihrer sogenannten Freunde fällt Deutschlands Regierungsverantwortlichen und geistigen Eliten besonders schwer, zumal deutsche Außenpolitik, geläutert durch die historische Erfahrung des Nationalsozialismus, seit der Nachkriegszeit zwei zentrale Interessen verfolgt hat: die nordatlantische Bindung an die USA und die Integration Europas. Beides war ausschlaggebend dafür, dass Deutschland Souveränität zurückerhielt und die Wiedervereinigung erlangte. Diese westliche Einbettung war insbesondere auch im Interesse der anderen europäischen Staaten, um die «deutsche Frage» abschließend zu beantworten und einen künftigen «Sonderweg» Deutschlands zu verhindern.[9]

Es war jedoch kein Geringerer als der Präsident der Weltmacht USA, Donald Trump, der beide Grundpfeiler deutscher Außenpolitik ins Wanken brachte, indem er das NATO-Bündnis infrage stellte und das für ihn «feindliche» Europa nach dem römischen Prinzip des divide et impera zu teilen suchte, um die einzelnen Staaten dann noch besser beherrschen zu können. Die Lage für Deutschland und Europa ist umso kritischer, wenn man bedenkt, dass Donald Trump kein Unfall der amerikanischen Geschichte war, sondern ein Symptom tieferer, in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik der nicht mehr so Vereinigten Staaten von Amerika schon seit Längerem schwelender Grundprobleme ist.

Es hätte nur wenige Stimmen in den entscheidenden «Swing States» gebraucht und statt Joe Biden säße weiterhin Donald Trump im Weißen Haus. Niemand kann voraussagen, ob das Pendel bei den nächsten Wahlen nicht in die andere Richtung ausschlägt. Trump hat die republikanische Partei fest in der Hand. Es ist nicht auszuschließen, dass er wieder antritt. Aber auch wenn dem nicht so sein sollte: Andere republikanische Kandidaten könnten noch herausfordernder für Deutschland und Europa sein. Bleibt es bei der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Europas von den USA, dann machen wir uns in der Konsequenz abhängig von den höchst volatilen Ergebnissen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Das ist in etwa so, als würde man in einem Casino beständig auf Rot setzen – eine höchst riskante und wenig nachhaltige Strategie.

Hinzu kommt noch, dass die Demokraten schon aus innenpolitischen Gründen im Kern ebenfalls eine «America First»-Politik betreiben. Zwar sind sie im Ton konzilianter und insgesamt kompromissbereiter als Trump. Doch Europa hat auch für sie nicht mehr die Bedeutung vergangener Tage. Amerikas Abwendung von Europa und seine «Hinwendung nach Asien» wurde schon von Trumps demokratischem Vorgänger Barack Obama eingeläutet. Und Obamas damaliger Vizepräsident Joe Biden führt diesen Kurs nun umso entschiedener fort, um dem Rivalen China zu begegnen, der in Ostasien Washingtons Hegemonie herausfordert. Amerikas Anspruch, trotz zunehmend knapper werdender Ressourcen eine Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, dürfte die innerlich geschwächte Weltmacht dazu verleiten, künftig Europas Sicherheitsinteressen noch mehr zu vernachlässigen.

Steigende chinesisch-amerikanische Spannungen drohen zudem die regelbasierte Weltwirtschaftsordnung zu schwächen, auf die exportorientierte Länder wie Deutschland besonders angewiesen sind. Im Ringen um technologische und wirtschaftliche Einflusssphären könnten die USA den Druck auf abhängige Drittstaaten verstärken, mit dem Entzug ihres militärischen und sicherheitsdienstlichen Schutzes drohen und sie vor die Wahl stellen, entweder mit Amerika oder mit China Geschäfte zu betreiben. Das kann so weit gehen, dass wirtschaftliche Waffen wie der US-Dollar und Sekundär-Sanktionen in Stellung gebracht werden, um europäische Staaten zu zwingen, ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber China preiszugeben.

