Die Wahrheit über das Sterben - Ernst Engelke - E-Book

Die Wahrheit über das Sterben E-Book

Ernst Engelke

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wir beschäftigen uns erst mit Sterben und Tod, wenn wir direkt damit konfrontiert werden. Dann stellen wir uns die Frage: Wie möchte ich sterben? Und wie kann man als Angehöriger trösten? Welche Möglichkeiten und Grenzen der Begleitung gibt es? Aus der Auseinandersetzung mit diesen Fragen und seiner jahrezehntelangen Arbeit als Sterbebegleiter zieht Ernst Engelke Rückschlüsse auf die Bedürfnisse aller Betroffenen und gibt Hilfestellung, um diese schwierige Zeit am Ende des Lebens besser meistern zu können. So entsteht ein eindringliches und hilfreiches Buch über den Umgang mit sterbenskranken Menschen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 291

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ernst Engelke

Die Wahrheit über das Sterben

Wie wir besser damit umgehen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Ernst Engelke

Inhaltsübersicht

MottoZur Einführung1 Unser Verhältnis zu Sterben und Tod ist ambivalentSterben und Tod sind kein TabuWas ist der Tod?Faszination Sterben und TodGesund leben – um nicht zu sterben?Sterben und Tod auf Abstand haltenDie moderne Hospiz- und PalliativbewegungWas ist «gutes Sterben»?Resümee Sterben und Tod faszinieren und erschrecken uns zugleich2 Von wem und wo Sterbenskranke versorgt und gepflegt werdenSterbenskranke haben ein Anrecht auf Versorgung und PflegeDie häusliche Pflege und ihre GrenzenFrauen pflegen – Männer halten sich rausSpezialisierung auf die Begleitung SterbenderSpannungen und Konflikte unter den AkteurenResümee Sterbenskranke zu begleiten ist eine wichtige Lebensaufgabe3 Warum kein Sterben dem anderen gleichtSterben «nach Plan»?Das GemeinsameDas PersönlicheCharakterzüge und Beziehungen verändern sichDie Sprache der Sterbenskranken ist tiefgründigKonfrontiert mit der eigenen LebensgeschichteLebensqualität und Wohlbefinden bleiben ZieleAngehörige und Freunde kämpfen mit – oder auch nichtResümee Das Persönliche der Sterbenskranken würdigen4 Sterbenskranke wissen, dass sie bald sterben müssenZwei ErkenntniswegeDas persönliche Erleben oder Die Boten des TodesDie Aufklärung durch den ArztDer Schock und seine AuflösungWie viel Zeit habe ich noch?Was Angehörige wissenAufklärungsgespräche belasten die ÄrzteWie wir mit «der Wahrheit» umgehenResümee Die Boten des Todes kommen und verbreiten Angst5 Sterbenskranke wollen nicht sterben, sondern leben, leben, lebenWas von Sterbenskranken erwartet wirdSterbenskranke weigern sich zu sterbenDer eigene Körper wird zum FeindDer Kampf gegen die zunehmende Abhängigkeit«Warum gerade ich?»Trauern über viele kleine und große VerlusteDas (Mit-)Leiden der Angehörigen und FreundeMüssen Leiden und Sterben akzeptiert werden?Resümee Akzeptieren, dass Sterbenskranke den Tod nicht akzeptieren6 Wie Angst und Hoffnung miteinander konkurrierenSterben ohne Angst?Angst und Panikattacken quälenAngststörungen und DepressionenNiemand lebt ohne HoffnungDie Rolle des GlaubensDas Spannungsfeld «Angst und Hoffnung»Die AmbivalenzschaukelResümee Sterbenskranke haben ein Recht auf Angst, Hoffnung und Unruhe7 Wenn das Leben ausgeschöpft istDie Einsamkeit – Zwilling des TodesMit den Kräften am EndeErschöpfte Angehörige und FreundeAmbivalente Gefühle und WünscheDen Tod vor Augen habenSich den Tod vorzeitig holenSich dem Tod ergebenEndgültiger Abschied?Resümee Erschöpfte sehnen sich nach Ruhe und Frieden8 Weshalb wir Sterbenskranke besser begleiten müssenWas uns an unserem Ende erwarten könnteDie Macht des Geldes: «Premiumsterben» und «Arme-Leute-Tod»Sterben im Krankenhaus – ohne Würde?Idee und Wirklichkeit der PalliativstationenStationäre Hospize – ein Paradies für Sterbende?Pflegeheime entwickeln sich zu Hospizen«Sterbe-Profis» sind auch nur MenschenSind Pflegeroboter und Euthanasiehäuschen unsere Zukunft?Die Menschenwürde der Sterbenskranken und der BetreuendenResümee Der Einzelne und der Staat verantworten gemeinsam, dass menschenwürdiges Sterben möglich istZum Schluss: Ermutigung zu einem besseren Umgang mit Sterben und TodLiteraturDank

Jeder der geht

belehrt uns ein wenig

über uns selber.

Kostbarster Unterricht

an den Sterbebetten.

Hilde Domin

Zur Einführung

Wir fürchten ihn, und doch kommt er unausweichlich: der Tod. Wer also ist nicht daran interessiert, dass dem Sterben von seinem Schrecken genommen wird? Vor der schmerzvollen Realität des Sterbens möchten wir uns schützen. Die einen versuchen es durch Ignorieren, andere durch Idyllisieren oder Glorifizieren. Das können sterbenskranke Menschen nicht mehr. Sie erleben, was im Sterben wirklich geschieht.

Kranken, sterbenden und trauernden Menschen bin ich in meinem Leben in verschiedenen Rollen begegnet: als Sohn, Neffe, Cousin, Freund, Kollege, Nachbar, Klinikseelsorger, Psychologe und Psychotherapeut. Viele Begegnungen sind mir noch gegenwärtig und wirken in mir nach.

