Die unbekannte Tochter - Patricia Vandenberg - E-Book

Die unbekannte Tochter E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. »Wo bin ich?« Felicitas Norden lag im Bett der Intensivstation und blinzelte in das helle Licht des noch jungen Morgens. Es dauerte einen Moment, bis sich der Nebelschleier lichtete und sie klar sehen konnte. »Was ist passiert?« Ihr fragender Blick ruhte auf dem Infusionsschlauch, der in der Kanüle endete, die in der Vene an ihrem Handrücken steckte. In Gedanken versunken hatte Dr. Daniel Norden am Bett seiner Frau gesessen. Als er ihre heisere Stimme hörte, zuckte er zusammen. Fast sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Es waren Tränen unermesslicher Erleichterung, unaussprechlichen Glücks. Er sprang vom Stuhl auf und beugte sich über seine Frau. »Feelein, mein Engel, endlich!«, raunte er ihr zu und küsste sanft ihre Wange. »Wie … wie meinst du das?« Ihr verwirrter Blick streifte sein Gesicht. Dabei bemerkte sie die Ernährungssonde, die in ihre Nase führte. »Warum das?« Mühsam versuchte Daniel, sich zu beherrschen. Von Fees Einlieferung in die Klinik vor ein paar Tagen bis zur Diagnosestellung waren viele kostbare Stunden vergangen. Nur durch Zufall hatte sich herausgestellt, dass die Ärztin an einer seltenen lebensbedrohlichen Krankheit mit Namen Steven-Jacobs-Syndrom litt, für die nur zwei Behandlungsformen in Betracht kamen.

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Dr. Norden Bestseller – Neue Edition – 42 –

Die unbekannte Tochter

Wer mag der Vater sein?

Patricia Vandenberg

»Wo bin ich?« Felicitas Norden lag im Bett der Intensivstation und blinzelte in das helle Licht des noch jungen Morgens. Es dauerte einen Moment, bis sich der Nebelschleier lichtete und sie klar sehen konnte. »Was ist passiert?« Ihr fragender Blick ruhte auf dem Infusionsschlauch, der in der Kanüle endete, die in der Vene an ihrem Handrücken steckte.

In Gedanken versunken hatte Dr. Daniel Norden am Bett seiner Frau gesessen. Als er ihre heisere Stimme hörte, zuckte er zusammen. Fast sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Es waren Tränen unermesslicher Erleichterung, unaussprechlichen Glücks. Er sprang vom Stuhl auf und beugte sich über seine Frau.

»Feelein, mein Engel, endlich!«, raunte er ihr zu und küsste sanft ihre Wange.

»Wie … wie meinst du das?« Ihr verwirrter Blick streifte sein Gesicht. Dabei bemerkte sie die Ernährungssonde, die in ihre Nase führte. »Warum das?«

Mühsam versuchte Daniel, sich zu beherrschen. Von Fees Einlieferung in die Klinik vor ein paar Tagen bis zur Diagnosestellung waren viele kostbare Stunden vergangen. Nur durch Zufall hatte sich herausgestellt, dass die Ärztin an einer seltenen lebensbedrohlichen Krankheit mit Namen Steven-Jacobs-Syndrom litt, für die nur zwei Behandlungsformen in Betracht kamen. Daniel hatte sich entscheiden müssen und seitdem bange Stunden am Bett seiner todkranken Frau verbracht. Ihr Erwachen war der Beweis, dass er die richtige Therapie gewählt hatte. Trotzdem rann eine einzelne Träne über seine Wange und tropfte von seinem Kinn auf die Bettdecke.

»Du warst drei Tage lang bewusstlos.« Um sie nicht zu beunruhigen, fuhr er sich schnell mit dem Ärmel über die Augen. »Zwischendurch war es so schlimm, dass du beatmet werden musstest. Der Tubus konnte erst gestern Abend wieder entfernt werden. Deshalb ist deine Stimme so rau.«

Verwunderung machte sich auf Fees Gesicht breit.