Beide Entwicklungen, die gravierenden inneren Probleme der Weltmacht USA und ihre damit zusammenhängende außenpolitische Umorientierung, sollten den Verantwortlichen in Deutschland und Europa gründlich zu denken geben. Sie können sich auf den Schutz anderer nicht mehr verlassen, lautete auch die nüchterne Analyse der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel vom Mai 2017 in einem bayerischen Bierzelt.[10]

Um ihre Interessen zu verteidigen, muss deutsche und europäische Politik ihrerseits die noch vorhandenen eigenen Machtressourcen einsetzen, so sie international Gestaltungskraft zurückgewinnen will. Wenn die Europäische Union ein «Global Player» und nicht Spielball anderer Mächte sein soll, muss allen voran Deutschland seine Außenpolitik auch gegenüber den USA entscheidend korrigieren. Damit ist nicht gemeint, die NATO zu verlassen oder das transatlantische Bündnis aufzukündigen. Beides wäre in der gegenwärtigen, seit Russlands Ukraine-Invasion umso unsicheren Lage sicherheitspolitisches Harakiri. Wohl aber geht es darum, den Weg in Richtung einer von den USA unabhängigen Verteidigungsfähigkeit Europas einzuschlagen, mit dem langfristigen Ziel eines Bündnisses auf Augenhöhe. Das ist kein einfacher Weg und auch kein kurzer. Und es ist auch nicht gesagt, dass wir dafür genügend Zeit bekommen. Denn niemand kann wissen, wann in Washington erneut jemand wie Trump im Weißen Haus sitzt. Aber sollte man es deswegen gar nicht erst probieren?

Ebenso wichtig wie die Interessen «befreundeter» Staaten illusionslos zu analysieren, ist es, die Interessensgegensätze und -gemeinsamkeiten mit rivalisierenden Staaten auszuloten. Denn es besteht auch immer die Gefahr, dass die Bedrohungswahrnehmungen beider Seiten sich in selbsterfüllende Prophezeiungen verwandeln. In der militärisch ausgerichteten «realistischen» Perspektive sind Staaten und ihre Regierungsvertreter häufig in einem Macht- und «Sicherheitsdilemma»[11] gefangen: Indem Staaten versuchen, ihre eigene Sicherheit durch Machterweiterung zu erhöhen, schüren sie das Misstrauen und die Ängste anderer Staaten und verleiten sie dazu, ihrerseits Vorkehrungen zu treffen. Das individuelle Streben, insbesondere der USA, Chinas und Russlands, nach Sicherheit und Macht erzeugt am Ende nur größere Unsicherheit für alle Seiten.

Deutschland und Europa sollten künftig noch größere diplomatische Anstrengungen unternehmen, um dieses «Sicherheitsdilemma» im Verhältnis zu Russland und China zu verringern. Es ist problematisch, diese Aufgabe vor allem an die Vereinigten Staaten zu delegieren – deren aktuelle Herausforderungen, Geschichte und Geographie andere geopolitische Interessen nahelegen. Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die USA für einen historischen Moment die einzig verbliebene Supermacht, und es schien, als könnten sie den Globus nach ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modell neu ordnen. Das Wort vom «Ende der Geschichte» machte die Runde.[12] Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. In der Regierungszeit von George W. Bush überspannten die USA ihre Kräfte. Vor allem aber verspielten sie viel von ihrem «Soft-Power-Kapital»[13], da sie sich selbst nicht an die internationalen Regeln und Werte hielten, die sie dem Rest der Welt oft auch mit militärischem Nachdruck, mit ihrer «hard power», empfahlen.