In meiner Dissertation habe ich 153 Gedächtnisprotokolle, die 70 Klinikseelsorger über ihre Gespräche mit Sterbenskranken aufgeschrieben haben, ausgewertet.[1] Mit mehr als 600 Ärzten habe ich im Rahmen von Fortbildungen ihre palliativ-medizinische Behandlung besprochen und die Kommunikation zwischen ihnen und Sterbenskranken reflektiert. Über 80 Seminare und Workshops habe ich mit Pflegekräften zur Kommunikation mit Sterbenskranken durchgeführt. Dazu kommen zahlreiche Supervisionen und Projekttage mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Sozialstationen, Palliativstationen, Hospizen, ambulanten palliativ-medizinischen Diensten, Seniorenheimen und Hospizvereinen.[2]

In diesem Buch möchte ich weitergeben, was ich aus diesen Begegnungen über das Sterben gelernt habe, und aufzeigen, wie wir besser damit umgehen können. Es sind meine persönlichen Erfahrungen und Kenntnisse. Sind sie die Wahrheit über das Sterben? Darüber lässt sich streiten. Über «die Wahrheit am Krankenbett» und wie mit ihr umzugehen sei, wird seit Jahrzehnten auf Kongressen und in Kliniken diskutiert. Beinahe täglich stehen viele Ärzte vor der Aufgabe, ihren Patienten «die Wahrheit» zu sagen, nämlich die Wahrheit, dass sie bald sterben müssen. Diese Wahrheit ist vielfältig und komplex. Der Umgang mit ihr fordert heraus und strengt an. Die Vielfältigkeit und Komplexität des Sterbens und auch die des Umgangs mit dem Sterben und mit Sterbenden möchte ich darstellen. Dieses Sterben hat sowohl physische als auch psychische und soziale Aspekte. Ich möchte komplizierte Sachverhalte einfach beschreiben und erklären, ohne sie zu banalisieren. Zugleich möchte ich ermutigen, wahrhaftiger mit dem Sterben und Sterbenskranken umzugehen.

Töten, Mord, Krieg und Tod als Strafe sind nicht das Thema des Buches. Mein Thema ist das Sterben an einer Krankheit oder an einer tödlichen Verletzung. Fragen und Definitionen, ab wann jemand sterbend ist und wann jemand tot ist, behandle ich in diesem Buch nicht. Ich unterscheide Sterbenskranke und Sterbende. Ein sterbenskranker Mensch leidet an einer zum Tode führenden, unheilbaren Krankheit, stirbt aber noch nicht. Sterbende dagegen leben ihre letzten Tage oder Stunden.

Das Zusammenleben von gesunden und sterbenskranken Menschen erscheint mir wie das Spiel eines Schachspielers und eines Damespielers an ein und demselben B(r)ett. Beide spielen nach ihren eigenen Regeln – und aneinander vorbei. Die Gesunden, in der Metapher der Schachspieler, verfügen über 16 Figuren: einen König, eine Dame, zwei Türme, zwei Läufer, zwei Springer und acht Bauern. Die Figuren können vorwärts- und rückwärtsbewegt werden, sie können laufen und springen. Alle Felder des Brettes können genutzt werden. Der Damespieler, in der Metapher der Sterbenskranken, hat dagegen nur 12 flache, runde Steine. Nutzen darf er nur die dunklen Felder des Brettes. Die Steine darf er jeweils nur ein Feld in diagonaler Richtung und auch nur vorwärtsbewegen. – Wie kann da ein Zusammenspiel entstehen?

Schachspieler sind oft stolz auf ihr königliches Spiel. Dame zu spielen ist unter ihrer Würde. Sie lassen sich ungern dazu hinab. Im Leben ist es leider so, dass gesunde Menschen irgendwann krank und auch sterbenskrank werden. In der Metapher ausgedrückt: Das königliche Spiel ist vorbei, und der Schachspieler muss «Dame spielen». Sehnsüchtig blicken wir, wenn es uns trifft, zurück und erleben, dass Schachspieler nichts mit uns zu tun haben wollen.

Das Urteil Sterbenskranker über den Umgang mit Sterben und Tod in der Gesellschaft kann sehr hart sein. Stellvertretend für sie lasse ich den sterbenskranken Christoph Schlingensief zu Wort kommen: «Man kann versuchen, die Verblödung, mit der Krankheit, Leiden, Sterben und Tod in unserer Gesellschaft diskutiert wird, wenigstens im Kleinen ein wenig aufzuhalten. Denn gequatscht wird ja ununterbrochen, das ist ja gar nicht zu fassen, wie viel Blödsinn geredet und geschrieben wird übers Dahinvegetieren, über die Würde, die angeblich verlorengeht, wenn man nicht mehr alleine scheißen kann oder was weiß ich.»[3]

Aus Sicht Sterbenskranker – und auch aus meiner Sicht – sind Klischees, Idealisierungen, Ideologien und falsche Behauptungen über das Sterben und das Erleben Sterbenskranker weit verbreitet, auch in der medizinischen Fachliteratur und in der Palliativ- und Hospizbewegung. Sie lassen erkennen, dass zwar viel über Sterben und Tod diskutiert, aber selten mit Sterbenskranken gesprochen und ihnen zugehört wird. Meine Erfahrung ist: Diese Klischees, Idealisierungen und Ideologien über das Sterben und das Erleben Sterbenskranker stehen fast immer im Widerspruch zum wirklichen Erleben Sterbenskranker und Sterbender sowie zu den realen Möglichkeiten ihrer Betreuer. Außerdem führen sie zu falschen Erwartungen, unnötigen Belastungen und unberechtigten Schuldgefühlen bei allen, die Sterbenskranke begleiten. Zudem verhindern abgehobene Diskussionen über Sterben, Tod, Sterbebegleitung und Sterbehilfe sowie über Hospize, Palliativstationen und Pflegeheime oft eine offene und ehrliche Begleitung Sterbenskranker; sie sind ein Grund für deren Einsamkeit in unseren Tagen.[4]

Unser Reden und Handeln mit Sterbenskranken sollte daher nicht durch eigensinnige Bilder und Vorstellungen vom Sterben geleitet werden. Wir haben uns am wirklichen Erleben und Verhalten der Sterbenskranken zu orientieren; deren Lebenswirklichkeit korrigiert unsere Annahmen nachhaltig.