»Warum?«, wiederholte sie ihre Frage mit Blick auf die Nahrungssonde.

Die vielen Blasen auf ihrer Mundschleimhaut schmerzten und machten ihr das Sprechen zusätzlich schwer. Doch noch war ihr Geist nicht so klar, dass sie einen Zusammenhang feststellen konnte.

»Du leidest an einer sehr seltenen Krankheit. Sie ist für die Blasen auf deiner Mundschleimhaut verantwortlich. Dabei hast du noch Glück im Unglück gehabt. Bei anderen Kranken breiten sich diese Blasen auf dem ganzen Körper aus.« In Gedanken schickte Daniel einen Dank gen Himmel. Die Bilder, die er im Internet gesehen hatte, hatten ihn frösteln lassen, und schnell konzentrierte er sich wieder auf seine Frau. »Bis diese Blessuren halbwegs verheilt sind, kannst du weder essen noch trinken.« Daniel griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. »Aber jetzt wird alles gut«, versprach er feierlich. Seine Stimme war warm und voller Überzeugung, sodass Felicitas mit dieser Erklärung zufrieden war. Sie war ohnehin so erschöpft, dass ihre Augenlider schon wieder flatterten. Ein unsichtbares Gewicht zerrte an ihrem Bewusstsein und wollte sie wieder mit sich in die Tiefe nehmen.

»Ich bin so müde«, murmelte sie, und Daniel lächelte.

»Dann schlaf dich gesund, mein Liebling. Ich fahre inzwischen in die Praxis, um zu sehen, ob Danny Arbeit für mich hat. In der Mittagspause bin ich wieder bei dir.«

Fee hatte die Augen schon wieder geschlossen. Einen Moment lang dachte Daniel, dass sie seine Worte schon nicht mehr gehört hatte. Das Lächeln, das über ihre gesprungenen Lippen huschte, und ihr vages Nicken belehrten ihn aber eines Besseren, und beschwingt verließ er schließlich die Klinik, um seine Worte in die Tat umzusetzen.

*

»Hier, probier mal das hier!« Die Bäckerin Hilde Bärwald stand in der Backstube, die im hinteren Teil des Gebäudes lag, und hielt ihrem Lehrling Tatjana Bohde ein Rosinenbrötchen hin.

Danny Nordens sehbehinderte Freundin tat, wie ihr geheißen, und nahm ihrer Chefin das Gebäck aus der Hand. Schon beim ersten Bissen seufzte sie zufrieden. Sie schloss genießerisch die Augen und lächelte glücklich. Außen goldbraun und knusprig, war das Brötchen innen saftig und nicht zu süß, mit genügend Rosinen im saftigen Hefeteig, die das Gebäck erst perfekt machten.

»Ist das nicht verrückt? Schon diese kleine Vollkommenheit lässt mich glauben, dass alles wieder gut wird«, schwärmte Tatjana versonnen, während sie das Brötchen unter die Nase hielt und den süß-säuerlichen Duft tief einatmete.

Hilde Bärwald lächelte zufrieden.

»Mal abgesehen davon, dass man niemals die Hoffnung verlieren darf, freut es mich, dass du mit meiner Arbeit zufrieden bist«, bemerkte sie schelmisch und zwinkerte Tatjana zu. Sie wusste, wie sehr die junge Frau mit Dannys Mutter Fee litt und wie sehr sie sich um ihre selbstgewählte Ersatzmama sorgte.

