Die US-Linke und die Demokratische Partei - Margit Mayer - E-Book

Die US-Linke und die Demokratische Partei E-Book

Margit Mayer

0,0

Beschreibung

Als Joe Biden im November 2020 die Präsidentschaftswahl gewann und eine Reihe progressiver Abgeordneter in den Kongress einzog, erhofften viele einen Aufbruch und neue Chancen für die amerikanische Linke. Rund zwei Jahre später erscheinen die Mehrheiten der Demokraten bedroht, ihre ambitionierten Reformvorhaben blockiert oder enorm zusammengestrichen und die Linke gespalten. Das Buch untersucht die (Konflikte um die) Agenda der Biden-Regierung und wie sich die progressiven Bewegungen im Zuge dieser Konflikte verändert haben. Es analysiert Entwicklung, Debatten und Strategien linker Organisationen – insbesondere der »Democratic Socialists of America« und von »Black Lives Matter« – im Kontext institutioneller Strukturen, die das Erstarken und die Radikalisierung der Republikanischen Partei und bei den Demokraten die Dominanz einer neoliberalen, auf diverse urbane Mittelschichten orientierten Führung befördert haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 204

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Politik aktuell 9

Margit Mayer

Die US-Linke unddie Demokratische Partei

Über die Herausforderungen progressiverPolitik in der Biden-Ära

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Mit freundlicher Unterstützung der

Umschlaggestaltung: D. B. Berlin

Editorische Notiz: Vorarbeiten zu diesem Buch sind im Kontext des Schwerpunkthefts Die USA vor, mit und nach Trump der PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft entstanden und in Nr. 203 (Juni 2021) und Nr. 205 (Dezember 2021) unter dem Titel »Demokratische Mehrheiten in Washington und eine erneuerte US-Linke?« erschienen. Ein herzliches Dankeschön von Verlag und Autorin geht an die PROKLA-Redaktion, insbesondere an Dorothea Schmidt und Ingo Stützle.

E-Book/PDF-Ausgabeder Printversion[© 2022 ISBN 978-3-86505-770-9]© 2022 by Bertz + Fischer GbR, BerlinFranz-Mehring-Platz 1, 10243 BerlinISBN PDF 978-3-86505-627-6eISBN 978-3-86505-628-3

Cover

Titelei

I. Eine neue amerikanische Linke?

II. Kontext: Strukturen und Institutionen

Strukturelle und zunehmende Ungleichheit und Klassenkrieg von oben

Republikanische Partei und neue Rechte auf dem langen Marsch durch die Institutionen

Die Demokratische Partei – zentristisch geführt und auf städtische Mittelschichten fixiert