Mich erstaunt: Der Europarat moniert, dass in Deutschland vor allem einheitliche politische Vorgaben und Strategien zur Palliativversorgung und Hospizarbeit fehlen würden. Betroffene, und als solche werden die Patienten und ihre Angehörigen charakterisiert, würden insbesondere am Lebensende – trotz des normalerweise guten medizinischen Standards und der damit oft auch einhergehenden hohen Kosten – bisher häufig nicht bedarfsgerecht versorgt. Selbstbestimmung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben seien nicht in der Weise gewährleistet, wie es wünschenswert wäre. Beispielhaft werden hier die oft fehlende Integration von psychosozialer und spiritueller Unterstützung sowie die immer noch nicht ausreichende Berücksichtigung ehrenamtlicher Hilfsangebote genannt. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat der Analyse des Europarates zugestimmt und ebenfalls festgestellt, dass trotz vieler guter Ansätze eine bedarfsgerechte Versorgung in Deutschland noch aussteht.[5]

Was heißt bedarfsgerecht? Wer stellt den Bedarf fest? Und nach welchen Kriterien? Vergessen wird: Sehr, sehr viele Menschen setzen sich heute in Deutschland dafür ein, dass Menschen bei sich zu Hause, im Krankenhaus, auf einer Intensiv- oder Palliativstation, im Hospiz und auch im Senioren- oder Pflegeheim würdig sterben können und auch würdig sterben. Sie tun das oft vorbildlich, obgleich die Bedingungen für diese Arbeit nicht immer günstig sind. Wir schulden ihnen Dank und Wertschätzung. Bei aller notwendigen Kritik darf nicht vergessen werden, dass – so vermute ich gut begründet – in Deutschland kaum jemals zuvor Sterbenskranke und Sterbende so aufmerksam und unterstützend betreut worden sind, wie das heute vielfach geschieht.

Noch ein paar Anmerkungen zu meiner Darstellungsweise: Immer wieder habe ich, um etwas zu verdeutlichen, Beispiele aus der Literatur in das Buch eingefügt. Ich habe bewusst auch Autoren aus früheren Jahrhunderten einbezogen. Sie zeigen: Sterbenskranke haben zu allen Zeiten ähnlich empfunden. Der Prozess des Bewusstwerdens und der Kampf gegen das Wissen «Ich muss bald sterben» ist von Schriftstellern erschütternd lebendig beschrieben worden: Alexander Solschenizyn beschreibt in seinem Roman «Krebsstation» das Zusammenleben der Patienten auf einer Krebsstation. Isabel Allende lässt uns am Sterben ihrer Tochter «Paula» teilnehmen. Siegfried Lenz schildert in «Der Verlust», wie ein Journalist seine Sprache verliert. In seiner Novelle «Der Tod des Iwan Iljitsch» lässt Lew Tolstoi uns die Tiefe menschlicher Angst vor dem Tod nachempfinden. Mitch Albom gibt in «Dienstags bei Morrie. Die Lehre eines Lebens» die Interviews mit seinem an ALS erkrankten Professor wieder.

Besonders wertvoll sind mir natürlich Aufzeichnungen der Autoren, die ihr eigenes Erleben beschrieben haben: Robert Gernhardt lässt uns in seinen Gedichtbänden «K-Gedichte» und «Später Spagat» an seinem selbstironischen Kampf als Herz- und Krebskranker teilnehmen. Fritz Zorn beschreibt in «Mars» seinen Zorn auf seinen Krebs und seine Eltern. Maxie Wander lässt uns ihr Tagebuch «Leben wär’ eine prima Alternative» lesen. Ruth Picardies Ehemann hat die E-Mail-Korrespondenz seiner sterbenskranken Frau «Es wird mir fehlen, das Leben» veröffentlicht. Peter Nolls «Diktate über Sterben und Tod» und «Das Leben ist der Ernstfall» von Jürgen Leinemann sind Reflexionen Sterbenskranker über das eigene Sterben und den Umgang mit Sterben und Tod in unserer Gesellschaft. Christoph Schlingensief hat sein Erleben als Sterbenskranker täglich auf Band diktiert, daraus entstand «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein». Arno Geiger erzählt in «Der alte König in seinem Exil» von seinem Vater, dem die Erinnerungen abhandenkommen und dessen Orientierung in der Gegenwart sich auflöst. Peter Gross beschreibt in «Ich werde sterben» das Sterben seiner Frau.

Wenn ich aus diesen Werken zitiere, gebe ich die Quelle an. Darüber hinaus habe ich auch Aussagen von Sterbenskranken, Angehörigen, Ärzten und Pflegenden aus meinem persönlichen und beruflichen Umfeld aufgenommen, verfremdet und ohne Quellen anzugeben.

