Die unsichtbaren Söhne Europas - Abdullah Bayram - E-Book

Die unsichtbaren Söhne Europas E-Book

Abdullah Bayram

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten leben Menschen verschiedener Kulturen und Religionen zusammen auf europäischem Boden. Wie viel wissen wir voneinander und wie geht es mit uns weiter? Wie gestalten wir unsere gemeinsame Zukunft? Das sind die zentralen Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten und mit diesem Buch ermöglicht uns der Autor einen Perspektivenwechsel. Empathie ist der Schlüssel für eine bessere Zukunft und bietet den Boden, auf dem Gemeinschaft gedeihen kann.

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Seitenzahl: 104

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Vorwort

Das fremde Kind

Heimatliebe 2.0

Mit dem Alter kommt die Reife

Morgen beginnt schon heute

Gemeinsam einsam

Im Namen Gottes

Armageddon Europa…

Ein Reset für die Seele

Basis Familie

Mein Freund, der Lehrer…

Ärger im Paradies…

Endstation Schicksal (Schlusswort)…

Zeilen der Vernunft (Zitate von A. Bayram)

Die unsichtbaren Söhne Europas

Vergessen zwischen zwei Welten

Liebe Leser, zunächst möchte ich mich für euer Interesse an diesem Buch bedanken. Es gab viele Gründe für mich, meine Gedanken und Erfahrungen mit euch zu teilen, vor allem aber wollte ich meinen Beitrag leisten. Mit diesem Buch werden sich manche von euch identifizieren können, einige von euch werden die Gelegenheit bekommen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, und vielleicht wird es sogar Leser geben, die hier eine Inspiration oder Motivation finden, um gewisse Dinge im Leben zu ändern.

Es sind aufregende Zeiten, alles um uns herum verändert sich rasend schnell und wir werden technologisch, politisch wie auch sozial vor eine große Herausforderung gestellt.

Die Frage, die sich hier herauskristallisiert, ist, wie wir mit diesen Herausforderungen umgehen. Werden wir uns immer mehr in kleinere Gruppen aufteilen und uns gegenseitig die Verantwortung zuschieben oder werden wir gemeinsam als Menschheitsfamilie uns der Sache annehmen?

Rassismus, Terrorismus und Migration sind sicherlich einige der großen Hürden, die wir gemeinsam überwinden müssen.

Die beste Möglichkeit, Probleme zu lösen, ist, eine präzise Ursachenforschung zu betreiben. Dazu müssen wir manchmal bereit sein, unsere Komfortzone zu verlassen und uns der ungemütlichen Wahrheit zu stellen.

Wir werden wichtige und sehr interessante Themen ansprechen und uns Gedanken darüber machen, wie wir unsere Gesellschaft zu einer besseren machen können. Erst wenn wir in der Lage sind, uns für einen kurzen Augenblick in die Situation anderer zu versetzen, können wir vielleicht verstehen, warum sich Menschen so verhalten wie sie es eben tun.

Die Geschehnisse mal aus einer anderen Perspektive betrachten. Ja, ich denke, das ist das, was wir brauchen, Empathie!

Es ist nicht immer einfach, den Überblick zu behalten, gerade in Zeiten wie diesen.

Eine riesige Informationsflut rast täglich auf uns zu, eine Lawine aus Propaganda, Hetze und Fake News überrollt uns fast stündlich und begräbt unsere freien Gedanken. Noch nie war es so schwer, eine eigene Meinung zu bilden, noch nie so schwer, neutrale Gedanken zu fassen, und noch nie so schwer, objektive Entscheidungen zu treffen.

Wir müssen aufwachen, wieder aufstehen und dürfen uns nicht länger vom gegenseitigen Hass und Misstrauen kontrollieren lassen. Die Menschen sollten wieder öfter miteinander reden, mehr aufeinander zugehen und sich hin und wieder für die Probleme anderer interessieren. Das Leben ist schön, zu schön, um es mit Vorurteilen und gegenseitiger Respektlosigkeit zu vergiften. Wenn in den sozialen Netzwerken wieder Kriegsstimmung herrscht und alle aufeinander einprügeln, flüchte ich mich gerne in meine Kindheit zurück.