III. Die Linke – Bewegungen, Organisationen und Narrative

Die demokratisch-sozialistische Linke

Black Lives Matter

IV. Die Biden-Agenda

Zwei Infrastrukturpakete

(Weitere) Klima- und Energiepolitik

Wahlrechtsreform

Krankenversicherung

Migrationspolitik

Das Recht auf Abtreibung

»Defund/Refund the police«

Wirtschafts- und Gewerkschaftspolitik

V. Reaktionen und Anpassungen aufseiten linker Bewegungen

Demokratische Sozialisten

Black Lives Matter

Black Unity und Diversity-Politik

Von der Kampfkraft zur Kaufkraft der Arbeiterklasse

Vom Kampf für eine gerechtere Welt zum Kampf für (m)eine gerechtere Organisation

VI. Die USA zwischen einer aggressiven Rechten und einer gespaltenen Linken

Die republikanischen America First-Kräfte

Die Demokraten als Verteidiger einer liberalen Gesellschaft

Die Bewegungslinke im Bann von Parteipolitik

Literatur

Über die Autorin

Fotonachweis

I. Eine neue amerikanische Linke?

Alles sah danach aus, dass 2021 das Jahr würde, in dem progressive Bewegungen in den USA ihre Macht in politische Reformen umsetzen würden: Die Demokraten hatten das Weiße Haus und Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses erobert, und die Biden-Regierung sendete eine kühne Vision »transformatorischen Wandels« in die Welt. Kaum im Amt, trieb sie den 1,9-Billionen-Dollar-American Rescue Plan voran, der viele Versprechen gleichzeitig erfüllen sollte, von der Ausweitung der Krankenversicherung bis hin zu einer neuen monatlichen Steuergutschrift für jedes Kind. Viele verknüpften mit dem Einzug der neuen Regierung auch Hoffnungen auf ein Erstarken der amerikanischen Linken und auf die Durchsetzung langgehegter progressiver Forderungen. Ein Aufschwung hatte sich schon seit 2018 angedeutet, als progressive Kandidatinnen die Wahlen für das Abgeordnetenhaus gewannen – Ilhan Omar in Minnesota, Rashida Tlaib in Michigan, Ayanna Pressley in Boston und Alexandria Ocasio-Cortez in New York. Als junge, weibliche People of Color verkörperten sie einen neuen, radikalen Typ von Abgeordneten, die allesamt nicht durch die Unterstützung der klassischen Sponsoren aus der Wirtschaft, sondern dank progressiver Netzwerke wie Justice Democrats, Sunrise Movement und Democratic Socialists of America gewonnen hatten. Ihre Wahlversprechen waren Resultate einer Dekade von Mobilisierungen: Occupy, Black Lives Matter, #MeToo, die Dakota Access Pipeline protests, die Anti-Trump-Mobilisierungen zur Verteidigung von Migrant*innen, Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichem Organizing. Selbst als Bernie Sanders, der die Hoffnung der Linken auf einen Ausweg aus der Krise verkörpert hatte, 2020 die Vorwahlen verlor, signalisierten doch die Wahlerfolge einiger linker Kandidat*innen eine neue und wachsende demokratisch-sozialistische Präsenz im Kongress.

Doch diese Aufwärtsdynamik begann schon bald zu stocken. Viele der progressiven Gewinne waren kurzfristig, die Programme liefen aus oder wurden zurückgefahren. Weite Teile der progressiven Organisationen, die das Rückgrat der ideologischen Infrastruktur der Demokratischen Partei bilden, vor allem die stiftungsabhängigen NGOs, versanken in internen Auseinandersetzungen um Hierarchie, Macht, Patriarchat und race & gender, ihr öffentlicher Druck auf Umsetzung der ambitionierten Agenda der Demokraten ließ nach, während die außerparlamentarische Rechte und auch die radikalisierten Republikaner vielerorts Landgewinne machten.

Was hat es auf sich mit dieser amerikanischen Linken, deren Aufschwung vielfach – verfrüht, wie es scheint – gefeiert wurde?

Dieses Buch versucht eine ehrliche Bestandsaufnahme einer einigermaßen komplexen Entwicklung. Schon allein der Gegenstand ist schwer zu fassen, er wird sowohl in den USA als auch hierzulande sehr unterschiedlich definiert und ist dank zunehmender gesellschaftspolitischer Polarisierung stark aufgeladen. Dieses Bändchen kann lediglich anhand weniger zentraler Beispiele die aktuellen Herausforderungen und Probleme linker Ansprüche im Kontext der Biden-Regierung beleuchten. Es fordert damit auf zu einer nüchternen Auseinandersetzung mit den Grenzen und Chancen progressiver Politik in den USA – am Vorabend von Zwischenwahlen, die die kurze Ära demokratischer Mehrheiten in Washington beenden und den Kongress wieder in die Kontrolle der (radikalisierten) Republikanischen Partei überführen könnten.

»Die Linke« in den USA ist heute bei Weitem nicht so kohärent wie in ihrer Hochzeit der 1960er und 1970er Jahre, sondern fragmentiert in unterschiedliche Bewegungen und Organisationen, die vielfach nebeneinanderher agieren. Im strengen Sinn bezeichnet »die Linke« heutzutage im Wesentlichen die Strömungen der (demokratischen) Sozialist*innen und anderer mehr oder weniger marxistisch orientierter Gruppen, die Abolitionist*innen (die sich für eine grundlegende Reform der Gefängnisse, der Strafjustiz und der Polizei bzw. der gesellschaftlichen Ordnung, die solche repressiven Systeme erheischt, einsetzen), die Black-Lives-Matter- sowie indigene und weitere antirassistische Bewegungen, feministische und LGBTQ+-Bewegungen und schließlich radikale Teile der Klima- und Ökologiebewegung, die häufig gemeinsam mit indigenen Aktivist*innen im Kampf gegen fossile Großprojekte als Wasser- und Landverteidiger auftreten. Auch Basisgewerkschaften und ihre Kampagnen für betriebliche Verbesserungen und gewerkschaftliche Organisierung sowie eine Vielzahl migrantischer Gruppen sowie deren Unterstützer*innen, die sich für Geflüchtete und gegen das US-Grenzregime einsetzen, verorten sich zumeist in diesem Spektrum.

