Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2008 hat in den Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz eine inklusive Schulentwicklung weiter befördert, die ein gemeinsames Unterrichten von Lernenden mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf stetig ausweitet. Eine zentrale Gelingensbedingung stellt dafür die Kooperation zwischen Regelschullehrkräften und Förderschullehrkräften dar, um einer inklusiven Beschulung gerecht zu werden. In einem bekannten Modell der pädagogischen Kooperation, welches der vorliegenden Arbeit zu Grunde gelegt und innerhalb dieser erläutert wird, werden für eine gelungene Kooperation die vier Strukturebenen Persönlichkeit, Beziehung, Sachebene und Organisation als zentral angesehen. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Band das Ziel, die deutschsprachige empirische Forschung der intraprofessionellen Kooperation nach über zehn Jahren inklusiver Schulentwicklung mithilfe eines systematischen Reviews und einer qualitativen Inhaltsanalyse zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass methodische Ungleichgewichte innerhalb der angewendeten Forschungsdesigns beispielsweise hinsichtlich der Schulform und der Studienart bestehen. Des Weiteren zeigt sich, dass die Ebene der Persönlichkeit sowie die Sachebene bis dato am meisten erforscht sind, wohingegen auf der Ebene der Organisation weitaus weniger empirische Befunde vorliegen. Ein inhaltliches zentrales Reviewergebnis ist, dass die Rahmenbedingungen - insbesondere die zeitlichen - entscheidenden Einfluss auf das Gelingen der intraprofessionellen Kooperation haben. Dies zeichnet sich auch angesichts der Empfehlungen auf der organisatorischen Ebene für ein Mehr an prozessorientierter Unterstützung sowie an festen Besprechungszeiten ab.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Impulse sind Antriebe, Anstöße und Anregungen. Als Denkanstöße sind sie im hochschulischen (Arbeits)Alltag auf vielfältige Weise Ausgangspunkt und zugleich Gegenstand von Wissenschaft. Daraus resultierende Forschungsvorhaben sind zumeist vorerst exklusiv Wissenschaftler*innen vorbehalten.
Leider viel zu selten – hier sei aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft gesprochen – wird die Lehre als Forschungsraum verstanden. Gemeint ist damit keineswegs, dass die Studierenden in den Lehrveranstaltungen zu Probanden von Studien werden oder diese evaluieren. Intendiert sind ebenfalls keine Praxisseminare, die z. B. im Rahmen von Lehr-Lern-Laboren den Professionalisierungsprozess von Lehramtsstudierenden forcieren und deren Selbstwirksamkeitsüberzeugungen steigern wollen. Ohne Zweifel haben die skizzierten Settings alle ihre Berechtigung, verbinden die für die Hochschulen elementaren Sphären der Forschung und Lehre jedoch nicht ganzheitlich, weil die Forschung als Prozess nicht im Seminarkonzept inhärent ist, sondern zum spezifischen Inhalt (z. B. Publikationen) wird oder als Additum angesehen werden muss.
Dazu konträr stehen jene Lehrformate, in denen Forschung und Lehre verschmelzen und die Studierenden zu Forschenden werden. Ohne Frage muss der Gehalt studentischer Forschung anders bewertet werden als wissenschaftliche Forschung. Studierende sind Forschungsnovizen, die das Forschen erlernen müssen. Dennoch können aus studentischer Forschung Impulse hervorgehen. Für Dozierende ist die hochschuldidaktische Gestaltung von „Forschungsseminaren“ eine polyvalente Herausforderung, gilt es doch eine wissenschafts-theoretische und methodologische Basis zu schaffen und die (Forschungs)Interessen aller Teilnehmenden zu berücksichtigen. Das Anliegen stößt zudem nicht selten auf administrative Hürden, da solche Formate nicht immer mit Studienordnungen kompatibel sind. Studentische Abschlussarbeiten – in Zeiten der Internationalisierung des Studiums vor allem Bachelor- und Masterarbeiten – haben das Potential, ausgehend von den Interessen der Studierenden zu kleinen Forschungsvorhaben zu werden. Die Studierenden bearbeiten über einen Zeitraum von mehreren Monaten selbstständig eine Fragestellung und erschließen sich Forschungsmethoden und Diskurse mit dem Ziel, ihre Ergebnisse in einen Kontext zu stellen. Dabei behandeln sie Themen, die für wissenschaftliche Forschung zu partikular sind. Nicht selten wird mit ihnen neues Wissen generiert, aus dem sich wiederum Möglichkeiten für sich anschließende wissenschaftliche Forschung ergeben können oder die Abschlussarbeiten sind bereits die Weiterentwicklung eines vorausgegangenen Studienprojektes aus dem Praxissemester.