Gesunde Menschen muten sich selten zu, Sterbenskranke zu berühren und damit sich selbst zu begegnen. Beides wird abgewehrt. Mitunter sogar gerade dadurch, dass man ständig über das Sterben – über das Sterben der anderen, natürlich – spricht. Sterbenskranke können nicht nur, sondern sollten uns wegweisende Lehrer sein. Um die Metapher aufzugreifen: Kluge Schachspieler befassen sich frühzeitig mit dem Damespiel.

Es mag sein, dass Sie beim Lesen persönlich berührt werden, sich an Begegnungen mit Sterbenden erinnern und traurig werden. Dann brauchen Sie jemanden, dem Sie Ihr Herz ausschütten können. Die aufgebrochenen Fragen und Gefühle sind allein kaum auszuhalten. Das weiß und kenne ich. Ich wünsche Ihnen dann einen Menschen in Ihrer Nähe, der Ihnen zuhört, Sie so annimmt, wie Sie gerade sind, bei dem Sie Wärme und Wertschätzung erfahren, der nicht erklärt, abwehrt und wertet, sondern einfach bei Ihnen ist und mit Ihnen aushält.

1Unser Verhältnis zu Sterben und Tod ist ambivalent

Sterben und Tod sind kein Tabu

«Sie werden sterben» – mit diesem Schock-Spruch wollte die ARD im Herbst 2012 aufrütteln. Auf allen Kanälen ging es damals eine Woche lang um die Themen Sterben, Tod und Trauer. Die Themenwoche «Leben mit dem Tod» war mit Hospiz- und Palliativexperten erarbeitet worden. Sie sollte dazu beitragen, das Reden über Sterben und Tod in unserer Gesellschaft zu enttabuisieren und langfristig eine neue Kultur des Sterbens und Trauerns aufzubauen. Ob dieses Ziel wirklich erreicht worden ist?

«Nichts gegen das Thema, aber in dieser Ballung ist das schwer erträglich», reagierte dann auch Christian Stöcker, Journalist bei SPIEGEL-ONLINE. «Meine Sterblichkeit ist mir durchaus bewusst. Genauso wie die der Menschen, die ich liebe. […] Die Tatsache, dass du (liebe ARD) mich jeden Morgen an der Bushaltestelle, in ganzseitigen Magazin-Anzeigen, auf Plakatwänden und sonst überall ständig mit den fettgedruckten Worten ‹SIE WERDEN STERBEN› belästigst, in einer nebligen, verregneten Novemberwoche voller toter Blätter und kahler Bäume, empfinde ich als Unverschämtheit.»[6] Stöcker hat für viele gesprochen, auch für mich.

Die Kampagne wurde damit gerechtfertigt, dass der Tod als die größte Bedrohung des Lebens tabuisiert sei, ganz und gar aus dem Leben ausgeblendet, hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlagert oder jedenfalls aus dem öffentlichen Leben verbannt. Mit diesen oder ähnlichen Behauptungen beginnen fast alle Publikationen, die sich mit Sterben und Tod befassen.

Ich bin der Ansicht: Sterben und Tod lassen sich gar nicht tabuisieren, selbst, wenn wir es versuchen würden. Sie sind überall gegenwärtig. Und, viel wichtiger noch: Sie werden auch nicht tabuisiert, wie die Reaktion vieler auf die ARD-Themenwoche zeigt. Ganz selbstverständlich werden die Wörter «Sterben» und «Tod» im Alltag benutzt: Todesflug. Tödliches Ende einer Reise. Blutiger Sonntag. Spiel auf Leben und Tod. Sterbehilfe. Unsterblich verliebt. Friss oder stirb. Sie sind als Faktum und als Metapher allgegenwärtig, ohne dass unbedingt gleich ein persönlicher Bezug hergestellt wird. Und immer wieder erkranken Menschen in unserer Nähe tödlich und sterben. Dann trifft es uns, und als Angehörige und Freunde trauern wir um sie. Schließlich wissen wir nur zu gut, dass auch wir irgendwann sterben müssen.

Der Büchermarkt ist mit Publikationen zu Sterben und Tod überschwemmt. Die Schlagzeilen der Printmedien berichten von tödlichen Katastrophen. Zeitschriften und Magazine beschreiben tödliche Erkrankungen und Selbstmorde von Prominenten; Sterbende und Tote füllen Nachrichten- und Sondersendungen. In Großaufnahmen wird gezeigt, wie Menschen erschossen, lebensgefährlich Verletzte aus Trümmern gezogen und Leichen nach einem Attentat weggeschafft werden. Wir können in unserem Wohnzimmer dem Sterben in der ganzen Welt zuschauen. Somit zeigt sich: Die Rede von der Tabuisierung des Todes geht völlig an der Wirklichkeit vorbei.

Die Wahrheit ist vielmehr: Unser Verhältnis zu Sterben und Tod ist zwiespältig. Wir sind fasziniert und erschrecken zugleich. Gedanken an den Tod fesseln uns und machen uns neugierig. Nicht minder ängstigen sie uns und lassen uns in unserem tiefsten Inneren erzittern.

Der Lust, Sterben und Tod zu erleben, steht die Angst, selbst sterben zu müssen oder geliebte Menschen sterben zu sehen, gegenüber.

Was ist der Tod?

Bevor wir uns damit beschäftigen, wie wir mit Tod und Sterben umgehen, sollten wir den Tod selbst in den Blick nehmen. Was ist der Tod? Diese Frage mag zunächst seltsam erscheinen, denn es scheint doch offensichtlich zu sein: Der Tod ist das Ende des Lebens. Und der Tod steht jedem von uns bevor. Da wir aber nicht wissen, wann er zu uns kommt, leben wir, als ob er es nie täte. Wir wollen nicht wahrhaben, dass er uns treffen wird, obgleich er uns das Gewisseste ist. Daher ist es sinnvoll zu fragen: Was wissen wir tatsächlich von ihm, was können wir überhaupt über ihn wissen? Welche Geheimnisse birgt er? Ist er ein Phänomen? Gar eine Person? Männlich oder weiblich? Geschlechtslos? Ist der Tod nur Übergang? Darf man Leben unter gewissen Voraussetzungen bewusst beenden? Ab wann spricht man überhaupt von Leben, wann vom Tod? Wo liegt die Grenze zwischen beiden?