Darüber hinaus mobilisiert eine unübersehbare Zahl kultureller und politischer Projekte im Dunstkreis linksorientierter Zielvorstellungen. Zunehmend wird auch der amorphe social justice-Komplex von NGOs zur Bewegungslinken gezählt, wo, zumeist über Stiftungsmittel und eigenes Fundraising, Kampagnen für progressive Issues (und darüber auch Reproduktionsmöglichkeiten für ein Heer von Aktivist*innen) finanziert werden. Auf lokaler Ebene tummeln sich eine Unzahl von community-, wohnungspolitischen und anderen reproduktions-bezogenen Initiativen und Organisationen, die sich zum Teil auch regional und landesweit unter dem Dach »Recht auf Stadt« zusammenschließen, irgendwo zwischen diesem Nonprofitsektor und den militanteren Teilen des progressiven Amerika (vgl. Mayer 2021a; Hermsmeier 2022).

Es fällt auf, dass – ebenfalls im Gegensatz zur Linken der 1960er und 70er Jahre – außenpolitisches Engagement weitgehend fehlt. Lediglich der Palästina-Konflikt spielt in linken Debatten eine – zumeist spaltende – Rolle, wird aber eher als innenpolitisches Thema verhandelt. Während damals die Kriege und Regime-Change-Kampagnen der US-Regierung zentrale Mobilisierungsthemen darstellten, hat sich die Linke nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aus diesen Feldern zurückgezogen (Hadden/Tarrow 2007) und ist auch heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen1, in den geopolitischen Auseinandersetzungen mit Russland und China kaum präsent.

Trotz dieser Disparatheit erzeugte diese amerikanische Linke im 2020er Wahlkampf ein weithin wahrgenommenes Momentum, das sich nach dem Einzug der Demokraten ins Weiße Haus und progressiver Kandidat*innen in den Kongress noch steigerte. Schließlich hatte Biden in seiner Wahlplattform eine Reihe linker Forderungen aufgegriffen: vom 15-Dollar-Mindestlohn über die Kostenreduktion für verschreibungspflichtige Medikamente und die Annullierung oder zumindest Reduktion von fürs Studium aufgenommenen Schulden bis hin zur Umstellung der Wirtschaft auf kohlenstofffreie und erneuerbare Energiequellen bis 2050. Dieser dem Wahlkampf geschuldete Aufschwung führte dazu, dass sich die Aufmerksamkeit für »die Linke« mehr und mehr auf die elektoral engagierte Linke und den progressiven Nonprofitsektor fokussierte – und linke Bewegungen in anderen Bereichen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden.

Auch dieser Band reproduziert die Engführung auf jene Teile der Linken, die seit dem 2020er Wahlkampf so hochfliegende Hoffnungen ausgelöst haben: die demokratisch-sozialistische Bewegung, deren gewählte Volksvertreter*innen neue Chancen verhießen, sowie Black Lives Matter, eine Bewegung, die in einer nie dagewesenen Mobilisierung antirassistische und abolitionistische Forderungen auf die Straße brachte. Diese beiden Bewegungen wurden in der deutschen Linken besonders stark wahrgenommen. Umso wichtiger ist es zu erklären, wieso die Leuchtfeuer, die deren Mobilisierungserfolge versprühten, inzwischen Enttäuschungen und Verlustängsten gewichen sind. Die Zeitschrift Jacobin widmete ihre Winternummer 2022 der »Linken im Fegefeuer«: »Es besteht kein Zweifel daran, dass wir uns am Ende einer Periode rasanter Politisierung befinden und in eine Phase des allmählichen Niedergangs oder des langsamen Aufstiegs übergehen«2, beschreibt Bhaskar Sunkara die Lage. Zwar sei die sozialistische Linke inzwischen fest im Mainstream der amerikanischen Politik verankert, aber »es hat etwas Gefährliches, wenn man groß genug ist, um in Teilen des Landes politisch präsent – und eine Subkultur für Tausende von Aktivist*innen – zu sein, aber viel zu unorganisiert und machtlos, um sein politisches Programm durchzusetzen« (Sunkara 2022). Die von Sunkara mitbegründete, den Demokratischen Sozialisten von Amerika nahestehende Zeitschrift versucht in dieser und folgenden Nummern, die Gründe für den rasanten Prozess von nie dagewesener Mobilisierung zu Stagnation und Ratlosigkeit auszuloten, und ist doch selbst an diesem Prozess beteiligt. Auch der antirassistische Mobilisierungsschub ist verebbt oder hat sich in lokale Mühen der Ebene verlagert, während die nationalen Organisationen, überschüttet von Spendenfluten, sich in undurchsichtige, parteinahe oder exklusiv auf die Förderung Schwarzer Kultur ausgerichtete Apparate entwickelt haben. Diese beiden Beispiele sind eingebettet in ein breites Feld von »Grassroots der Demokratischen Partei« (Adler-Bell 2022b) und den Philanthropie-abhängigen Nonprofitsektor, wobei auch viele der hier tätigen Verbände sich inzwischen als »progressive Bewegungen« definieren3, obwohl sie von Stiftungen (und deren Zielen) abhängige Organisationen sind, geprägt von Arbeitgeber-Angestellten-Strukturen, und häufig Konflikte um Arbeitsbedingungen, Diskriminierung und gewerkschaftliche Organisierung erfahren. Sie prägen, vor allem in Washington, D.C., das Feld progressiver Politik stark mit, sodass bisweilen die Grenzen zwischen »genuin-linken«, also auf Abschaffung von Klassenherrschaft und Kapitalismus zielenden Bewegungen und solchen, die weniger ambitionierte Ziele verfolgen, undeutlich sind.