Die Reihe Erziehungswissenschaftliche Impulse setzt es sich zum Ziel, exzeptioneller studentischer Forschung ein Forum zu bieten. Anker sind neben der Bedeutung des Gegenstandes und der gewählten Herangehensweise auch Anerkennung und Wertschätzung der Leistung. Dabei sollen die veröffentlichten Arbeiten auch als Impuls, das heißt als Anregung verstanden werden, die erwähnten partikularen Themen aufzugreifen und weitere Forschung (vor-)an-zutreiben.
Münster, im Mai 2022
Patrick Gollub
1.
Einleitung
2.
Theoretischer Rahmen
2.1 Inklusion im schulischen Bildungskontext
2.1.1 Entwicklung des deutschen Bildungssystems
2.1.2 Begriffsbestimmung: Inklusion
2.1.3 Rechtliche Grundlagen
2.1.4 Stand der Umsetzung in Deutschland, Österreich und der Schweiz
2.2 Kooperation im Bereich Schule
2.2.1 Begriffsbestimmung: Pädagogische Kooperation
2.2.2 Kooperierende Professionen
2.2.3 Intraprofessionelle Kooperation
2.2.4 Bedingungen erfolgreicher Zusammenarbeit: Modell zur pädagogischen Kooperation (Lütje-Klose & Urban, 2014)
3.
Forschungsstand
4.
Annahmen
5.
Methodisches Vorgehen
5.1 Recherchestrategie
5.2 Studienauswahl
5.3 Datengewinnung
5.4 Datenauswertung
6.
Ergebnisdarstellung
6.1 Annahme 1
6.2 Annahme 2
6.2.1 Persönlichkeitsebene
6.2.2 Beziehungsebene
6.2.3 Sachebene
6.2.4 Organisatorische Ebene
6.2.5 Empfehlungen
7.
Ergebnisdiskussion
8.
Fazit
8.1 Methodendiskussion
8.2 Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse
8.3 Ausblick, Desiderata und Limitationen
9.
Literaturverzeichnis
9.1 Herangezogene Forschungsliteratur
9.2 Studien des Reviews
10.
Anhang
10.1 Überblick inklusiver Modelle in Österreich und der Schweiz
10.2 Rechercheergebnisse
10.3 Ablaufschema der inhaltlich strukturierten Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018, S. 100)
10.4 Finales Kategoriensystem zur intraprofessionellen Kooperation
10.5 Die häufigsten Wünsche der befragten Lehrkräfte für eine bessere Kooperation
10.6 Die häufigsten Empfehlungen der Reviewstudien
Abbildung 1: Entwicklungsphasen in der Sonderpädagogik (Bürli, 1997 zitiert nach Thoma & Rehle, 2009, S. 41; von Verfasserin bearbeitet)
Abbildung 2: Inklusions- und Exklusionsteile5 der Länder Deutschland, Österreich und Schweiz (eigene Grafik; vgl. Dienststelle Volksschulbildung, 2017, S. 5; Autorengruppe Berichterstattung, 2018, S. 105; Sekretariat der KMK, 2018, S. 5; Oberwimmer et al., 2018, S. 163; Bruneforth et al., 2015, S. 95)
Abbildung 3: Multiprofessionelle Akteur*innen in der Schule (eigene Grafik)
Abbildung 4: Verknüpfung des TZI-Modells (Cohn, 1975) mit den Ebenen der Theorie integrativer Prozesse (Reiser et al., 1986), welche durch Lütje-Klose und Kollegen (1999, 2014) explizit für die intraprofessionelle Kooperation weiterentwickelt wurden (vgl. Klein, Kreie, Kron & Reiser, 1987, S. 41); von Verfasserin bearbeitet
Abbildung 5: Kontinuum wechselseitiger Kooperation (vgl. Marvin, 1990; Gräsel et al., 2006; von Verfasserin bearbeitet)
Abbildung 6: Kooperationsmöglichkeiten im Unterricht nach Friend & Cook (2010, S. 115, entnommen aus Kullmann, 2018, S. 6)
Abbildung 7: Kompetenzstrukturmodell inklusive Settings (Moser & Kropp, 2015, S. 26)
Abbildung 8: PRISMA-Flusdiagramm zum Verlauf der Studienauswahl (vgl. Moher, Liberati, Tetzlaff & Altman, 2009, S. 125; bearbeitet von Verfasserin)
Abbildung 9: Prozentualer Anteil der untersuchten Schulstufen (eigene Grafik)
Abbildung 10: Prozentuale Verteilung der untersuchten Länder (eigene Grafik)
Abbildung 11: Prozentualer Anteil von Längs- und Querschnittstudien (eigene Grafik)
Abbildung 12: Prozentuale Verteilung der angewandten Forschungsansätze (eigene Grafik)
Abbildung 13: Prozentuale Verteilung eingesetzter qualitativer Erhebungsinstrumente (eigene Grafik)