Wie schwierig diese Fragen zu beantworten sind, beweisen die hitzigen Debatten, wenn es um Fragen nach dem Zeitpunkt des Todes geht, um das Recht auf Tötung bzw. Selbsttötung von Menschen (Schwangerschaftsabbruch, Euthanasie, Suizid), den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod oder die Frage nach einem Fortleben nach dem Tod (Unsterblichkeit) und ob sich die Todesgewissheit auf die eigene Lebensführung auswirkt.

«Wenn von Tod und Unsterblichkeit gesprochen wird – wir wissen nichts», schreibt der Arzt und Philosoph Carl Jaspers (1883–1969).[7]

Betrachtet man den Tod aus der Perspektive der biologischen und medizinischen Wissenschaften, scheint die Antwort auf unsere Fragen auf den ersten Blick einfach: Sie bezeichnen Tod als das Erlöschen wesentlicher organischer Vorgänge (Lungentod, Herztod, Hirntod). Vom «natürlichen» Tod aufgrund von Erkrankungen oder/und Alterungsprozessen wird der «unnatürliche» Tod durch äußere Einwirkung unterschieden. Gestritten wird darüber, wann genau der Tod eintritt und wie man diesen Zeitpunkt feststellen kann. Die Entscheidung darüber ist wichtig, zum Beispiel, wenn Organe für eine Organspende entnommen werden sollen.

Noch komplizierter wird es, wenn man den Tod philosophisch, theologisch und juristisch betrachtet. In letzter Konsequenz sind zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen verbreitet:

Der Tod beendet das Leben, die körperlich-organische und aktive, physisch feststellbare geistige Existenz eines Lebewesens endgültig. Der Mensch wird ganz und gar vernichtet. Der Verstorbene existiert nicht mehr. Er kann nur noch in der Erinnerung der Überlebenden oder in seinen Werken weiterleben.

Der Tod beendet zwar das biologische, physikalische Leben, nicht aber den Menschen an sich. Der Tod ist vielmehr ein Übergang, eine Tür. Er führt zu einem neuen Leben oder zum Weiterleben in einem völlig anderen Seinszustand (Unsterblichkeit, Totenreich, Jenseits, Auferstehung, Himmel, Hölle).

Religion und Philosophie bieten vielfältige Auffassungen und Vorstellungen zum Leben mit und nach dem Tod an: Für Platon (427–347 v. Chr.) zum Beispiel ist der Tod philosophisch gesehen ein personaler Übergang in die Welt der Ideen, eine Vorstellung, die in vielen Religionen auch vorkommt. Nach Thomas von Aquin (1227–1274) steht der Tod der Glückseligkeit des Menschen in seinem irdischen Leben grundsätzlich im Wege. Es bleibt ihm daher nur die Hoffnung auf eine Glückseligkeit nach dem Tode aus göttlichem Wirken heraus. In der Moderne verlieren die Hoffnung auf Unsterblichkeit und der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod zunehmend an Bedeutung. Der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch (1903–1985) untersucht zum Beispiel in seinem Buch «La mort» (1977) «den Grenzfall Tod in seiner ganzen Banalität und Fremdheit, in seiner Widersprüchlichkeit» und auch im Zusammenhang mit dem Nachdenken über den Tod in der Philosophiegeschichte. Für ihn ist der Tod das Prinzip unserer Vernichtung: «Der Tod läßt uns an der Vernunft des Seins zweifeln und flüstert dem Menschen früher oder später ins Ohr: Wozu das alles?»[8]

Aus den philosophischen und religiösen Vorstellungen kann jeder für sich persönlich ableiten, als was er den Tod ansieht und was diese Vorstellung für sein Leben bedeutet. Verbinden wir mit dem Tod das Ende von Leid und Schmerz, den Eingang in die ewige Gemeinschaft mit Gott, die Vernichtung unserer Existenz? Müssen wir ihn als Todfeind unseres Lebens bekämpfen? Hat Gott den Tod gebracht und müssen wir – nach Auffassung von Elias Canetti[9] – Gott deswegen hassen? Es ist eine persönliche Entscheidung, welche «Lehre» man für sich annimmt und ob und in welchem Umfang man sein Leben danach ausrichtet.

Im Leben können wir keine gesicherte Antwort erhalten, welche der diskutierten Auffassungen und Lehren wirklich stimmt. Die Antwort ist und bleibt ein Geheimnis des Todes.

«Bevor wir geboren sind, ist alles offen im Universum ohne uns.

Denn so lange wir leben, ist alles geschlossen in uns.

Und wenn wir sterben, ist alles wieder offen.

Offen geschlossen offen. Das ist alles, was wir sind.»

Yehuda Amichai (1924–2000)

Faszination Sterben und Tod

«Da die Menschen unfähig waren, Tod, Elend, Unwissenheit zu überwinden», erklärte der französische Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) «sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken. […] Der Tod, an den man nicht denkt, ist leichter zu ertragen als der Gedanke an den Tod überhaupt. […] Als man das erkannte, wählte man die Zerstreuung.»[10]

Die Medien nutzen diese Weisheit: Sie bieten den Menschen Ablenkung, auch und gerade, was das Thema Sterben angeht. Falls Sie heute Abend den Fernseher einschalten, können Sie sich – da bin ich mir ziemlich sicher – auf fast allen Kanälen durch Sterben und Tod unterhalten lassen. Täglich werden Sendungen aus dem Action-Thriller-Krimi-Genre zu den besten Sendezeiten angeboten: «Ich sterbe, du lebst» – «Rendezvous mit dem Tod» – «Der Tod fährt mit» – «Stirb, damit ich glücklich bin».