»Mehr als das!«, sagte Tatjana in ihre Gedanken hinein. Obwohl sie nach einer Operation wieder einen Teil ihres Sehvermögens zurück erhalten hatte, reichte ihr Augenlicht nicht aus, um Feinheiten im Gesicht eines anderen Menschen zu erkennen. Doch die jahrlange Blindheit hatten ihre anderen Sinne auf erstaunliche, fast magische Art und Weise geschärft, sodass sie das Zwinkern am Tonfall ihrer Chefin erkannt hatte. »Ihr Gebäck ist einzigartig. Ich hab ja auch schon allerhand ausprobiert. Aber so wie Sie krieg ich das nicht hin. Manchmal habe ich Zweifel, ob ich das jemals lernen werde.«

»Keine Angst. Das ist keine Hexerei!«, versprach Hilde Bärwald. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich mein Geheimnis bisher niemandem verraten habe.«

»Sie können mir vertrauen«, versprach Tatjana feierlich, sich der Ehre wohlbewusst, die ihr zuteil wurde.

»Das weiß ich.« Der zufriedene Blick der Bäckerin ruhte auf ihrer Auszubildenden.

Als Studentin hatte Tatjana schon bei ihr gearbeitet, um sich neben dem Studium etwas dazuzuverdienen. Dabei hatte Tatjana ihre Leidenschaft für diesen Beruf entdeckt. Nach erfolgreichem Abschluss hatte sie deshalb Frau Bärwalds Angebot angenommen und eine Ausbildung begonnen. Danach sollte sie das Geschäft mit dem angeschlossenen kleinen Café übernehmen.

»Eigentlich ist es ganz einfach«, beantwortete Hilde Tatjanas Frage ehrlich und wandte sich dem Ofen zu, in dem ein weiteres Blech perfekter Rosinenbrötchen darauf wartete, herausgeholt zu werden. Ein köstlicher Duft durchflutete die Backstube, als sie die Ofentür öffnete und mit den behandschuhten Händen beherzt hineingriff. »In diesen Zeiten haben die Menschen lediglich vergessen, dass es manche Dinge gibt, die sich nicht automatisieren lassen. Die Zubereitung eines guten Teigs gehört zweifelsfrei dazu.«

»Verraten Sie mir Ihr Geheimnis?«, fragte Tatjana, froh, wenigstens für eine Weile von ihren drängenden Sorgen abgelenkt zu sein.

Während Hilde Bärwald die Rosinenbrötchen zum Auskühlen auf einem Gitter verteilte, lächelte sie verschmitzt.

»Es geht darum, den Hefeteig mit der Hand kneten. Nur so fühlt man den Augenblick, in dem er zum Leben erwacht, wann er bereit ist, aufzugehen und zu wachsen.« Lässig zuckte sie mit den Schultern. »Das ist eigentlich schon das ganze Geheimnis. Fast langweilig einfach, findest du nicht?«

Mit wachsendem Erstaunen hatte Tatjana dieser Erklärung gelauscht.

»Das ist wirklich alles?«, fragte sie ungläubig. »Und ich dachte, Sie benutzen so selten moderne elektrische Geräte, weil Sie Angst davor haben.«

Einen Moment lang stand Hildes Mund offen vor Staunen. Dann brach sie in herzhaftes Lachen aus.

»Ich mag zwar alt sein, aber ängstlich bin ich deshalb noch lange nicht. Sonst hätte ich es damals nicht gewagt, das Geschäft nach dem Tod meines Mannes zu übernehmen und …«, setzte sie zu einer wortreichen Erklärung an, als das Telefon in der Backstube klingelte.

Es handelte sich um einen dieser altmodischen Apparate, die an der Wand hingen. Frau Bärwald blickte zuerst ratlos auf ihre teigverkrusteten Hände und dann hinüber zum Telefon Apparat.

»Ich geh schon.« Wie so oft erahnte Tatjana das Problem mehr, als dass sie es sehen konnte, und versetzte ihre Umwelt mit dieser Sensibilität ein weiteres Mal in grenzenloses Erstaunen.

»Woher weißt du …?«, wollte die Bäckerin fragen, als sich Tatjana auch schon meldete.

»Bäckerei Bärwald, Sie sprechen mit Tatjana, was kann ich für Sie tun?«, hallte ihre stets freundliche Stimme durch die Backstube.