Abbildung 14: Prozentuale Verteilung eingesetzter quantitativer Erhebungsinstrumente (eigene Grafik)
Abbildung 15: Anzahl der befragten Lehrkräfte (eigene Grafik)
Abbildung 16: Anzahl an Gruppendiskussion u. Teilnehmer*innen (eigene Grafik)
Abbildung 17: Anzahl der ausgefüllten Fragebögen (eigene Grafik)
Abbildung 18: Kontinuum wechselseitiger Kooperation (vgl. Marvin, 1990, S. 41; von Verfasserin bearbeitet)
Tabelle 1: Überblick inklusiver Modelle in Deutschland (eigene Darstellung)
Tabelle 2: Unterrichtsbezogene Kooperation zwischen LaS und LfS (vgl. Baumann, Heinrich & Stuber, 2012, S. 8)
Tabelle 3: Ein- und Ausschlusskriterien der Studienauswahl
Tabelle 4: Datengewinnungstabelle
„Kooperation – der Schlüssel für Inklusion!?“ (Fischer, Preiß & Quandt, 2017) Dieser Titel einer umfassenden Studie zur Kooperation zwischen Lehrkräften allgemeiner Schulen und Lehrkräften für Sonderpädagogik1 betont den entscheidenden Stellenwert von Zusammenarbeit für eine gelingende Inklusion. Daher ist es ein derzeitiges zentrales Anliegen zu untersuchen, inwieweit diese Kooperation gelingt und stellt somit den Ausgangspunkt der vorgelegten Arbeit dar. Denn mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2008 – Deutschland unterzeichnete 2009, Österreich 2008 und die Schweiz 2014 – haben sich die Länder zur Schaffung eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet (vgl. Schuck, Rauer, Prinz, 2018, S. 13). Ferner findet seitdem eine massive Ausweitung der gemeinsamen Unterrichtung von Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf (sUb)2 statt. Um dieser Vielfalt an unterschiedlichen Schüler*innen im nunmehr stattfindenden gemeinsamen Unterricht gerecht zu werden, stellt insbesondere die Kooperation von LaS und LfS eine zentrale Gelingensbedingung dar, wie auch der o.g. Titel verdeutlicht (vgl. HRK & KMK, 2015, S. 3; Idel, Ullrich & Baum, 2012, S. 9; Bischoff, 2011, S. 205). Eine Begründung für den obigen Titel findet sich mit der Aussage von Lütje-Klose und Urban (2014a, S. 113), die betonen, dass diese Vielfalt „[…] nicht von einer Lehrkraft allein umgesetzt werden“ kann. Somit stelle die Zusammenarbeit unter anderem mit Lehrkräften unterschiedlicher Qualifikationen eine Möglichkeit dar, auf die Vielfalt der SchülerInnen professionell einzugehen und somit einer Überforderung der LaS vorzubeugen (vgl. Löser, 2013, S. 109). Damit die Kooperation jedoch gelingen und somit als ein Schlüssel für Inklusion angesehen werden kann, entwickelten Lütje-Klose und ihre Arbeitsgruppen (1999; 2014a, 2014b) in Anlehnung an Reiser (1986) ein Modell zur pädagogischen Kooperation bestehend aus vier Ebenen, welche für das Gelingen von Kooperation für sich sowie in Wechselwirkung von großer Bedeutung sind. In der einschlägigen Literatur finden sich schon seit einigen Jahren Beiträge und Forschungsarbeiten, die sich mit diesem Themenfeld auseinandersetzen (vgl. Lütje-Klose & Neumann, 2018, S. 129f.). Zuletzt veröffentlichten Lütje-Klose und Miller im Jahr 2017 einen Beitrag, welcher einen Überblick anhand exemplarischer Studien aus den Ländern Deutschland, Schweiz und Österreich über die bis dato erforschten Themenkomplexe geben soll (vgl. ebd., S. 205). Bisher liegt nach eigener umfänglicher Recherche kein systematischer Überblick über alle deutschsprachigen Studien ab Ratifizierung der UN-BRK vor, wodurch sich das Forschungsinteresse dieser Arbeit begründet. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, anhand eines Reviews herauszufinden, welche Befunde über zehn Jahren nach Inkrafttreten der UN-Konvention zur intraprofessionellen Kooperation im Kontext von Schule vorliegen.