Die hohen Einschaltquoten zeigen, wie beliebt solche Sendungen sind, aber auch, wie stark dadurch unsere Bilder und Vorstellungen von Sterben und Tod bestimmt werden: Sterben wird mit Qual, Gewalt und Töten verbunden. Seit fast fünf Jahrzehnten läuft «Tatort», für viele ist das gemeinsame Schauen der Krimiserie ein beliebtes Ritual am Sonntagabend. Es gibt mehr als neunhundert Folgen; die Sendung hat inzwischen Kultstatus erreicht. Während wir dem Sterben anderer zuschauen, rekeln wir uns bequem im Fernsehsessel, trinken Bier, naschen Pralinen und beklagen uns gegebenenfalls über die enttäuschenden Schauspieler.

Im Internet werden Sterben und Tod virtuell kommuniziert: Es gibt zahlreiche Ego-Shooter-Spiele, die man online spielen kann.

Für manche Zeitgenossen reicht der virtuelle Kitzel nicht aus. Die einen reisen zur «Criminale», dem größten deutschsprachigen Krimifestival. Hinter dem Festival steht das «Syndikat», eine Vereinigung von mehr als achthundert Krimiautoren. Die anderen besuchen die Ausstellung «Körperwelten». Der Plastinator Gunter von Hagen lässt enthäutete Menschen- und Tierkörper mit Kunststoff füllen, aushärten und die so präparierten Leichen lebensnah ausstellen: Ein Basketballer wirft den Ball in den Korb. Ein Radler fährt mit seinem Fahrrad. Die «Körpermaschinen» leben zwar nicht mehr, «funktionieren» aber noch: Sie befriedigen unsere Schaulust.

Wem das nicht reicht, der fährt unverzüglich zur nächsten Unglücksstelle. Dort kann er aus sicherer Entfernung die Katastrophe und den Kampf der Rettungskräfte um das Leben der Unfallopfer miterleben. Die Rettungsdienste beklagen zunehmend, dass Gaffer sie bei ihrer Arbeit behindern. Appelle, von diesem Tourismus abzusehen, scheinen eher das Gegenteil zu bewirken.

Die skizzierte Entwicklung ist nichts Neues: Sterben und Tod dienten auch früher der Zerstreuung: Der Lust der Menschen, sich durch sie unterhalten zu lassen, wurde zu allen Zeiten und in allen Kulturen vielfältig Rechnung getragen. Die Römer vergnügten sich vor 2000 Jahren an den Kämpfen der Gladiatoren auf Leben und Tod. Zeitzeugen beschreiben, wie im Mittelalter das ganze Dorf erwartungsvoll auf den Anger oder den Galgenberg spazierte, um sich das Schauspiel einer Hinrichtung anzusehen. Diese waren äußerst grausam: So wurden zum Beispiel Verurteilte nackt in einen eisernen Käfig eingesperrt und dieser aufgehängt, bis die Menschen qualvoll verdursteten oder erfroren. Ihre Überreste wurden nach ihrem Tod noch eine Zeitlang in dem Käfig belassen, um die Bevölkerung der Stadt davon abzuhalten, ähnliche Straftaten wie die Verurteilten zu begehen.[11]

Mord und Totschlag werden und wurden auch in der Kunst kultiviert. In Literatur, Schauspielen und Opern geht es seit Jahrhunderten um Liebe, Eifersucht, Intrigen, Ehebruch, Verrat mit Tod, Mord und Suizid. Auf den Bühnen der Theater und Opernhäuser der ganzen Welt sterben bis heute Hamlet, Jedermann, die Jungfrau von Orleans, Norma, Tristan, Isolde, Othello, Desdemona. Und das Publikum genießt die Sterbeszenen.

Diese Beispiele zeigen eindrücklich, dass von einer Tabuisierung nicht die Rede sein kann, im Gegenteil: Tod und Sterben sind in gewisser Weise faszinierend allgegenwärtig.

Gleichzeitig ist der Wunsch, selbst nicht sterben zu müssen, so alt wie die Menschheit, und wir tun – verständlicherweise – viel, ihn möglichst hinauszuzögern und gesund zu bleiben. Auch manch Hundertjähriger schmiedet Zukunftspläne und bekämpft seine Erkrankungen.

Gesund leben – um nicht zu sterben?

Gesundheit ist unser höchstes Gut: «Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.» Kaum ein anderer Aphorismus Arthur Schopenhauers (1788–1860) wird so häufig zitiert wie dieser. «Neun Zehntel unseres Glücks beruhen allein auf der Gesundheit», schrieb der vor 150 Jahren verstorbene Philosoph. «Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses.»

Noch nie wurde in Deutschland so viel Aufmerksamkeit auf Ernährung und gesunden Lebensstil gerichtet wie heute. Viele Kochbücher und Ratgeber zum gesunden Leben sind Bestseller. Ärzte schreiben über die Kunst, gesund zu leben. Selbsternannte Experten stellen immer neue Regeln auf, wie man fit bleibt. Mit dem Hinweis «Das ist gesund!» lässt sich fast alles verkaufen.

Die Gesundheitsindustrie – dazu gehören selbstverständlich auch alternative Heiler und Heilmethoden – lebt nicht schlecht von der Weigerung der Menschen, krank zu werden, krank zu sein und zu sterben.

Und auch auf der politischen Ebene tut man einiges, um die Behandlung der großen Volkskrankheiten zu verbessern und ihnen vorzubeugen.

So möchte man mit der bisher größten medizinischen Langzeitstudie Deutschlands neue Erkenntnisse im Kampf gegen Krebs, Diabetes und Demenz gewinnen. 200000 Personen sollen daran teilnehmen.[12] Dementsprechend unterstützt die Gesundheitsministerkonferenz die Aktivitäten des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit. Diesem Verbund gehören 61 Organisationen an. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit der Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen, bei Arbeitslosen, bei Älteren und im Stadtteil. Das Motto der Aktivität benennt zugleich ihr Ziel: «Gesund aufwachsen für alle!»[13] Außerdem möchte die Bundesregierung die Gesundheitsvorsorge mit einem Präventionsgesetz fördern.

Auch jeder Einzelne von uns tut sein Möglichstes, lange gesund zu bleiben. Und wenn wir krank sind, tun wir (fast) alles, um wieder gesund zu werden. Je intensiver wir uns um unser Gesundsein sorgen, desto stärker wehren wir uns gegen das, von dem wir ahnen, dass es auf uns zukommen könnte. Unser Engagement für unsere Gesundheit ist letztlich nichts anderes als unser persönlicher Kampf gegen Krankheit, Sterben und Tod – und das ist seit Menschengedenken so.

Sterben und Tod auf Abstand halten

Zu diesem Kampf passt, dass wir – jenseits von Entertainment – den Tod und das Sterben meiden: Eine Sache ist es, Sterben und Tod abgeschirmt in den Medien zu erleben und sich dadurch unterhalten zu lassen. Eine völlig andere Sache ist es dagegen, mit Sterbenskranken selbst zusammen zu sein, ihnen persönlich zu begegnen, sich von ihnen berühren zu lassen. Die Mehrzahl der Deutschen scheut solche Begegnungen: Als in einer Kleinstadt ein Hospiz für Sterbende eingerichtet werden sollte, wehrten sich die Nachbarn vehement. Sie wollten sich den Tod vom Leibe halten: «Das Hospiz muss vor die Stadt, ins Grüne.» Unterstützt wurden sie von Mitgliedern des Stadtrates. Die Bürger hatten Erfolg mit ihrem Protest. Das Hospiz wurde in einem anderen Ort gebaut.

Es scheint, als seien Altenheime und Pflegestationen von unsichtbaren Zäunen umgeben, einer Bannmeile. Wer nicht unbedingt muss, vermeidet es, dort hinzugehen; selbst dann, wenn man jemanden besuchen will, fühlt man einen inneren Widerstand und neigt dazu, den Besuch möglichst hinauszuschieben.

Dieser Widerstand wird dadurch verstärkt, dass über diese Einrichtungen oft schlecht geredet wird: «Die Versorgung alter Menschen ist katastrophal» – «Nicht einmal satt und sauber» – «Unterernährung und Flüssigkeitsmangel sind in deutschen Pflegeheimen an der Tagesordnung» – «Das Altenbett ist ein Gefängnis» – «Die Pflege: eine organisierte Entwürdigung der Alten» – «Albtraum Altenpflege» – «Chronik eines unwürdigen Todes».

Alle sind sich einig: Schlechte Pflege ist nicht akzeptabel, und jeder einzelne Fall von Vernachlässigung ist ein Fall zu viel. Als Verantwortliche für die unwürdigen Zustände in den Heimen werden vor allem die Politiker und die Träger der Einrichtungen beschuldigt: Sie seien nicht bereit, genügend Geld zur Verfügung zu stellen, um mehr Personal einstellen zu können. Und auch den Pflegenden wird vorgeworfen, sie würden sich nicht ausreichend um die Pflegebedürftigen kümmern, selbst wenn sie genügend Zeit hätten.

Meiner Ansicht nach sollte man überprüfen, ob die beklagten Skandale und Notstände nicht auch auf eine generell fehlende Bereitschaft der Gesellschaft, konkret von uns, sich alten und sterbenskranken Menschen zu nähern und sie zu begleiten, zurückzuführen sind. Soweit ich sehe, wird dieser Aspekt weder bei öffentlichen Diskussionen noch in den Fachkreisen gebührend berücksichtigt.

Selbstverständlich gibt es Angehörige und Freunde, die diesen Liebesdienst tun. Das kann man gar nicht genug anerkennen. Andere würden es gern tun, werden aber aus Gründen, die sie persönlich nicht zu verantworten haben und auch nicht ändern können, daran gehindert. Die große Mehrheit meidet jedoch die Nähe zu sterbenden Menschen und versucht so, der Konfrontation mit der Pflegebedürftigkeit und dem persönlichen Verfall auszuweichen.

Deshalb werden sterbenskranke und pflegebedürftige Menschen an «Profis» und spezielle Einrichtungen abgegeben. Dort können sie jedoch nicht so gepflegt und versorgt werden, wie die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen es sich wünschen: Das notwendige Personal fehlt, und das vorhandene Personal ist oftmals überfordert. Andererseits sind Angehörige, wie in den Heimen beklagt wird, selten bereit, selbst ihren Teil zur Pflege beizutragen – sei es durch Besuche oder Ähnliches. Sie würden eher dazu neigen, sich über vermeintliche oder wirkliche Mängel aufzuregen und die Pflege generell zu skandalisieren.

War das früher genauso? Gab es einmal einen besseren, menschlicheren Umgang mit sterbenskranken Menschen?

Oft wird kolportiert, früher seien die Menschen im Kreis ihrer Familie friedlich gestorben, sie hätten weniger Angst vor dem Sterben gehabt. Der Tod wäre akzeptiert worden – er gehörte zum Leben einfach dazu. Ist das nur ein beliebtes Klischee? Oder stimmen diese Aussagen wirklich?

Der französische Historiker Philippe Ariès (1914–1984) behauptet das jedenfalls. In seiner vielzitierten Studie «Geschichte des Todes» (1982) führt er aus, dass fast zwei Jahrtausende lang im Abendland die Grundeinstellung der Menschen zum Tod nahezu unverändert geblieben sei. Der Tod sei ein vertrauter Begleiter, ein Bestandteil des Lebens gewesen, er sei akzeptiert und häufig als eine letzte Lebensphase der Erfüllung empfunden worden. Erst seit dem 19. Jahrhundert habe sich ein entscheidender Wandel vollzogen: «Der Tod ist für den heutigen Menschen angsteinflößend und unfassbar, und er ist außerdem in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den »eigenen Tod« betrogen.»[14]

Fundierte Kritik an diesen Behauptungen wird – bis heute – weitgehend ignoriert, obwohl es sie gibt. «Romantischen Geistes sieht Ariès im Namen der besseren Vergangenheit mit Misstrauen auf die schlechtere Gegenwart», kritisierte zum Beispiel Norbert Elias (1897–1990): «So reich sein Buch an historischen Belegen ist, seiner Auslese und Interpretation muß man mit großer Vorsicht begegnen. […] Ruhiges Sterben in der Vergangenheit? Welche Einseitigkeit der historischen Perspektive!»[15]

Und tatsächlich: Zieht man historische Quellen heran und verzichtet dabei auf eine einseitige Auswahl, dann zeigt sich ein differenziertes, wenn nicht sogar konträres Bild. In dem im Jahr 1404 erschienenen Büchlein «Der Ackermann», das zu den bedeutendsten Prosadichtungen des späten Mittelalters gehört, findet man beispielsweise folgende Anklage: «Grimmiger Zerstörer aller Länder, schädlicher Verfolger aller Welt, grausamer Mörder aller Leute, Ihr Tod, Euch sei geflucht! […] Angst, Not und Jammer verlassen Euch nicht, wo Ihr umgeht; Leid, Trübsal und Kummer, die geleiten euch allenthalben. […] Angst und Schrecken trennen sich von Euch nicht, Ihr seid, wo Ihr seid! Von mir und der Allgemeinheit sei über Euch wahrhaft Zeter geschrien mit gewundenen Händen.»[16]

Und auch der Königsberger Arzt Johann Jakob Woyth (1671–1709) schrieb in seinem 1701 verfassten Lexikon mit dem Namen «Medicinische Schatz Kammer»: «Mors, der Tod, ist die Scheidung der Seelen von dem Leibe, das Ende alles menschlichen Elends, der Anfang der ewigen Freude und wahren Ruhe, scheinet dennoch einigen, insonderheit den Gottlosen, grausam zu seyn und solches aus Furcht der ewigen Verdammung, den Reichen wegen Hinterlassung ihrer Güther.»[17]

Die Trennung von Gesunden und Kranken war weit verbreitet. Pestkranke wurden in Pesthäuser am Rande der Städte ausgelagert. In den Viehställen sah es sauberer aus als in den Krankenzimmern. Quarantäne, sprich Isolation, war eine beliebte Maßnahme gegen ansteckende Krankheiten. Die Bevölkerung akzeptierte diese Kasernierungen, um sich vor dem «Schwarzen Tod» zu schützen.

Die Furcht vor dem «Jüngsten Gericht» eines strafenden Gottes und der Verurteilung zur ewigen Verdammnis war weit verbreitet. Die natürliche Angst vor dem Tod wurde dadurch noch verstärkt. Zur Entlastung der Gläubigen und um vor dem Gericht Gottes bestehen zu können, wurde eine Ars moriendi (die Kunst zu sterben) entwickelt und praktiziert. Im Volk waren «Sterbebüchlein» weit verbreitet. Darin waren die religiösen Rituale (Beichte mit Sündenvergebung und «Letzte Ölung») und Gebete zur Vorbereitung auf einen guten Tod aufgezeichnet, um gut gerüstet ins Jenseits zu gelangen und dort zu bestehen.

Darüber hinaus sind in den vergangenen Jahrhunderten sehr viele Menschen nicht daheim im eigenen Bett, sondern auf den Schlachtfeldern, beim Bau von Schlössern, Kirchen und Brücken, auf den Straßen und in den Wäldern sowie auf den Meeren der Welt gestorben. Unzählbare Menschen sind von der Pest und anderen Seuchen in wenigen Tagen dahingerafft worden. Millionen Menschen wurden in Kriegen getötet, «verreckten» auf den zahlreichen Schlachtfeldern, und Millionen verhungerten oder erfroren elendig auf den Flüchtlingstrecks.

Und das Sterben in den Krankenhäusern? Rainer Maria Rilke beschreibt in seinen «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» (1910), wie in einem Pariser Krankenhaus, dem bekannten Hotel Dieu, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gestorben wurde: «Dieses ausgezeichnete Hotel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 599 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch gar nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand.»[18]

Schwerkranke und Sterbende waren ihren Krankheiten ziemlich schutzlos ausgeliefert. Deshalb mussten sie starke Schmerzen ertragen. Die Möglichkeiten der Ärzte, Krankheiten zu heilen und Symptome zu lindern, waren äußerst begrenzt.[19] Weder Schmerzmittel noch Psychopharmaka, wie wir sie heute kennen, standen zur Verfügung. Die Kranken mussten ohne Novalgin, Ibuprofen, Fentanyl oder Tavor auskommen. Und die Angehörigen mussten die vor Schmerzen schreienden Sterbenskranken aushalten.