Nachdem Bernie Sanders, der unabhängige Senator aus Vermont, aus den demokratischen Vorwahlen als Präsidentschaftskandidat ausgeschieden (oder vielmehr hinausgedrängt worden) war, hielt die amerikanische Linke – in fast all ihren Schattierungen – sich mit Kritik an Biden zurück: Es herrschte fast Konsens, dass eine breitestmögliche Unterstützung für diesen Kandidaten notwendig war, um eine Wiederwahl Trumps zu verhindern. Vor allem aus letzterem Grund engagierten sich progressive und linke Organisationen und Bewegungen im Wahlkampf für das Biden-Harris-Ticket, inklusive großer Teile der vorher durch die Sanders-Kampagne Mobilisierten. Diese von der Führungsspitze der Demokratischen Partei nicht unbedingt geschätzten Kräfte – ob nun die Wahlkampfteams der Squad-Mitglieder Rashida Tlaib in Detroit und Ilhan Omar in Minneapolis, die Fußtruppen von Stacey Abrams’ Fair Fight in Georgia oder die zahllosen Get out the vote-Aktivist*innen, die Grassroots-, Gewerkschafts- und ethnische Gruppen mobilisierten – spielten sogar eine entscheidende Rolle für den (knappen4) Sieg der Demokratischen Partei (Grim/Lacy 2020). Lediglich die »anti-electoralist left« (Kunkel 2021), bestehend aus diversen linksradikalen, anarchistischen, sozialistischen und einigen BLM-Gruppen, verweigerte dieser historisch breiten Wählermobilisierung ihre Unterstützung.

Trotz dieser einmalig breiten Mobilisierung verlor die Demokratische Partei acht Sitze im Repräsentantenhaus, sodass sie dort nur noch eine schwache Mehrheit von neun Sitzen hatte. Im Senat ergab sich statt der für sicher gehaltenen Machtübernahme (erst nach den Stichwahlen in Georgia) ein Patt von 50:50, eine prekäre Mehrheit ist also nur durch die Stimme der Vizepräsidentin gegeben. Auch auf einzelstaatlicher Ebene gelang es der Demokratischen Partei in keinem der zwölf Staaten, die wegen dünner republikanischer Mehrheiten in den legislativen Kammern als chancenreich galten und wo sie entsprechend extensive Ressourcen einsetzte, diese Mehrheiten stürzen.

Sofort nach Vorliegen der Wahlergebnisse traten die bis zum Wahltag im November 2020 unterdrückten Spannungen zwischen progressivem Flügel und Partei-Establishment wieder an die Öffentlichkeit. Die Linke machte deutlich, dass sie – anders als nach Obamas Wahlsiegen – der neuen Regierung keinen Honeymoon gewähren, sondern prompt den Druck auf die neuen Amtsinhaber*innen intensivieren würde. Die zentristische Parteiführung5 ihrerseits attackierte den progressiven Parteiflügel, in ihren Worten: »the hard left«, und die linken Kongressabgeordneten6 als verantwortlich für die Verluste im Kongress (Sirota 2020; Grim/Lacy 2020). Sie skandalisierten deren »radikale Rhetorik«, insbesondere Forderungen wie »Defund the police« und das Werben für Sozialismus, um damit allerdings auch so populäre Forderungen wie die nach genereller Krankenversicherung (Medicare for All) oder die wirtschaftspolitische Agenda von Sanders zu treffen.