In eine Kindheit, die wunderschön war, in eine Kindheit, in der man noch Kind sein durfte. In eine Zeit, in der man kaum mitbekommen hat, wenn mal auf der Welt nicht alles glatt lief. Meine Kindheit - genau da fangen wir am besten an und versuchen, die Welt, Deutschland und Stuttgart aus der Perspektive eines kleinen türkischen Jungen zu sehen. Eines Jungen, der zum Mann wurde, eines Mannes, der zum Vater wurde und eines Vaters, der versucht, seinen Kindern eine friedliche Welt zu hinterlassen.

Genau darum geht es in diesem Buch. Es geht um den Versuch, die Welt um uns herum zu verändern. Geschichten und Erfahrungen, ungefiltert und wahr, aus dem echten Leben mit echten Menschen.

Mindestens genau so echt wie die schmerzhaften Erlebnisse und wunderschönen Erfahrungen, die ich hier mit euch teilen werde.

Legen wir los! Im Namen aller, die es satthaben, in einer Welt voller Verachtung zu leben, in einer Welt, die nur in schwarz und weiß aufgeteilt ist, und im Namen derer, die wieder hoffen möchten.

Das fremde Kind

Meine Eltern lebten in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Bayburt in Ost-Anatolien.

Die Geschichte meiner Eltern könnte direkt aus einem Drehbuch stammen.

Meine Mutter, die Tochter einer der wohlhabenden Familien im Dorf, und mein Vater, der in Armut lebende Junge, der ohne Vater aufwuchs. Doch das Schicksal meinte es gut mit meinen Eltern.

Während mein Vater auf dem Hof seines Vaters arbeitete, begegnete er meiner Mutter.

Trotz aller Hürden wurde aus dieser Begegnung eine über 65 Jahre anhaltende Ehe. Niemand hielt es für möglich, dass ein Mädchen aus so wohlhabenden Verhältnissen sich bereitwillig der Armut stellen würde.

Manchmal kann die Liebe stärker sein als finanzielle Bedenken und manchmal sind finanzielle Bedenken der Grund, weshalb man nie die richtige Liebe findet. Ich finde es sehr schade, dass in den meisten Diskussionsrunden über Gastarbeiter versucht wurde, vieles in Zahlen darzustellen. Richtig wäre es gewesen, über die Menschen und ihre Geschichten zu sprechen. Nicht nur von Arbeitskräften, sondern von Familien, Schicksalen, Träumen und Hoffnungen. Vielleicht hätten wir es dann geschafft jedem zu verdeutlichen, dass es hier um Menschen geht und nicht um Zahlen.

Mein Vater arbeitete hart und meine Mutter war eine Meisterin im Wirtschaften. Schnell ließen sie die Armut hinter sich und bauten sich ihre eigene kleine Welt auf. Eine sehr bescheidene, aber glückliche Welt. Sechs Kinder brachte meine Mutter zur Welt und mein Vater arbeitete vorwiegend auswärts, in den Großstädten, meist auf dem Bau, und wurde mit der Zeit ein sehr guter Handwerker.

Dann kam die Zeit der Gastarbeiter.

Deutschland und die Türkei unterzeichneten einen Vertrag, der die Zuwanderung türkischer Arbeitskräfte nach Deutschland regelte.

Es ist sehr schwer nachzuempfinden, wie sich jemand fühlen muss, der seine Familie zurücklässt, um ihr eine bessere Zukunft bieten zu können. Eine Reise, die ins Ungewisse führt, in einem fremden Land, in eine fremde Kultur. Ohne einen konkreten Plan, nur mit der Gewissheit, dass es von kurzer Dauer sein würde und mit einem Hauch von Hoffnung auf eine schönere Zukunft.

Der Gedanke, seine Ehefrau und Kinder für mehrere Monate oder gar Jahre nicht zu sehen, wäre für uns nicht vorstellbar.

