Sich lichtende Nebel - Christian Haller - E-Book

Sich lichtende Nebel E-Book

Christian Haller

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2023

Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiß nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 94

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiß nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weitererzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Zum Autor

Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Schweiz, geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiografischen Trilogie erschienen: »Flussabwärts gegen den Strom«. Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg. www.christianhaller.ch

Christian Haller

Sich lichtende Nebel

Novelle

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Covergestaltung: buxdesign, München

unter Verwendung eines Motivs von © Ruth Botzenhardt

ISBN 978-3-641-30144-6V002www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

Beim Aufstieg hatte sich der Nebel immer dichter um unseren enger werdenden Pfad geschlossen …

Werner Heisenberg,Der Teil und das Ganze

1

Im Frühjahr 1925 beeilte sich Helstedt von einem Besuch bei seinem Freund Sörensen nach Hause zu kommen. Es war spät und kühl geworden. Der Nebel trieb vom Meer herein, die Straßenlaternen warfen trübe Lichtkreise auf den Weg, und der bejahrte Herr mit Hut und in Mantel ahnte nicht, dass er eingangs des Faelledparken von einem jungen Deutschen beobachtet wurde. Dieser war Privatdozent und Gast am Kopenhagener Physik-Institut und hatte sich nach Stunden anstrengender Diskussionen um das Atommodell seines Mentors auf eine Bank hinter das Institut gesetzt. Noch immer kreisten Fetzen der Gespräche in seinem Gehirn, als der ihm unbekannte Helstedt im Lichtkreis der Straßenlaterne auftauchte. Die besprochenen physikalischen Fragen bewirkten, dass der junge Wissenschaftler das kurze Wegstück, das Helstedt von der Straße zum Faelledparken ging, nicht als ein alltägliches Geschehen sah. Vielmehr verfolgte er fasziniert, wie die undeutliche, etwas schattenhafte Gestalt den Lichtkreis betrat, nach wenigen Schritten im Dunkel verschwand, um im nächsten Lichtkreis erneut aufzutauchen. Während Helstedt einzig bestrebt war, möglichst rasch nach Hause zu gehen, dachte der junge Wissenschaftler an die Wahrscheinlichkeit, mit der Mantel und Hut im folgenden Lichtkreis wieder sichtbar würden. Einen Moment lang war es ungewiss, ob der Unbekannte tatsächlich wieder erschiene, da er eingetaucht in die Dunkelheit nicht zu sehen war, vielleicht den Weg verließ oder umkehrte, weil er etwas vergessen hatte. Würde andererseits er als Beobachter nur dann hingeblickt haben, wenn der Unbekannte sich im Dunkel befunden hätte, wäre dieser für ihn inexistent gewesen, denn ohne sein Beobachten gab es den Unbekannten nicht.

Der junge Wissenschaftler spürte, dass diese konkrete und anschauliche Beobachtung in einer Verbindung zu den besprochenen theoretischen Problemen stand. Von welcher Art diese war, blieb ihm unklar, und er war auch zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Er brauchte Ruhe und dringend etwas Erholung, atmete tief die frische Luft ein, und was er eben noch beobachtet hatte, sank aus dem Bewusstsein, verlor sich in der dichter werdenden Trübung seines Denkens. Dennoch merkte der junge Wissenschaftler und Beobachter, dass etwas Unbestimmtes, Unscharfes sein Denken berührt hatte, das irritierte. Es fühlte sich wie ein plötzlich angeworfenes Fieber an, das ihn leicht schwindlig machte, und das er später für ein erstes Anzeichen eines heftig ausbrechenden Heuschnupfens hielt.

2

Helstedt, der nicht ahnte, was er bei dem von ihm unbemerkten Beobachter ausgelöst hatte, ging seinen Weg weiter, kam ins offene, weite Gelände des Faelledparken. Seine große Zehe schmerzte, nicht nur beim Auftreten. Sie tat dies seit zwei Tagen. Er hatte gehofft, irgendwann würde dieser gleichbleibende, stechende Schmerz wieder verschwinden, wie er gekommen war, das tat er aber nicht. Selbst der reichlich genossene Wein vermochte ihn nicht zu betäuben. Er müsste wohl doch zum Arzt gehen, wie sein Freund Sörensen empfohlen hatte. Warum er nur jedes Mal mit ihm in Streit geriet? Auch an diesem Abend. Am Wein lag es nicht, wenigstens nicht hauptsächlich. Für Helstedt stand vielmehr fest: Sörensen war altersstarrsinnig geworden, sein Horizont hatte sich verengt. Dabei war er doch stets der Generalist gewesen, der gerne in großen Zusammenhängen gedacht hatte, sich bei den Details nicht aufhielt und im Aufzeigen epochaler Entwicklungslinien sein Vergnügen fand. Doch in den letzten Jahren hatte sich seine Auffassung verstärkt, einzig und allein das, was in Wörtern gefasst werden könne, sei wirklich: »Nur was formuliert ist, kann erkannt werden«, war nur eine der Maximen, die er immer wieder anführte und damit Helstedt zum Widerspruch reizte. Das sei dieser »Wortaberglaube«, der seit Augustinus und seiner Bibelauslegung als eines Tatsachenberichts das europäische Denken vergiftet habe – wobei Helstedt wusste, dass diese rotweingeschwängerte, nicht wirklich stichhaltige Behauptung Sörensen maßlos ärgerte. Mit jedem weiteren Glas wurde die Auseinandersetzung hitziger, und auf seinem Weg nach Hause nahm sich Helstedt vor, den Kontakt zu Sörensen abzubrechen. Es lohne die Abende nicht, die Diskussionen seien fruchtlos. Sie drehten sich stets um dieselben Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit, er sei nach jedem Treffen verärgert und habe am nächsten Tag Kopfschmerzen. Und doch würde er wieder hingehen. Er mochte Sörensen, er war sein einziger und ältester Freund. Sie kannten sich seit der Schulzeit, und Sörensen war der Klügere, Originellere gewesen. Während Helstedt Geschichte studierte und später eine Professur erhielt, arbeitete Sörensen mal hier, mal dort, meistens in untergeordneten Stellungen, die er nach kurzer Zeit wieder verließ. Er war auf die Einkommen nicht angewiesen. Seine Frau Helga stammte aus einer reichen Industriellenfamilie, und obwohl er beständig über Geldmangel klagte, verfügte er über genügend Mittel, um als »Privatgelehrter«, wie er sich gerne bezeichnete, seine Studien zu betreiben. Die Betrachtungen, die er gelegentlich schrieb, erschienen in Zeitungen oder Zeitschriften. Er sammelte diese feuilletonistischen Essays unter dem Titel »Begegnungen mit einem Zufallsbekannten«. Sie hatten zur Hauptfigur einen Herrn »alter Schule«, der einen Durchreisenden mit seinen unkonventionellen Ideen unterhielt und immer mal wieder behauptete: Wofür es keine Wörter gebe, das könne nicht existieren.

Der ewige Anlass ihres Streites.

3

Das Physik-Institut war ein längliches Gebäude mit anschließendem Wohnhaus, und der Beobachter hatte sich zur Rückseite begeben, um sich auf der Bank zu erholen. Es war angenehm gewesen, in das neblige Dunkel hinauszutreten, durchzuatmen, die Lungen mit frischer Nachtluft zu füllen und zu spüren, wie beruhigend die Kühle wirkte. Die wirbeligen Gedanken seines überhitzten Denkapparates verlangsamten sich, gingen allmählich in einen zähflüssigen Zustand über. Sie wurden zwar durch die Beobachtung jenes Unbekannten, der im Lichtkreis der Straßenlaterne erschien, im Dunkel verschwand und im nächsten Lichtkreis erneut sichtbar wurde, nochmals kurz angeregt. Doch der Beobachter war zu erschöpft, um sich zu fragen, was genau ihn durch das Erscheinen und Verschwinden des Fremden berührt hatte, und sowohl die Beobachtung wie seine Gedanken verloren ihre Aufmerksamkeit an ein Kribbeln, das einen heftigen Niesanfall auslöste. Die Nasenschleimhäute schwollen an, das eben noch genossene freie Atmen in der Nachtluft wurde mühsam, und etwas beunruhigt betastete er sein Gesicht. Augenlider und Wangen fühlten sich leicht geschwollen an, und er fragte sich, wie es möglich sei, sich in dieser kurzen Zeit zu erkälten? Vielleicht war es unklug gewesen, hinaus in Wind und Nebel zu treten. Im Auditorium des Instituts war es stickig gewesen, die Auseinandersetzungen hitzig. Er hätte wenigstens seine Jacke anziehen müssen. Auch hatte er kaum etwas gegessen und zu wenig getrunken, lediglich ein paar Kekse zum Tee um vier Uhr. Während der kurzen Unterbrechung oben in der Wohnung des Professors war das Gespräch fortgesetzt worden. Das Atommodell, das sein Mentor entworfen hatte, erklärte einige Eigenschaften im Verhalten von Atomen, die mit den empirischen Daten übereinstimmten. Andere Eigenschaften konnte es nicht erklären, und die Berechnungen verletzten die physikalischen Gesetze. Änderten sie geringfügig die Bezugsgrößen, gelang es mathematisch, die physikalischen Gesetze einzuhalten, doch die Ergebnisse deckten sich nicht mit den experimentellen Befunden. Wo lag der Fehler, was mussten sie ändern, damit die Annahmen des Atommodells den physikalischen Gesetzen entsprachen? Es war kaum denkbar, dass im atomaren Bereich andere Gesetze gelten sollten als in der herkömmlichen Physik.

Der Beobachter, zurückgelehnt auf der Bank hinter dem Institut, fühlte sich inzwischen nicht mehr nur müde, sondern krank. Er entschloss sich, seine Jacke und die Tasche im Auditorium zu holen und seine Pension aufzusuchen. Er würde nicht mehr zurückerwartet und wahrscheinlich war der Professor bereits wieder hoch in seine Wohnung gegangen. Der Beobachter rappelte sich auf, trat hinaus auf den Weg, um zurück zum Eingang des Instituts zu gehen. Während er durch die Lichtkegel der Straßenlaternen lief, dachte er keinen Augenblick an den Unbekannten, den er kurz zuvor noch beobachtet hatte und der in umgekehrter Richtung einmal im Licht aufgetaucht und dann im Dunkel wieder verschwunden war.

4