Um das Forschungsanliegen – hier die Ermittlung der Befunde zur intraprofessionellen Kooperation der letzten zehn Jahre – zu erfüllen, werden einführend im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit (Kap. 2) zunächst zur Einordnung der Notwendigkeit von Kooperation in den zeitlichen Kontext die schulische Inklusion (Kap. 2.1) und anschließend die Kooperation im Bereich Schule dargestellt (Kap. 2.2). In letztgenannten Unterkapitel wird zunächst allgemein geklärt, was unter schulischer Kooperation (Kap. 2.2.1) zu verstehen ist, daraufhin speziell die Kooperation zwischen LaS und LfS (Kap. 2.2.3) dargestellt, ehe das Modell zur pädagogischen Kooperation ausführlich charakterisiert wird (Kap. 2.2.4). Im folgenden Kapitel wird der empirische Forschungsstand (Kap. 3) anhand exemplarischer Studien der letzten 30 Jahre vorgestellt, sodass im darauffolgenden Kapitel ableitende Annahmen formuliert werden können, welche die Forschungsfrage konkretisieren (Kap. 4). Das fünfte Kapitel umfasst die Beschreibung der verwendeten Methode, welche sich viergliedrig vollzieht (Kap. 5.1 ‚Recherchestrategie‘; Kap. 5.2 ‚Studienauswahl‘; Kap. 5.3 ‚Datengewinnung‘; Kap. 5.4 ‚Datenauswertung‘). Daraufhin folgt die Ergebnisdarstellung (Kap. 6) sowie die Ergebnisdiskussion (Kap. 7) jeweils entlang der zuvor formulierten Annahmen. Die Arbeit schließt mit einem Fazit ab, welche die Methodendiskussion (Kap. 8.1), die Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse (Kap. 8.2) sowie einen Ausblick mit anknüpfenden Desiderata (Kap. 8.3) umfasst.
1 Im weiteren Verlauf der Arbeit werden für Lehrkräfte allgemeiner Schule die Abkürzung LaS und für Lehrkräfte für Sonderpädagogik die Abkürzung LfS verwendet.
2 Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf „[…] ist bei Kindern und Jugendlichen anzunehmen, die in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht ausreichend gefördert werden können“ (KMK, 1994, S. 5).
2.1 Inklusion im schulischen Bildungskontext
2.1.1 Entwicklung des deutschen Bildungssystems
Die Entwicklung des Bildungssystems zu einem inklusiven Bildungssystem kann anhand folgender Begriffe, welche als Entwicklungsphasen der Sonderpädagogik angesehen werden, beschrieben werden: Exklusion, Separation, Integration, Inklusion (vgl. Schweiker, 2017, S. 141). Das vielfach rezipierte Modell des schweizer Heilpädagogen Bürli (1997) verdeutlicht diesen Entwicklungsprozess (vgl. Abbildung 1).