»Jana, gut, dass du dran bist. Ich bin’s!« Es war ihr Freund Danny. Und er war unverkennbar aufgeregt.

Vor Schreck setzte Tatjanas Herzschlag einen Moment lang aus. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass schon etwas Besonderes passieren musste, damit sich ihr Freund derart aus der Ruhe bringen ließ. Natürlich galt ihr erster Gedanke Felicitas.

»Stimmt was nicht mit Fee?«, fragte sie atemlos. »Ist ihr was passiert?«

Zu ihrer großen Erleichterung lachte Danny.

»Na, das nenne ich mal eine freundliche Begrüßung. Aber gut, ich will mal nicht so sein und großzügig über dieses Manko hinwegsehen. Mum ist vorhin aufgewacht«, teilte er die umwerfenden Neuigkeiten bereitwillig mit seiner Freundin.

Von ihrem Arbeitsplatz aus konnte Hilde Bärwald sehen, wie Tatjanas Miene wie ein Geburtstagskuchen erstrahlte.

»O Mann, Danny, warum hast du das nicht gleich gesagt?«, tadelte sie ihren Freund.

»Aber das hab ich doch!«, verteidigte sich der junge Arzt gut gelaunt.

Fees plötzlicher Zusammenbruch und ihre mysteriöse Erkrankung hatten die ganze Familie in tiefe Agonie gestürzt. Schlagartig war alles Lachen, jede Fröhlichkeit aus dem Hause Norden gewichen. Wie ein dunkles Tuch hatte sich die Angst auf die Gemüter aller Familienmitglieder gelegt. Die Nachricht, dass sich Felicitas‘ Zustand endlich besserte, erhellte den düsteren Himmel wie ein Leuchtfeuer. »Bevor Dad in die Praxis gekommen ist, war er in der Klinik«, fuhr Danny schnell fort. »Mum ist kurz aufgewacht und hat ein paar Worte mit ihm gesprochen. Ganz offensichtlich ist sie auf dem Weg der Besserung.«

»O Danny, das ist die schönste Nachricht, die ich seit langem bekommen habe.« Plötzlich wurden Tatjanas Knie weich. Sie lehnte sich gegen die Wand und drückte die heiße Wange gegen die kühle Kachel. »Ich fahre in die Klinik, sobald mir Frau Bärwald erklärt hat, wie ich einen Hefeteig zum Leben erwecke.«

»Klingt eher nach einer Lehrstunde in Hexerei denn nach einer Bäckerlehre«, machte Danny keinen Hehl aus seiner Belustigung. »Früher wärst du für so eine Bemerkung ohne viel Federlesen, auf dem Scheiterhaufen gelandet.«

»Tja, glücklicherweise passiert das heute nur den Rosinenbrötchen«, fand Tatjana zu ihrer alten Schlagfertigkeit zurück und legte nach kurzem Abschied auf.

Als sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, war sie wie ausgewechselt.

»Endlich erkenne ich dich wieder!«, nickte Hilde Bärwald zufrieden und warf eine Handvoll Teig so schwungvoll vor Tatjana auf die Arbeitsplatte, dass es klatschte. Eine Mehlwolke wirbelte auf und bedeckte nicht nur Tatjana mit einer feinen Staubschicht.

»Macht es einen Unterschied für meine Arbeit, ob ich fröhlich und gut gelaunt bin oder mich wie ein ausgewrungener Waschlappen fühle?«, fragte sie frech. Sie schüttelte sich wie ein Hund und griff nach dem Teigstück, um es kräftig zu kneten.

Frau Bärwald lachte.

»Das will ich wohl meinen«, gab sie zurück. »Dann fang mal an zu kneten.«

»Eine meiner leichtesten Übungen.« Beherzt griff Tatjana zu und walkte die Teigkugel mit aller Kraft.