Allein schon diese prekären, zum Teil feindseligen Beziehungen zwischen Partei-Establishment und progressiven Demokraten versetzte die amerikanische Linke in eine schwierige Lage. Zugleich strahlte, nach vier Jahren Trump und republikanischer Vorherrschaft, selbst eine finanzmarkthörige, sozialismusfeindliche neoliberale Partei eine gewisse Attraktivität aus. Je mehr sich die Republikanische Partei zur Partei Trumps entwickelte, sich machonationalistisch, protektionistisch, neomerkantilistisch und tendenziell rassistisch definierte (Riley 2020), umso attraktiver erschien die Demokratische Partei auch der Linken. Obendrein erfreute die neue Regierung in ihren ersten Wochen im Amt: Statt der von vielen erwarteten Rückkehr zu einer aufgeklärt neoliberalen »Normalität«, verkörpert von dem seit 1972 in Washington tätigen, als Senator und Obamas Vizepräsident fungierenden Politiker Joe Biden, zeichnete sich nicht nur eine ernsthafte Öffnung für bislang ausgegrenzte »multikulturelle« Gruppen und Themen ab, sondern auch eine Rückkehr zu starken staatlichen Interventionen im Interesse der 90 anstatt der obersten zehn Prozent. Die Verabschiedung des 1,9-Billionen-Dollar-Rescue Plan (gegen die republikanischen Volksvertreter*innen, die geschlossen dagegen stimmten) zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer desaströsen ökonomischen und sozialen Folgen wurde in breiten Kreisen als Kehrtwende von dem seit Reagan herrschenden Credo »Der Staat ist nicht die Lösung unserer Probleme, sondern ist das Problem« gefeiert. In seiner ersten großen Fernsehrede an die Nation am 11. März 2021 verkündete Biden eine neue Ära, in der der Staat nicht mehr, wie seit 1981 üblich, dazu genutzt werde, Steuern zu kürzen (wovon die Reichen profitieren), sondern »um arbeitende Familien und Kinder zu unterstützen« (Biden 2021).

Zunächst wirkte die Bilanz der Biden-Regierung beachtlich. Sie konnte in der Pandemiebekämpfung, trotz großer Widerstände in republikanisch-dominierten Staaten, signifikante Erfolge erzielen und dabei sogar die von den wirtschaftlichen Folgen der Gesundheitskrise besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen vor dem Absinken in Armut schützen; sie brachte unerwartet ambitionierte, produktive und auf Umverteilung zielende Gesetzesvorhaben auf den Weg, und sie stellte die Kapitol-Stürmer vom 6. Januar 2021 nach und nach vor Gericht, wo sie größtenteils zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Zunächst genoss sie auch hohe Zustimmungsraten in der Bevölkerung und in weiten Teilen progressiver und linker Gruppierungen. Nach dem chaotischen Abzug aus Afghanistan jedoch begann die Zustimmung zu sinken, die im Sommer 2022 – aufgrund des Auslaufens der pandemiebedingten Unterstützungsprogramme, der durch die Inflation steigenden Lebenshaltungskosten und des Scheiterns der ambitionierten Reformprojekte im Kongress – auf Tiefstwerte abgestürzt war7.

Die Gründe für dieses Versagen liegen sowohl in den Prioritäten der (Führung der) Demokratischen Partei als auch in tradierten strukturellen Restriktionen amerikanischer Politik, deren antidemokratische Institutionen und Verfahrensregeln von der Republikanischen Partei strategisch genutzt wurden.

Da die Handlungsmöglichkeiten sowohl der Linken als auch der Demokratischen Partei stark von diesen historischen und institutionellen Bedingungen bestimmt werden, widmet sich das II. Kapitel zunächst diesen restriktiven Kontexten und Strukturen, die das Erstarken und die Radikalisierung der Republikanischen Partei und bei der Demokratischen Partei die Dominanz einer neoliberalen, auf urbane Mittelschichten zielenden Führung befördert haben. Das III. Kapitel stellt die relevanten Akteure und Narrative der Linken anhand der Demokratischen Sozialisten und der Black-Lives-Matter-Bewegungen dar. Dort wird deutlich, dass diese Akteure keineswegs dieselbe klassenanalytische oder kapitalismuskritische Sicht auf die amerikanische Gesellschaft teilen, sondern die Unterdrückungssysteme von class, gender, race recht unterschiedlich gewichten. Das IV. Kapitel diskutiert dann die innenpolitische Agenda und zentrale Reformvorhaben der jungen Biden-Regierung, sowie die Konflikte und Auseinandersetzungen, die darüber ausgebrochen sind. Wie sich die linken und progressiven Bewegungen im Lauf dieser Auseinandersetzungen verändert und entwickelt haben, ist Gegenstand des V. Kapitels. Ob der hier diagnostizierte Weg der amerikanischen Linken ins Aus aufgehalten werden kann, muss offen bleiben. Vor allem angesichts des unsicheren Ausgangs der Zwischenwahlen im November 2022, bei denen die Republikanische Partei auf vielen, sowohl einzelstaatlichen als auch nationalen Bühnen Macht zurückgewinnen könnte, ist die Zukunft der amerikanischen Linken ungewiss. Die gegenwärtig zu beobachtende Stagnation und Schwäche der Linken lässt angesichts des Erstarkens der MAGA-Kräfte Befürchtungen aufkommen, die Thema des Schlusskapitels sind.

Anmerkungen

1Zum Beispiel United National Antiwar Coalition: https://nepajac.org/unacukraine2.html.

2Soweit nicht anderes angegeben, stammen alle Übersetzungen von mir (M.M.).

3Adler-Bell (2022b) diagnostiziert: »Vermutlich ist in keiner anderen Arena des öffentlichen Lebens der USA mehr von ›sozialen Bewegungen‹ die Rede als im Nonprofitsektor. […] Nonprofits haben gelernt, wie soziale Bewegungen zu sprechen. […] Und die Stiftungen, die sie finanzieren, haben ebenfalls gelernt, ›soziale Bewegungen‹ zu lieben. Jede durchschnittliche stiftungsfinanzierte NGO will heute von sich sagen: ›Wir sind eine soziale Bewegung, nicht einfach eine stiftungsfinanzierte NGO‹. […] Aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus: […] Sie funktionieren alle mit Geldern von Ford oder Open Society.«

4Die Sicherung der Mehrheit des Electoral College verdankte sich einer hauchdünnen Mehrheit von 42.000 Stimmen in Arizona, Georgia und Wisconsin (www.npr.org/2020/12/02/940689086/narrow-wins-in-these-key-states-powered-biden-to-the-presidency).

5Allen voran der afroamerikanische House Majority Whip James Clyburn, South Carolina, und Abigail Spanberger, Abgeordnete von Virginia.

6Die nach ihrem Wahlsieg 2018 als Squad bekannten linken Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar, Rashida Tlaib und Ayanna Pressley sind alle wiedergewählt worden; diese parlamentarische Präsenz der Linken wurde dank der Erfolge von Cori Bush und Jamaal Bowman in der 2020er Wahl sogar gestärkt.

7Vgl. https://news.gallup.com/poll/395378/biden-job-approval-dips-new-low.aspx.

II. Kontext: Strukturen und Institutionen

Die Handlungsmöglichkeiten der Demokratischen Partei sowie der Linken hängen stark von strukturellen Restriktionen ab. Diese sind zu Beginn der 2020er Jahre nicht nur durch neue geopolitische Herausforderungen sowie multiple Krisen von massivem Ausmaß und eine zunehmend extremere gesellschaftliche Ungleichheit geprägt, sondern auch durch das Erbe sowie die fortdauernden Aktivitäten der Republikanischen Partei auf nationaler wie einzelstaatlicher Ebene. Gleichzeitig den geopolitischen Herausforderungen Chinas und Russlands und der Gesundheitskrise im eigenen Land mittels nie dagewesener Defizitfinanzierung zu begegnen, führt selbst die US-Regierung an neue Grenzen, hat doch die US-Notenbank bereits während der Covid-19-Pandemie Milliarden in Bankensektor und Aktienmärkten versenkt, was die Wirksamkeit der von der Biden-Regierung initiierten Stimuluspakete auf kurzfristige Effekte reduzierte und, als auch noch das US-Engagement im Ukrainekrieg dazukam, eine hohe Inflationsrate produzierte.