Heute steuert die Welt auf eine multipolare Ordnung zu, in der die USA ein wichtiger, aber nicht mehr der allein dominierende Pol sind. Doch mit dieser Veränderung hat man sich in Washington nicht abgefunden, weshalb es dort im Umgang mit revisionistischen Mächten wie China und Russland nicht bloß um die Durchsetzung der regelbasierten internationalen Ordnung geht, sondern auch um die Aufrechterhaltung der eigenen Hegemonie. Während die USA insbesondere China eindämmen wollen, hat Europa weniger ein Problem mit dem chinesischen Aufstieg an sich, von dem es vor allem wirtschaftlich profitiert, sondern mehr mit Chinas fehlender Bereitschaft, sich an die Spielregeln der liberalen internationalen Ordnung zu halten. Deutschland und Europa sollten sich trotz der emotionalen Verunsicherung in der Ukraine-Krise nicht länger der transatlantischen Illusion hingeben, dass die «Schutzmacht» USA für die Sicherheit und den Wohlstand der Alten Welt mit sorgt. Sonst drohen sie zum Kollateralschaden eines größeren, weltumspannenden Konfliktes zwischen der angeschlagenen Weltmacht USA und dem aufstrebenden China zu werden.

Der amerikanische Patient: Die USA und die liberale Weltordnung

Mit seinem Meisterwerk La Grande Illusion versuchte der französische Filmemacher Jean Renoir 1937 der Welt eine Friedensperspektive zu geben, denn er zeigte, wie in einem deutschen Kriegsgefangenenlager im Ersten Weltkrieg alle Rassen, Klassen und Nationen mehr oder weniger zivilisiert zusammenlebten. Doch die Geschichte bewegte sich in eine andere Richtung, und das war Renoir durchaus bewusst. Nach einer gelungenen Flucht aus dem Lager, auf dem Weg über die Grenze in die rettende Schweiz, äußerte Jean Gabin, in der Hauptrolle des Leutnant Maréchal, die Hoffnung, dies möge der letzte Krieg gewesen sein. «Ach, mach Dir keine Illusionen», lautete die trockene Antwort seines Kompagnons Leutnant Rosenthal, gespielt von Marcel Dalio.

Wie schnell sich Ordnungsentwürfe und hehre Ziele als Illusionen erweisen können, dafür ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein gutes Beispiel. US-Präsident Woodrow Wilson begründete 1917 das Eingreifen Amerikas in den Weltkrieg mit dem Anspruch, dem Krieg an sich ein für alle Mal ein Ende zu bereiten und die Welt «safe for democracy» zu machen. Doch der Slogan «The War to End All Wars»[1] wird heute eher sarkastisch verwendet, da der Erste bekanntlich nicht der letzte Weltkrieg der Geschichte geblieben ist. Noch während Wilson in Paris über den Friedensvertrag verhandelte, verschoben sich in Washington die politischen Machtverhältnisse.

Wilsons Idee eines Völkerbundes war sozusagen der Schlussstein der von ihm angestrebten neuen Weltordnung. Er sollte dazu führen, dass die Nationen ihre Streitigkeiten fortan in klar geregelten Verfahren beilegen würden, und dadurch zukünftige Kriege verhindern. Er war darin ein Vorläufer unserer heutigen internationalen Ordnung. Doch ausgerechnet die USA traten ihm am Ende nicht bei, weil sich die sogenannten Isolationisten gegenüber den Internationalisten durchgesetzt hatten. Die USA zogen sich in den folgenden Jahrzehnten weitgehend zurück und überließen Europa mehr oder weniger sich selbst. Eine Verschiebung in den innenpolitischen Machtverhältnissen der USA hatte der neuen internationalen Ordnung den Boden unter den Füßen weggezogen. Der Herausforderung durch das nationalsozialistische Deutschland und das kaiserliche Japan war der geschwächte Völkerbund in den 1930er-Jahren nicht gewachsen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen sich die USA nicht erneut auf sich selbst zurück – was durchaus eine Lehre aus der Zwischenkriegszeit darstellte. Auch der Isolationismus hatte die USA nicht davor schützen können, in die Konflikte der anderen Mächte hineingezogen zu werden. Nach 1945 schuf und garantierte Washington eine liberale internationale Ordnung, deren Institutionen noch heute bestehen, die aber aufgrund des Kalten Krieges zunächst nur für einen Teil der Welt ihre volle Gültigkeit entfaltete. Nach 1989/90 schienen ihr nach dem Wegfall der rivalisierenden Supermacht keine Grenzen mehr gesetzt. Die USA wurden zum liberalen Hegemon, der, so hofften manche, für das Wohl aller agiert.

Missionarische Macht