Aber die Armut in Kombination mit der Hoffnung auf eine Verbesserung kann manchmal Menschen Unglaubliches tun lassen. In Deutschland angekommen, wurden aus Wochen Monate und aus Monaten Jahre.

Irgendwann wurde den Menschen klar, dass dieser Aufenthalt nicht wie geplant von kurzer Dauer sein würde.

Die Sehnsucht der Familien war nicht mehr zu ertragen, die Kinder sahen ihre Väter nur einmal im Jahr und das für nur wenige Wochen. Und die Ehefrauen warteten sehnsüchtig auf die Briefe ihrer Männer, um sie wieder und wieder lesen zu können. Also begannen die ersten, ihre Familien nachzuholen, und läuteten damit eine neue Ära ein; aus Gastarbeitern wurden Gastarbeiter-Familien.

Auf diese Situation waren weder die Gastarbeiter noch die deutsche Gesellschaft vorbereitet. Die Entwicklung nahm ihren Lauf und alle versuchten, das Beste daraus zu machen.

Stuttgart entwickelte sich über die Jahre von einer fremden Stadt in einem fremden Land immer mehr zu unserer Heimat. 1981 kam ich in Stuttgart-West auf die Welt. Ich war der Erste aus meiner Familie, der auf deutschem Boden geboren wurde. Nun stand es außer Frage, ob wir in Stuttgart wirklich zu Hause sind. Die Weinberge, die Königstraße und der Daimlerstern waren für uns keine Bilder auf irgendwelchen Postkarten mehr, sondern das vertraute Bild, das uns täglich an unser Zuhause erinnerte.

An meine Kindheit erinnere ich mich gerne zurück, es war eine schöne Zeit. Die Liebe und Zuneigung meiner Familie konnte ich förmlich spüren. Es fehlte mir an nichts.

Ich hatte Menschen um mich herum, die mich liebten und immer für mich da waren.

Für mich war es immer ein kleines Abenteuer, wenn meine Eltern und ich die Stuttgarter Markthalle besuchten. Der Einkauf wurde schnell zur Nebensache und die Markthalle verwandelte sich für mich zu einem großen Spielplatz. Am Eierstand stand ein ausgestopfter Hahn.

Er stand immer auf der Theke, am selben Platz.

Ich war fasziniert von diesem Tier. Jedes Mal, wenn wir vorbeigingen, hatte ich das Gefühl, von ihm beobachtet zu werden.

Als würde es sich jeden Augenblick bewegen und auf mich zulaufen.

Eines Tages nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und strich ihm über den Körper. Das war eine meiner ersten Ängste, denen ich mich offen stellte. Eine Art Mutprobe, viele andere sollten aber folgen.

Wir wohnten direkt in der Innenstadt - damals konnte man es sich noch leisten - aber wirklich schön war die Zwei-Zimmer-Wohnung nicht. Es gab kein Badezimmer, also musste die provisorische Kunststoffwanne herhalten. Trotzdem hatten wir eine schöne Zeit. Die Familie war zusammen und wir bekamen sehr oft Besuch. Die Tatsache, dass meine Mutter kein Deutsch verstand, war für mich etwas ganz Normales. Ich dachte, das muss so sein. Das Gefühl, fremd zu sein, kannte ich als Kind noch nicht. Hin und wieder brüllte jemand meiner Mutter hinterher oder gab einen dummen Kommentar ab.

Meine Mutter tröstete mich immer mit demselben Spruch: „Keine Angst, er ist nur betrunken und redet Quatsch!" „So wird es wohl sein“, dachte ich mir.

Darüber habe ich mir nie ernsthaft Gedanken gemacht, denn ich wusste weder, was betrunken bedeutet noch habe ich verstanden, was diese Männer meiner Mutter hinterherschrien.

An die Anmeldung im Kindergarten kann ich mich nicht erinnern, aber an einzelne Szenen. Da war dieses Klettergerüst. Ich war hochgeklettert und beobachtete die anderen Kinder. Bis ich auf die glorreiche Idee kam, mich von dort oben herab auf einen anderen Jungen zu stürzen.