Strukturelle und zunehmende Ungleichheit und Klassenkrieg von oben

In der Nachkriegsphase fordistischer Expansion kam die Ausbeute des imperialen Projekts der amerikanischen Arbeiterklasse zum Teil zugute, aber heute geht es den »imperialen Bürger*innen« schlechter als denen alliierter, das heißt den Schutz der USA genießender Nationen. Erstmalig in der Geschichte von Imperien eröffneten Unternehmen aus solchen verbündeten Nationen – Mercedes, Mazda, Honda, Nissan, BMW, Michelin, Toyota – im Herzen des Empire Fabriken, um seine billigeren und fügsameren Arbeitskräfte zu nutzen. Die USA rangieren bei der Lebenserwartung an 46. Stelle, innerhalb der industrialisierten Welt bilden sie das Schlusslicht (D’Eramo 2022). Die Einkommens- und Vermögensungleichheit hat sich im Lauf der letzten 40 Jahre neoliberaler Politik enorm verschärft: Eine RAND-Studie (Price/Edwards 2020) belegte, dass in den vier Dekaden seit 1980 47 Billionen Dollar von den unteren 90 zu den oberen zehn Prozent umverteilt wurden. Diese Billionen konzentrieren sich insbesondere bei den obersten 0,1 Prozent, wo die Superreichen ihren Anteil am Reichtum der amerikanischen Nation in diesem Zeitraum auf 20 Prozent steigerten. Dieser Trend hat sich durch die Pandemie noch beschleunigt: Bereits im ersten Corona-Jahr war das Vermögen der 657 Milliardäre Amerikas um mehr als 1,3 Billionen Dollar, also um knapp 45 Prozent gestiegen (C. Collins 2021), nach dem zweiten Jahr hatten 704 Milliardäre 4,6 Billionen Dollar angehäuft (J. Johnson 2022). Dieses Vermögen (das in den meisten Fällen noch nicht einmal besteuert wird) übertrifft das Gesamtvermögen der 165 Millionen Menschen, die die untere Einkommenshälfte in den USA ausmachen. Am extremsten profitierten die Unternehmen im Onlinehandel von der Pandemie, vor allem Amazon, sodass Jeff Bezos’ privates Vermögen 2020 um 65 Milliarden Dollar anwuchs (C. Collins 2021); Forbes schätzte sein Vermögen im April 2022 auf 170 Milliarden. Noch krasser stiegen die Profite der Pharmakonzerne, dicht gefolgt von den fossilen Energiekonzernen.

Während die Profite der Konzerne von 2,2 Billionen 2020 auf 2,8 Billionen 2021 gestiegen sind (das stärkste Wachstum seit 1976), trafen die Folgen der Pandemie vor allem die Geringverdiener und Armen.1 Armutsraten und Ernährungsunsicherheit sind auf Rekordniveau gestiegen. Waren 2019 10,5 Prozent der Bevölkerung von Hunger betroffen, so hatte sich dieser Anteil schon nach den ersten drei Monaten der Pandemie laut einer Studie der Brookings Institution mehr als verdoppelt (Bauer 2020). 54 Millionen Amerikaner*innen, also etwa ein Sechstel der Bevölkerung, waren Ende 2020 auf Unterstützung angewiesen (Signer 2021).

Wohl wurden sowohl unter der Trump- als auch der Biden-Regierung Corona-Hilfspakete aufgelegt, um diese dramatischen Folgen der Pandemie zu mildern, und diese sorgten in Teilen der Arbeiterklasse auch phasenweise für Abhilfe. Womöglich bildeten sie sogar eine Voraussetzung für den viel zitierten big quit, eine neue Verweigerungshaltung, mit der Zigtausende 2021 ihren miesen und oft genug gefährlichen Jobs den Rücken kehrten. Im Oktober 2021 brach sogar eine regelrechte Streikwelle im Land aus (Conley 2021).

In einer Rede im Senat stellte Bernie Sanders den Zusammenhang zwischen dem enormen Reichtum der Konzernchefs und der sich ausbreitenden great resignation sowie den gewerkschaftlichen Erfolgen bei Starbucks und Amazon so dar:

»Die Menschen im ganzen Land sind […] es leid, dass Milliardäre wie Jeff Bezos und Howard Schultz, der Gründer von Starbucks, in der Pandemie obszön reich werden, während sie ihr Leben aufs Spiel setzen, indem sie für unzureichende Löhne, unzulängliche Sozialleistungen, unter unangemessenen Arbeitsbedingungen und nach unangepassten Zeitplänen arbeiten. […] Wenn Sie glauben, dass die Siege der Gewerkschaften bei Amazon und Starbucks eine Ausnahme sind, irren Sie sich gewaltig« (4.4.2022, www.sanders.senate.gov/press-releases/prepared-remarks-sanders-floor-speech-on-growing-union-movement/).

Streiks und Arbeitskämpfe – in vielen Bereichen zuallererst eine gewerkschaftliche Organisierung der Belegschaften – sind auch bitter nötig, denn inzwischen zehrt die steigende Inflation sowohl staatliche Transferleistungen als auch etwaige Lohnerhöhungen längst auf (Bhattarai 2022).

Die sich verschärfende ökonomische Situation und die rapide zunehmende Verarmung der unteren Hälfte der amerikanischen Gesellschaft führten indes auch dazu, dass linke Forderungen – wie die nach 15-Dollar-Mindestlohn, Kindergeld, Elterngeld, Gratis-Kitas, gebührenfreiem Collegestudium und vor allem nach einer allgemeinen Krankenversicherung –, zu denen sich die Demokratische Partei (abgesehen von Sanders, dem Squad und Teilen des Congressional Progressive Caucus2) bislang nicht durchringen konnte, breite Popularität unter den Wähler*innen gewannen. Das zeigte sich in den beiden Präsidentschaftskampagnen von Sanders 2016 und 2020, aber vor allem auch bei erfolgreichen einzelstaatlichen Abstimmungen im Rahmen der landesweiten Wahl im November 2021 unter anderem in Florida (Mindestlohn) und Oregon und Colorado (Universal Preschool). Während der Druck auf die Demokratische Partei für einen radikalen Politikwechsel in Richtung Umverteilung also massiv gewachsen ist, stellen die Machtbalance im Kongress3 und eine konservative 6:3-Mehrheit im Obersten Gericht eine massive Barriere für die Umsetzung einer solchen Politik dar.

Aktivist*innen erkämpfen erstmals eine Gewerkschaft bei Amazon, Staten Island, New York, April 2022

Dazu kommt die Absurdität eines repräsentativen Systems, das machtvolle Lobbyinteressen weitaus stärker vertritt als die Interessen gesellschaftlicher Gruppen: von Pharma über big coal, von der Wall Street bis zum American Israel Public Affairs Committee (AIPAC), alle beeinflussen den Ausgang von Wahlkämpfen mit enormen Spenden – insgesamt verschlang der 2020er Wahlkampf mehr als 14 Milliarden Dollar. Dabei bearbeiten die Wirtschaftslobbyisten beide Parteien durchaus paritätisch: So gingen beispielsweise die Beiträge aus der Pharmaindustrie zu fast gleichen Teilen an Republikaner (7,1 Millionen Dollar) und Demokraten (6,5 Millionen Dollar).4 Andere Branchen wie die Öl- und Gasindustrie sowie der Bankensektor waren noch spendabler (Facher 2021).

Um erfolgreich zu sein, müssen sämtliche Abgeordneten, kaum sind sie im Amt, Fundraising betreiben, sprich: sich gut stellen mit diesen Geldgebern. Die Strukturen beider Parteien, insbesondere ihre oberen Ränge, verkörpern diese existierenden Machtverhältnisse und reproduzieren sie, indem ihre jeweiligen machtvollen Kommissionen wie das (Democratic bzw. Republican) National Committee und das (Democratic bzw. Republican) Congressional / Senatorial Campaign Committee für die entsprechende Parteidisziplin sorgen.

Bei allen Unterschieden zwischen den beiden Parteien, die in den folgenden Abschnitten näher betrachtet werden, verdeutlichen diese knappen Hinweise auf die verschärfte Klassenungleichheit in den USA, dass beide die Interessen der führenden Kapitalfraktionen bzw. des obersten einen Prozents vertreten; dass beide mitverantwortlich sind für den von oben betriebenen Klassenkampf der letzten 40 Jahre.

Republikanische Partei und neue Rechte auf dem langen Marsch durch die Institutionen

Nach ihrem Wahlsieg sah sich die Demokratische Partei einem republikanischen Gegner gegenüber, der – in Washington wie in den Einzelstaaten – während der Ära Trump das Spielfeld strukturell und langfristig zu seinen Gunsten bearbeitet hatte und nun fast sämtliche Vorhaben der Demokraten zu torpedieren trachtete. So erweist sich die Republikanische Partei selbst als eine bestimmende restriktive Struktur für die Handlungsmöglichkeiten der Demokraten. Zwar hatten die Republikaner 2020 die Präsidentschaft und die Führung im Senat verloren, aber im Kongress hatten sie 15 neue Sitze hinzugewonnen. Trump hatte gegenüber 2016 seine Performanz in fast jeder demografischen Gruppe (außer bei Collegeabsolvent*innen und weißen Männern) verbessert und sieben Millionen zusätzliche Wählerstimmen gewonnen. Gerade die Wähler*innen der unteren Einkommensschichten waren fast 50:50 gespalten, vor allem die ohne Collegeabschluss5 haben sich seit 2012 zunehmend von den Demokraten ab- und den Republikanern zugewandt.6