Frau Bärwald stand neben ihr und beobachtete sie schweigend. Als die junge Frau innehielt, spürte sie instinktiv, dass sich ihre Lehrerin nur mit Mühe ein Lachen verkneifen konnte.

»Du musst noch lange, lange üben. Setz dich nicht so unter Druck. Das wird schon«, versprach sie, ehe sie sich in ihre Arbeit vertiefte und Tatjana in die hohe Kunst des richtigen Teigknetens einwies.

*

Wie jeden Vormittag saß Janine Merck auch an diesem Tag an ihrem Schreibtisch in der Praxis Dr. Norden und sortierte die Post.

»Sturmschäden höher als erwartet!«, las sie die Schlagzeile vor, die das Titelblatt der Tageszeitung zierte. Das Foto einer zerstörten Häuserzeile untermalte die Worte wirkungsvoll. »Das wundert mich nicht, so schlimm, wie es überall ausgesehen hat.« Zu gut erinnerte sie sich an die Bilder von umgestürzten Bäumen und abgedeckten Hausdächern. Auch die Praxis war nicht ungeschoren davon gekommen, und ein Dachdecker hatte helfen müssen, um die geborstenen Dachpfannen auszutauschen und das Dach wieder abzudichten.

Janines Kollegin Wendy, die das Glas mit den zuckerfreien Bonbons aufgefüllt hatte, zerknüllte die leere Plastikpackung und warf sie in den Müll.

»Es kommen immer noch Leute in die Praxis, die bei dem Sturm verletzt wurden, ihre Häuser oder Wohnungen aber nicht verlassen konnten, um sich behandeln zu lassen«, erinnerte sie sich an die Anrufe des vergangenen Tages. »Eine davon ist übrigens unsere liebe Frau Unterholzner …« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Praxistür.

Schnell faltete Janine die Zeitung zusammen und legte sie auf den Stapel zu den anderen Zeitschriften.

»Wenn man vom Teufel spricht«, raunte sie Wendy noch zu. Dann setzte sie ein freundliches Lächeln auf, um die berüchtigte Patientin zu begrüßen. »Da sind Sie ja schon, Frau Unterholzner!«

»Wo sollte ich denn sonst sein?«, knurrte Else übellaunig und humpelte zum Tresen. Dabei verzog sie demonstrativ das sorgfältig geschminkte Gesicht. »Mit diesem Klumpfuß kann ich ja schlecht über einen Laufsteg flanieren.«

Janine schickte ihrer Kollegin einen schnellen Blick, der Bände sprach. Gleichzeitig stand sie auf.

»Keine Angst. Einer unserer Ärzte wird sich Ihren Fuß so schnell wie möglich ansehen. Mit Sicherheit sind Sie bald wieder einsatzfähig.« Aus einer von Elses stolzen Erzählungen wusste die ehemalige Krankenschwester von der späten Modelkarriere der Seniorin.

Sie posierte für Kataloge und Modemagazine und lief hin und wieder bei speziellen Modeschauen für ältere, modebewusste Herrschaften. Leider schien ihr der Erfolg zu Kopf gestiegen zu sein, und sie hatte den beiden Assistentinnen mit ihren speziellen Wünschen und ihrer unfreundlichen, überheblichen Art das Leben schon das eine oder andere Mal schwer gemacht.

Im Augenblick war Elses Miene allerdings so verkniffen, dass sie weit entfernt von der gut aussehenden Mittsechzigerin war, die ihre Bewunderer aus den Heften und Katalogen anlächelte.

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Nächsten Monat hab ich einen großen Auftrag. Den kann ich unmöglich absagen«, schimpfte sie schlecht gelaunt weiter, während Janine ihr den Arm reichte und sie auf dem Weg ins Wartezimmer stützte. »Die Silver Ager sind eine nicht zu unterschätzende Wirtschaftsmacht. Anders als die Generationen vor ihnen stehen sie noch mitten im Leben und interessieren sich …« Mitten im Satz hielt sie inne und schnappte hörbar nach Luft.