Natürlich sollte das Ganze nur ein harmloser Scherz sein. Geendet hat das jedoch mit meinen beiden Schneidezähnen in seinem Kopf. Sie fielen mir beide aus und das andere Kind blutete und wir beide hatten Schmerzen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass mein Handeln Konsequenzen hat und ich etwas Falsches getan hatte. Es gab selbstverständlich sehr viel Ärger, aber alle wussten, dass dies nur ein Unfall war.

Den Kindergarten besuchte ich nur ein paar Monate, ich könne schon in die Schule gehen, hieß es. Vorausgesetzt ich würde den Schultest bestehen.

Natürlich freuten sich alle in der Familie darüber, aber in der ganzen Aufregung ging etwas unter: Ich beherrschte die deutsche Sprache kaum.

Bis heute verstehe ich nicht, warum sie ein Kind, das Deutsch weder richtig verstehen noch sprechen konnte, unbedingt in die Schule schicken wollten.

Inzwischen waren wir nach Stuttgart-Ost gezogen und dort begann auch meine Schulzeit.

Die ersten Monate empfand ich eher als unangenehm, soweit ich mich noch erinnern kann.

Es fehlte einfach an der deutschen Sprache. Somit war es nicht einfach, neue Freunde zu finden, bis auf die, die auch Türkisch sprechen konnten. Der Unterricht machte mir überhaupt keinen Spaß. Ich verstand die Lehrerin kaum und wusste nie so richtig, was zu tun war.

Nicht, weil ich faul war oder keine Lust hatte mitzumachen. Nein, es waren einfach die fehlenden Sprachkenntnisse.

Manchmal wühle ich in meinen alten Sachen herum, wie es halt Leute machen, die langsam auf die vierzig zugehen.

Und manchmal, wenn ich das tue, blättere ich in meinem alten Zeugnis aus der Grundschule. Im Bericht für die erste Klasse steht, dass ich nicht aufmerksam wäre und dem Unterricht nicht richtig folge.

Jedes Mal, wenn ich diese Zeilen lese, werde ich richtig wütend. Wieso kam niemand darauf, dass ich die Lehrerin einfach nicht verstanden habe?

Weder meine Eltern noch die Lehrer haben verstanden, dass ich sehr wohl im Unterricht mitmachen wollte, es mir aber schlicht an der deutschen Sprache fehlte.

Es ist wirklich schlimm, nicht zu verstehen und verstanden zu werden! Wie in diesen Alpträumen, in denen man versucht zu schreien, aber es einfach nicht gelingt. Ja, so war es, wie ein Alptraum und allmählich lernte ich ein neues Gefühl kennen: das Gefühl, fremd zu sein.

Mit der Zeit verbesserten sich meine Deutschkenntnisse und damit auch meine Noten in allen Fächern.

Wir hatten eine schöne Zeit in Stuttgart-Ost.

Mein Bruder arbeitete mit meinem Vater in derselben Firma und mein Vater setzte sich in seiner Freizeit ehrenamtlich für die türkische Gemeinde in Stuttgart ein. Er wurde Vorstandsvorsitzender der DITIB in Baden-Württemberg. Natürlich hatte er nicht mehr viel Zeit für uns, aber das war in Ordnung. Er hat uns immer wieder erklärt, wie wichtig es sei, sich für gemeinnützige Projekte einzusetzen und nicht ein Leben zu führen, das nur einem selbst gewidmet ist.

Wir waren stolz auf unseren Vater, ich sogar so sehr, dass er sich zu meinem Idol entwickelte.

Wie schon erwähnt, verbesserten sich meine Noten und ich durfte in die fünfte Klasse des Gymnasiums gehen. Das merkwürdige Verhalten meiner Schulleiterin konnte ich mir damals nicht erklären. Heute würde ich es als Rassismus bezeichnen, aber damals kannte ich den Ausdruck noch nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß.