Die verborgenen Ufer - Christian Haller - E-Book

Die verborgenen Ufer E-Book

Christian Haller

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Beschreibung

Der Künstler als junger Mann – der neue autobiographische Roman des preisgekrönten Autors

Christian Haller erzählt in diesem autobiographischen Roman die Geschichte eines jungen Mannes, der es sich schon seit Kindertagen angewöhnt hatte, den Anforderungen, mit denen er konfrontiert wurde, auszuweichen. Dieses Verhaltensmuster behält er auch in Freundschaften und bei seiner ersten Liebe bei. Er duckt sich lieber unter den Erwartungen weg, als dass er sich ihnen stellt. Im Vermeiden und Ausweichen entdeckt er aber eine Kraft, die ihn weiter tragen wird, als es selbst die ihm nahestehendsten Menschen für möglich gehalten hätten.

Am 19. Juni um vier Uhr nachts wird Christian Haller von einem dumpfen Schlag geweckt. Es dauert einige Zeit, bis er begreift, was dieser dumpfe Schlag bedeutet: Die Terrasse seines Hauses wurde vom Hochwasser des vorbeifließenden Flusses in die Tiefe gerissen. Aber nicht nur sein Haus ist bis in die Grundfesten erschüttert, auch sein Lebensfundament ist mit einem Mal untergraben und zeigt bedenkliche Risse. Diese Einsicht erschreckt den gerade siebzig Jahre alt gewordenen Autor, sie lähmt ihn aber nicht. Er weiß, wie er dem Schrecken begegnen kann – mit Erzählen. Und dieses Erzählen führt in die Tiefen seiner Erinnerung. Im Ton eines großen autobiographischen Romans blickt er zurück auf die Anfänge seines Lebens. Geduldig und mit einem nicht zu überbietenden Gespür für Stimmungen und untergründig sich regende Gefühle erzählt er von sich als Kind, als Schüler und später als Gymnasiast. Von seiner Leidenschaft für das Theater erzählt er, von der ersten Liebe – und von dem unbezwingbaren Hang, den Anforderungen der Wirklichkeiten auszuweichen und sich in Ersatzwelten zu flüchten. Und er erzählt zugleich von der verblüffenden Fähigkeit, sich in diesen Ersatzwelten mit einer Macht einzurichten, dass er in der Realität doch bestehen kann.

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Seitenzahl: 263

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Zum Buch

Am 19. Juni um vier Uhr nachts wird Christian Haller von einem dumpfen Schlag geweckt. Es dauert einige Zeit, bis er begreift, was dieser dumpfe Schlag bedeutet: Die Terrasse seines Hauses wurde vom Hochwasser des vorbeifließenden Flusses in die Tiefe gerissen. Aber nicht nur sein Haus ist bis in die Grundfesten erschüttert, auch sein Lebensfundament ist mit einem Mal untergraben und zeigt bedenkliche Risse. Diese Einsicht erschreckt den gerade siebzig Jahre alt gewordenen Autor, sie lähmt ihn aber nicht. Er weiß, wie er dem Schrecken begegnen kann – mit Erzählen. Und dieses Erzählen führt in die Tiefen seiner Erinnerung. Im Ton eines großen autobiographischen Romans blickt er zurück auf die Anfänge seines Lebens. Geduldig und mit einem nicht zu überbietenden Gespür für Stimmungen und für untergründig sich regende Gefühle erzählt er von sich als Kind, als Schüler und später als Gymnasiast. Von seiner Leidenschaft für das Theater erzählt er, von der ersten Liebe – und von dem unbezwingbaren Hang, sich in Ersatzwirklichkeiten zu flüchten, sich mit großer Macht in diesen Welten einzurichten und dabei, ohne ein Gefühl dafür zu entwickeln, die Realität aus den Augen zu verlieren.

»Die gelassene Genauigkeit von Christian Hallers Sprache ist ihre Schönheit.« Neue Zürcher Zeitung

Zum Autor

CHRISTIAN HALLER wurde 1943 in Brugg, Schweiz, geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt sind von ihm die »Trilogie des Erinnerns« und die Romane »Im Park« (2008) und »Der seltsame Fremde« (2013) erschienen. Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

www.christianhaller.ch

Christian Haller

Die verborgenen Ufer

Roman

Luchterhand

19. Juni, vier Uhr nachts, ein dumpfes Grollen. Ich schrecke hoch. Die Hausmauern zittern.

Ein Erdbeben!

Brechende, reißende Mauern, dann ein dunkel plumpsender Ton, gefolgt von einem hellen, spritzenden Rauschen, das in einem Regen fallender Tropfen erlischt.

Stille.

Sie schafft die Gewissheit: Das Hochwasser hat einen Teil unseres Hauses weggerissen.

Ich stehe auf, gehe zur Veranda, einem über der Terrasse gelegenen Holzvorbau. Fahles Frühlicht erhellt die Fenster. Ich öffne einen Flügel, und während die Kühle und das Rauschen des Hochwassers hereindringen, blicke ich auf den wirbligen Strom, bedeckt mit Inseln von Schwemmholz und Abfall. Ich beuge mich vor, schaue über die Brüstung hinab: Das bis gestern Abend noch vertraute Bild unter mir – die Gartenplatten, die Töpfe mit den Pflanzen, die umfassende Mauer – ist zur Hälfte weggebrochen. Die Eisenstangen des Geländers sind abgerissen, ragen verbogen über den Abgrund. Sie deuten noch den Umriss der sieben Meter hohen Mauer über einer klaffenden Leere an. Auf der Abbruchkante, schräg und halb schon im Stürzen, hängt noch schattenhaft der Bottich mit dem Granatbaum.