Bis etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren in Europa Kinder und Jugendliche mit Behinderung von der schulischen Grundbildung ausgeschlossen. Diese Exklusion (Ausschluss) endete mit den Anfängen des Sonderschulwesens.3 Kennzeichen des Sonderschulwesens ist die Separation (Aussonderung). Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden in separaten nach Förderschwerpunkten eingeteilten Bildungseinrichtungen beschult. „Es herrscht die Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besitzt, dieses sich jedoch in sozialisierten Institutionen und separativen Räumen für weitestgehend homogene Gruppen am besten realisieren lässt“ (Schweiker, 2017, S. 142). Somit wurde der Grundstein für zwei nebeneinander existierende pädagogische Zweige – Regelschule und Sonderschule – geschaffen. Als dritte Epoche ist die Integration zu verzeichnen. Grundgedanke der Integration (Eingliederung) ist, dass vorher getrennte Gruppen wieder zusammengefügt werden.
Abbildung 1: Entwicklungsphasen in der Sonderpädagogik (Bürli, 1997 zitiert nach Thoma & Rehle, 2009, S. 41; von Verfasserin bearbeitet)
Somit wird ein organisatorisches gemeinsames Lernen in nebeneinander existierenden Gruppen ermöglicht. Das heißt, dass behinderte Kinder und Jugendliche von LfS in der Regelschule in „normalen Klassen“ unterrichtet werden können (vgl. Saalfrank & Zierer, 2017, S. 36). Allen drei Phasen gemeinsam ist, dass sie von einem medizinischen Modell der Behinderung ausgehen: „Behinderung wird als ‚körperliche, psychische oder geistige Beeinträchtigung‘ einer Person verstanden, aus der Einschränkungen der gesellschaftlichen Partizipation folgen“ (Eidgenössisches Department des Inneren, o.J., o.S.). Der Begriff der Inklusion (vierte Phase) wurde erstmalig in der Salamanca-Erklärung 1994 verwendet. Inklusion (Einschließen) bedeutet, dass alle SchülerInnen gemeinsam lernen und sich die Struktur den Bedürfnissen der jeweiligen Individuen anpasst (vgl. Saalfrank & Zierer, 2017, S. 36). Somit entstand als Reaktion auf das medizinische Modell das soziale Modell, welches Behinderung als Ergebnis der Gesellschaft betrachtet und somit die Beseitigung physischer und sozialer Barrieren verlangt (vgl. Eidgenössisches Department des Inneren, o.J., o.S.). Somit ist laut Lütje-Klose (2011, S. 9) die Konsequenz des inklusiven Gedankens „[…] der Abschied von der Selektionsfunktion der Schule zugunsten einer vorbehaltlosen individuellen Förderung aller [Hervorhebung v. Verf.] SchülerInnen“. Einen bedeutsamen Paradigmenwechsel für das Bildungssystem stellt jedoch erst das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention dar, indem explizit eine Schule für alle gefordert wird. „Die separierende Beschulung von SchülerInnen mit sUb, wie sie noch 2009 weitgehend üblich war, ist mit den Vorgaben der BRK – und damit mit geltendem Recht – nicht vereinbar“ (Lange, 2017, S. 7). Angesichts dessen ist der Begriff der Inklusion durch die Veröffentlichung der UN-Behindertenrechtskonvention zu einem weltweiten Thema geworden (vgl. Werning, 2014, S. 602).
2.1.2 Begriffsbestimmung: Inklusion
Widererwartend findet sich in diesem Bereich der Pädagogik keine eindeutige Definition für den Terminus Inklusion (vgl. Werning & Avci-Werning, 2016, S. 16) und „es wird häufig nicht das gleiche gemeint, wenn der Begriff ‚Inklusion‘ benutzt wird“ (Löser & Werning, 2015, S. 17).
Infolgedessen kristallisieren sich zwei Pole beim Verständnis inklusiver Bildung heraus: Das enge, behinderungsbezogene Adressatenverständnis (De-Segregation) und das weite, auf „alle“ Diversitätsmerkmale bezogene Adressatenverständnis (Pädagogik der Vielfalt; vgl. insbes. Lindmeier & Lütje-Klose, 2015, S. 7f.; siehe auch Werning & Löser, 2015, S. 12). Ersteres fokussiert sich auf eine Integration von Schüler*innen mit und ohne Behinderung in einen gemeinsamen Unterricht (vgl. Lindmeier & Lütje-Klose, 2015, S. 7) und spiegelt somit das zuvor existierende Integrationsverständnis wider. Letzteres hingegen richtet sich an „Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Heterogenitätsdimensionen“ (Löser & Werning 2015, S.17). In diesem Verständnis herrscht demnach kein hierarchisierender Blick auf die Einzigartigkeit der Schüler*innen und es wird die Teilhabe und das Lernen für alle ermöglicht (vgl. Prengel, 2012, S. 180). Hinz (2015, S. 69) fasst dies wie folgt zusammen: „Inklusion wendet sich der Vielfalt positiv zu, nimmt sie also nicht als wegzuorganisierendes, sondern als produktives Moment wahr – einschließlich aller Konflikte und Spannungen“. Dabei umfasst sie alle Dimensionen von Heterogenität (u.a. Fähigkeiten, Geschlechterrollen, Herkünfte, körperliche Bedingungen), die nun nicht mehr getrennt, sondern in einem Gesamtzusammenhang gebracht werden (ebd.). Inklusiver Unterricht erhebt daher den Anspruch, allen Kindern und Jugendlichen in ihrer Verschiedenheit gerecht zu werden und dies nicht mehr als Problem, sondern als Chance zu begreifen (vgl. Klauß, 2014, S. 11). Es solle demnach ein Perspektivwechsel von einer „Zwei-Gruppen-Theorie“ hin zu einer „Theorie der Heterogenität“ erfolgen (Porter, 1997, zitiert nach Lütje-Klose et al., 2018, S. 18). Angesichts dessen formulieren Werning und Lütje-Klose (2006, S. 134, zitiert nach Benöken, Berlinger & Veber, 2018, S. 6) folgende zentrale Prinzipien für einen inklusiven Unterricht:
„die Individualisierung der Lernangebote für alle Kinder;
die Unterstützung der Lerngruppe beim Aufbau einer solidarischen Kultur;
die kollegiale Kooperation zwischen Regelschullehrkräften und Sonderpädagogen, die ihre je eigenen professionellen Perspektiven in den Unterricht einbringen;
[Hervorhebung v. Verf.]
die Berücksichtigung der außerschulischen Lebenswelt und
die Orientierung an den Fähigkeiten statt an den Defiziten der Schüler.“
Hiermit wird deutlich, dass die Kooperation zwischen LaS und LfS neben vier weiteren Gesichtspunkten als eine zentrale Gelingensbedingung – laut Bischoff (vgl. 2011, S. 205) sogar als die wichtigste Gelingensbedingung – für die Entwicklung von Schule und Unterricht im Zuge der Inklusion gilt (vgl. Idel, Ullrich & Baum, 2012, S. 9). Bevor jedoch näher auf die Kooperation angesichts der Inklusion eingegangen wird, werden zunächst die rechtlichen Grundlagen, auf denen die Umsetzung der Inklusion fußt, erläutert.
2.1.3 Rechtliche Grundlagen
Wie bereits zuvor erwähnt, kann „international […] seit den 1970er-Jahren ein Trend zur integrativen Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen beobachtet werden“ (vgl. Baumann, Henrich & Studer, 2012, S. 3). Als die zwei bedeutendsten Meilensteine in der Integrationsdebatte werden die Erklärung von Salamanca (UNESCO, 1994) und das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention verzeichnet. Während die Salamanca-Erklärung jedoch unverbindlich war und lediglich die Forderung nach einer inklusiven Beschulung aussprach, wurde diese mit der Ratifizierung der UN-BRK für alle Vertragsstaaten letztendlich verpflichtend (vgl. Schädler & Dorrance, 2012, o.S.). Letztgenannte trat vor mehr als zehn Jahren am 03. Mai 2008 – verabschiedet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen – in Kraft (vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, 2018, S. 4). So heißt es in Artikel 24, dass
„(1) die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung [anerkennen]. Um dieses Recht […] zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslangen Lernen […].
(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.
[…]
e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen [Hervorhebung v. Verf.] in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.
[…] (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2018, S. 21)“
Im Zuge dessen ist ein inklusiver Unterricht mittlerweile in Deutschland (2009), Österreich (2008) und der Schweiz (2014) verpflichtend, woraufhin die Länder ab dato die notwendigen personellen und sächlichen Voraussetzungen schaffen müssen (vgl. Werning & Avci-Werning, 2016, S. 18). Einheitliche Regelungen zur Umsetzung inklusiver Schulen vonseiten der UN-BRK werden nicht vorgeschrieben – die Umsetzung ist jedem Staat selbst überlassen. Allerdings ist eine regelmäßige Berichterstattung der Staaten sowie ein Monitoring der Umsetzung vorgeschrieben (vgl. ebd., S. 18). Der aktuelle Stand der Umsetzung in den Ländern wird im folgenden Unterkapitel sowohl quantitativ als auch qualitativ dargestellt.
2.1.4 Stand der Umsetzung in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Umsetzung: Quantitativer Überblick
Wie Abbildung 2 veranschaulicht, ist der Inklusionsanteil, d.h. der Anteil an Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung an allgemeinen Schulen, in allen drei Ländern innerhalb von drei Jahren angestiegen. Demgemäß zeigt die Forderung der UN-BRK Wirkung, sodass der Anteil an Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung an Förderschulen demzufolge abnahm. Ausnahme bleibt das Land Österreich. Hier bestand bereits 2013/2014 ein im Vergleich zu den anderen Ländern hoher Inklusionsanteil von 60%, der jedoch lediglich um einen Prozentpunkt anstieg.4
Abbildung 2: Inklusions- und Exklusionsteile5 der Länder Deutschland, Österreich und Schweiz (eigene Grafik; vgl. Dienststelle Volksschulbildung, 2017, S. 5; Autorengruppe Berichterstattung, 2018, S. 105; Sekretariat der KMK, 2018, S. 5; Oberwimmer et al., 2018, S. 163; Bruneforth et al., 2015, S. 95)
Anmerkungen: * in der Literatur sind keine Inklusions- und Exklusionsquote der gesamten Schweiz zu finden, daher werden exemplarisch die Inklusions- und Exklusionsanteile des Kantons Luzern dargestellt.
Folgt man dem Modell der Entwicklungsphasen nach Bürli (vgl. Kap. 2.1.1), so5müssten sich die Länder mittlerweile auf der Stufe der vollständigen Inklusion befinden. Blickt man jedoch auf die Inklusions- und Exklusionsanteile aller drei Länder, fällt auf, dass immer noch ein beträchtlicher Anteil an SchülerInnen mit sUb in Förderschulen unterrichtet werden (siehe Abbildung 2). Ein vollständiger Übergang von der Separationsphase zur Integrations- oder Inklusionsphase ist demnach noch nicht erkennbar (vgl. Schweiker, 2017, S. 144).
Umsetzung: qualitativer Überblick
Wie die Umsetzung in den Ländern nun konkret aussieht, lässt sich nicht verallgemeinerbar darstellen. Aufgrund der Kultushoheit der Bundesländer in Deutschland und Österreich obliegt dies den einzelnen Bundesländern, sodass eine Vergleichbarkeit nicht durchgängig gewähreistet ist und unterschiedliche rechtliche Verankerungen von Inklusion vorliegen (vgl. Autorengruppe Berichterstattung, 2018, S. 104; Buchner & Gebhardt, 2011, S. 299). Auch in der Schweiz wird die konkrete Ausgestaltung der sonderpädagogischen Angebote und Maßnahmen kantonal geregelt (vgl. SKBF, 2018, S. 2). Somit liegt in allen Ländern eine Vielfalt schulischer Organisationsformen vor, die von einer Einzelintegration über Schwerpunktschulen bis hin zu kooperativen und integrativen Modellen reichen (vgl. Autorengruppe Berichterstattung, 2018, S. 103). Tabelle 1 veranschaulicht für Deutschland6 exemplarisch anhand einiger Bundesländer (Freistaat, Stadtstaat, ostdeutsch) die Umsetzung der Inklusion und – soweit möglich – den Einsatz der LfS in den jeweiligen Modellen.
Tabelle 1: Überblick inklusiver Modelle in Deutschland (eigene Darstellung)
Land
Modell
Kurzbeschreibung
Deutschland
Bayern
Kooperationsklassen
In diesem Modell werden alle Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam unterrichtet. „Dabei erfolgt eine stundenweise Unterstützung durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste“ (BayEUG Art 30a, 7.1).
Partnerklasse
„Partnerklassen der Förderschule oder der allgemeinen Schule kooperieren mit einer Partnerklasse der jeweils anderen Schulart. Formen des gemeinsamen, regelmäßig lernzieldifferenten Unterrichts sind darin enthalten. Gleiches gilt für Partnerklassen verschiedener Förderschularten“ (BayEUG Art 30a, 7.2).
Offene Klasse der Förderschule
„In offenen Klassen der Förderschule, in denen auf der Grundlage der Lehrpläne der allgemeinen Schule unterrichtet wird, können Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet werden“ (BayEUG Art 30a, 7.3).
Einzelintegration
„Einzelne Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die die allgemeine Schule […] besuchen, werden unter Beachtung ihres Förderbedarfs unterrichtet. Sie werden nach Maßgabe der Art. 19 und 21 durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste unterstützt“ (BayEUG, Art. 30b, 2).
Schulen mit dem Profil „Inklusion“
„In Schulen mit dem Schulprofil ‚Inklusion‘ werden Lehrkräfte der Förderschule in das Kollegium der allgemeinen Schule eingebunden […]“.
Klassen mit festem Lehrertandem
„Die Lehrkräfte der allgemeinen Schule gestalten in Abstimmung mit den Lehrkräften für Sonderpädagogik und gegebenenfalls weiteren Fachkräften die Formen des gemeinsamen Lernens. Die Lehrkräfte für Sonderpädagogik beraten die Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler sowie die Erziehungsberechtigten und diagnostizieren den sonderpädagogischen Förderbedarf. Sie fördern Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und unterrichten in Klassen mit Schülerinnen und Schülern ohne und mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ (BayEUG, Art. 30b, 4). „Für Schülerinnen und Schüler mit sehr hohem sonderpädagogischen Förderbedarf können in Schulen mit dem Schulprofil ‚Inklusion‘ Klassen gebildet werden, in denen sie im gemeinsamen Unterricht durch eine Lehrkraft der allgemeinen Schule und eine Lehrkraft für Sonderpädagogik unterrichtet werden“ (BayEUG, Art. 30b, 5; Bayrische Staatskanzlei, o.D, o.S.).
Bremen
Zentrum für unterstützende Pädagogik (ZuP)
Die sonderpädagogischen Ressourcen werden durch die Einrichtung von Zentren für unterstützende Pädagogik (ZuP) in die allgemeine Schule verlagert. Sie bestehen aus einem Kompetenzpool verschiedener Professionen, welche die Schule bei der inklusiven Unterrichtung unterstützen (BremSchulG, §22; vgl. Die Senatorin für Bildung und Wirtschaft, 2019, S. 15). Die unterstützende Pädagogik wird gewährleistet u.a. durch: - Zeitweise Doppelbesetzung im Unterricht - Förderdiagnostik und Förderplanung - Individuelle Hilfen - Beratung und Unterstützung in allen Fragen der sonderpädagogischen und weiterer unterstützender pädagogischer Förderung - Planung, Durchführung, Evaluation gemeinsamen Unterrichts (vgl. Senatorin für Kinder und Bildung, o.J., o.S.). Umfang der sonderpädagogischen personellen Ressourcen: „Insgesamt wird eine auf den Altersjahrgang bezogene Gesamtquote von 6,5% […] und ein Durchschnittsstundenanteil pro Kind von 2,9 h festgelegt, bis 2015/16 auf 3,7 h […] aufwachsend festgelegt“ (Die Senatorin für Bildung und Wirtschaft, 2010, S. 52).
Sachsen-Anhalt
Gemeinsamer Unterricht
Die gemeinsame Unterrichtung von Schüler*innen mit und ohne sUb an der Regelschule durch LaS und LfS. Die Zuweisung von LfS zum gemeinsamen Unterricht erfolgt einem schülerbezogenen Faktor, d.h. Zuweisung einer bestimmten Anzahl an Stunden für einen festgestellten Förderbedarf (vgl. Kultusministerium Sachsen-Anhalt, o.J., S. 14). - LfS, die den gemeinsamen Unterricht unterstützen, haben u.a. folgende Aufgaben - Teamarbeit im Unterricht durch Mehrpädagogensystem, - Vor- und Nachbereitung des Unterrichts gemeinsam mit den Grundschullehrkräften, - gemeinsames Erarbeiten und Fortschreiben des Förderplanes. - Beratung und Unterstützung in der Elternarbeit (ebd., S. 14f).
Kooperationsklassen
„Kooperationsklassen sind Klassen, in denen ausschließlich Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf lernen. Diese Klassen sind einer Förderschule zugeordnet, jedoch organisatorisch am Standort einer Grund- oder Sekundarschule eingerichtet“ (ebd., S. 16).