Ich empfinde nichts. Als wäre mein Inneres betäubt und fühllos, und meine Augen funktionierten wie Kameralinsen, die lediglich aufnehmen, was geschehen ist.

Eine Katastrophe.

Und das Wasser strömt, rauscht, zieht als grauwälzende Masse vorbei und weiter, schon den achten Tag. Erst mit dem Hellerwerden und nach einigen weiteren Millionen Kubikmetern Hochwasser steigt aus der anfänglichen Fühllosigkeit die Ahnung auf, dass dies nicht hätte geschehen dürfen, ich doch alles unternommen habe, damit es nicht geschehen könne und jetzt eben doch eingetroffen war. Und als ich an der Abbruchkante den Bottich mit dem Granatbaum zu retten versuchte, mich auf den eingesunkenen Gartenplatten vortastete, ängstlich, sie könnten unter mir einbrechen, ich den Arm ausstreckte und versuchte, den Rand des Bottichs zu fassen, der zu entgleiten drohte, kam die Erinnerung an die bisher verstörendste Lebenserfahrung zurück:

Auch damals war Nacht gewesen, eine frühe Morgenstunde mit den schattenhaften Umrissen der ersten Dämmerung. Und in meinem Traum war ein Schlagen gewesen, das mich weckte und andauerte, und ein Schlagen neben mir war das Schlagen von Pippas Arm. Auch damals glaubte ich während Bruchteilen einer Sekunde, wie eben zuvor bei der Terrasse, als ich das Grollen und Erzittern einem Erdbeben zuschrieb, ich kennte die Ursache. Pippa sei lediglich unruhig, hätte vielleicht zuviel getrunken, bis ich verstand, dass dieses Schlagen ihres Arms Ausdruck von Schmerz und Hilflosigkeit war, ich sie am Boden neben dem Bett fand, schon nicht mehr bei Bewusstsein.

Damals war ihre eine Körperhälfte durch eine Hirnblutung weggebrochen, abgesackt in eine lebenslange Lähmung, und auch an jenem, nun schon dreißig Jahre zurückliegenden Morgen hatte ich im ersten Moment nichts empfunden und einzig die Notwendigkeit verspürt, kühl und überlegt zu handeln.

So stieg ich auch jetzt, nachdem ich den Granatbaum vom Abgrund weggezerrt hatte, hinauf in mein Arbeitszimmer. Ich musste die notwendigen Anrufe tätigen, hockte mich wie damals hin, um zu telefonieren, nur war das Telefon kein Apparat mit Wählscheibe mehr, sondern ein Smartphone, doch das Zittern meiner Hände und das dadurch bedingte Verwählen waren sich gleich geblieben.

Ich alarmierte die Geschäftsleitung des Kraftwerks, das unterhalb unseres Hauses den Fluss staut und für den Uferschutz zuständig ist. Ich rief die Gebäudeversicherung an, drohte dem Angestellten auf seine Herablassung hin, für die Versicherung handle es sich um »kein Ereignis«, mit der Presse, informierte die Bauverwaltung der Gemeinde. Eine Stunde später stieg ich in den Kahn der Kraftwerksgesellschaft, um mit dem diensthabenden Ingenieur die Abbruchstelle vom Wasser her zu besichtigen. Doch unter all den äußeren Handlungen kam zur Angst um die Folgen der eingestürzten Ufermauer die Gewissheit hinzu, dass sich den Krisen der letzten Monate eine neue, umfassendere Krise hinzugefügt habe, und ich lachte.

Lachte über mich und meinen längst verstorbenen Vater, verspürte zu ihm eine warme, mich durchdringende Nähe. Während meiner Kindheit hatte er in schöner Regelmäßigkeit für Katastrophen gesorgt, in getreuer Fortsetzung der Um- und Zusammenbrüche meiner mütterlichen Familie. Schon als Junge hatte ich mir deshalb vorgenommen, schlauer, durchtriebener dem Leben gegenüber zu werden als Vater, und wenn Pippas Hirnblutung auch zu einer Lebenskrise geführt hatte, letztlich war sie es gewesen, die es getroffen hatte, nicht mich. Doch als der Bootsführer den Kahn unter der Abbruchstelle in der Strömung hielt, der Ingenieur die Unterlippe vorschob und bedenklich den Kopf wiegte, ich in diese Erdwunde schaute, die tief unter die noch verzahnten Gartenplatten reichte, gab es keinen Zweifel mehr: Jetzt hatte es mich erwischt, als alten Mann, der glaubte, gefeit zu sein, weil das Leben – wenigstens zur Hauptsache – gelebt war. Der Einsturz der Ufermauer unseres Hauses erschien mir jetzt wie die sichtbar gewordene Bestätigung dafür, dass mein bisheriges Leben in den Fundamenten beschädigt war: Vor nur wenigen Wochen hatte mich meine langjährige Partnerin, mit der mich eine intensive künstlerische Arbeit verband, unerwartet verlassen. Zur gleichen Zeit war ein Roman erschienen, an dem ich Jahre gearbeitet hatte, ein Werk, von dem ich mir viel, jedoch nicht die teilweise heftige Ablehnung erwartet hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich in der Praxis eines Psychiaters. Ich litt an Angstzuständen, war in eine Depression und vollständige Desorientierung abgerutscht. Mein Daseinsgebäude, das in seiner Anlage unkonventionell und in der Ausführung statisch gewagt war, von mir ein stetig stabilisierendes Ausbalancieren verlangte, war weggebrochen wie jetzt die Terrasse auch, die an diesem Morgen im reißenden Wasser verschwunden war.

Die Mauer sei nicht wieder aufzubauen, technisch selbstverständlich möglich, sagten mir die Ingenieure, heute sei vieles technisch zu machen, doch die Kosten beliefen sich auf ein Vielfaches des Wertes unseres Hauses.

Inzwischen standen vier Ingenieure im Flussgarten des Nachbarn, blickten hinüber zur klaffenden Wunde unter unserem Haus, eine Wunde, die sich erheblich vergrößert hatte. Arbeiter, die an Seilen vom Unterboden der Veranda hingen, brachen die Reste der Mauer ab, pickelten und schaufelten die Hinterfüllung weg. Notabbruch, ein weiteres Abstürzen von lose gewordenem Material müsse verhindert werden, hieß es. Doch je tiefer die Arbeiter in ihren orangefarbenen Jacken gruben, auf desto größere Probleme stießen sie.

Die Seitenmauern waren angegriffen und instabil geworden. Der Fels, auf dem das Gebäude stand, war noch immer nicht zum Vorschein gekommen, dagegen zeigte sich an einem vorgelagerten Gneiskopf, dass er unterspült und für die Stütze eines Balkons, der die Terrasse ersetzen sollte, nicht infrage kam.

Auf den historischen Fotos, die vor der Stauung gemacht worden waren und die man zur Abklärung des Untergrundes heranzog, zeigte sich eine tiefe Kluft im Fels. Sie zog sich schräg in das Fundament unseres Hauses hinein, eine Spalte, deren Ausläufer im Tonnenkeller als Felsriss sichtbar war.

Ein einzigartiger Fall, sagte der diensthabende Ingenieur, uns ist nichts Ähnliches in den Staubereichen bekannt, für die wir zuständig sind, und das sind in der Schweiz einige, die unsere Firma betreut.

Ich saß am Tisch mit Vertretern der Gemeinde, des Ortsbild- und Heimatschutzes, mit dem Geschäftsführer des Kraftwerks, den Ingenieuren, dem Leiter der Spezialfirma für Felsarbeiten, Leute, die behilflich sein wollten, weil sie bereits wussten, was ich erst allmählich begriff: Niemand würde für den Schaden aufkommen, keine Versicherung, weder die Betreiberfirma des Kraftwerks noch der Bund als Konzessionsgeber oder der Kanton als Besitzer des Gewässers. Die Kosten hätten allein wir zu übernehmen – unsere kleine Hausgemeinschaft, bestehend aus Pippa, ihrer Schwester und mir – und diese Kosten würden unsere finanziellen Möglichkeiten bei Weitem übersteigen. Wir müssten mit einer Zwangsversteigerung rechnen, wurde mir gesagt, das Gesetz verlange auch bei Nichtfinanzierbarkeit der Kosten die Sanierung von Schäden. Dem Buchstaben nach hätten wir auszuziehen, womit man allerdings nicht rechne – ich aber rechnete, dass wir weder die Hypothek erhöhen noch die Miete einer Wohnung finanziell verkraften konnten. Mit diesem Fazit sah ich mich genau an dem Punkt angekommen, an dem die mütterlichen Ahnen zuletzt und Vater immer wieder angekommen waren: Am Nullpunkt der Existenz.

Beinahe wäre gelungen, was ich mir als Junge vorgenommen hatte: Den Neigungen zu folgen, doch die Fallen zu meiden, die das Leben bereithielt. Durch Ausweichen wollte ich den Schlingen entgehen, in die Vater getreten war. Doch am 19. Juni, vier Uhr nachts, erzitterte das Haus. Ich hörte das dumpfe Grollen, danach diesen dunkel plumpsenden Ton, der in einem Regen fallender Tropfen verstummte.

TEIL 1Der Erdtaucher

1

An einem Wintermorgen um sechs Uhr früh wurde ich in eine Welt geboren, in der zu leben ich nicht sehr fähig wäre. Doch davon wusste ich nichts, ahnte nicht einmal, dass meine Mutter es im Kreißsaal des Provinzkrankenhauses unerträglich kalt fand, sie erbärmlich fror und ich Neuankömmling dafür, dass ich mit meinen acht Pfund Gewicht ihre Symphyse sprengte, mich mit der Wärme des Strahls revanchierte, den ich auf ihren Schenkel pinkelte.

Es war Krieg, die Fenster verdunkelt, die Lampen trüb. Und dieser Eintritt ins Dasein ereignete sich in Brugg, einer schweizerischen Kleinstadt, neben deren Brücke der Schwarze Turm steht: Aus seinen massigen Steinquadern vorgereckt starrt ein Hunnenkopf über den Fluss zum Juraberg, der am gegenüberliegenden Ufer als ein bewaldeter Wall nach Norden hin die kleine Stadt vor den Zerstörungen und Vernichtungen des Krieges schützen sollte.

Der Krieg hatte eben eines seiner blutigsten Kapitel abgeschlossen: Stalingrad, als ich eingewickelt in einer Wärme lag, die sich rau und trocken anfühlte und mich fester einhüllte als die schwebende Weichheit, die mich zuvor gehalten hatte. Der Raum um mich war groß, und eine Leere aus Dunkelheit füllte ihn aus. Sie setzte meinem Strampeln keinen Widerstand entgegen, in ihr waren kein Herzschlag und keine mich besänftigenden Geräusche zu hören. Diese Stille ängstigte mich, sie gab mir das Gefühl, allein und nirgends zu sein. Ich schrie, schrie aus Angst vor dem Verlassensein. Doch niemand hörte mich, keiner kam, und die reglose Stille drang in mich ein. Sie blieb dort als ein erinnerter Raum aus nachtschwarzer Verlorenheit.

Nach langer Zeit dämmerte im Dunkel ein Rechteck. Es sah aus wie ein Schmier Helle auf einer Kohlezeichnung. Diese Helle dehnte sich aus, verschwand wieder, dehnte sich erneut aus, und sie füllte regelmäßig das Zimmer, in dem ich im Stubenwagen mit dem halbrunden Stoffschirm lag. Vor diesem Bogen formten sich Umrisse, die heller oder dunkler gegeneinander abgesetzt waren, von denen einige sich auch bewegten, sich näherten und über mich beugten: Gesichter, die Laute machten, Klänge, die angenehm beruhigend waren.

Doch mit den Wochen sickerten in die Abstufungen von hellen und dunklen Schattierungen zunehmend Farben ein. Erst von zarter Blässe wurden sie danach hart, aufdringlich und besetzten die Umrisse. Sie schlugen sich auf die Formen nieder, schrien mich an, laut und unverständlich, und drangen in mich ein. Sie erzeugten in mir Gefühle, die ein Kreisen in meinem Körper auslösten. Erst behutsam, dann stärker drehten sich die Umrisse, die noch namenlose Dinge waren, überfielen mich mit einer Heftigkeit, der ich nichts entgegensetzen konnte: Ohnmächtig überließ ich mich dem Drehen, durch das die Farben zu verschmelzen begannen, blendend hinter meinen Augen aufleuchteten und sich als grelle Blitze im Kopf entluden. Ich erbrach mich, erbrach mich wieder und wieder, als müsste alles, was je in meinen Körper gelangt war, auch wieder aus diesem hinaus, selbst noch der Atem aus den Lungen. Ich wand mich in Krämpfen, würgte und krümmte mich, bis zum Schluss grünliche Gallenflüssigkeit bitter ins Weiß der Schüssel tropfte. Noch Tage nachher schmerzten mich der Bauch und die Brust, doch im Kopf war eine lichte Ruhe.

Nach dem monatlich sich wiederholenden Schwindel blieben die Dinge um mich her als helle, graue Umrisse zurück, aus den Farben waren wiederum Grautöne geworden, als hätte ein Künstler meine Umgebung in monochromer Grisaille-Technik ausgeführt. Das Zimmer, die Straße vor dem Haus, das Städtchen mit seinen Gassen und alten Häusern wirkten wie ein in Stein gemeißeltes Relief, und doch konnte ich mich mit unsicheren, wackligen Schritten in dieser zu einem Bild gewordenen Umgebung bewegen, zur Schmiede des Herrn Obrist gehen, vor der dieser die Pferde beschlug; zur alten Kastanie laufen, unter der wir im Sand Tunnels unter Berge gruben; mich auf die Mauer setzen, in der eine versteinerte Muschel ihren feinen Fächer spannte.

Veränderte sich etwas in unserer Straße, auf dem Platz vor dem Roten Haus oder bei den Ladengeschäften, auf deren Eingangsstufen ich bei Besorgungen auf Mutter wartete, so geschah dies allein, weil ich hinschaute oder mich bewegte, nicht, weil sie sich selbst bewegten und dadurch anders aussahen. Sobald sie dies jedoch taten, sich zu bewegen begannen und Farbe bekamen, löste sich die graue Beruhigung auf, fing das Drehen und Blitzen hinter den Lidern an, kam das schmerzhafte Erbrechen zurück.

Ich hatte die ersten Wörter sprechen gelernt und stand beim Teich hinter unserem Haus bei den alten Bäumen. Ich blickte den Weg entlang zur Gärtnerei, die sich seitlich an unser Haus anschloss. Durch die Zweige gleißten die Scheiben der Gewächshäuser, auf denen teilweise aufgerollte Bahnen von Holzstäben gegen die Sonnenbestrahlung lagen. Ich gab ihnen einen Namen. Sie hießen »Schee-en«, durch den Namen blieben sie unveränderlich fest, rollten niemals die Schräge herunter, blieben nur einfach das, was sie waren: »Schee-en«. Für die Blumenbeete hatte ich keinen Namen, sie gehörten zu meinem Bruder, der vier Jahre älter war als ich und der die Gießkanne an ihnen entlangschleppte, weil er Gärtner werden wollte. In den Blumenbeeten gab es viele und leuchtende Farben. Sie hafteten an Blüten und Blättern, kamen als Sträuße in die Wohnung, standen auf Simsen und Tischen. Diese Farben fanden sich auch an den Zweigen der Waldbäume und an den grannigen Halmen der Felder, durch die ich im leichten Kinderwagen zur Habsburg oder über den Bözberg geschoben wurde. Doch diese Farben hatten für mich nichts Bedrängendes, sie saßen fest an ihren Formen, hielten sie aber nicht besetzt. Sie schrien und drängten nicht. Auch sie lösten Gefühle aus, sogar eindringliche Gefühle, die jedoch ruhig machten, manchmal freudig oder neugierig stimmten. Sie fügten sich in meine monochrome Welt ein, als wären sie etwas speziellere Grautöne, wie auf den Fotos mit gezacktem Rand: So wie man in den Schwarz- Weiß-Aufnahmen die Farben sieht, so sah ich in den Farben der Natur die Grautöne. Und die hielten sich still, verwirrten mich nicht und brachten kein Rad in Schwung, das mich schwindlig machte.

Andere Farben dagegen wühlten mich auf, Farben, die es in unserer Wohnung gab und die ich im Perserteppich entdeckte. Mama hatte mich im Speisezimmer am besten in ihrem Blickfeld, gab mir die Kinderbibel mit den Holzschnitten Schnorr von Carolsfelds, schlug sie vor mir auf, um ungestört den Haushalt zu besorgen. Im Schutz des Esstisches saß ich dann lange Zeit versunken über den Illustrationen aus dem Alten und Neuen Testament. Nicht dass ich gewusst hätte, was ich auf den Seiten betrachtete, doch die Fremdheit der Landschaften und Menschen faszinierte mich. Die Gebäude waren riesig, hatten Säulen, Stufen, Podeste und Balustraden – Wörter, die ich alle nicht kannte –, als Bildteile mich jedoch staunen ließen. Dazu kam die Dramatik der Figuren, ihre verrenkten Leiber in den Schlachten oder wenn sie aus den Wasserfluten um Errettung flehten. Auch diese Welt, in der ich umhergehen konnte wie auf der »Alten Promenade« vor unserem Haus, war grau und wie in Stein gemeißelt, unveränderlich trotz der heftigen Gebärden, der Kämpfe und einstürzenden Mauern und Türme beim Klang der Posaunen. Das Wunderbare, das die Bilder Schnorr von Carolsfelds jedoch für mich über das Umhergehen in unserer Straße hinaushob, waren die Lücken und Durchblicke. Sie befanden sich besonders an den Rändern der Hauptmotive, neben einer Figurengruppe oder einem zentralen Haus. Dort konnte ich in die Tiefe einer mir fremdartigen Landschaft aus Wäldern, Felsen und fernen Städten hineingehen und mir weiter ausmalen, was der Künstler nicht mehr gezeichnet hatte.

Doch an einem Morgen ließ ich die Kinderbibel sinken und in dem Lichtstreifen, der vom Fenster auf den Perserteppich fiel, leuchteten die geknüpften Muster auf. Auch in ihnen gab es Stufen und Säulen wie in meinem Buch, sah ich Pflanzen und Tiere als seltsam gezackte Wesen. Sie fühlten sich haarig an und waren getränkt von Farben. Auch im Teppich fand ich Durchblicke: Treppen, die in den Teppich hinein- und hinabführten, in eine Welt, die unter ihm lag. Von dort mussten die Farben herrühren, diese dichten, satten Farben. Sie unterschieden sich von den Farben in den Blumenbeeten der Gärtnerei, an den Bäumen und Büschen. Diese unter dem Teppich liegenden Farben, die herauf in die Muster drängten, waren nicht still, fügten sich nicht in das Nebelgrau der Straßen und Gassen des Städtchens. Sie wollten nicht ein Teil sein wie das Grün an den Blättern. Sie behaupteten laut ihre Farbigkeit, wollten selber Geltung haben und, was das Schlimmste war, sie lösten in mir das gleiche Gefühl der Angst aus, das ich von dem dunklen Zimmer her kannte, in dem ich geschrien und mich keiner gehört hatte. Je tiefer ich mich über die Muster des Teppichs beugte, desto mehr verwirrten sie mich, lösten einen Schwindel aus, und die Farben begannen sich zu drehen, rascher und rascher – bis ich mich erbrach, nach letzten Krämpfen erschöpft im Bett lag und nie wieder aufstehen wollte.

2

Die Schwindel wurden seltener und hörten schließlich ganz auf, als wir 1947 von Brugg nach Basel umzogen. Unweit unserer neuen Wohnung stand das St. Jakob-Denkmal, und ich sah staunend zu der Frau auf, die, umgeben von gebrochenen Kriegern, hoch aufgerichtet zur Altstadt sah. Die Gestalten aus weißem, angewittertem Marmor erinnerten mich an Figuren aus meiner Kinderbibel, doch hier ragten sie vor Bäumen und einem Sommerpavillon leuchtend zum Himmel. Die Frau mit erhobener Hand schien im Begriff, die gerade Straße zum Äschenplatz und weiter zum Münster zu eilen, von wo nach ersten Spaziergängen mit Mama allmählich das Rot des Sandsteins in meine neue Umgebung drang. Es fand sich nicht allein am Münster, es wehte von den Tür- und Fensterstürzen herrschaftlicher Gebäude in unser Quartier herein, verband sich mit dem gebrochenen Gelb der »Baumgarten-Häuser«, diesen in der Zwischenkriegszeit errichteten Mietshäusern, deren Fassadengestaltung dem süddeutschen Barock nachempfunden war. In den beiden Farben, dem Rot des rheinischen Sandsteins und des badischen Gelbs, begegnete mir eine Vergangenheit, von der ich zwar nichts Genaues wusste, die mir jedoch auf rätselhafte Weise vertraut war. Im »Kirschgarten-Museum«, das ich mit Mama besuchte, waren selbst die Räume noch entsprechend dem Rot des Sandsteins eingerichtet, und die vornehme Lebensweise, die sich in den hohen Räumen, Kachelöfen, den Bildern und Möbeln ausdrückte, empfand ich als eine mir entsprechende Art des Wohnens: Ich hätte gern in der Zeit des roten Sandsteins gelebt. Einen Nachhall dieses vergangenen Lebens fand ich an der Eulerstraße. Dort wohnten Mamas Eltern. Neben den vererbten, dunkel glänzenden Möbeln gab es auch orientalische Decken, bemalte Keramiken, alte Fotografien, und Großmama erzählte von einer noch anderen Vergangenheit, die »Rumänien« hieß. Diese Vergangenheit hatte die Farbe gebrochenen Gelbs, wie es ähnlich an den Baumgarten-Häusern in unserem Quartier zu finden war.

So gehörten die beiden Farben von nun an zu mir, und sie waren wie das Grün an den Blättern, wie das Rot und Gelb der Blumen in der Gärtnerei in Brugg oder auf den Juraweiden. Nichts Beherrschendes, Anmaßendes, Befehlendes ging von ihnen aus. Sie hielten sich im Gegenteil zurück, umgaben mich mit einem Gefühl von etwas Vertrautem in der noch neuen und unbekannten Umgebung. In der Phantasie konnte ich leicht in die vergangene Zeit des Sandstein-Rots und des Baumgarten-Gelbs zurückgehen, bewegte mich durch Zimmer mit Seidentapeten und Kristalllüstern, wie ich sie im Museum gesehen hatte. Die Stühle hatten hohe Rücken- und geschwungene Armlehnen, standen bei einem Kanapee mit aufgepolstertem Bezug. Durch die Fenster fiel gedämpftes Licht, und im schattig dunklen Hintergrund des Zimmers tagträumte ich eine Tür, durch die ich zum Flur und in ein Kinderzimmer gelangen konnte, das einen Riemenboden und mit Holzpaneelen verkleidete Wände hatte, karg und ordentlich war. Dort gab es neben einem Bett mit Gitterstäben vor allem Spielsachen, die ich selbst nicht besaß, ein Schaukelpferd etwa oder einen Kreisel. Menschen existierten in meinen Phantasien nicht, nur Räume, die ich in meinem Kopf wie ein mir allein gehörendes Museum durchstreifen konnte, und wenn ich genug von Wohn-, Speise- und dem Kinderzimmer gesehen hatte, lief ich die Treppe hinunter und trat durch die Toreinfahrt auf die Straße hinaus. Dort fuhren Kutschen, doch niemand spazierte auf den Bürgersteigen. Die Straßen waren leer, zogen sich an den Fassaden der Häuser entlang, und die Sonne warf ihren gelben Schein aufs Kopfsteinpflaster.

Dieser ruhigen, beschaulichen Vergangenheit, der ich an manchen Tagen nachhing, stand die Unruhe in vier Städten gegenüber, die ich eine Zeit lang beim Einschlafen über mir in den Ecken der Zimmerdecke sah: Sie türmten sich auf, bestanden aus ineinander verschachtelten Häusern, zwischen denen Gassen ein dunkles Labyrinth bildeten. In der ersten Stadt hausten Diebe und Betrüger, tückische und hinterhältige Menschen, die mich ängstigten. In der zweiten wohnte unter Elenden ein Weiser, der lesen und schreiben konnte, viele Bücher besaß und bei Fragen stets zu raten wusste. In der dritten lebte ein Kaufmann. Er besaß viel Geld und tyrannisierte mit seinem Reichtum die Mitbewohner der Stadt, ein jähzorniger, herrschsüchtiger Mann. Doch die schlimmste der Städte war die vierte, in der die Hexe wohnte. Sie fürchtete ich, da sie mir nach dem Leben trachtete. Zwischen diesen vier Städten in den Ecken der Zimmerdecke dehnte sich die riesige weiße Fläche des Meeres aus, und es war gefährlich, über das Wasser von einer Stadt zur nächsten an den Deckenkanten entlangzufahren. Das Meer war stürmisch, warf hohe Wellen auf, bedrohte das Schiff mit Untergang. Doch fahren musste ich, um die vier Städte ruhig zu halten. Ich versuchte, den reichen Jähzornigen zu besänftigen, für Ordnung bei den Dieben und Betrügern zu sorgen, mir Rat beim Weisen gegen die Machenschaften der Hexe zu holen. Das gefahrvollste Unternehmen jedoch war, von den Deckenkanten weg, hinaus in die leere Zimmerdecke zu segeln. In deren Mitte war die Verschlusskappe eines unbenutzten Elektroanschlusses: Der weiße Inselberg. Ihn zu erreichen war beinahe unmöglich, doch einzig dort gab es die Erlösung von den Unruhen und Machenschaften in den Städten. Wie sich diese anfühlen würde, blieb mir verborgen. Immer neu versuchte ich, den weißen Inselberg zu erreichen, was mir nie wirklich gelang. Stets schlief ich ein, bevor die Verschlusskappe mit ihrem Steilufer auch nur in Sicht kam. Doch bei all meinen Tagträumen und Einschlafphantasien drehten sich die Farben und Bilder nicht mehr in meinem Kopf. Nichts blitzte und irrlichterte hinter den Augen, der Schwindel und die monatlich zurückkehrenden Übelkeiten hatten aufgehört. Das Grau war in Brugg bei dem Schwarzen Turm, zurückgeblieben, während in Basel mit dem Sandstein-Rot und dem Baumgarten-Gelb Farbe in meine Tage kam, und diese heller und wärmer wurden.

In Basel gab es kaum einmal Nebel, keine Decke, wie sie oft wochenlang über der kleinen Stadt gehangen hatte, das Licht dämpfte, eine Kühle und Kargheit über die »Alte Promenade« legte und Feuchte aus den Mauern atmen ließ. Hier, vor dem modernen Wohnhaus, leuchtete die Sonne in den alten Bäumen, warf auf den Rasen an der Zufahrtsstraße entlang ihren Schein, und ein Schimmer Blau erfüllte die Luft. Dieser fiel durch die großen Fenster auch in die Zimmer unserer Wohnung, lag auf den Möbeln und Einrichtungen, drang in uns selbst ein, dass auch wir leichter wurden, färbte die Zeit mit Hoffnung und vorausblickenden Erwartungen. Papa, der in Brugg noch immer seinen Offiziersmantel aus schwarzem Leder getragen hatte, besaß nun einen eleganten Wollmantel, und ich durfte ihn nach dem Mittagessen zum Bahnhof begleiten, von wo er mit dem Zug zur Fabrik fuhr, in der er Direktor geworden war. Ich liebte es, neben dem großen, schlanken Mann zu gehen, der lange Schritte machte und die neuen, mit Lochmustern verzierten Bally-Schuhe beschwingt aufs Pflaster setzte. Er war nicht mehr der schwarze Mann, der nach dem Ruß der Gießerei roch wie in Brugg, und vor dem ich mich versteckt hatte. Ich war verstummt, solange er in der Wohnung gewesen war, behielt alles für mich, selbst zur Toilette wollte ich nicht gehen, wie stark der Drang auch sein mochte, wenn er da war. Doch nun hatte Papa ein Lächeln um den Mund, war ein Herr, der Mama küsste und beim Gehen die Hand auf meine Schulter legte. Er passte gut zu meinem Sandstein-Rot und Baumgarten-Gelb auf dem gemeinsamen Weg vom St. Jakob-Denkmal zum Bahnhof. Besonders in der schmalen Nebenstraße, die vom Boulevard abzweigte, spazierte ich mit Papa durch ein Stück meiner tagträumerischen Vergangenheit, ohne dass er davon etwas bemerkte. Die alten Häuser und Gärten, an denen wir entlanggingen, machten es leicht, mich mit dem großgewachsenen Mann an meiner Seite in die sandsteinrote Zeit zurückzuversetzen. In ihr blieb alles so, wie ich es im Museum gesehen hatte: Papa ginge immer weiter neben mir her, ein Herr, der seine Hand auf meine Schulter legte.

Mama hatte immer schon zur Vergangenheit gehört, zu einer, die für mich in Basel mit »Köln« und »Rumänien« zwei Namen bekam. In Brugg hatte sich diese noch namenlose Vergangenheit in einer vornehmen Unnahbarkeit ausgedrückt. Mama ließ sich nicht berühren. Sie war ein Standbild, von steinerner Kühle wie das St. Jakob-Denkmal. Ihr marmorweißer Teint passte gut zum Grau meiner monochromen Welt damals. Ich konnte sie lange betrachten, wie eine der Figuren in der Kinderbibel, sah zu, wie sie den Haushalt besorgte, ohne dass sich meine Gefühle verwirrten oder ich ihre Distanziertheit als einen Mangel an Zuwendung empfand. Nur manchmal, wenn Vaters Familie zu Besuch kam, bildeten sich auf dem marmorweißen Teint von Hals und Wangen Flecken von einem Rot, das es auch in den Mustern des Perserteppichs gab, dunkel und beunruhigend. Mama verachtete Vaters Eltern und Brüder. Sie hasste ihre Prahlerei, und sie wurde verachtet und gehasst wegen ihres »vornehmen Getues«. Ich aber sah während der Besuche zu Boden, wusste nicht, wohin ich blicken sollte, denn auch in Großvaters Gesicht stieg diese dunkle Röte auf.

Nach dem Umzug begann sich Mama an der städtischen, ihr mehr entsprechenden Umgebung, zu erwärmen. Sie nahm die leichte und durchsichtige Farbe der Gartenlandschaft an, für die der alte Föhrenbaum vor unserem Wohnhaus wie ein noch unbekanntes Zeichen stand. Er wuchs etwas seitlich von unserem Hauseingang, und sein schuppiger Stamm, der schlank und hoch aus dem Rasen drang, breitete auf Höhe unseres Balkons die Krone aus, einen Raum gewundener Äste, durch deren feine Nadelbüsche am Abend die Sonne schien und bläulich schraffierte Schatten auf die Hauswand warf. Auch Mama trug jetzt modisch elegante Kleider, flanierte mit mir durch die Straßen, an den Auslagen der Geschäfte entlang. Jeden Mittwoch begleitete ich sie in das Atelier eines Bildhauers. Während ich ihr Modell saß, hatte ich viel Zeit, Mama zu betrachten. Sie trug einen weißen, flappenden Mantel, und mich faszinierte, wie ihre gepflegten Hände in den Lehm griffen, ihn kneteten und formten. Ihre Schultern wurden breit, wenn sie ihr Gewicht auf den Klumpen Ton stemmte. Sie riss Stücke heraus, modellierte, wobei sie von der feuchten Masse in ihren Händen aufsah und zu mir hinblickte, die Augen weit geöffnet. Ich liebte, wie sie mich ansah, ich liebte diese Stunden, in denen ich einfach ruhig sitzen und dabei zusehen durfte, wie Mama eine Frau wurde, die sich bewegte wie andere auch, ohne geraden Rücken, ohne gestreckten Hals. Immer feiner wurden die Instrumente in ihrer Hand, je mehr der Lehmblock meine Züge annahm, und durch das zeitweilige Eingreifen des Bildhauers, eines massigen Mannes, der nah an Mama herantrat, und unter ihren Armen hindurch ihre Hände führte, formte sie aus dem Lehm meinen Kopf: Ein durch das Trocknen zunehmend graues Gesicht, das mit großen, doch blinden Augen in die Ferne sah.

Wir besaßen jetzt ein Auto, ein amerikanisches Modell, mit dem wir an den Wochenenden Ausflüge ins Elsass oder das Wiesental machten. Ich stand während der Fahrten vorne zwischen Mama und Papa und durfte den Richtungsweiser bedienen. Ein Stift war in der Mitte der Armatur angebracht, der beim Kippen nach der einen oder anderen Seite einen rot leuchtenden Zeiger zwischen den Türen hochklappen ließ. Nachfolgende Wagen wussten dann, in welche Richtung wir fahren wollten. Ich hatte nicht nur die wichtige Aufgabe, auf Papas Hinweise hin den Schalter zu betätigen, ich besaß auch eine panoramische Sicht auf die Landschaften, durch die wir fuhren. Doch vor der Windschutzscheibe breiteten sich nicht nur Wiesen und Äcker, Täler mit einem Bach zwischen Weiden aus, ich sah Zeugnisse aus einer zurückliegenden Zeit, die in mein Bild von der Vergangenheit als einer ruhigen, geordneten Welt, wie es sie im Museum gab, eine Angst vor künftiger Zerstörung brachte.

Der Zweite Weltkrieg gehörte zu Brugg, und obwohl ich kaum mehr als zwei Jahre alt gewesen war, als er zu Ende ging, besaß ich Erinnerungen an abendliche Verdunklungen, an das anschwellende Dröhnen der Bomber und den brandroten Nachthimmel hinter dem Brugger Berg. Mir hatte sich die Angst eingeprägt, die ich bei meinen Eltern spürte, wenn wir zum Unterstand liefen. Ich fürchtete den in die Tiefe führenden Gang, an dessen Ende eine Bombe als Schaustück hinter einem Gitter hing. Doch hatte es in diesen Erinnerungen keine sichtbare Zerstörung gegeben. Sie aber sah ich jetzt, während der Ausflüge ins Elsass: Zerschossene Häuser in den Dörfern, durch die wir fuhren, ausgebrannte, rostende Tanks auf einem Feld, kaputte Straßen und Bunker. Auf einem Acker fand mein Bruder den Helm eines Soldaten, und in der Dorfbeiz, in der wir zu Mittag aßen, hörte ich heimgekehrte Landser am Stammtisch laut und heftig reden. Obwohl ich nicht wirklich begriff, wovon die Männer sprachen, war auch in der Heftigkeit ihrer Rede etwas Zerstörtes, das zum Erschrecken wurde, als wir Verwandte von Mamas Schwägerin in Freiburg besuchten. Die Stadt lag in Trümmern, von einer Wucht zerschlagen, die außerhalb meiner Vorstellung war. Ich lief an leeren Hausfassaden entlang, durch deren Fenster ich den Himmel sah, stieg über Schutt, blickte in aufgerissene Zimmer, an deren Wänden noch Fetzen von Tapete hingen. In der Nähe des Münsters blieb ich vor einem »Mäuerchen«, wie ich es nannte, gebannt stehen. Es bestand aus geordneten gelblichen und roten Ziegelsteinen, die inmitten der mir unfassbaren Zerstörung behelfsmäßig aufgeschichtet waren, nicht einmal so hoch, wie ich mit vier Jahren groß war, und der Anblick erschütterte mich. Mama hatte alle Mühe, mich von diesen aus dem Schutt zusammengetragenen Steinen wegzuziehen, die an der Straße entlang auf einem Erdwall lagen. Sie wollte in das Ladengeschäft im Kellergeschoss eines Trümmerhauses gehen, in das Papa bereits hinabgestiegen war, in dessen dunklem Gewölbe er einen dreiarmigen Leuchter aus Schmiedeeisen kaufte. Die Kerzen waren aus Hundefett, honiggelb und rochen süßlich.